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MEW 23: Kapital Band I - Der Produktionsprozess des Kapitals
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"Das Kapital" ist das Hauptwerk von Karl Marx. Es ist Resultat einer langen Forschungsarbeit, die schon in ihrem philosophischen Entwurf, wie er in den "Ökonomisch-philosophischen Manuskritpten" (1844) dargelegt ist, sich gegen die Grundpositionen der Philosophie, den Materialismus und Idealismus wendet. Zusammen mit Friedrich Engels stellt er auch in der "Deutschen Ideologie" (1845) dar, dass Philosophie nicht aus sich selbst heraus begreifen kann, was sie tut, dass sie selbst nur einem ideologischen Kern des reinen Gedankens verhaftet bleibt, wenn sie sich nicht über ihr bloßes Denken hinaus zur Reflexion ihrer eigenen Voraussetzungen entwickelt, sich also zu einer analytischen Wissenschaft weltlicher Gegenstände und Bedingungen emanzipiert. Sie bleibt ein "jenseitiges Denken", im Kern theologisch, wenn sie sich nicht in der Kritik des Jenseits, der Kritik des Mystizismus des sich selbst fremden Denkens begreift. Marx formulierte nach seiner Auseinandersetzung mit Hegel und Feuerbach die Einsicht, dass die Selbstverständigung, welche Philosophie betreibt, sich notwendg zu einem Bewusstsein der praktische Lebenswelt der Menschen entwickeln muss und daher reelle Wissenschaft als Kritik der Hirngespinste und bloßen Vorstellungen werden müsse, Kritik der Ideen einer abstrakten Selbstbegründung und Selbstbestätigung, der Ideologie schlechthin werden müsse (siehe Feuerbachthesen in MEW Bd.3, S. 533 bis 535).

In diesem Gedanken wandte sich Marx den Bedingungen des sich abstrakt bleibenden Denkens zu, in welchem der denkende Mensch auf der Identitätssuche durch seine Gedanken vor allem nur sich selbst veredelt. Abgewiesen wurde sowohl ein platter Materialismus, der als Empirismus (oder Positivismus) daher kommt, als auch der Idealismus des reinen Seins, der Logik des absoluten Geistes. Damit sollte Philosophie sowohl als Affirmation der Empirie durch den Empirismus, als auch als Selbstverständigung über die Entfremdung des Menschen von seinem geistigen Wesen (Hegel) überwunden werden. Sie sollte übergehen in ein Bewusstsein der Entfremdung der Menschen von sich und ihrem gesellschaftlichen Wesen (Gattungswesen), das nur ein Wissen über die praktische Lebensverhältnissen des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen sein kann. Marx suchte den Beweis, dass Philosophie als solche keine vollständige Erkenntnis sein konnte, sondern eine reine Interpretation geblieben war, ein zu sich selbst nur relativer, ein rein theoretischer Verstand, der sich seinem Lebensgrund zwangsläufig entzog, der sich nur zu sich selbst verhielt, um sein eigenes Unglück, den "Schmerz der Erkenntnis" (Hegel), die Kränkung des Gedankens durch die Welt zu beschreiben und die Abstraktheit seines Denkens zu beherrschen. Ein solch "unglückliches Bewusstsein" (Hegel) wollte Marx zu einem "Bewusstsein des Unglücks" (Marx) emanzipieren.

Was zunächst wie eine Fortführung des Hegelschen Denkens erscheinen mag, war dessen Umkehrung im Bezug zur Wirklichkeit: Marx fand den wirklichen Grund der Entfremdung in den Lebensverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft selbst, die er dann als die Form einer sich selbst entzweienden Selbsterzeugung und Selbsterhaltung vor allem in ihrer Wirtschaftsweise untersuchte. Was von Hegel übrig blieb, war die Denkmethode, die Dialektik, die allerdings ihre Quellen nicht mehr aus der Geschichte eines Weltgeistes beziehen sollte, sondern aus der praktischen Geschichte der Menschheit, aus der Emanzipationsgeschichte des Menschen von einem Naturwesen zu einem sein Leben gestaltendes Wesen (siehe historischer Materialismus).

