Kulturkritik-Sendung vom 08. 08. 2008 auf Radio Lora


Zur Logik der kapitalistischen Krise - oder: Die Verwertung der menschlichen Kultur

Zeitdauer: 60 Minuten - Datenumfang ca. 50 MB

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Zur Logik der kapitalistischen Krise - oder: Die Verwertung der menschlichen Kultur

Die Krisen des Kapitalismus werden meist als rein konjunkturelles Problem im Zyklus des Wertwachstums angesehen, als ein Problem im Verhältnis von Angebot und Nachfrage, das sich bei “Überproduktion“ als Inflation und Stagnation der Geldverwertungswirtschaft auswirken würde. Doch Kapital stellt ein ganzes Lebensverhältnis der Menschen dar, das auf dem gründet, was sie zum Leben wirklich nötig haben. Es scheitert nicht an der Nachfrage sondern daran, dass es deren Umsetzung nicht mehr finanzieren kann, wenn die Profitrate sinkt. Der Lebensstandard muss dann reduziert werden und die Menschen werden vom Ganzen des Kapitalverhältnisses zu dessen Rettung in die Pflicht genommen - als Staatsbürger, die eine gigantische Schuldenlast zu tragen haben. Solcher Rekurs auf die Substanzen der Verwertung, auf Mensch und Natur, geht nicht ohne politische Gewalt. Darin keimen die Grundlagen der Feudalisierung des Staates: Die Personifikation der Gewalt einer Staatskultur. Um all dies geht es in dieser Sendung.

Eine grundlegende ökonomische Krise der deutschen Wirtschaft, wie sie von den ökonomischen Fachblättern seit Ausbruch der US-Finanzkrise befürchtet wurde, ist nun auch offiziell eingestanden: Noch in diesem Jahr würde die Rezession der Weltwirtschaft auch Deutschland erreichen, vermeldet die Reuter-Nachrichtenagentur – so, als wäre sie nicht längst schon da. Der Konjunkturexperte Peter Hohlfeld vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat vor einer Rezession in Deutschland noch in diesem Jahr gewarnt. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es hier zu einem Wirtschaftsabschwung komme, liege bei 50 Prozent. Und das Jahr 2009 würde mit Sicherheit sehr schwer werden. Das weiß man nun. Es ist eingetroffen, was in den entsprechenden politischen Ausschüssen und Gremien auch schon seit Längerem diskutiert wird: Das Kapital ist derzeit in einer fundamentalen Krise, weil sein Einsatz sich immer wniger lohnt. Investitionen in die sogenannte Realwirtschaft erbringen immer geringere Erträge, - allgemein genommen - eher Verluste. Lediglich der Aktienmarkt boomt zu weilen, das Monopoly der Geldbesitzer, das Wetten auf die Zukunft einzelner Wirtschaftzweige. Hierfür erbringt die US-Krise immerhin einen passablen Sündenbock, klingt eine hiervon begründete Krise dann doch auch irgendwie sogar beruhigend - wie eine geläufige Selbstverständlichkeit einer an und für sich „gesunden Wirtschaft“ und daher mehr oder weniger beiläufig – eben wie ein Bestandteil des Business as usual. Klar: Was sollen die deutschen Banken auch machen, wenn Kredite kaputtgehen, weil die Kreditvergabe der US-Banken so „verantwortungslos“ verspielt worden war. Und klar auch, dass von den deutschen Banken viele Fehler bei der Bewertung von Aktienfonds und Krediten gemacht worden waren. Und das Schöne: Wer soviel Kritik und Selbstkritik verteilen kann, der ist doch schon wieder auf dem Weg der Besserung, wird den Karren schon wieder in Gang bringen. Man muss ihn nur lassen und die nötigen Finanzmittel hierfür aufbringen. Steuergelder eben. Aber das, was hier zum Problem des Steuerzahlers vergeschoben wird, ist in Wahrheit gerade das größte Problem für die Politik selbst. Die Mittel zur Bekämpfung einer Rezession und der darauf folgenden Stagnation sind längst aufgebraucht. Es gibt keine Reserven; die Mittel der Nationalökonomie wurden seit fast 20 Jahren permanent angewandt, der Aktienmarkt und die Globalisierung des Kapitals zur Anwendung von frei umherschwebendem Kapital ausgebreitet und ausgesaugt – und die Krise will immer noch kein Ende nehmen – im Gegenteil: Sie verschärft sich so, dass die US-Presse schon einen freien Fall der Volkswirtschaft befürchtet (vergl. William Greider, The Nation. vom 1. August 1, 2008).

So viel Angst wird sonst selten verbreitet, schadet dies doch besonders dem sogenannten Investitionsklima. Was bedeutet das alles in Wirklichkeit und was für uns? Klar ist: Die Weltwirtschaft ist in einer Krise, eigentlich schon länger, aber nun nicht mehr wegzudrücken. Nichts läuft mehr rund und die Zukunft wagt niemand vorherzusagen. Die Parteien sind ratlos und entsprechend zerstritten. Wirklich umsetzbare Perspektiven seitens der Ökonomen oder Politiker fehlen und das Parlament beschäftigt sich vorwiegend nur noch mit Disziplinierungsgesetzen auf der einen Seite und Steuererleichterungen für das Kapital auf der anderen. Der Kapitalismus ist außer Tritt und die Wirtschaft ohne wirkliche Entwicklung. Die Wirtschaft des Wertwachstums hat sich eher verkehrt in eine Wirtschaft des kleineren Übels, einer Vermarktung von vorhandenen Wertunterschieden, Ausbeutung vorhandener Werte durch Übernahme als Minderwerte in komplexere Kapitalstrukturen. Und das sieht auch der Staat und seine Politiker als einen Ausweg aus dem wirtschaftlichen Dilemma. Ihre neuere Gesetzgebung zeigt es überdeutlich. Schon längst - spätestens aber im Zusammenhang mit der Gesetzgebung vom 23. März 2007 zugunsten der Real Estate Investment Trusts, kurz: REITs - hat sich die herrschende Politik als reine Politik der Kapitalanreizung geoffenbart, als offenes Angebot des Staates an Kapitalinvestoren, welchen die Infrastrukturen eines Landes nahezu steuerfrei zur Übernahme angeboten werden – wir hatten in der letzten Sendung dies näher an den Veränderung auf dem Wohnungsmarkt besprochen.

