Diskussion bei der Kulturkritik vom 13. 02. 2010


Diskussion zum Bildungsstreik: Wissenschaft und Emanzipation - Begriffsbildung einer kritischen Theorie

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Diskussion zum Bildungsstreik:
Wissenschaft und Emanzipation - Begriffsbildung einer kritischen Theorie

Was ist Wissenschaft, was Emanzipation?

- Emanzipation und Entfremdung

- Subjekt – Objekt

- Gedoppelte Objektivität

- Wissenschaft und Gegenstand

Emanzipation meint Eigenverantwortlichkeit, sich fremder Hand entziehen. Emanzipation impliziert also Fremdherrschaft, gegen welche Menschen sich erheben. Doch für solche Herrschaft gibt es hierzulande keinen eindeutigen, unzweifelhaften Herrscher mehr, kein wirklich herrschendes Subjekt. Es herrscht lediglich die bloße Zwangsläufigkeit der Existenz, eine existenzielle Notwendigkeit, die den Menschen allgemein auferlegt ist und die meist wie eine Naturnotwendigkeit angesehen wird. Das macht auch das Problem im wissenschaftlichen Verstand aus, der sich lediglich der Sache selbst, dem Notwendigen schlechthin zuwendet und sich heute gerne auf ihre Funktionalität beschränkt und die Not einfach als menschliche oder individuelle Not ansieht. Das Notwendige erfordert zwar ein eigenständiges Handeln, welches Not wendet. Aber ist das schon Emanzipation?

Emanzipation geht von einem fremden Subjekt aus, das beherrschend ist, also eine Objektivität bestimmt, die eine fremde Macht darstellt und gegen die sich ein Subjekt wendet, das hierdurch selbst als Objekt bestimmt ist.

Doch wer oder was heißt dann Subjekt? Und wer ist das wissenschaftliche Subjekt, das sich gegen diese Objektivität wendet. Soll es nicht gerade selbst objektiv sein, wenn es Wissenschaft betreibt? Soll sich Wissenschaft etwa selbst gegen objektive Bestimmungen wenden? Das erscheint erstmal absurd.

Aber eben darum geht es, also um die Frage, wie ein Subjekt objektiv sein kann. Es wäre doch eigentlich trivial: Menschliche Wissenschaft muss vom Menschen ausgehen und auf den Menschen zurückkommen und alles tun, dass er nicht beherrscht oder bedroht wird. Wissenschaft wollte ursprünglich nichts anderes sein als Bewusstsein, wollte aus den einzelnen zerteilten Phänomen heraus deren Zusammenhang erkennen und beschreiben und daraus ihre Rückschlüsse und Schlussfolgerungen für menschliches Handeln gewinnen, das Allgemeine als das Bestimmende in der Not des Einzelnen herausfinden. Sie wollte schon immer hilfreich und dem Fortschritt der Menschen dienlich sein. Wissenschaft wollte den Zusammenhang der existenten Formen der Gegenwart in ihrer Notwendigkeit erkennen, erkennen was Nötig ist und die Mittel hierfür bereitstellen, aber auch die Not beurteilen, ihre Folgen prognostizieren und hieraus Schlüsse auf ein bestimmtes Not wendendes Handeln ziehen. Sie hat Krisen gemeistert, Medizin erfunden, Technologie entwickelt und Allerlei Gutes getan.

Doch wenn wir über Emanzipation nachdenken, unterstellen wir eine Gewalt, die nicht offensichtlich und leicht erkennbar gegen uns gerichtet ist, die aber unsre Geschichte und Entwicklung bestimmt und die wir daher nicht einfach ignorieren, nicht einfach abschütteln können. Wodurch soll Wissenschaft geeignet sein, gegen herrschende Gewalten sich zur Wehr zu setzen?

Not macht nicht immer erfinderisch. Sie macht auch eng und grenzt ein und damit auch vieles aus, hätte am liebsten alle Mittel für sich. In der Ausgrenzung war Wissenschaft schon öfters besonders gut. Z.B. in der Definition der Abart, in der Rassenlehre, in der Definition des lebensunwerten Lebens usw. Sie hatte immer einen beträchtlichen Anteil an der Geschichte. Und sie hat auch ihre Beiträge hierfür geleistet. Z.B. bei der Bücherverbrennung, in der Sortierung vom Menschen in den Todeslagern oder auch bei der Entwicklung der Atombombe, der Gentechnik und anderes.

Der Glaube an den Fortschritt der großen Industrie, an die Moderne, war durch die industrielle Vernichtung von Menschen schockiert, die schlichte Macht der hohen Positionen, der Parteienherrschaft und der großen Systeme wurde unglaubwürdig. Am Ende ging der Fortschritt nur noch gegen die Menschen und die Wissenschaft war seine erste Kraft.

Wenn man davon absieht, wodurch Wissenschaft allgemein in einer Gesellschaft begründet ist, so könnte man meinen, dass es ein Denkfehler ist, dass Wissenschaft nicht gemerkt hat, wie sich ihre Rolle verkehrt hat, dass sie einfach das Falsche getan hat und man müsse heute alles tun, um ihren Fehler nicht zu wiederholen. Es sei der Glaube an die großen Systeme gewesen, der die Welt ins Unglück gestürzt hatte. Die Menschen hätten ihre gestalterische Kraft nicht genutzt, sich dem falschen Fortschritt gebeugt, ihre Individualität aufgegeben.