Auch wenn mit der Kritik des vollkommensten Philosophen, mit der Hegel-Kritik, eine Verkehrung philosophischen Denkens festgestellt ist, Philsosophie also aufgehoben sein soll, so ist dies keine Abweisung von philosophischem Denken als theoretisches Bewusstsein, sondern dessen Relativierung an der Notwendigkeit, sich selbst, aus einem bloß theoretischen Sein in praktischem Bewusstsein aufzuheben, von der "Leidenschaft des Kopfes zum Kopf der Leidenschaften" (Marx, MEW 1, S. 380) zu werden. Philosophen können nicht innerhalb der Philosophie auf einen richtigen Begriff des Seins kommen, weil sie auch ihr Philosoph-Sein selbst überwinden müssen. Weil alles Sein immer nur Bestimmtes sein kann und als dieses den Inhalt des Bewusstseins ausmacht, entfaltet sich in der bloßen Theorie nur das Verharren der Interpretation als abstrakter Bezug auf die Welt, als abstrakte Seinsgewissheit in einer Theorie der Seinserkenntnis - ein Widersinn in sich. So wesenstief dieser Bezug dann auch erscheinen mag, so falsch ist er, weil er sich so nur als positive Abstraktion des Seienden verhalten kann, als Regression des Konkreten in die unbegründete Einfältigkeit eines logischen Wesens, das zum Wesen seiner Einfalt wird. Sobald sich aber Denken in das Wesen des praktischen Lebens versetzt, sich selbst zum praktischen Denken treibt, hebt es sein philosophisches Sein durch sich selbst auf - nicht indem es dieses zerstört, sondern in einem anderen Sein des Denkens verwirklicht, einem Denken, worin Gedanke und Wirklichkeit zusammenkommen: Diesseitiges Denken. Wenn Gedanke und Wirklichkeit sich vereinen, haben beide nicht mehr in der Abstraktion einander nötig, sondern heben ihre Trennung in konkreter Lebenspraxis auf.

"Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen." (MEW 1, S. 386)

Die Analyse der wirklichen Lebensverhältnisse setzt um, was in der Philosophie als Erkenntnisinteresse an der "Weisheit des Seins" formuliert ist und versetzt die Menschen in die Lage, diese Verhältnisse als Grund des eigenen Zweifels an Gott und der Welt zu erkennen. Der zur Kritik gewendete Zweifel sucht den "Schmerz der Erkenntnis" zu begreifen (siehe Marx-Kritk an Hegels Begriff vom Selbstbewusstsein), indem er ihn als Widerspruch des eigenen Seins weiß, in ihm den Grund seines Bewusstseins erkennt, die Notwendigkeit, ein Wissen seines Seins zu bilden und darin wissend zu sein.