Haben die Politiker ihren Verstand verloren? Hat die Agenten des kapitalistische Staates die Lust gepackt, endlich zu zeigen, dass ihnen das Kapital ans Herz gewachsen ist? Was ist da passiert, dass sich der Staat selbst nicht mehr als politischer und wirtschaftlicher Repräsentant eines Landes aufführt, sondern als dessen offener Verwertungsagent, der sich gegen seine eigenen Produzenten und Reproduzenten nur noch restriktiv verhält? Eigentlich sollte er doch angeblich Volksvertreter sein, der Wählermeinung entsprechend funktionieren und sich um das Wohl der gegenwärtigen und künftigen Generationen kümmern. Stattdessen ist er hoffnungslos verschuldet, kann über Jahrhunderte hinaus nicht mehr so frei wirtschaften wie nach dem 2. Weltkrieg und weiß nicht anders da herauszukommen als durch permanente Forderungen an seine Wähler, auf ihren bisherigen Lebensstandard zu verzichten, mehr und länger zu arbeiten und alle Arten von Steuererhöhungen hinzunehmen. Hat sich in der Politik eine Verschwörung finsterer Mächte eingefunden, die alles niedermacht, was bisher gesellschaftliche Moral und bürgerliches Recht war?

Nein. In den Abteilungen der politischen Ökonomie herrscht Angst: Die Angst vor dem Zusammenbruch des Geldkreislaufs, vor einer Stagflation. Wenn die andauernde Rezession mit zunehmender Inflation zu einer ökonomischen Depression wird, dann stagniert der ganze Geldkreislauf und die Wirtschaft trudelt in eine Negativverwertung, in eine Wirtschaft, die lediglich zur Schuldentilgung arbeitet. Das ist das Problem der derzeitigen Nationalökonomie. Das weiß auch Professor Sinn und all die anderen Nationalökonomen, die eine aggressive Kapitalpolitik und eine Verschärfung der wirtschaftspolitischen Restriktionen, eine weiter greifende Reduktion der Sozialwirtschaft verlangen, weil nach ihrer Auffassung ansonsten spätestens im 2. Jahrzent des Jahrhunderts der Kapitalismus total zusammenbrechen würde. Die Tendenzen der Kapitalverwertung, vor allem der tendenzielle Fall der Profirate, sind ihnen ja nicht gänzlich unbekannt.

Was ist da also los? Verliert der Staat seine eigentlichen Grundlagen durch die sogenannte Globalisierung? Muss er um seine Quellen fürchten? Beißt sich die Krise selbst ins Knie? Und was ist bei alle dem mit uns? Betrifft uns diese Krise wirklich oder ist sie nur eine Sache der Kapitalmärkte und der Weltpolitik? Löst sich das Problem etwa doch wie von selbst durch die „unsichtbare Hand“ des Marktes, wie das Adam Smith schon im Jahr 1799 benannt hatte?

In dieser Feriensendung soll es um die Logik dieses Krisenprozesses gehen und darum, was sie mit den Menschen und ihrer Kultur treibt. Warum gibt die Politik fast nur noch den Kapitalinteressen nach und verhilft diesen auch noch ganz offen zur Plünderung ihrer Wähler?

Wer an der politischen Macht teilhat, hat mit allen Vorzügen der Machtausübung zugleich auch einen dicken Klotz am Bein. Er oder sie befindet sich auf einem Drahtseilakt ökonomischer Widersprüche: Die kapitalistische Wirtschaft produziert im selben Maße, wie sie sich fortentwickelt zugleich auch ihren eigenen Niedergang. Was ihr heute noch als Lösung ihrer Krise erscheinen kann, ist morgen schon das Medium fortschreitender Geldentwertung. Jede Erfindung, jede Maschine, jede Software, jedwede Neuerung überhaupt, erwirkt eine Entwertung der menschlichen Arbeit, da sie menschliche Arbeit ersetzt, die sich nurmehr im Verschleiß der Technologie amortisiert, also mit relativ wenig Aufwand ersetzt werden kann. Aber nur menschliche Arbeit kann Wert bilden und vermehren, weil nur die Menschen einkaufen können, was sie produziert haben. Das Wertwachstum, welches das Kapital zu seiner Entfaltung nötig hat, kann zwar über mehr oder weniger große Strecken hinweg auch durch Neuerungen weitergehen, sofern menschliche Arbeit noch gegen maschinelle konkurrieren kann. Das zeigt sich z.B. an der chinesischen Wirtschaftsexplosion. Aber auf Dauer widerspricht die technologische Entwicklung der Produktivkräfte der Form ihrer Verwertung fundamental und erzeugt Probleme, die innerhalb dieses Wirtschaftssystems nicht mehr wirklich aufzulösen sind.

