Wolfram Pfreundschuh (5.11.08)

 

Wilhelm Reich – der Fundamentalist der antiautoritären Bewegung

„We are fascist babies“. So stand es auf mancher Klotür in den Wohngemeinschafen der sogenannten 68er Bewegung. Es war die Bewegung einer Generation, die auf den Trümmerfeldern politischer, geistiger, moralischer, seelischer und materieller Vernichtungsschlachten aufgewachsen war, der Aufstand der Kinder, die sich als Mensch erst erfinden mussten, um nicht zu werden, was sie für ihre Eltern waren. Diese kannten nur die Pflicht und die Not und die Notwendigkeit, den Schutt der Vergangenheit wegzuräumen und sich über deren Unsinn hinwegzusetzen. Das war keine Notwendigkeit, die wirkliche Not zu wenden vermochte. Nötig war eine gewaltsame Beendigung der Vergangenheit, die Befreiung aus der Erinnerung, eine Gewalt der Selbsttäuschung, die sich weiterhin  - fernab von den wirklichen Lebensbedürfnissen der Menschen - um so mächtiger als bloßer Anspruch auf eine heile Welt durch Volk und Staat vermittelte, wie sie deren Grund zu verkennen suchte.

Ihre Kinder sollten als Hoffnungsträger auf eine Zukunft ohne Vergangenheit groß werden. Das konnte für sie keinen Sinn haben. Sie galten nicht als wirkliche Menschen, sondern als künftige Erwachsene, die endlich werden sollten, was den Eltern nicht gelungen war: Bedingungslos durchsetzungsfähig, klar ausgerichtet an den Strukturen der Macht, ordentlich und beflissen und einsatzbereit gegen alle Feinde des Guten – Untermenschen einer erst werdenden neuen Epoche.

So bewährte sich die Maxime des Faschismus weiterhin als die wahre Tugend des deutschen Wirtschaftswunders: Der Glaube und die Heilserwartung an das ganz Große, an das große Ganze, das nur durch Selbstlosigkeit erreicht werden kann. In den 50ger Jahren wurde für den „Wiederaufbau“ Deutschlands genau das bestens genutzt, was dessen Niedergang erbracht hatte – das deutsche Wesen: Fleiß, Selbstdisziplin und der Glaube an die Güte des politischen Staates, die rechte Gesinnung und die Verachtung der Andersdenkenden, der Kommunisten, Zigeuner, Juden, der Andersartigen schlechthin. Es war das Rettungsboot der entmachteten Generation des Faschismus, die den „verlorenen Krieg“ beklagten und noch immer an dessen höheren Sinn glauben wollten. 68% der von der Entnazifizierung erfassten Bürger hätten weiterhin Adolf Hitler gewählt.

Totalitarismus herrschte nach wie vor – jetzt vor allem in den Wohngemächern der Kleinfamilien. Deren private Lebenswelten waren die Stätten der Zurichtung geblieben, an denen Gewalt gegen Leben verübt wurde, das nicht sein durfte was es war, und doch etwas sein musste, um an seinen höheren Sinn zu glauben – Widersinn schlechthin, ähnlich unbegreifbar wie der Nazismus, dem er entsprungen war. Ohne den deutschen Faschismus zu begreifen, konnte der Widersinn  der Lebensbedingungen der Nachkriegsgeneration nicht verstanden werden. Aber Faschismus war unter solchen Bedingungen keine politische Haltung, die zu bekämpfen gewesen wäre, sondern pure seelische Gewalt.

Die Veröffentlichung der Privaträume wurde für die davon betroffene Generation daher zu einer Notwendigkeit der Selbstbildung und der erste Grund ihrer Politisierung, der Kern ihrer Radikalität. Ihr war ein tiefes Misstrauen gegen die Opferrolle ihrer Eltern zu eigen, deren politische Generatoren sich wieder aufrüsteten, die Welt zu bekehren. Nicht nur, dass sie von den Vernichtungseinrichtungen der von ihnen gewählten Faschisten „nichts gewusst haben“ wollten, machte sie unglaubwürdig, sondern dass sie ungebrochen den Ungeist transportierten, der die Ungeheuerlichkeiten des deutschen Faschismus ermöglicht hatte, störte den Frieden im eigenen Haus, den Frieden der Familien. Ihre zwanghafte Unberührbarkeit von ihrer eigenen Geschichte verriet die erregte Gewalt ihrer Güte, ihre Sucht nach einem Auskommen im trauten Heim gegen eine Welt, die sie nicht mehr verstanden. Ihre Moral war nicht nur politische Legitimation, sondern auch Züchtigung jedweden Aufbegehrens, politische und psychische Gewalt in einem – Wilhelm Reich nannte es „Zwangsmoral“. Und das machte den Autor einer psychoanalytischen Strömung, der in Deutschland bis 1964 völlig vergessen war, wieder interessant.