Philosophie wird darin praktisch in ihrem Sophismus entblößt, der sich immer auf Seinsbestimmtheiten zurückzieht, um sich als Nachdenken über das Leben zu belassen, ohne Lebendes wirklich zu denken. Als solche Reflexion ist sie nicht untätig, ist sie doch die Basis aller wissenschaftlichen Tätigkeit in den Einrichtungen dieser Gesellschaft. Sie relativiert die Notwendigkeit der lebendigen Erkenntnis, leugnet die Not der Unwissenheit, verleugnet Bewusstsein, um den Menschen ihr Sein als Sollen unendlicher Bestimmungen zu überstellen und sich darin gütlich zu halten, entfremdete Verhältnisse mit einer Ethik der Entfremdung zu verfüllen und ihrer wirklichen Erkenntnis zu verschließen. Sie setzt Denken als reines Denken voraus und relativiert Lebensnotwendigkeiten zu Vorstellungen des Seins als solchem, als Ontologie verschiedenster Lebensnöte, die den Trieben, den Göttern, dem Weltgeist oder der menschlichen Existenz als solche entstammen sollen. Mit solcherlei Fixierung eines objektiven Sollens verwahrt sich Philosophie gegen die Notwendigkeiten der Lebensverhältnisse. Durch das theoretisches Dafürhalten einer unendlichen, einer ewigen Not der Erkenntnis, setzt sie den Menschen herab zum Werkstoff ihrer Gedankenwelt, sei es durch ihren Idealismus, der Theorie einer lebenden Idee als Seinsbestimmung des Lebens (Unendlichkeit des Lebens - siehe Hegel), die zu verwirklichen sei, oder durch Existenzialismus, der Theorie einer aus der Seinsbestimmung des Todes notwendigen Selbsterkenntnis des Menschen (Endlichkeit des Lebens als "Sein zum Tode" - siehe Heidegger). Sieht erstre Auffassung im bloßen Sein die Notwendigkeit des Begreifens und der Geschichte gegen das Nichts, so will die letztre im Nichts das Sein erst werden lassen, die Gebote des Werdens verkünden. In der reinen Reflexion kreisen solche Gedanken auf diese Weise zwischen Werden und Vergehen, Wesen und Verwesen und geraten zwischen die Welten. Philosophie - und damit Wissenschaft überhaupt - nimmmt letztlich den Gedanken als Begriff, der dem Leben und Tun der Menschen vorausgesetzt ist und ihnen aufgezwungen, zur Verwirklichung aufgeben wäre als Notwendigkeit ihres Lebens selbst. Philosophie macht von daher aus ihrer Interpretation einen Geschichtsbegriff und ihre Gedanken zum Wesen der Geschichte. Damit ist und bleibt sie letztlich immer eine Art Theologie, und sei es eine reine Teleologie des Weltganzen. Sie passt die Menschen an ihre Lebensverhältnisse an, indem sie deren objektive Notwendigkeiten zu subjektiver Not wendet, zu einem Mangel des Menschseins macht, anstatt die wirkliche Notwendigkeit anzugehen, die Welt selbst in ihrem Mangel zu begreifen und in ihr die unverwirklichte Welt der Menschen zu erkennen.

Ähnlich war auch die Kritik von Friedrich Nietzsche an der Philosophie gemeint, der deren Aufhebung allerdings nicht in der praktischen Erkenntnis der Lebensverhältnisse sah, sondern in der Selbsterkenntnis der Menschen als Radikale dieser Welt. Von da her sah er in der künstlerischen Verstellung des Objektiven eine unmittelbare Dekonstruktion absurder Wirklichkeit, ohne dass ihm hierzu die begrifflichen Auseinandersetzung mit den Lebenszusammenhängen der Menschen nötig war. Im Gegenteil: Der Rückbezug auf ihre Gesellschaftsform erschien ihm selbst als Verfremdung der unmittelbaren Selbsterkenntnis und also als deren Selbstverstümmelung. Von da her trat er als entschiedener Gegner der sozialistischen Positionen seiner Zeit auf und vertrat hiergegen einen zynischen Radikalismus der Kunst, der bis in unsere Zeit hinein sich als Gegenposition zu den Bestrebungen gesellschaftlicher Erneuerung verhielt.

Diese wurde vor allem von den "Dekonstruktivisten" weitergeführt, musste sich aber in der Verneinung jedweder Objektivität weitgehend auf intellektuelle und kulturelle Manipulationen der Wahrnehmung beschränken, der sie die Logik ihrer Verstellungen und ihre Fixierung an strukturelle Gewohnheiten vorhielt. Damit entzog sich solche Kritik den Notwendigkeiten ihres wirklichen Seins und verblieb als eine Strömung des Zeitgeistes, die durch die fortschreitende Wirklichkeit und Gewalt des Kapitalismus an die objektive Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit menschlichen Seins, mit dem Bewusstwerden menschlichlicher Lebenszusammenhänge in einer globalen Welt zurückverwiesen wurde.