Das Kapital steht nicht nur der Menschheit zu ihrer Weiterbildung, zur Entfaltung der Reichhaltigkeit ihres Lebens im Weg, sondern auch sich selbst. Das hat schon Marx im dritten Band des Kapitals zusammengefasst:

„Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: dass das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint, dass die Produktion nur Produktion für das Kapital ist, und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muss und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandenen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.“ (Quelle: Karl Marx 1894 in MEW 25, S. 260)

Die kapitalistische Verwertungskrise ist der Ausdruck dieses Widerspruchs ihrer eigenen Produktionsverhältnissen und hat verschiedene, selbst einander widersprechende Merkmale: Als erstes steht eine Absatzkrise, weil das Wertwachstum eine Masse an Produkten auswerfen muss, das die Menschen nicht mehr mit ihren Löhnen finanzieren können. Immer mehr Geld wird daraufhin aus der materiellen Wirtschaft herausgenommen und in Spekulation auf künftiges Wertwachstum als fiktives Kapital in den Aktienmarkt gepumpt. Das Kapital sucht damit seine Krise zu besichern und erhofft, aus dem Wertwachstum in anderen Regionen und Märkten einen Wertausgleich zu erhalten. Aber auch dort hängt das Wertwachstum auf Dauer von der materiellen Wirtschaft ab und keine Idee der Welt und auch nicht das beste Rezept können die Grundlagen der Wirtschaft im Stoffwechsel der Menschen ersetzen. In dem Maße, wie die zur Verarmung getrieben werden, weil das Kapital ihre Entlohnung reduziert und immer mehr unbezahlte Arbeit konsumiert, so entzieht es sich auch seine eigene Grundlagen, wird es zu seinem eigenen Totengräber. Das weiß auch jeder halbwegs bewusste Sozialdemokrat.

Marx hat das im 3. Band seines Hauptwerks klar formuliert: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ (Quelle: Karl Marx 1894 in MEW 25, S. 501)

Unmittelbar mit der Reduktion des materiellen Wirtschaftskreislaufs entfaltet sich die Verschuldung des bürgerlichen Staats: Steuer und Sozialabgaben richten sich nach dem wirtschaftlichen Umsatz der Produktion. Von daher reduzieren sich auch seine Einnahmen. Was dem Geldkreislauf im fiktiven Kapital auf internationaler Ebene entzogen ist, kann nicht mehr zum realen Vorschuß der allgemeinen Produktionsbedingungen innerhalb der Nationalökonomie eingebracht werden. Zunehmende Staatsverschuldung soll dies ersetzen. Und das ist ein doppelter Wertentzug: Einmal aus vergangener Produktion gewonnenes Kapital wird zu einer Forderung gegen die Bürger gekehrt, mehr Steuer und Sozialabgaben aufzubringen, um es in der Wirklichkeit zu ersetzen, die es mit der Kapitalspekulation auf dem Aktienmarkt verlassen hat.

Hinzu kommt, dass mit nachlassendem außenwirtschaftlichem Angebot auch die Währung schwächer wird und sich also auch der Import fremder Werte reduziert. Das ist in Bezug auf die globale Wirtschaft folgenschwer: Mit schwacher Währung muss mehr Ware abgegeben werden, mehr der Reproduktion der Menschen entzogen werden. Umgekehrt exportiert eine Inflation auch entwertetes Geld und wird von den auswärtigen Einkäufern entsprechend gemieden. Der Geldmarkt ist daher alles entscheidend. Er kann auch bei problematischer Verwertungslage die kursierenden Geldwerte umkehren, indem er Geld, das zu diesem Zeitpunkt nicht so gut verwertbar ist, als Spekulationsmasse, als noch nicht realisiertes, als fiktiven Kapital festhält, um es zu einem günstigeren Zeitpunkt als Investitionsmasse für eine bessere Wertungslage verfügbar zu machen. Dieses fiktive Kapital verhindert eine Inflation der Geldwerte und erreicht daher in den Krisenzeiten einen hohen Anteil am zirkulierenden Gesamtkapital, derzeit ca. 97% der Gesamtmasse aller verfügbaren Werte.

Die Krise entsteht im Widerspruch der Produktivkraft und bewegt sich im Kreislauf des fiktiven Kapitals um seinen unrealisierbaren Wert.

Aber Geld kann die Produktion nicht ersetzen; es bildet und bewährt sich auf dem Markt nur durch das Einbringen von Gebrauchsgütern und zirkuliert mit ihnen. Fiktives Kapital ist herausgenommenes Geld, das seiner Anwendung in der Produktion harrt. Auch die kann nur Mehrwert bilden, wenn zumindest irgendwann Mehrprodukte entstehen. Ist zuviel Geld auf dem Markt, so stagniert relativ hierzu und auf Dauer auch die Mehrproduktion, also die Entwicklung des materiellen Lebensstandards, die in den Prosperitätsphasen des Kapitalismus zeitweise durchaus zu einer quantitativen Verbesserung des Lebensstandards der Menschen im Allgemeinen geführt hatte.

Der Mehrwert ist an und für sich der Wert des Mehrpodukts. Mit der Verselbständigung des Kapitals auf dem Finanzmarkt aber löst sich Mehrwertproduktion zunehmend von der Mehrproduktion ab, löst sich ab vom wirklichen Wertwachstum der Gebrauchsgüter, indem das Kaputal immer mehr politische Aneignungsformen und Gewalten einnimmt. Das Recht zur ausschließlich privaten Nutzung eines gesellschaftlich erzeugten oder vorhandenen Vermögens, welches durch die Verfügung über den Mehrwert erworben worden war, stellt im Maß dieser Verselbständigung kein Arbeitsprodukt mehr dar. Es verbleibt dann in der Form von Privatvermögen, also als Geldvermögen oder als Besitz an Kulturgütern wie z.B. Schmuck, Kunstwerken, Immobilien, Rohstoffe, Energie, Wasser, Wellenlängen, Infrastrukturen und dergleichen. Solcher Mehrwert existiert also auch nicht mehr wirklich materiell, sondern nurmehr politisch als Besitzrecht, als rechtliche Verfügungsgewalt des besitzenden Bürgertums, welcher die Mehrheit der Menschen besitzlos gegenübersteht. Der Mehrwert ist auf diese Weise zu einer rein politischen Macht geworden, zum Resultat einer politischen Ökonomie.