 

Erste Grundlagen zu einem Begriff des Nazismus

Der deutsche Faschismus war nicht von ungefähr entstanden. Aber er ließ sich auch nicht einfach und unmittelbar als Produkt ökonomisch oder ideologisch bestimmter Politik begreifen. Nach seinem Untergang im Bombenhagel der Aliierten bemühten sich viele zutiefst erschrockene Theoretiker um die Erklärung seiner Entstehung. Aber lange bevor der Nazismus sich politisch formierte, hatte Wilhelm Reich schon ausführlich über dessen subjektive Wesenszüge gearbeitet. Im Jahr 1933, im Wahljahr Adolf Hitlers, war von ihm unter anderem auch die Schrift „Massenpsychologie des Faschismus“ herausgekommen.

Reich bearbeitete darin ein psychologisches und auch ein theoretisches Problem der Marxrezeption: Wie kann es sein, dass Menschen ihr Verlangen nach Freiheit aufgeben, sich stattdessen sogar an ihrem Objektsein begeistern können, dass sie sich einer Politik beugen und sie sogar wählen, die ganz offen nur ihre Disziplinierung und Unterordnung unter die Übermacht des Staates will. Wie können erwachsene Menschen einer Gewalt zustimmen, die sie „säubern“ und gleichschalten und artig machen will und die Vernichtung von Andersartigkeit in der Metapher der Unartigkeit betreibt? Wie können sie sich wie kleine Kinder hinter einem Führer kuschen, der behauptete, dass durch solche Vernichtung das Heil der Menschen erst wirklich erreicht werde und dass man hierfür auf alles verzichten müsse, was das eigene Leben bereichert?

Sigmund Freud hatte hierauf schon 1920 eine fatale Antwort gegeben: Es sei der Todstrieb der Menschen, die menschliche Natur, die solches möglich mache. Wilhelm Reich stellte sich hiergegen wie auch gegen die Auffassung der KPD, dass es alleine bürgerliche Ideologie sei, welche die totale Unterordnung erheische. Ihm ging es um eine neue Verortung der Ideologiebildung zwischen subjektiven und objektiven Substanzen, zwischen Selbstwahrnehmung und ökonomischer Existenz.

Wilhelm Reich war ein Schüler Sigmund Freuds und verkehrte im Kreis seiner „Psychoanalytischen Gesellschaft“. Aber seine Abhandlungen enthielten eine ausdrückliche Kritik an dessen Psychoanalyse. Zugleich war er Mitglied der KPD und kritisierte die deutsche Arbeiterbewegung und ihren „Vulgärmarxismus“ der rein ökonomistischen Marxrezeption. Seine Kritik war wohl so zutreffend, dass er 1934 sowohl aus der „Psychoanalytischen Gesellschaft“ als auch aus der KPD rausgeworfen wurde. Seine Kritik, dass die politische Linke gegen die praktischen Probleme der Menschen blind geworden sei, sollte damit aus der Partei sein. Aber aus der Welt war auch bald die KPD. Die Vereinigung der Psychoanalytiker sprach zunehmend dem Mystizismus des C.G. Jung und seiner archetypischen Genealogie zu und verfestigte sich zu einer abgeschotteten Therapeutenelite.

Reichs Grundthese war zunächst, dass soziale Not nicht nur wirtschaftlich erfahren wird, sondern dass sie die persönliche Existenz auch seelisch entleert und in dieser Verödung auch psychisch gesellschaftlich bestimmend werde. Dies sei sowohl in der Arbeiterklasse als auch im Kleinbürgertum in Krisenzeiten, in den Zeiten massenhafter Nichtigkeitserfahrung zu beobachten, wodurch die Grunderfahrungen der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft explosionsartig zu einer gesellschaftlichen Wirkung kommen.