Durch die Kritik solcher Denkansätze wendet Denken seine Seinsfrage zur Frage des wirklich lebenden und denkenden Menschen. Dieser denkt nicht nur sich selbst und auch nicht bloße Gedanken des Seins, die in ihm schon vermittelst der Menschheitsgeschichte verwirklicht, durch seine Möglichkeiten des Denkens und Tuns schon bewahrheitet sind. Er befragt das Sein, wo es ihm entschwindet, geht von einem Sinn aus, den er denken muss, weil dessen Dasein für ihn unsinnig ist. Der Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens ist ein Ding, das offensichtlich Unding ist. Nicht Logik und Existenz geht seiner Befragung und Hinterfragung voraus. Deren Auseinanderfallen selbst ist schon Moment der Erkenntnis einer Logik, wenn Menschen sich darin als Mensch bewahren, sich nicht darin verlieren wollen und sich deshalb fragend hierzu verhalten - sowohl als einzelne Menschen als auch als menschliche Gesellschaft. Existenz und Logik, Endlichkeit und Unendlichkeit vermittelt sich allein in ihrer Geschichte selbst als Möglichkeit und Unmöglichkeit des Seins. Sie ist die durch Endlichkeit gebrochene Unendlichkeit, menschliche Tat und Tätigkeit, Lebenspraxis. Und wo Geschichte nicht mehr wahr sein kann, wo sie zerfällt, da erscheint dieser Bruch als Getrenntheit, als abgetrenntes, abstraktes Dasein, als Unendlichkeit im Endlichen selbst, als unwirkliche Wirklichkeit. Die Wirkung des Tatsächlichen ist darin die Wirkungsmacht der Abstraktion; es ist der Widerspruch des Seienden in seinem Sein. Beides erschließt sich dem denkenden Menschen aus dem Unvermögen seiner Wirklichkeit durch die logische Analyse der existenten Widersprüchlichkeiten der Dinge, die nicht das sind, als was sie erscheinen, weil sie getrennt von ihrem Wesen existieren.

Die Trennung von Zusammenhängen täuscht zugleich über deren Wirklichkeit durch eigene Wirkungskraft hinweg und es erscheint die existenzielle Tätigkeit nurmehr als notwendige Vermittlung von Existenzialien, Notwendigkeiten des Stoffwechsels. Damit wird Existenz zur natürlich scheinenden Lebensmacht, die einen unendlichen Grund außer sich hat, Lebensnot im Sein als solchem, durch Gott, Tod oder Natur. Das Getrennte bewahrt und erzeugt in der Täuschung über seine wirklichen Zusammenhänge absurde Wesenheiten, Substanzen, die nicht wirklich sind, die aber Wirklichkeit bestimmen. In der Erkenntnis dieser Täuschung, dieses Scheins, in ihrer Wahrheit werden dem Menschen seine Lebensverhältnisse selbst zum Inhalt des Bewusstseins, zur Wirklichkeit seiner Lebensgeschichte. In seinem Wissen bestärkt sich die Gewissheit, dass es keine Not jenseits der wirklichen gibt und dass die Erkenntnis der wirklichen Notwendigkeiten jenseits des verselbständigten Verstandes beginnt, jenseits seiner Ideen und Hilfsmittel, der "Existenzialien", Konstruktionen und Logismen.

"Das Leben mag sterben, doch der Tod darf nicht leben!" (Karl Marx MEW 1, S. 59)

Mit seinem Apell an die Lebendigkeit des Denkens wendet sich Marx gegen Seinsbestimmtheit überhaupt, welche Denken durch natürlich scheinende Logik ersetzt und abtötet. Das Denken selbst stellt sich gegen den Tod, wenn es die Herrschaft der Nichtigkeiten angreift und das menschliche Leben von seiner natürlichen Gesellschaftlichkeit her begreift und dessen Nichtung durch herrschende Abstraktionen herausstellt und beweist.