Mit dieser Entzweiung der Mehrwertproduktion entzweit sich auch die ursprüngliche Mehrwertrate und die Profitrate. War die Mehrwertrate das Verhältnis des Mehrwerts zum Wert der angewandten Arbeit, also das Verhältnis des Mehrprodukts zum Wert der Kosten, die als Entlohnung an die Menschen zurückgehen, so ist die Profitrate das Verhältnis des Mehrwerts zum gesamten zirkulierenden Kapitalwerts. Die vom Kapital wirklich eingesetzten Produktionsmittel werden im Verhältnis zum Gesamtprozess der in Gang gehaltenen Werte immer wertloser, je umfangreicher die Produktion selbst wird. Und dies führt tendenziell zum Fall der Profitrate. Marx beschrieb dies folgendermaßen:

„Da die Masse der angewandten lebendigen Arbeit stets abnimmt im Verhältnis zu der Masse der von ihr in Bewegung gesetzten vergegenständlichten Arbeit, der produktiv konsumierten Produktionsmittel, so muß auch der Teil dieser lebendigen Arbeit, der unbezahlt ist und sich in Mehrwert vergegenständlicht, in einem stets abnehmenden Verhältnis stehn zum Wertumfang des angewandten Gesamtkapitals. Dies Verhältnis der Mehrwertsmasse zum Wert des angewandten Gesamtkapitals bildet aber die Profitrate, die daher beständig fallen muß.“ (Quelle: Karl Marx 1894 in MEW 25, S. 222f)

Es wächst so zwar der Umfang der Kapitalmacht als politische Macht, während das reale Verwertungsvermögen des Kapitals abnimmt. Aber diese Verfügungsgewalt des Kapitals nutzt es selbst am besten, indem es die Abhängigkeit der Besitzlosen für sich nutzt und forttreibt und sich durch Verfügung über Arbeit, Wohnung, Rohstoffe usw. wie eine Kulturmacht der finale Existenznotwendigkeiten auftürmt. Als Kulturmacht erscheint das, was das Kapital an Abhängigkeiten erzeugt hat, nun unüberwindbar. Die Kluft zwischen Arm und Reich entfaltet sich in dieser Stringenz zwangsläufig zu einem ebenso unüberwindbar scheinenden Gegensatz, in welchem Reichtum auf der einen Seite wie eine Perversion der Verarmung auf der anderen auftritt. Aber das Kapital krankt daran, dass es über eine ungeheuerliche Produktivkraft verfügen muss, um sich als gesellschaftliche Besitzesmacht zu erhalten und es erzeugt zugleich durch die Anwendung dieser Produktivkraft seine eigene Entwertung als wirkliches Vermögen. Letztlich verbleibt dem Kapital nur die irreale, die nicht realisierte Macht des Kapitals, die sich auf dem Finanzmarkt in allerlei Gestalten des fiktiven Kapitals umhertreibt und sich alles aneignet, was aus den vorhandenen Substanzen vergangener Arbeit den verbliebenen Wert entnimmt. In dem Maße, wie das Kapital im Gesamten durch seine abstrakte Macht die Armut der Menschen erzeugt, ergibt sich aus den Folgen der Kapitalanwendung zugleich die Reduktion seiner Profitrate. Während immer weniger Menschen unter diesen Bedingungen Arbeit finden, schwinden auch dem Kapital die Möglichkeiten, Arbeitskraft überhaupt anzuwenden. Das ist der finale Grund der kapitalistischen Krise und lässt auch das Kapital um seine Existenz bangen. Aber es wird dies auch immer zu verhindern wissen, denn es bestimmt ja letztlich die Politik, die sich dann immer als Politik des Gesamtkapitals herausstellt. Vom Standpunkt dieser Politik gibt es ein Wertproblem nur durch die verfügbare Verwertungsmasse - und das ist die Paradoxie eines Problems: Für die optimale Kapitalverwertung gibt es plötzlich zu viele Menschen und zu viele Produkte - auf der einen Seite überzählige Menschen, die keine Arbeit bekommen können, und auf der anderen überzählige Produkte, die ihren Wert verlieren. Daher ist für das Gesamtkapital nur entscheidend, wie sich der Staat als ideeller Gesamtkapitalist eines Landes politisch für die Reduktion der Bedarfsmasse, für die Auflösung der Arbeitslosigkeit und der Überbevölkerung verwendet. Auch ein Krieg kann dafür ganz praktisch sein. Bei Marx liest sich das folgendermaßen: „Überproduktion von Kapital heißt nie etwas andres als Überproduktion von Produktionsmitteln - Arbeits- und Lebensmitteln -, die als Kapital fungieren können. ... Es ist kein Widerspruch, daß diese Überproduktion von Kapital begleitet ist von einer mehr oder minder großen relativen Überbevölkerung. Dieselben Umstände, die die Produktivkraft der Arbeit erhöht, die Masse der Warenprodukte vermehrt, die Märkte ausgedehnt, die Akkumulation des Kapitals, sowohl der Masse wie dem Wert nach, beschleunigt und die Profitrate gesenkt haben, dieselben Umstände haben eine relative Überbevölkerung erzeugt und erzeugen sie beständig, eine Überbevölkerung von Arbeitern, die vom überschüssigen Kapital nicht angewandt wird wegen des niedrigen Exploitationsgrads der Arbeit, zu dem sie allein angewandt werden könnte, oder wenigstens wegen der niedern Profitrate, die sie bei gegebnem Exploitationsgrad abwerfen würde.“ (Quelle: Karl Marx 1894 in MEW 25, S. 266)