Der Glaube an den Menschen, an die Menschenrechte und die individuelle Selbstbestimmung erschien hiergegen als Möglichkeit, die Welt aus der Allgemeinheit der menschlichen Individuen als Menschenwelt zu bestimmen. Das Selbstverständnis des Westens, das zum Allgemeinmenschen erhobene Individuum, setzte sich tatsächlich auch gegen die Systematik der offenen Macht durch. Der Zeitgeist hatte sich von daher soweit individualisiert, dass nur noch das Individuum allgemeine Geltung und Aufmerksamkeit bekam, dass es aus sich selbst zugleich allgemein begründet erscheinen konnte, als Produkt einer bloßen Selbstverwirklichung und seiner Kreativität. Dies hat das Erkenntnisinteresse ins so genannte postmoderne Denken gewendet, das sich als Emanzipation der Menschen gegen die klassischen Notwendigkeiten des Systems verstand, dem Begriff eines Ganzen und der Möglichkeit einer wahren Aussage hierzu sich entzog.

Die entzogene Ganzheit

- Das disqualifizierte System bleibt systemantisch

- Disqualifikation von Wissen qualifiziert den Glauben

- Realität ist nur noch potenziell wirklich

Das System und seine Geschichte sollten damit disqualifiziert sein, dass es keine Not mehr darstellte und also nicht mehr Gegenstand von Wissenschaft war - eben so, wie diese nicht mehr zur Wahrheit fähig sein wollte. So wurde Wissenschaft in der Welt der ungeheuerlichen weltweiten Systematik der globalen Märkte selbstbezüglich. Sie reduzierte ihr Erkenntnisinteresse auf kreative Subjektivtät, auf die Konstruktion seiner selbst als Alternative zur Welt fremder Mächte und entzog sich auf diese Weise der Wissensbildung hierzu. Deshalb schien es in ihren Instituten eher so zu sein, als ob ein zusammenhängender Gedanke zur Gegenwart eher stört, als dass er den Menschen etwas zu eröffnen hätte. Wissen konnte keine Gegenwart mehr brauchen, die belastend ist. Es herrschte die Intuition der Freiheit und die ist eher eine Glaubensangelegenheit, setzt auf die Potenziale der Zukunft, auf die Fügungen des Marktes und der Menschen und also auf das Funktionieren des vorhandenen Instrumentariums, das hierfür optimal wäre. Das aber ist vor allem Geld.

Man glaubt daher an solche Instrumente, wenn man Geld besitzt und die dürfen nicht mehr hinterfragt werden, weil sie die ausschließlichen Mittel des Lebens - zumindest hierzulande - geworden sind, die Lebensmittel des Freigeistes, der sich immer erst in seiner Zukunft bewahrheiten kann, der Zukunft einer Produktion, die ihm dienlich ist. Das hat postmoderne Entwicklung gebracht und als Ideologie des Neoliberalismus umgesetzt - zumindest für die Finanzmärkte. Was der Liberalismus noch in positivistischer Wissenschaft zu beweisen suchte, was ihre instrumentelle Vernunft noch als Entwicklugsstrategie für den Wohlstand der Menschen bewahrheiten wollte, das hat sich durch den Neopositivismus, wie er im Neoliberalismus daherkommt, in den Glauben an die Möglichkeiten der Erfindungen und Konstruktionen, in einen Glauben an die Vernunft der Instrumente verkehrt - und zwar weltweit. Und da kann man nicht mehr zurück. Das Möglichkeitsdenken, das dem Geldbesitzer zu eigen ist, war zum Glauben an die bislang ungeahnten Möglichkeiten der Zukunft, und also implizit in das Vertrauen auf die Geldentwicklung verwandelt.

Die Emanzipation der Wissenschaft und die Wissenschaft der Emanzipation

- das entäußerte Wissen als unendliche Beziehung (unbestimmte Beziehung auf den Gegenstand)

- das Wissen der Entäußerung als bestimmte Beziehung zur Wissenschaft

- Entfremdung des wissenschaftlichen Subjekts ist das Leiden der Wissenschaft

- die Wissenschaft der Emanzipation ist die Erkenntnis der bestimmten Abstraktion

Würden die Wissenschaften sich aus der Reflexion menschlicher Lebensinteressen heraus entwickeln und gestalten, so würden sie an den Absurditäten, die das Leben der Menschen und der Natur verbrauchen und zerstören, ansetzen. Die großen Fragen der letzten Jahrhunderte, warum die Minderung des Arbeitsaufwands, die großen Erträge, welche moderne Technologie mit sich bringt, in Armut und Verelendung von Arbeitslosen münden muss, warum der Reichtum, den die Menschen gesellschaftlich herstellen, über das Privateigentum an Vermögen, Geld und Wertpapieren ihnen wieder entzogen werden kann, warum die Befreiung der Arbeit aus ihrer Naturgewalt zur Beherrschung der arbeitenden Menschen gelangt ist, zur Herrschaft vergangener, toter Arbeit über die Lebende, warum Geld einerseits in Massen aufgehortet und mächtig, und dann plötzlich wertlos und nichtig wird, warum die gewaltigen Potenzen menschlichen Erfindungsgeistes dahin gekommen sind, unseren Planeten nur auszuplündern anstatt seine Ressourcen auszuweiten und fortzubilden, blieben praktisch ungelöst. Es ist die große Frage der Geschichte, die dann aufhört zu sein, wenn das Vergangene die Gegenwart beherrscht, wenn das Leblose das Leben bestimmt.