Der materielle Ausgangspunkt des Denkens ist der Mensch als Naturwesen, das sich aus seinen Naturempfindungen heraus durch sein Wissen um sich selbst, durch sein Bewusstsein zu einem Gesellschaftswesen entwickelt hat. Im Bewusstsein werden seiende Verhältnisse zum Sein der Menschen, zu dem, worin sich Menschen begreifen, zum Inbegriff ihres Seins. Die Getrenntheit von Gedanke und Wirklichkeit erweist sich darin selbst als Mangel ihres Menschseins, als Selbstentfremdung des Menschen in seinen Gedanken und seiner Lebenspraxis, in seinen gesellschaftlichen Verhältnissen, den Verhältnissen seines Werdens (siehe hierzu Falk & Pfreundschuh 1978: "Entäußerung und Entfremdung").

Die bisherige Menschheitsgeschichte ist von daher als Geschichte der Selbsterzeugung der Menschen aus ihren Naturbindungen heraus zu begreifen, als "Bildungsgeschichte der menschlichen Sinne" (Marx in den Philosophisch-Ökonomischen Manuskripten in der Bildung, Erzeugung und im Genuss menschlicher Gegenstände. Ihr Reichtum ist dadurch entstanden, dass die Menschen sich der Natur selbst als Naturmacht gegenüberstellten, deren Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft und Licht) in ihrem Zweck bestimmt und in und mit ihrem Sinn entwickelt haben. Mit der Entwicklung ihrer Produktionsmittel haben sie sich aus den Mächten und Notwendigkeiten der Natur heraus selbst vergegenwärtigt und ihre Geschichte durch sich selbst als naturmächtiges Naturwesen, als menschliche Gesellschaft begründet. Als Teil der Natur verhalten sie sich zu dieser vermittelst ihrer Gesellschaftlichkeit, dem Zusammenwirken ihrer Erkenntnisse und Tätigkeiten (siehe historischer Materialismus), als Naturmacht.

Die "bisherige Geschichte war eine Geschichte der Klassenkämpfe", worin die jeweils herrschende Klasse die Mittel dieser Naturmacht als gesellschaftliche Macht besaß und damit die ohnmächtige Klasse für sich benutze - zunächst vermittelst der Furcht und Ehrfurcht vor den Naturgewalten der Götter, dann auch durch die Unterwerfung unter die Waffengewalt der Feudalherren, welche Machträume für sich gründeten und verteidigten. Im Verlauf der Entwicklung der Produktionsmittel wurde diese Macht versachlicht und in der bürgerlichen Gesellschaft zur unmittelbaren und materiellen Klassenherrschaft durch den Besitz an Produktionsmitteln. Diese verfügen inzwischen weltweit über alle Arbeitskraft von Menschen, gleich welcher Nation, welchen Glaubens und welcher Hautfarbe. Weil diesen Besetzern menschlicher Naturmächtigkeit, den Besitzern gesellschaftlicher Mächtigkeit, welche Reichtum darstellt, ein Heer von Besitzlosen gegenübersteht, steht die Kritik des Besitzverhältnisses überhaupt als politisches und ökonomisches und praktisches Verhältnis zu menschlichem Eigentum an.