Innerhalb der ökonomischen Sphären erscheint der im Kapitalismus produzierte Reichtum daher immer als Macht einer Existenzform, welche sich auf Dauer als weltweit zirkulierende Geldmasse nur vermittelst einer massenhaften Verarmung der Menschen dieser Welt erhalten kann. Der kapitalistische Reichtum bedeutet letztlich Verarmung, die Vielfalt der Produkte wird nur durch Einfalt ihrer Werterzeugung betrieben und setzt schließlich auch nur diese Einfalt als Form des menschlichen Reichtums durch. Sie betreibt die Entwicklung der Produktivkräfte, welche in der Lage sind, die Menschen von der Mühsal der Arbeit immer mehr zu befreien, zur Vereinseitigung ihrer Abhängigkeit und Ohnmacht gegen die herrschenden Existenzformen dieser Welt. „Der Widerspruch dieser kapitalistischen Produktionsweise besteht ... gerade in ihrer Tendenz zur absoluten Entwicklung der Produktivkräfte, die beständig in Konflikt gerät mit den spezifischen Produktionsbedingungen, worin sich das Kapital bewegt und allein bewegen kann. (...) Es wird nicht zuviel Reichtum produziert. Aber es wird periodisch zuviel Reichtum in seinen kapitalistischen, gegensätzlichen Formen produziert. (Quelle: Karl Marx 1894 in MEW 25, S. 268)

Der bürgerliche Staat als ideeles Gesamtkapital, als kapitalistische Institution des gesellschaftlichen Reichtums

Die Krise des kapitalistischen Systems stellt diesen Widerspruch in der Aufhäufung von Geld heraus, das sich nicht mehr als produktives Kapital anwenden lässt, das also über die herkömmlichen Verwertungseinrichtungen nicht mehr zu verbrauchen ist. Es würde zur Inflation und damit zu einem allgemeinen Geldwertproblem werden, kann es nicht mehr anderweitig mit existenten Werten gefüllt werden. Solches Geld, das als unrealisierbares Kapital Verlust darstellt, ist als potenzielle Grundlage von Investitionen mit hoher Gewinnerwartung zugleich eine Spekulationsmasse, die als Rückhalt und Risikoabsicherung aufgefasst wird, um bessere Verwertungslagen für ein Kapital zu nutzen, dessen Anwendung man sich irgendwo anders oder irgendwann vorstellen kann: Fiktives Kapital. Auf dem Aktienmarkt werden solche Vorstellungen verwirtschaftet und Unsummen von Geld dahin und dorthin verschoben, wo gerade mal ein Wertwachstum zu erhoffen ist, und sei es auch nur eine Ausnutzung von Wertverschiebungen z.B. auf dem Gold-, Erdöl- oder Immobilienmarkt. Die Verwertung von Grund und Rohstoff bietet hierbei die höchsten Ertragssicherheiten, liegen sie doch allen Verwertungsprozessen zugrunde. Die Benzin- und Energiepreise lassen sich z.B. leichter anheben als die Milchpreise und so verspricht die Energiewirtschaft auch mehr Toleranzen in der Profitrate. Im Kampf um hohe Aktienkurse obsiegen in Krisenzeiten solche Wertanlagen und verteuern die Reproduktion der Menschen und der Produktionsstätten, forcieren damit letztlich die Krise des produktiven Kapitals und damit auch das Staatsvermögen, die Steuereinnahmen.

So wird auch der Staat zwangsläufig zum Träger des Widerspruchs der kapitalistischen Produktion, indem er sich verschuldet und dem fiktiven Kapital selbst einen Boden zur Verwertung anbieten muss: Die Ausbeutung des Produktivvermögens der ganzen Infrastruktur eines durch ihn politisch umschriebenen Gebietes. Der Staat nutzt dies zur Deckung der Anleihen, die ihm nötig sind, um die Ausfälle durch Mindereinnahmen in Krisenzeiten zum Ausgleich der nationalen Reproduktionskosten (Verkehr, Erschließungen, Militär, Bildung und Ausbildung, Alters- und Gesundheitsfürsorge usw.) zu finanzieren.

Von daher stellen die Staaten ganz allgemein die letztliche Sicherheit des Kapitals dar, nicht unbedingt des nationalen Kapitals, das sich in der Krise befindet, sondern vor allem des internationalen, soweit der Geldverkehr eben auch internationalisiert ist. National verbleibt zwar die Steuerlast, die Sozialabgaben, der Inflationsausgleich, die Bankendeckung usw. Aber international verwertbar ist immer die Verwertbarkeit der Lebensleistung der nationalen Bevölkerung, ihr gegenwärtiges und vergangenes Arbeitsvermögen, die Reichhaltigkeit jener Produkte, die nicht mehr auf dem Warenmarkt zirkulieren, sondern ihr kulturelles Vermögen darstellen. „Die Anleihen befähigen die Regierung, außerordentliche Ausgaben zu bestreiten, ohne dass der Steuerzahler es sofort fühlt, aber sie erfordern doch für die Folge erhöhte Steuern. Andererseits zwingt die durch Anhäufung nacheinander eingegangener Schulden verursachte Steuererhöhung die Regierung, bei neuen außerordentlichen Ausgaben stets neue Anleihen aufzunehmen. Die modernen Staatsfinanzen, deren Drehungsachse die Steuern auf die notwendigsten Lebensmittel (also deren Verteuerung) bilden, trägt daher in sich selbst den Keim automatischer Progression. Die Überbesteuerung ist nicht ein Zwischenfall, sondern vielmehr Prinzip.“ (Quelle: Karl Marx 1893 in MEW 23, S. 784)