Eine emanzipatorische Wissenschaft muss Fragen beantworten wie z.B. diese: Wie kann das Lebensverhältnis der Menschen sich gegen sie selbst richten? Warum reicht es nicht, gegen die absurden Verhältnisse anzugehen, davon zu überzeugen, dass Naturzerstörung auch Menschheitszerstörung ist, dass Verkürzung der Arbeitszeiten allen zugute kommt, dass Geld auf den Märkten des fiktiven Kapitals Lebensentzug ist und also gegen die Interessen der Menschen existiert. Schließlich ist das im Grunde allgemein bekannt. Warum propagieren dies die Wissenschaften nicht und suchen Wege für die Menschen, hiergegen aufzustehen?

Das Problem der Wissenschaften ist ein durchaus menschliches Problem, wenngleich auch nur in gedanklicher Form. Auch sie ist gebeugt vor der Macht der Abstraktion, welche die Lebenszusammenhänge der Menschen zerteilt und gegeneinander bestimmt. Nicht nur, weil sie von ebensolchen existenziellen Mitteln abhängt oder auch als Institution des Staates deren Notwendigkeiten befolgt, sondern weil sie als bürgerliche Wissenschaft in sich selbst gedanklich abstrakt begründet ist. Getrennt von ihrem Gegenstand nimmt sie diesen auch nur in dieser Trennung wahr. Wissenschaft findet in aparten Welten statt. Wenn sie nicht an der Produktentwicklung in den Laboren der Industrie tätig ist, trifft sie auf das wirkliche Leben der Menschen lediglich beratend in Form einer Expertise, die sie durch Grundannahmen unterlegt. Diese Annahmen machen letztlich ihr Urteil aus und bleiben bei ihrer Anwendung unhinterfragt. Sie selbst aber enthalten die abstrakte Beziehung zur Sache, da sie lediglich eine der möglichen Varianten ihrer Interpretation darstellen.

So sind es z.B. Fundamentalannahmen der politischen Ökonomie, welche die wirtschaftlichen Probleme mit dem Finanzkapital klären sollen. Nicht wie und warum Menschen Geld erzeugen, sondern wie mit ihm umzugehen sei, wird durch hypothetische Annahmen begründet, wie sie z.B. in der Grenznutzentheorie vorkommen, oder in der Risikotheorie oder der Mehrwerttheorie, eben in den Geldtheorien der bürgerlichen Ökonomie, der Wissenschaft vom Geldbesitz. Weil sie mit dem Geld beginnt, kann sie auch nur über Interpretationen des Geldverhältnisses ein Verhalten hierzu begründen. Aber schon vor 150 Jahren hat Karl Marx ihre Grundannahmen zerlegt und deren Absurdität herausgearbeitet - im Wesentlichen bis heute unwidersprochen, weil er mit den Menschen begonnen hatte, die mit Geld hantieren, weil er von den Menschen ausging und auf die Menschen zurückgekommen ist, weil er also über ein menschliches Verhältnis nachgedacht hat. Ähnlich ergeht es auch anderen Theorien der bürgerlichen Wissenschaft wie z.B. der Psychologie: Weil Psychologie von einer Psyche im einzelnen Menschen ausgeht, kann sie diese auch nicht aus wirklichen menschlichen Beziehungen heraus ergründen, diese lediglich als „Niederschlag" im Menschen ansehen. Umgekehrt kann sie daher auch nicht sagen, was Psyche überhaupt eindeutig sei, weil im Menschen selbst nur zirkuläre und also beliebige Grundannahmen möglich sind: Resultiert Psyche z.B. aus einem Befriedigungsstreben oder aus archetypischen Grundmustern oder aus den Verhältnissen des Verhaltens oder aus einem ästhetischen Gestaltungsprinzip oder aus einer systemischen Indoktrination oder, oder. Beispiele dieser Art gibt es genug auch für andere Geisteswissenschaften. Interpretieren kann man nur, was nicht gewiss ist. Von daher ist die Interpretation selbst abstrakt, wie auch die Sache, die sich interpretieren lässt. Um solche Interpretationen von Grundannahmen, um solche Gedankenabstraktionen aufzulösen, genügt es nicht, Wissenschaft abstrakt zu kritisieren oder ganz einfach als Ideologiekritik zu kaschieren. Wissenschaftskritik kann nur die Kritik ihrer Abstraktion selbst sein - und die kann wesentlich nur konkret gehen.

Die Kritik der Gedankenabstraktion mündet daher zwangsläufig in die Kritik der Realabstraktion, die ihr vorausgesetzt ist. Sie wird in ihrer eigenen Konsequenz zu einer kritischen Theorie der gesellschaftlichen Lebensproduktion. Aus der Emanzipation der Wissenschaft wird also eine Wissenschaft der Emanzipation des Menschen von den abstrakten Mächten, die sein Leben bestimmen und beherrschen. Aus der Erkenntnis des sich selbst fremden Bewusstsein der Wissenschaft wird eine Bewusstsein der Entfremdung des Menschen von seinem Gegenstand und von sich selbst.