Der Untertitel des Buches "Kritik der politischen Ökonomie" meint dies. Es besagt dreierlei. Kritik ist Selbstunterscheidung des Menschen von seinem Gegenstand: ihre Tätigkeit betreibt Selbsterkenntnis. Politik ist der willentliche Bezug als Rechts- und Vertragsverhältnis; ihre Tätigkeit verschafft Verträglichkeit als Willensverhältnis. Und Ökonomie ist eine Wirtschaftsform, die größtmöglichen Nutzen bei geringst möglichem Aufwand zu betreiben strebt; ihre Entwicklung reduziert den Arbeitsaufwand in der Herstellung nützlicher Gegenstanden. "Kritik der politische Ökonomie" als Untertitels eines Buchs über das Kapital besagt also, dass das Willensverhältnis, welches der Ökonomie im Kapital zugewiesen ist, von den Menschen unterschieden ist und als solches Rechtsverhältnis für sie unrichtig sein muss. Das Kapital ist eine Ökonomie, die politisch nur von denen gewollt werden kann, welche es besitzen. Es ist die private Form einer gesellschaftlichen Beziehung, die unwirtschaftlich für die Gesellschaft der Menschen ist.

Die bürgerliche Gesellschaft ist im Rechtsanspruch auf Freiheit, Gleichheit und Wechselseitigkeit (Brüderlichkeit) aus den ökonomischen Bedingungen des Feudalismus heraus entstanden. Dieser Anspruch hatte mythologisch oder religiös oder militäruisch begründete politische Formationen (das Gottesgnadentum der Könige und Fürsten und ihrer Kriegsmächtigkeit) überwunden und hierfür die darin entwickelten Besitzverhältnisse verweltlicht. Was bisher durch militärische Macht besetzt war, wurde zur politischen Grundlage der bürgerlichen Ökonomie. Der Besitz ist das Privateigentum, welches als abstrakter Rechtsanspruch auf Freiheit, Gleichheit und Wechselseitigkeit politisch gesichert wird.

Die Kritik dieser Abstraktion schließt die Verwirklichung einer neuen Beziehung zum Lebensprozess der Menschen, zur Gesellschaftsform ihrer Lebensäußerung und ihres Lebensgenusses ein, indem sie solche politische Bezugnahme von der Ökonomie unterscheidet und diese selbst zu dem bringt, was sie schon in der bürgerlichen Gesellschaft dem Inhalt nach geworden ist: Befreiung der Menschen von den Gewalten der Natur, Unnötigkeit von Klassenkämpfen um die Verteilung der Produkte, und Grundlegung wechselseitiger Beziehungen der Menschen als Lebensform ihrer Eigentümlichkeit in einem Reichtum, der als menschliches Eigentum allen Menschen zukommt, die darin sowohl ihre Lebensmittel als auch ihre Lebensäußerung im einzelnen wie auch gesellschaftlich haben.

Die bürgerliche Gesellschaft war an die Staatsform der Geldzirkulation gebunden, auch wenn sie international handelte und kooperierte. Durch die Globalisierung, welche die Staaten selbst von der Geldfgorm abhängig gemacht hatte, ist sie der Form nach längst überlebt, anachronistisch. Aber sie ist nicht nur anachronistisch, sondern auch disfunktional und verkommen. Im Faschismus hat sie die schrecklichste Fratze hervorgebracht, mit der das Kapitalinteresse als Krisenmanagement durch Terror und der Gesinnungsmächtigkeit eines völkischen Kulturstaats aufgetreten war. Seit der Aufhebung der Verträge von Bretton-Woods hat sie nun auch ihre eigenen Grundlagen aufgehoben: Die Wertdeckung des Geldes, die zur Entfaltung der Globalisierung führte und stattdessen die Öldeckung, dem Petrodollar zur Weltherrschaft verhalf, mit dem die Gelddeckung selbst über alle politischen, geografischen und ökonomischen Grenzen hinaus wuchern konnte. Damit ist die Vermittlung der bürgerlichen Form des menschlichen Eigentums als Form des Privateigentums, dem Besitzstand an Waren und Geld, worin zwischen Arbeit und Lebenserhaltung und Lebensentfaltung vermittelt werden sollte, nurmehr willkürlich und kann sich in dieser Form auch nur auf kapitalistische Feudalstrukuren (siehe Feudalkapitalismus) zurückentwickeln..Es bedarf der wirklichen Aufhebung dieser Form, der Geldform schlechthin, um die Geschichte der Menschen für sie selbst frei zu machen. Ohne Bewusstsein hierüber verlieren sie sich in den Zwangsläufigkeiten der Ereignisse formbestimmter Geschichte. Um sich also von den Formationen ihrer überkommenen Geschichte zu emanzipieren bedarf es einer genauen wissenschaftlichen Darstellung dieser Form.