Der kapitalistische Staat versetzt das Vermögen seiner Bevölkerung als Pfand für die Kredite, mit denen er die Wertverluste des Kapitals auszugleichen hat. Sie stellt sozusagen seine Bonität dar. Er ist also auch daran interessiert, die Kapitalwirtschaft und deren Führungseliten zu fördern und seine Ausgaben auf ihren Erfolg hin zu kalkulieren. Zum Ausgleich hierfür muss er allerdings die Ausgaben für seine allgemeinen Versorgungsleistungen schmälern, auch wenn dies sein fortdauerndes Umsatzproblem in der Nationalökonomie bleiben wird. Indem das Kapital sich also zunehmend an der Beteiligung der Reproduktionskosten einer Nation entzieht, wird die Bevölkerung in einem Ausmaß zur Kasse gebeten, das sich nach den Bedürfnissen des Finanzkapitals und der Nationalbanken, also im Zweck der Geld- und Zinspolitik, ausrichten muss. Dabei werden die Reichen, die sich am Geldmarkt beteiligen können, zunehmend zu Gewinnern aus der Krise, die anderen, die kein Geldvermögen erübrigen können, zu ihren Verlierern. In den Nationen selbst entstehen neue Krisenklassen: Die Elite, die an der Absicherung ihres Vermögens interessiert sind, und die Abhängigen, deren Existenz um dasselbe Maß zusätzlich durch Steuern- und Sozialabgaben beschnitten werden. Die Politik funktioniert immer mehr im Sinne der Elite, die zur Klasse der Staatsgläubiger gehört. Sie erscheinen als die Gewinner der Krise, also auch als Berechtigte für hohe Einnahmen, weil sie hohe Kapitalakkumulationen zu verwalten haben. Der Kreis des Kapitaleinflusses durch staatstragende Personen und Lobbys erweitert sich, wie von Marx schon im 19. Jahrhundert beschrieben: „Die Akkumulation des Kapitals der Staatsschuld heißt, wie sich gezeigt hat, weiter nichts als Vermehrung einer Klasse von Staatsgläubigern, die gewisse Summen auf den Betrag der Steuern für sich vorwegzunehmen berechtigt sind.“ (Quelle: Karl Marx 1894 in MEW 25, S. 493)

Die Elite einer Nation gerät so zu einer Diktator des Kapitalinteresses, wiewohl sie ganz bourgeois und gutgläubig daherkommt. Die Mehrheit der Bevölkerung hat keine andere Wahl, wird zwangsläufig nurmehr als Faustpfand des Staates behandelt. Ihre Bedürfnisse werden immer mehr ignoriert oder öffentlich durch Medienpolitik, Ideologie und Mystifikationen einer politischen Kultur verfälscht. Marx hat die Tyrannei dieser Verpfändung ganzer Bevölkerungsschichten beschrieben.

„Ist nicht jede Staatsschuld eine Hypothek, die dem Fleiß eines ganzen Volkes auferlegt wird, und ein Beschneiden seiner Freiheit? Lässt sie nicht eine neue Gesellschaft unsichtbarer Tyrannen entstehen, die unter der Bezeichnung öffentlicher Gläubiger bekannt ist?“ (Quelle: Karl Marx in MEW 15, S. 124)

Umgekehrt boomt derweil wieder eine Akkumulation, die auf der Ausbeutung ganzer Infrastrukturen gründet. Vor allem die Güter, welche nicht als Arbeitsprodukte sondern als kulturelle Lebensbedingung existieren, erfahren ein ungeheueres Wertwachstum. Wertloses Kapital wird von daher als Staatsschuld wertvoll – an den Staat verliehenes Geld wird zum Wirtschaftsgaranten erster Güte, denn es stellt allgemeine Lebensgrundlagen dar, die zur Verwertung freigestellt werden und schon hierdurch Wert haben, Mehrwert durch Verwirtschaftung ihrer gesellschaftlichen Geschichte.

„Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ... Akkumulation. Wie mit dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeugungskraft und verwandelt es so in Kapital, ohne dass es dazu nötig hätte, sich der von industrieller und selbst wucherischer Anlage unzertrennlichen Mühwaltung und Gefahr auszusetzen. Die Staatsgläubiger geben in Wirklichkeit nichts, denn die geliehene Summe wird in öffentliche leicht übertragbare Schuldscheine verwandelt, die in ihren Händen fortfungieren, ganz als wären sie ebenso viel Bargeld. Aber auch abgesehen von der so geschaffenen Klasse müßiger Rentner und von dem improvisierten Reichtum der zwischen Regierung und Nation die Mittler spielenden Finanziers wie auch von dem der ... Kaufleute, Privatfabrikanten, denen ein gut Stück jeder Staatsanleihe den Dienst eines vom Himmel gefallenen Kapitals leistet hat die Staatsschuld die Aktiengesellschaften, den Handel mit käuflichen Effekten aller Art, die Agiotage emporgebracht, in einem Wort: das Börsenspiel und die moderne Bankokratie.“ (Quelle: Karl Marx 1867 in MEW 23, S. 782f)