Abstraktion als notwendige Absicht des Kapitalismus

- die Erkenntnis der gedanklichen Abstraktion verlangt nach ihrer Begründung

- die Abstraktion als erkannte Realabstraktion verlangt die Analyse des Subjekts der Abstraktion

- die Systematik der Abstraktion ist die Erkenntnis des entfremdeten Subjekts in seiner Objektivität

Eine kritische Theorie beginnt mit der Erkenntnis, dass der Gegenstand von Interpretationen selbst ein Unding ist, ein Ding, das zugleich nicht nur Ding ist, ein Ding von zweideutiger Wirklichkeit, also ein Ding, das zugleich unwirklich ist, wo es Wirkung hat. Dies zwiespältige Ding, das so einfältig daherkommt, hat also ein Wesen, das nicht wirklich ist, das zwar Wirkung hat, aber nicht als das wirksam ist, was es ist, also als etwas anderes wirkt.

Um zu begreifen, dass etwas wirken kann, ohne wirklich zu sein, ist Philosophie nötig, die sich über gedankliche Beziehungen aufgeklärt hat, wie z.B. über die horizontale Beziehung von Ursache und Wirkung im Unterschied zu der vertikalen von Grund und Folge. Wenn etwas nicht als das wirkt, was es ist, hat dies einen Grund, der außer ihm ist, der es als etwas Äußeres, also Fremdes begründet, zu einem äußerlichen Gegenstand macht. Als dieser kann er nur Produkt einer Entäußerung sein, ein Ding, das zwar von den Menschen ist, aber nicht als dieses wirklich für die Menschen sein kann. Es ist doppelt bestimmt, hat zwei Seiten, die es in doppelter Weise erscheinen lassen.

Marx hat dies an der Ware expliziert, welche die Elementarform des Reichtums der kapitalistischen Gesellschaft ist. Sie existiert immer nur in zwiefältiger Beziehung, nicht nur als Gebrauchswert und Tauschwert, sondern als Wert selbst, als Wertmaß und Maßstab seiner Erscheinungsform zugleich, als Maßstab der Preise. Marx hat dies in seiner Werttheorie ausführlich dargelegt und gezeigt, dass Wert eine Abstraktion ist, die nicht als Wert, immer aber in Geldwerten, in den Preisen derselben Sache erscheint. Diese können mal diesen oder jenen Wert haben oder auch gar keinen Wert, können an selber Stelle aufgehen, wo sie auch untergehen, wenn Dinge ihren Wert verlieren und Geld wertlos wird und Kapital aufzehrt. Kapital und Geld sind darin leicht als Erscheinungsformen von etwas erkennbar, das nicht als dieses existiert, weil es lediglich im wirklichen Arbeitsprozess geschaffen werden kann. Das wissenschaftliche Allgemeinverständnis von einer wertvollen Wirklichkeit der Geldverhältnisse stand dem aber bisher entgegen, weil Wert selbst als wirkliche Lebensgrundlage anerkannt bleiben soll und Arbeit hiergegen relativ bleiben muss. So verstehen sich eben die Bürger, die vor allem Geldbesitzer sind.

Marx hatte sich gegen die bestehende Theorie vom Wert gewendet, wie sie von den Nationalökonomen seiner Zeit bereits ausgeführt war. Diese behandelten Wert als positive Grundlage der Ökonomie, das Wertgesetz also auch als ihr positives Maß und Maßstab, als Ausdruck menschlicher Wertschätzung und Bewertung. So wurde es ja auch noch in dem sich sozialistische gebenden Bürgerstaat der DDR verstanden und ist immer noch bestimmend für die sozialen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzung. Die Dinge haben hiernach Wert, weil sie per se wertvoll sind, weil man Geld einfach auch haben muss, weil sie eben die Menschen bereichern, egal, woher sie kommen und wodurch sie vergehen, für welche Klassen sie zum Vermögen werden und welchen sie entzogen bleiben. Marx wies hiergegen nach, dass Wert ein bestimmtes Lebensverhältnis darstellt und nicht einfach als Wert existiert, dass Wert also nur etwas hat, was zugleich nicht Wert für sich sein kann. Mit einem Seitenblick auf das deutsche Wertbewusstsein zitiert er den Mephisto aus Goethes Faust: „So ist denn alles, was entsteht, wert, dass es zugrunde geht" und er will damit belegen, dass Wert sich selbst ausschließt, also ausschließlich in den gegensinnigen Existenzformen der Waren und des Geldes existieren kann. Wert ist etwas, das zugleich gegen sich negativ existiert, das Wert ist, wenn und solange es getauscht wird, wenn es die eine Hand verlässt, die es überschüssig hat, um in die andere zu gelangen, die es nötig hat, - eben solange, wie zwischen Überschuss und Not keine wirkliche Beziehung besteht. Dies doppelte Dasein von Wert im Tauschakt selbst, im Gebrauchswert einerseits und im Tauschwert andererseits, ist zwar auch als gesellschaftliches Verhältnisses zwischen Erzeugung und Konsum auszumachen, aber es verhält sich zueinander unvermittelt, also beziehungslos. Es existiert lediglich durch den Tausch wirklich als das Einzelne abstrakt in seinem allgemeinen Verhältnis, im Widerspruch seines einzelnen qualitativen und seines allgemeinen quantitativen Verhaltens im Warentausch,