In den Isolationszellen der bürgerlichen Gesellschaft, in den Kleinfamilien, bestehe von Haus aus eine masochistische Grundstimmung, ein emotionales Schuldverhältnis, welches freies Selbsterleben blockiert. Wirkliches Selbsterleben sah Reich in einer vollständigen orgastischen Erfüllung. Das unter den patriarchalischen Bedingungen der Kleinfamilien gebildete Selbstgefühl würde diese Erfüllung verunmöglichen und ihre Energie zur Selbstbeherrschung verbrauchen, sich damit gegen die eigenen Lebensbedürfnisse panzern. Derart gepanzerte Menschen könnten ihre Lebensbedürfnisse nur in einer mehr oder weniger unbewussten Lebensverachtung befriedigen. Den Charakter, der sich hieraus ergibt, nannte Reich den autoritären Charakter. Das ist ein Charakter, der in der Selbstkontrolle seine Befriedigung findet, sich hieraus konstituiert und in seiner Borniertheit fortbestimmt. Die Folge hiervon sei Autoritätshörigkeit.

Die Überantwortung der eigenen Belange an den Staat als die Formation einer Massenführerschaft sei Ausdruck der masochistischen Bedürfnisse autoritätshöriger Charaktere. Sie verlangen nach Unterwerfung an eine Macht der Selbstentfremdung zum Zweck einer allgemeinen Selbstüberhöhung, die sich gegen das konkrete Leben der Menschen überhaupt richtet. Reich wollte die Gefährlichkeit dieses psychischen Phänomens herausstellen, wenn es zu einem Massenphänomen wird und politisch von entsprechenden Populisten genutzt wird. Er nannte es die „emotionale Pest“, einen Hass auf alles Lebendige, der sich aus den Selbsterhaltungsfunktionen von in sich gepanzerten Charakteren ergebe und perpetuiere.

Als Opfer und gleichzeitig auch Bewahrer der emotionalen Pest trachte der emotional gepanzerte Mensch danach, jede Regung des sich frei äußernden Lebens zu bekämpfen. Er könne seine Lebensverneinung in Massenbewegungen entladen, indem er sich Führerpersönlichkeiten unterwirft und der von diesen beherrschten Schmerzensgemeinschaft dient. Von daher benötige er die angeführte Menschenmasse zur Selbstbeherrschung. Die „emotionale Pest“ sei ein gesellschaftlich begründetes und daher auch gesellschaftlich zu behandelndes Phänomen eines Ausbeutungsverhältnisses, das sich als „sexuelle Zwangsmoral“ den Menschen mitteilen würde und die massenhafte Verfestigung der charakterlichen Panzerstrukturen fortbestimme.

Um diese Pest zu bekämpfen, wollte Reich Erkenntnisse der Psychoanalyse und des Marxismus zusammenführen. Aber hierfür war es nötig, die bürgerlichen Inhalte der Psychoanalyse zu überwinden und sich auf ihren materiellen Kern zu konzentrieren. Diese Inhalte bestanden nach Auffassung Wilhelm Reichs in der Todestriebtheorie von Sigmund Freud (1920), der er mit umfangreichen Material aus der vergleichenden Kulturforschung („Der masochistische Charakter. Eine sexualökonomische Widerlegung des Todestriebes“ und in „Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“) entgegentrat und in dessen Kulturauffassung überhaupt. Freud verstand Kultur bildungsbürgerlich als zivilisatorische Leistung und gesellschaftsnotwendige Macht gegen menschliche Triebhaftigkeit. Mit der darin begründeten kulturellen Notwendigkeit der Selbstbeherrschung, die nach Freud durch einen Ödipuskomplex gewährleistet werde, sah Reich sexuelle Unterdrückung, Partriarchat und Kapitalherrschaft zu einer Kulturgewalt der Kleinfamilie vereint und affirmiert.