Die Eliten eines Staats sind sehr daran interessiert, dass sie als besonders befähigte Individuen mit einem besonders ausgeprägten Willen erscheinen können. Nur darin lässt sich ihre wahre Herkunft verbergeben. Von daher beziehen sie auch aus ihrem Willen und dessen allgemeine Rechtsform ihre Daseinsberechtigung. Das Verhältnis des Staats zu seinen Bürgern kehrt sich um, indem der politische Wille zur Inkarnation der kapitalistischen Notwendigkeiten der Staatsräson wird. Er selbst muss über das materielle Leben der Menschen bestimmen können, um das Kapitalverhältnis als Ganzes noch fortzuführen. Die Staatsgewalt wird zu einem Gesetz, in welchem die Bürger sich weniger beachtet finden, als die allgemeinen Notwendigkeiten des Kapitalverhältnisses. „Das materielle Leben der Individuen, welches keineswegs von ihrem bloßen Willen abhängt, ihre Produktionsweise und die Verkehrsform, die sich wechselseitig bedingen, ist die reelle Basis des Staats und bleibt es auf allen Stufen, auf denen die Teilung der Arbeit und das Privateigentum noch nötig sind, ganz unabhängig vom Willen der Individuen. Diese wirklichen Verhältnisse sind keineswegs von der Staatsmacht geschaffen, sie sind vielmehr die sie schaffende Macht. Die unter diesen Verhältnissen herrschenden Individuen müssen, abgesehen davon, dass ihre Macht sich als Staat konstituieren muss, ihrem durch diese bestimmten Verhältnisse bedingten Willen einen allgemeinen Ausdruck als Staatswillen geben, als Gesetz - einen Ausdruck, dessen Inhalt immer durch die Verhältnisse dieser Klasse gegeben ist, wie das Privat- und Strafrecht aufs Klarste beweisen. ... Ihre persönliche Macht beruht auf Lebensbedingungen, die sich als vielen gemeinschaftliche entwickeln, deren Fortbestand sie als Herrschende gegen andere und zugleich als für alle geltende zu behaupten haben. Der Ausdruck dieses durch ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens ist das Gesetz.“ (Quelle: Karl Marx in MEW 3, S. 311)

Der Staat als Träger der Volkserziehung

Der Staat existiert nicht in irgendeinem politischen Himmel, sondern in der repräsentativen Demokratie als Parteinahme spezieller Meinungsträger. Von daher hängt der allgemeine politische Wille zumindest quantitativ von den Willensbekundungen ab, wie sie sich den Wählern darstellt, bzw. wie der politische Wille zum Zweck einer Wahl dargestellt, interpretiert und behauptet wird. Der Staat hat zwar wesentlich die Reproduktionsbedingungen einer Nation, sowohl des Kapitals wie auch der Bevölkerung, im Zweck einer optimalen gegenwärtigen und zukünftigen Verwertungslage zu besorgen, aber er begründet seine Tätigkeit im einzelnen nicht unmittelbar aus den wirklichen Lebensbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft. Der Staat kann sich als Allgemeinheit der Verwertungsinteressen nicht unmittelbar als Institution des Kapitals konstituieren, betrifft dieses doch ganz augenfällig nur den kleinsten Teil der Bevölkerung einer bürgerlichen Nation. Er konstituiert sich auf der allgemeinen Form eines Willens, der sich von allen Bindungen an die Lebenswirklichkeit freigesagt hat: Auf dem freien Willen, der so frei ist, wie es Geldbesitz eben auch dem Geldbesitzer illusioniert. Der Staat gründet auf dem Geldbesitz seiner Bürger und kassiert einen entsprechenden Teil hiervon als Steuer. Politisch ist er die reine Willensform dieses Besitzes, das zum reinen Willen entwickelte Allgemeininteresse des Geldbesitzes. Die Kultur des Staats als Staatskultur ist daher die Kultur des freien Willens – und dies umso hartnäckiger, wie der Geldbesitz und seine Probleme als Lebensgrundlage einer Bevölkerung ausgebreitet ist.

„Da der Staat die Form ist, in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammenfasst, so folgt, dass alle gemeinsamen Institutionen durch den Staat vermittelt werden, eine politische Form erhalten. Daher die Illusion, als ob das Gesetz auf dem Willen, und zwar auf dem von seiner realen Basis losgerissenen, dem freien Willen beruhe. ... Der Staat ist die Form der Organisation, welche sich die Bourgeoisie sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben.“ (Quelle: Karl Marx in MEW 3, S. 62)

Dadurch, dass sich im politischen Willen des Staates viele Meinungen seiner Wähler reflektieren, hat er seine ideelle Basis in der Wahl seiner Repräsentanten. Was sich auf diese Weise reflektiert, hat daher auch nur eine ideelle Entsprechung zu den wirklichen Lebensverhältnissen, die meist reflektieren, was diese nicht wirklich sind, um zu veranlassen, das politisch zu bestimmen, was sie sein mögen. Hierdurch verkörpert der politische Wille eine fast mythologische Gestalt eines Allgemeinwillens, dem er real niemals entsprechen kann, der aber zumindest einen Teil der Erwartungen an ihn darstellt. Darin erscheint sich der wählende Bürger wie im Himmel unendlicher Möglichkeiten seines Vermögens und hat darin auch die Hoffnung auf die Erfüllung einer heilen Welt.

„Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde. Er steht in demselben Gegensatz zu ihr, er überwindet sie in derselben Weise wie die Religion die Beschränktheit der profanen Welt, d.h., indem er sie ebenfalls wieder anerkennen, herstellen, sich selbst von ihr beherrschen lassen muß. Der Mensch in seiner nächsten Wirklichkeit, in der bürgerlichen Gesellschaft, ist ein profanes Wesen. Hier, wo er als wirkliches Individuum sich selbst und andern gilt, ist er eine unwahre Erscheinung. In dem Staat dagegen, wo der Mensch als Gattungswesen gilt, ist er das imaginäre Glied einer eingebildeten Souveränität, ist er seines wirklichen individuellen Lebens beraubt und mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt.“ (Quelle: Karl Marx in MEW 1, S. 354f)

Von dieser unwirklichen Allgemeinheit her sieht sich jeder ordentliche Bürger eins mit „seinem Staat“. Was ihm in seiner Welt als Unheil erscheint, das wird im Heil der staatlichen Virtualität aufgehoben. Allgemein ist der Staat schon im Kleinbürgertum der Garant zur Überwindung allen individuellen Unheils. Dies umso mehr, je unheiler die Welt ihm erscheint.