Die widersprüchliche Bewegung der Waren zwischen diesen Polen hat durch Marx eine umfassende Erkenntnis befördert: Die Naturalform der Produkte in dieser Gesellschaft widerspricht ihrer ökonomischen Form als Erscheinungsform des Werts. Der Gebrauchswert selbst wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts, weil nur der Wert die Menschen in ihren Tauschbeziehungen wirklich gesellschaftlich vereint. Ihre Gesellschaft existiert also nur als Dasein von Wert und sieht ausdrücklich von allem ab, was die Dinge durch sich und für die Menschen, was sie als Produkte konkret nützlicher Arbeit und als Gegenstände ihrer konkreten Bedürfnisse sind. Zu Ende gedacht ist dies die Grundlage der Kritik der politischen Ökonomie, wie sie im Hauptwerk von Marx, im Kapital verfasst ist. Er beschreibt darin ein Produktionsverhältnis, das in einem permanenten Widerspruch zu seiner Produktivkraft steht, weil es als Verhältnis von Warenbesitzern existiert, als Verhältnis von Menschen, die nur über ihren Warenbesitz gesellschaftlich und nur durch ihren Warenbesitz privat sein können, die also im Widerspruch von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung existieren.

Es war Philosophie also auch nötig, um in diesem gedanklichen Umfang sich auf die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse zu beziehen, um ein sachlich scheinendes gesellschaftliches Verhältnis in seiner Konsequenz als Lebensverhältnis der Menschen aufzuweisen. Und es war dies daher auch die Grundlage einer Wissenschaft, die nicht von einer Sache, sondern von den Menschen selbst ausging, ohne rein subjektiv zu bleiben. Im Gegenteil: Im Wissen um die Entfremdung der Menschen die nicht als Subjekte ihrer Verhältnisse, nicht wirklich objektiv - und das heißt: gegenständlich - existieren können, entstand die Theorie objektiver Fremdbestimmtheit. Dies ist eine Theorie, welche die Formbestimmtheit gegen die Lebensinhalte der Menschen aus einem Abstraktionsprozess ihres gesellschaftlichen Verhältnisses selbst zu erklären sucht, die in der Lage ist, dem Verwertungsprinzip, der Grundlage des Wertwachstums, den vielgepriesenen Boden der Humanität des Geldes zu entziehen, wenn sie beweisen kann, dass hierbei nur menschliches Leben verwertet wird, dass also zu einem allgemeinen Wissen wird, dass menschliche Arbeit sich den Menschen entzieht und ihre Bedürfnisse nach Maßgabe ihrer Abstraktion befriedet werden. Der Beweis beruht darauf, dass die Beziehungen der Menschen als Ganzes sich in der Abstraktionskraft ihrer Verhältnisse verlieren, weil sie in ihrer Wirklichkeit dadurch negiert sind, dass sie in der Aufhäufung abstrakter Arbeit sich selbst aufheben. Von da kam Marx zu der Aussage, dass den Menschen nur die Entscheidung bleibt, zu einem wirklich sozialen Verhältnis zu gelangen oder in Barbarei zu verfallen.

Schon bei Hegel kommt dieses Prinzip der impliziten Negation als Gedanke vor und Marx bezieht sich auch ausdrücklich hierauf. Aber Hegel hatte dies lediglich als Gedanke, als Implikation allen Seins formuliert, als ideelle Negation eines Nichtseins, nicht als konkrete Bewegung von etwas, das durch seine Äußerlichkeit selbst Wirkung hat und dennoch nicht wirklich ist. Marx schreibt:

„Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist ... einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die Betätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d.h. als menschlichen Wesens, ist nur möglich dadurch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte - was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte - herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist." (Quelle: Karl Marx 1844 in MEW 40, S. 574)

Bei Hegel war der Grund der Negation ideel, reines Moment in der Vergegenständlichung des Menschen durch seine Arbeit. Marx hat diesen Grund zu einem Moment der Wirklichkeit aufgebrochen, hat ent-deckt, dass das Geäußerte in seiner Entäußerung verselbständigt ist, weil Arbeit von ihrem Produkt getrennt fixiert wird, weil sie nur in der Teilung von Einzelarbeiten für sich existiert. Und so war aus der Kritik an Hegel die Erkenntnis formulierbar geworden, dass der Kapitalismus selbst das negative Prinzip einer Getrenntheit ist, das zwischen seiner Naturalform und seiner Wertform sich entfaltet, worin in ihrer allgemeinen Elementarform eine abstrakte, den Menschen fremde Substanz zur Bestimmung aller Geschichte wird: abstrakt menschliche Arbeit. Diese Gewissheit war so umfassend, dass sie auch 150 Jahre später als Erkenntnis der bestehenden Geschichte Bestand hat. Sie mag in ihrer Einfachheit zunächst fast kleinlich erscheinen. In ihrer Konsequenz hat sich auf dem darin erkannten Prinzip ein ganzes Weltprinzip bis hin zum globalen Kapital entfaltet und lässt sich hierdurch auch weiterhin erklären, - wenigstens so lange es besteht.