 

Die Reich’sche Mischung aus Freud und Marx

Wilhelm Reich war ein Psychoanalytiker wie Sigmund Freud. Von daher teilte er auch dessen Auffassung von der Geschlechtlichkeit als wesentliche Grundlage allen psychischen Geschehens. Allerdings befand er im Unterschied zu Freud zugleich die sexuelle Freiheit als Grund und Ziel von menschlicher Emanzipation. Während er die Kleinfamilie als Herrschaftsform des Bürgertums ansah, hielt Freud diese für kulturnotwendig als Lehrstätte einer sexuellen Selbstdisziplinierung, die sich darin zwangsläufig in einem libidinösen Beziehungskonflikt ausbilde, sich in einem Verhältnis entwickle, wie es die Ödipussage (bzw. Elektrasage) beschreibt: In der libidinösen Beziehung zwischen Vater, Mutter und Kind sei der Vatermord (bzw. Muttermord) zwangsläufig, durch den der Sohn bzw. die Tochter einerseits an die Stelle des gegengeschlechtlichen Elternteils tritt, also erwachsen wird, zugleich aber in der Schuld hierüber einem Inzestverbot gegen das eigene Geschlecht unterworfen wird. Hieraus ergebe sich die „psychische Struktur“ des erwachsenen Menschen, ein selbstkontrolliertes Triebleben als funktionelle Aufteilung von „Über-Ich“, „Ich“ und „Es“. Und dies mache ihn „kulturfähig“ und die Kultur zu einer höheren Lebensart, worin die Triebe (z.B. in Kunst und Produktion) sublimiert seien.

Hiergegen belegte Reich in seinem Buch zum „Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ durch Studien an sogenannten Naturvölkern, besonders den Trobriandern, dass eine „mutterrechtliche Gesellschaft“ keine Familienstruktur und deren Komplexbildungen benötige und wollte daran beweisen, dass in einer von Schuld und Inzestverbot befreiten Gesellschaft die Beziehungen der Menschen ohne Selbstunterdrückung und Selbstentfremdung möglich seien. Diese Rückbeziehung auf eine vermeintliche Ursprünglichkeit menschlicher Beziehungen in eine rein natürliche Gesellschaftsform der Zwischenmenschlichkeit wurde für den „heimlichen Anarchisten“ Reich (in seinem Tagebuch verehrte er Max Stirner) zum fundamentalen Argument gegen den Aufklärer Freud und gegen die bürgerliche Gesellschaft im Allgemeinen.

Während Freud in der Kultur die Vernunft der Menschen gegen ihre unmittelbaren Triebinteressen, gegen die chaotischen Bedürfnisse der Libido wirken sehen wollte, sah Reich menschliche Gesellschaft unmittelbar aus der Natur der Menschen begründet, aus der Vernunft ihres natürlichen Lebensinteresses, wie er Freuds Libido verstehen wollte. Die sich aus ihrer Energieform, aus der Naturkraft ihrer Lebensform ergebenden Kreationen seien die eigentliche Lebensgestaltung einer menschlichen Kultur, so sie nicht gehemmt werden. Ihm geriet damit das Naturwesen der Menschen zum Wesensbegriff einer Naturgesetzlichkeit, die sich im konkreten Leben selbst mitteilt und somit überhistorische Wahrheit gegen das historisch bestimmte Treiben der Menschen beansprucht. Leben wurde bei Reich damit zu einer ontologischen Bestimmung für menschliche Emanzipation gegen die herrschende Kultur schlechthin. Und Reich fand dies zugleich im marxistischen Materialismus bestätigt, weil auch dort von einer „Menschwerdung der Natur“ die Rede ist. Dieses Wesen war für ihn das materielle Substrat seiner Triebtheorie, die ihm mit den Grundlagen sowohl von Freud als auch von Marx vereinbar schien.

Dies allerdings war ein doppelter Fehler: Erstens ist Gesellschaft nach Marx eine Naturmacht und also nicht unmittelbar natürlich, sondern durch die Entwicklung des Produktivvermögens der Menschen bestimmt. Und zweitens wäre Natur als bloß sexuelles Triebwesen nicht Stoff menschlicher Produktivität, sondern lediglich die körperliche Erscheinung einer Energieform, ein Nominalismus der Leibhaftigkeit, der zu allem herzunehmen ist, was Körper hat, sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Als bloßes Körperwesen wäre Natur eine unmittelbar konkrete Allgemeinheit, deren Vermittlung nicht mehr reflektiert werden muss, Gesellschaft also nicht aus dem Zusammenwirken der Menschen zu verstehen ist, das sich in den Individuen als Ensemble ihres Verhältnisses reflektiert, sondern ein unmittelbar individuelles Wesen habe. Von daher neigt solche Theorie eher zu einer radikalen Selbstbezogenheit, die sich gesellschaftstheoretisch verbrämt, als dass sie auf eine wirklich gesellschaftliche Emanzipation, auf die Emanzipation der Menschen in einer menschlichen Gesellschaft abzielen könnte.

