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Rubrik Philosophie: Karl Marx – Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals?

von Karl Reitter

Erschienen: 11.04.2014
Über Marx und den Marxismus wird angesichts der anhaltenden Krise wieder offen diskutiert. Dabei werden auch verschiedene Schulformen erneuert. Sind es in Frankreich eher ältere Herren wie Alain Badiou oder Etienne Balibar, die sich in neuem Ruhm sonnen können, gibt es im deutschsprachigen Raum eine eigene, höchst eigenartige – und eher von jüngeren Semestern getragene Welle. Dafür scheint sich der Begriff der Neuen Marx-Lektüre zu etablieren. Bücher und Aufsätze führen diesen Ausdruck im Titel, auch ein Wikipedia Eintrag existiert bereits. Sammelbände werden unter diesem Begriff publiziert. Der Anspruch, der mit diesem Label verbunden wird, ist kein geringer: Immerhin soll es sich dabei um die avancierteste Marxrezeption auf der Höhe der Zeit handeln, die für jede Beschäftigung mit Marx die Messlatte darstellt. Wer sich also auf diesen Standard nicht verpflichten lässt und „die argumentative Überlegenheit“ der „Neuen Marx-Lektüre“ (Backhaus 1997, 131) bezweifelt, darf wenig freundliche Punzierungen erwarten: Arbeiterbewegungsmarxismus, Weltanschauungsmarxismus, Traditionalismus, Orthodoxie, Substantialismus, Essentialismus und verkürzte Kapitalismuskritik bekommen wir zu hören.
Strategisch bedeutet die Setzung dieses Begriffs für alle jene, die ihn für sich reklamieren, einen bedeutenden Vorteil. Wer die Gepflogenheiten im universitär-akademischen Feld und Darstellungen der Ideengeschichte kennt, weiß, einmal durchgesetzt, sichert ein derartiges Label allen ProtagonistInnen Bedeutsamkeit und einen fixen Platz im Diskurs.
Dieser Band will dagegen Einspruch erheben und zugleich den Weg für eine emanzipatorischere Marxinterpretation ebnen. Es gibt andere „neue“ Marxlektüren, die mit dieser Strömung wenig gemeinsam haben – und aus unserer Sicht wesentlich produktiver sind. Vorweg ist anzumerken, dass wir es keinesfalls mit einer stringenten, methodisch einheitlichen Strömung zu tun haben. Schon bei einer ersten Betrachtung erweist sich die Neue Marx-Lektüre als durchaus heterogen. Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt, zwei wichtige Wegbereiter, stehen in der Tradition Adornos, bei dem sie auch gemeinsam studierten. Hingegen ist der Einfluss von Althusser auf Michael Heinrich nicht zu übersehen. Dass sich Frieder-Otto Wolf, der sich seit Jahren um die Verbreitung der Philosophie Althussers bemüht, zum Mentor einer jüngeren Generation von Autoren der Neuen Marx-Lektüre avanciert ist, zeigt erneut die methodische Distanz zu den Gründervätern Backhaus und Reichelt. Zudem ist auch die sogenannte Wertkritik zu nennen. Tatsächlich zeigt die Wertkritik mit beiden Flügeln der Neuen Marx-Lektüre, also dem Hegelmarxismus von Backhaus und Reichelt, als auch dem von Althusser inspirierten Zugang, bedeutsame Übereinstimmungen, insbesondere was den Charakter der Herrschaft im Kapitalismus als auch die Rolle und Bedeutung des Klassenverhältnisses betrifft. Ein wesentlicher Unterschied existiert allerdings: Während die an Robert Kurz orientierte Wertkritik unbeirrt davon ausgeht, dass der Kapitalismus immer weniger lebendige Arbeitszeit einzusaugen in der Lage sei, weisen die ProtagonistInnen der Neuen Marx-Lektüre diese spezifische Version der Zusammenbruchstheorie eindeutig zurück. Wie diese Heterogenität einzuschätzen ist, wäre separat zu diskutieren, Fakt ist sie allemal.

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