Der Inhalt der Formbestimmung als Substanz des dialektischen Begriffs

- die abstrakte Substanz der Form als Bestimmtheit gegen die Form

- der Widerspruch zwischen Formbestimmtheit und Inhalt

- wird zum Widerspruch von Einzelheit und Allgemeinheit

Begrifflich verstanden ist Emanzipation, wie sie vorhin beschrieben worden war, die Aufhebung einer fremden Form, einer Form, die für sich bestimmt ist und als Formbestimmung sich gegen die Menschen verhält. Hegel hatte diese Form noch als Entäußerung einer inhaltlichen Bestimmtheit, also noch als notwendiges Moment der Entfaltung ihrer Bestimmung, also als eine notwendige Entfremdung angesehen. Emanzipation galt ihm daher als Not wendendes Entwicklungsmoment, woraus sich eine „höhere Stufe" des Geistes ergebe als Resultat einer immer wieder neu bestimmten Entgegensetzung seiner Inhalte, das immer wieder neue Formen in der Verwirklichung ihrer Idee gestaltet. Er begriff jede Entwicklung nur in ihrem geistigen Gehalt und von daher als Fortschritt einer Dialektik, die sich zu einer Einheit im absoluten Geist entwickelt, worin die letztliche Wahrheit sich frei verhalten könne. Marx hat dieses Verständnis als Prinzip einer idealisierten Gläubigkeit, als spekulativen Begriff gründlich umgekehrt und „auf die Beine" ihrer materiellen Voraussetzung gestellt. Diese besteht in den sachlichen Lebensbedingungen, in denen die Form ihrer allgemeinen Beziehung, die Form des bürgerlichen Rechts, des Privateigentums, ihrer gesellschaftlichen Eigentümlichkeit als Produkt des Zusammenwirkens der Menschen widerspricht. Der dialektische Begriff ist nach ihm die Darstellungsform einer Entfremdung des Menschen von seiner Sache, die Formbestimmung also die Fortbestimmung eines Widerspruchs, der aus der einen Form in eine andere verschwindet, sie verdoppelt und schließlich in einer allgemein abstrakten Bestimmung untergeht. Diese kann für sich nichts mehr sein, weil sie als einzelnes nicht allem gemein und als Allgemeines nicht einzeln sein kann, also "weder das eine noch das andere" und doch beides ist. Solange die Gegensätze, die den Widerspruch bewegen, nicht von den Menschen in ihrer Wirklichkeit vereint werden, treten sie als Fremdbestimmung in abstrakter Einheit zutage.

Ohne Wissen um die abstrakte Bestimmtheit ihrer Verhältnisse drehen sich die Menschen im Kreisel ihrer Nöte und Erfordernisse. Solange sie durch ihren Widerstand nur quantitative Verbesserungen erreichen, verschärfen sie die substanziellen Widersprüche, einer ihnen entfremdeten Gewalt. Ihre aufgebesserten Löhne verschwinden immer wieder in den Notwendigkeiten des Kapitals, seine Verwertungsprobleme und also den Wert ihrer Arbeit zu mindern; ihre verkürzten Arbeitszeiten werden durch die verschärfte Ausbeutungsrate im In- und Ausland kompensiert, ihre verbesserte Grundsicherung wird ihnen durch die Verteuerung ihres Lebensstandards wieder per Steuer vom Staat abgerungen. Die Kritik an diesen Verhältnissen resigniert, wenn sie sich nicht auf die Substanzen der Fremdherrschaft bezieht.

Der Wert ist substanziell abstrakte Arbeit, die im Warentausch als Reduktion der Güter auf ihr Quantum, auf ihre Wertgröße, wirksam ist. Die Wertgröße ist daher auch das Maß der durchschnittlich notwendigen gesellschaftlichen Arbeitszeit und wird wesentlich vom Kapital bestimmt, wiewohl sie nichts anderes darstellt als die durchschnittliche Anwendungszeit menschlicher Arbeitskraft. Die durchschnittliche Verkürzung dieser Zeit durch Steigerung der Produktivkraft muss das Kapital durch eine höhere Umsatzrate seiner Produkte ausgleichen und kommt hierdurch immer wieder selbst an seine Schranke, wenn das Umsatzwachstum für solchen Ausgleich nicht mehr hinreicht und dadurch die Mehrwertrate sinkt.

"Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muß und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals." (Marx-Engels-Werke Bd.25, S. 260)

Marx hat in seinem Hauptwerk dargestellt, dass das System der abstrakten Arbeit nicht nur gegen die Menschen steht, sondern zwangsläufig auch gegen sich selbst. Die Probleme, die es mit sich selbst hat, sind eben diese Verwertungsprobleme, die immer wieder als Krise des Kapitals auftreten. In diesen Krisen verdoppelt sich die politische Gewalt gegen die Menschen, die schon durch das Recht des Privateigentums gedungen sind, durch die Staatsgewalt, die ihnen die Begleichung der Wertverluste in Form von Staatsschulden abverlangt. Durch diese allerding wird das Kapital selbst nur gedoppelt, seine Fiktion bestärkt und an den Staat abgegeben. Der wiederum kann nichts anderes tun, als die Schulden einzutreiben, den bereits erarbeiteten Geldwert nochmal den Menschen abzuverlangen und vielleicht auch noch mehrere Male.

So treibt die Krise des Kapitalismus bis zur Verkehrung der kapitalistischen Verhältnisse überhaupt, bis in seine Ursprünge, den Feudalismus, in welchem die persönlichen Rechte der Menschen dem Feudalherrn übereignet sind. Denn der Verschuldungskapitalismus, der seine Bürger zum Bürgen seiner Potenzen macht, ist nichts anderes als ein Feudalkapitalismus, der nur mehr Schulden eintreibt, welche die Bürger nicht gemacht haben, aber persönlich dafür haften müssen. Faschismus ist dann früher oder später die angemessen Staatsform. Wie sie formuliert wird ist dabei nur eine Frage der politischen Kultur und ihrer Medien.