Ein Problem hierbei kann auch marxistische Wissenschaft nicht auflösen: Der wissenschaftliche Begriff entsteht durch Argumentation, die Erkenntnisarbeit verlangt. Das setzt vorhandene Erkenntnis und Vorbegriffe voraus und ist zugleich auch hiervon gestört. Die Darlegung der praktischen Formalisierung des menschlichen Lebens enthält die Durcharbeitung theoretischer Reflexionen, die im Fortgang des Textes nicht expliziert sind. Das Buch vom Kapital ist die Erklärung der Herrschaft von toter Arbeit über die lebende, zugleich aber die exemplarische Kritik des bürgerlichen Denkens schlechthin. Das macht es reizvoll und mühsam zugleich. Es ist ein "neues Denken", das sich gegen das alte stellt. Es ist die praktische Kritik dessen, was bürgerliche Verhältnisse mit den davon besessenen Menschen und ihren Wissenschaften und Philosophien betreiben: die Selbstreferenzierung der Logik der Verhältnisse als aufgeklärte Vernunft abstrakter Notwendigkeiten. Die Hauptstücke bürgerlicher Wissenschaft, die Kant'sche Seinslehre, die Hegel'sche Logik und im Vorgriff auch schon die Heidegger'sche Ontologie, ist darin verarbeitet und zur dialektischen Erklärung eines welthistorischen Widerspruchs gewendet. Sie spricht die Menschen von der ihnen zuphilosophierten Selbstentfremdung frei und überantwortet sie ihren Verhältnisse und ihre Verhältnisse an sie. Es geht aber nachfolgend nicht einfach um ein erneutes Nachdenken über die Lebensformen der Menschen, sondern um die Selbsterneuerung (Re-volution = auf sich zurückkommen) des Denkens selbst, um die Destruktion der Philosophie im Prozess praktischer Selbsterkenntnis des Menschen aus dem Begreifen der Geschichtlichkeit seiner Lebensverhältnisse heraus. Die Revolutionierung des Denkens geht der Revolutionierung der Lebensverhältnisse notwendig voraus, verwirklicht sich aber nur in diesen.

Marx versucht dies in einfacher Sprache und Anschauung auch in diesem Buch umzusetzen. Dabei fließt so ganz nebenbei die Kritik an den Kant'schen und Hegel'schen Kategorien ein (wie z.B. Logik und Vernunft, Qualität und Quantität, Wesen und Erscheinung, Form und Inhalt, Freiheit und Notwendigkeit usw.), die dem Leser in diesem Zusammenhang nicht unbedingt bewusst sein müssen, wiewohl er sie hierbei zugleich mit überwindet. Es hat sich gezeigt, dass diese einfache Darstellung hoch komplexer Gedanken zu schweren Missverständnissen des "Kapitals" geführt hatte, die sich vor allem in einem rein strukturalistischem Verständnis äußerte und den Marxismus zum Gegenteil dessen gemacht hat, was er ist (siehe hierzu "Probleme des Marxismus"). Daher wird hier besonders auch auf die Herausarbeitung der philosophischen Implikate geachtet. Das kann am Anfang etwas mühsam im Nachvollzug sein, eröffnet aber im Weiteren die dem Buch adäquate Umfänglichkeit des darin enthaltenen Gedankens. Es verlangt erst mal etwas Geduld in der Hinführung zu einer Wissenschaft, die bürgerliche Wissenschaft als implizit politisch affirmatives Denken kritisiert und sie als praktisches Wissen aufzuheben gedenkt.

 


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