In der kapitalistischen Krise erscheint die Kultur selbst als Unheil, weil der ganze Lebenszusammenhang der Menschen darin vom Zusammenbruch bedroht ist. Die Staatsverschuldung verlangt zudem eine Entwertung des kulturellen Lebens, um dem Bürger die Leistungen für diese Schulden, die ja keinen wirklichen Geldwert darstellen, aufzuzwingen, um ihm seine Kulturgüter zu verteuern. Um Wert beizubringen, wird auch vergangene Arbeit, wie sie solche Güter darstellen, zur Verwertung eingenommen, werden Kommunikationsmittel, Rohstoffe, Natur, Lizenzen und Mieten zur Wertbasis einer Wirtschaft, die immer weniger Wert aus den Produkten der Arbeit entnimmt und immer mehr Wert aus den Besitzrechten an Gütern, die als Arbeitsprodukte längst amortisiert sind, wenn sie je Arbeitsprodukte waren. Grund und Boden, Lizenzen und Rohstoffe sind letztlich die Besitztümer, durch welche die Menschen immer unter Druck gesetzt werden können, wenn es an wirklichen Geldwerten mangelt. Jede Miete hat ihre Quelle nicht aus dem Produktionswert eines Hauses, sondern aus dem Verkehrswert, den es ohne jede besondere Leistung im Lauf der Zeit erwirbt. Mit der Verteuerung solcher Existenzgrundlagen kann man Geld auch im Nachhinein der Produktion mit Wert füllen, indem man für diese Kulturgüter mit dem Wert bezahlt, den eine Arbeit entstehen lässt, die in der Warenproduktion und -zirkulation unbezahlt bleibt. Weil die Menschen ohne ihren Kulturbesitz nicht leben können, werden sie dadurch erpresst, dass er ihnen durch Preise zugeführt wird, die über das reine Existenzniveau hinausgehen, die also gewohnten Lebensstandard aufzehren.

Mit der Herabsetzung des Lebensstandards fallen besonders die aus dem gesellschaftlichen Verhältnis heraus, die schon arm waren, bevor ihnen noch mehr abverlangt wird. Außerdem werden die Menschen, die von ihrer Gesellschaft eine soziale Hilfe erwarten müssen, noch weiter an den Rand gedrängt. Die Verteuerung sozialer Güter ist das Phänomen einer Negativverwertung. Im Anfang sind es die Kulturgüter des alltäglichen Lebens, Gesundheit und Alter, Jugend und Wissen, die Stätten der Bildung, Ausbildung und Treffpunkte, die von der Staatskasse immer weniger finanziert werden können. Verbindlichkeiten und Gewohnheiten zerfallen durch die Vereinseitigung des Gemeinwesens zum Verwertungsobjekt; das wirkliche Sozialwesen, das Zusammenwirken der Menschen zerbricht. Es grasiert Unbehagen, Hass und Gewalt. Es verlieren Menschen ihren Willen und ihre Identität, vernichten sich in wechselseitiger Vernutzung und Prostitution und dergleichen mehr. In der Kultur stellt sich die Angst vor einer Spirale des Niedergangs augenfällig dar. Ursprungssehnsüchte werden wach und der bürgerliche Staat würde zunehmend als Versager gegen die Illusionen erscheinen, die er selbst verkörpern wollte, wenn er sich nun nicht auch als Kulturmacht darstellt und als solche eingreift.

Von daher drapiert sich der Staat zu einem realistischen Illusionisten, verschafft Ruhe und Ordnung, wo keine wirkliche Ordnung und keine wirkliche Ruhe mehr herrschen kann. Er verschärft seine politische Gewalt, um zumindest als Bewahrer der Kultur erscheinen zu können und erlässt disziplinarische Gesetze, die dem allgemeinen Selbsterhalt, dem Wohl des Ganzen dienen sollen, vom allgemeinen Rauchverbot in Kneipen bis hin zum Verbot von Überraschungseiern. Und er droht mit diesem Ganzen als Gewalt des allgemein Nötigen gegen das hiergegen zufällig scheinende Einzelne, droht mit Entzug seiner Vermittlungspotenziale und verschärft die Angst vor der Nutzung von sozialen Leistungen (siehe Harz IV), die er nicht mehr als Dienstleister, sondern als Gnadenträger und Kumpan einer Notgemeinschaft vergibt. Er mausert sich zum allgemeinen Pädagogen einer allgemeinen Hoffnung auf Besserung durch Hingabe und Hörigkeit, zum Hoffnungsträger, dem das Heil der Menschen am Herzen liegt, und der überdies zugleich durch die rechte Anpassung seiner Bürger auch die Erhaltung seines Menschenparks billiger macht. Angst und Aussonderung werden zu seinen besonderen Werkzeugen, die nun vor allem gegen die Verunreinigung der Kultur zum Einsatz kommen, gegen Verwahrlosung, Zerfall und Agonie. Er weiß nun, dass es vor allem auf Stimmungsmache und die rechte Gesinnung ankommt, denn „Du bist Deutschland“ und „Deutschland soll Weltmeister sein“. Er wird zum Hüter einer illusorischen Ordnung, zum Lehrmeister eines ungehorsamen Volkes und zum Moralisten einer heilen Welt.

Darüber mehr beim nächsten Mal am 12. September wieder um 19 Uhr. Das Thema wird dort sein: Das Heilsprinzip im Moralismus und Rassismus oder: Die Sehnsucht einer Heilen Welt Wie immer, könnt Ihr diese Sendung im Audioarchiv der Website Kulturkritik.net noch mal hören oder lesen. Sprecherin war Gertrude Kuik. Ich wünsch Euch nun noch schöne Ferien und denn: Bis zum nächsten Mal. Tschüss.



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