Emanzipation beginnt im Kopf

- reale Aufhebung abstrakter Beziehungen setzt emanzipatorisches Wissen voraus

- und ist hierdurch Rückführung der menschlichen Verhältnisse auf den Menschen

Emanzipation begründet sich nicht einfach durch individuelle Selbstbestimmung, die ja nur Selbstbehauptung sein kann. Sie ist die wirkliche und tätige Position gegen Fremdbestimmung. Dies setzt die Kenntnis der den Menschen entfremdeten Position voraus, also auch die Erkenntnis eines fremden Menschseins und der Macht, welche sich allgemein aus dem in der Isolation abstrakt gewordenen Lebenszusammenhang der Menschen ergibt. Solche Macht hat ihre Gewalt wie eine Naturmacht, weil sie aus abstrakt gewordener Natur besteht, weil sie eben in ihrer Substanz isolierte Natur, aus ihrem Leben isolierte Naturalform ist und sich von daher als Verfügungsmacht über ihre Einzelheiten und Vereinzelungen erhebt. Weil die Menschen ihrer Natur folgen müssen, ihrem Stoffwechel und den Notwendigkeiten ihres Gattungslebens, ihrer Arbeit und ihren Bedürfnisse, hat der abstrakte Zusammenhang ihrer allgemeinen, also gesellschaftlichen Naturalform auch Gewalt über sie.

Wissenschaft ist die Voraussetzung, dass die Menschen über ihre vereinzelte Erfahrungswelt hinaussehen und auch in ihrer abstrakten Welt für ihr praktisches Leben Bewusstsein bilden können, allgemeines Wissen, das sich auch im Einzelnen bewahrheitet, und das die ausweglos scheinende Wirklichkeit durchsichtig und überwindbar werden lässt. Dies setzt voraus, dass Wissenschaft sich selbst als menschliche Tätigkeit, als eine Arbeit von und für Menschen begreift, als eine einfache Beziehung auf die Widersprüche menschlicher Verhältnisse. Sie beginnt daher bei der Emanzipation der Wissenschaften von ihrer eigenen Bestimmtheit, denn Wissenschaft muss sich selbst erst mal wirklich im Lebenszusammenhang der Menschen begreifen, also auch ihre Fremdbestimmung als Bedingung eigener Begriffsbildung erkennen. Erst dies wird ihre Inhalte und Horizonte verändern.

Eine Wissenschaft der Emanzipation befasst sich daher nicht einfach "voraussetzungslos" mit irgendeinem Gegenstand, sondern auch kritisch mit ihrem eigenen Daseinsgrund. Indem sie sich mit ihrem bestimmten Gegenstand auseinandersetzt, befasst sie sich zugleich mit sich selbst, mit ihrer eigenen Bestimmtheit. Aus ihrem Gegenstand erkennt sie sich, indem sie sich durch dessen Ungewissheit bestimmt weiß. Die Abstraktionen vom wirklichen Leben der Menschen erklären auch der Wissenschaft die Not ihrer Erkenntnis, den unendlichen Kreislauf ihrer Gedankenabstraktionen und Lebensvorstellungen. Wo Wissenschaft nicht selbst ein Moment der praktischen Reichtumsbildung ist, hat sie keinen anderen Grund, als den Grund zu erkennen, welcher Wirklichkeit unwirklich macht, den Grund für die Macht einer Form zu finden, welche die Inhalte menschlicher Lebensverhältnisse deformiert, ihre Wirklichkeit verrückt macht.

Aber die Wissenschaft, wie sie heute gelehrt wird, ist nicht nur selbst formell sondern auch rein instrumentell, also selbst schon zur Wissenschaft ihrer Instrumente geworden. Sie richtet sich danach aus, was hiermit unter bestehender Interessenslage zu erreichen und also opportun ist. Gentechnik kann die Naturprodukte bestimmen, Krankheiten ausrotten oder neue auf die Welt bringen und alle bisher geltenden Werte außer Kraft setzen. Computer erzeugen Bilder von physiologischen Daten, die zuvor nicht interpretierbar waren und fordern zur Neuinterpretation des Menschenbilds auf. Informelle und kommunikative Netzwerke lassen soziale Prozesse bestimmbar, aber auch durchsichtiger werden. Roboter ersetzen viele Arbeitsprozesse, erkunden den Weltraum und erweitern den Blick auf unsere Erde, können Kriege automatisieren und zum Krieg der Technologien machen und vieles andere mehr. Wieweit Wissenschaft den Menschen zu ihrer Fortentwicklung verhilft, hängt davon ab, welches Wissen die Menschen ihr entnehmen und wie sie über sie verfügen können. Weitgehend ist sie von den Verwertungsinteressen des Kapitals bestimmt und somit Werkzeug der Fremdbestimmung.

Solange Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sich lediglich im Auftrag isolierter Projekte verpflichten, um deren Probleme zu lösen und hierbei die Wirklichkeit ihrer Resultate ausblenden, wird sich an den herrschenden wissenschaftlichen Formationen und Institutionen nichts ändern. Solange die Forschung an beliebiger Stelle Mängel behebt, dient sie dem Heil des Ganzen, bleibt sie dem Wertwachstum verpflichtet. Solange die Sozialwissenschaftler und Rechtsexperten der bürgerlichen Existenz, Ärzte der Pharmazeutischen Industrie, Politologen dem repräsentativen Parlamentarismus usw. sich verpflichtet fühlen, solange wird von Emanzipation nicht die Rede sein können. Auch wenn die Menschen um ihre Löhne und Arbeitszeiten kämpfen müssen, so besteht ihre Emanzipation nicht aus Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen. Emanzipation bleibt nicht in der Verführung leerer Quantitäten stecken; sie ist qualitativ. Wenn es den Menschen in einer Branche oder einem Land oder einer Klasse besser geht, so hat das nichts mit Emanzipation zu tun. Oft bedeutet das sogar auch, dass es den Menschen anderswo schlechter gehen muss. Aber auch ohne dies: Es geht einer Emanzipation um politische Befreiung, um die Befreiung aus der politischen Bestimmung der Ökonomie, der Kultur, des Gemeinwesens, der Menschen überhaupt.

Das verlangt die Unterscheidung von Form und Inhalt, die politische Abweisung politisierter Inhalte, also Kritik der politischen Ökonomie, der politischen Kultur usw. Eine Wissenschaft der Emanzipation muss die allgemeine Deformation des menschlichen Lebens zu ihrem Gegenstand machen, den allgemeinen Grund der Reduktion dieses Lebens herausarbeiten, seine Bestimmtheit durch die Macht einer vergangenen, toten Geschichte bekämpfen. Es geht ihr um das Hervortreten eines gesellschaftlichen Subjekts, das sich von jeder Vorbestimmtheit frei wissen kann. Dies macht die Kritik der politische Formalisierung nötig, die Kritik der Formbestimmung der Ökonomie durch das bürgerliche Recht auf Privateigentum, der politischen Kultur durch die Bestärkung der persönlichen Egozentrik usw. Emanzipation verlangt Wissen über die Unterschiedenheit der vielfältigen Substanzen, konkretes Wissen.

Der dialektische Begriff des Kapitalismus beweist dessen Ausweglosigkeit. Doch die Menschen schrecken davor zurück, weil sie ihre Existenz darin verwurzelt sehen. Wissenschaft jedoch kann dies als Ausgang für ein Bewusstsein ansehen, durch welches die bestehenden Existenzformen als Formen eines ihnen fremden Seins überwindbar werden. Sie kann die vorhandenen Lebenszusammenhänge in ihren Konsequenzen und Chancen erkennen und ihre Abstraktionen aufklären, ihren Hinterhalt aufdecken. Wissenschaftlicher Sozialismus kann in allen Bereichen der Gesellschaft nachweisen, dass die inhaltliche Beziehungen in der bestehenden Gesellschaft zerteilt sind und gegen sich selbst beschränkt werden, dass sie längst über ihre herrschenden Existenzformen hinausreichen. Hierauf können sich Menschen und Bewegungen stützen, die nicht das Vermögen zu wissenschaftlicher Arbeit haben. Solche Wissenschaft kann die Menschen auf das konzentrieren, was ihre Ohnmacht bestimmt. Wenn dies in allen Lebensprozessen stattfindet, so verbindet das die Menschen im Bewusstsein ihrer Bedrängung durch die Mächte, von deren Kontrolle sie ausgeschlossen sind. Es verbindet sie überall auf dem Globus, in allen Ländern, Regionen und Kommunen, denn die Welt existiert längst als globaler Lebenszusammenhang der Menschen. Von daher eröffnet Wissenschaft als theoretisches Bewusstsein der menschlichen Emanzipation einen weltweiten Zusammenhang des Menschseins, der sich über die durch das Kapital verfügte Isoliertheit der einzelnen Existenzen und Nationalitäten, der Disziplinen und geteilten Arbeitswelten zu erheben weiß.

Die herrschende Politik gibt sich als politische Emanzipation in den Notwendigkeiten der bürgerlichen Ökonomie. Sie muss zu einer ökonomischen Emanzipation der Menschen mit einer durch sie selbst bestimmten Politik werden. So forderte es schon Marx vor langer Zeit. Er schrieb:

„Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine "forces propres" (eigenen Kräfte - Verf.) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht." Karl Marx in Zur Judenfrage (1843) (Marx-Engels-Werke Bd.1, S. 370)

In der Selbstkritik der Wissenschaft begründet sich ihr Verhältnis zu ihrem praktischen Gegenstand: Sie selbst will im gegenständlichen Bewusstsein, also als bewusste Praxis aufgehen. Das Unwirkliche der Wirklichkeit ist der Ausgangspunkt ihrer Analyse, die das allmächtige Wesen einer dem Menschen fremden Substanz erschließt. Indem hieraus das Wesen des Unbestimmten, des Abstrakten, als Substanz einer Existenzform, als Bestimmung fremder Erscheinungen begriffen wird, versetzt Wissenschaft die Ungewissheit selbst in die Wirklichkeit und bereitet ihre wirkliche Leidensform als Lebensverhältnis der Menschen auf, das durch niemandem anderes als durch diese selbst geändert werden kann. Indem hierdurch aus den herrschenden Existenzformen der menschengemachten Welt die Wesensnot der Menschen bloßgelegt ist, eröffnet sich ihnen die Chance, endlich für sich selbst wesentlich zu werden. Die Not, welche allgemein herrscht, kehrt sich in die Notwendigkeit, die Herrschaft fremder Ungewissheiten durch eigene Wirklichkeit zu überwinden. Es wird die "Waffe der Kritik" (Marx) zur Grundlage einer menschlichen Emanzipation, die nötiger nicht sein kann, und die zugleich die "Kritik der Waffen" (Marx) zur notwendigen Folge hat.



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