Reich war durch seine Überlegungen in einem Wissensbereich der Naturwissenschaften angelangt, der seinem Positivismus zwar durchaus entsprach, dem er aber erkenntnistheoretisch nicht gewachsen war. Das von dem Mediziner Friedrich Kraus entwickelte Konzept der „vegetativen Strömung“ wurde für ihn zur Grundlage des psychischen Geschehens schlechthin und zur Grundlage seiner „Vegetotherapie“. Indem er psychologische Wesensbegrifflichkeiten mit solcher naturwissenschaftlichen Substanz auffüllte, war ihm analytisches Denken abhanden gekommen und eine naturwissenschaftliche Phänomenologie entstanden, worin seine Naturabstraktion unmittelbar konkret psychologisch begriffen waren. Seine Theorie geriet hierdurch zu einer platten Esoterik, für die er schließlich auch ein wirklich allgemeines Naturwesen der individuellen Triebkräfte, ihre Energieform fand: Das Orgon, das er als Substanz der „Biogenitalität des Menschen“ erkannt haben wollte und das mit seinem Orgonometer zu messen und seinem Orgon-Akkumulator therapeutisch anwendbar gemacht wurde – massenhaft und bei jeder beliebigen Individualität. Seine diesbezüglichen Naturforschungen, die eine neue Art der Energie entdeckt haben wollten, wurden im Jahre 1941 sogar von Albert Einstein untersucht, der Reich dann die Resultate seiner Prüfung übersandte und ihm riet: „Ich hoffe, dass dies ihre Skepsis entwickeln wird, dass sie sich nicht durch eine an sich verständliche Illusion trügen lassen.“

Weil seine Beobachtungen zu sexuellen Verspannungen individualpsychologisch dennoch eine augenscheinliche Bestätigung finden konnten, bewegten seine sexualtherapeutischen Denkansätze viele Ärzte, Psychologen, Pädagogen und andere professionelle Akteure zu dem, was Reich mit seiner Vegetotherapie begründet hatte: eine Körpertherapie, die auf Spannungskonflikte und Konfliktlösung in der vegetativen Muskelspannung selbst abzielte und die auch heute noch in diversen Körpertherapien fortentwickelt wird. Mit dem politischen Verständnis seines ursprünglichen Engagements hat dies allerdings nichts mehr gemein – im Gegenteil: Aus seinem gesellschaftspolitischen Verständnis, welches die Unmöglichkeit einer individualtherapeutischen Auflösung gesellschaftlicher Zwanghaftigkeiten beschworen hatte, war eine vollkommen individualistische Therapie für einen allgemein Bedarf geworden, die jenseits gesellschaftlicher Wirklichkeit im jeweils einzelnen Körper der Klienten zur ausschließlichen Entfaltung kommen sollte.

 

Wilhelm Reich und die antiautoritäre Bewegung

Obwohl Reichs theoretische Entwicklung in einem Fiasko endete, muss seinem politischen und menschlichen Engagement eine vielfältige Wirkung zuerkannt werden. Die detaillierte Beobachtung repressiver Sozialisation und ihrer notwendigen Beziehungsform als Kleinfamilie hatte zur Sprache bringen können, was in den Privatnischen und Zellen der bürgerlichen Gesellschaft geborgen und verborgen wurde. Immerhin hatte auch seine Freudkritik Probleme der Psychoanalyse angerührt, die sie als Anpassungspraxis einer repressiven Gesellschaftsstruktur herauszustellen verstand.

Politisch wurden seine Beschreibungen dort genutzt, wo Selbstunterdrückung kultiviert war und sich in autoritären Charakterstrukturen niederschlug. In den 30ger Jahren des 20. Jahrhunderts waren sie für die Arbeiterjugend äußerst hilfreich und ermöglichten Verbesserungen ihrer Kultureinrichtungen. Seine „Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie (ZPPS)“ eröffnete die erste Sexpol-Bewegung schon während der Nazizeit. In der Studentenbewegung hatten dieselben Beschreibungen zur Anerkenntnis eines „subjektiven Faktors“ in der Politisierung geführt, der in Bezug zu den objektiven Verhältnissen begriffen werden konnte. Und schließlich hat die Frauenbewegung durch seine Freudkritik und seine Ausführungen zu mutterrechtlichen Gesellschaftsformen und den Verhältnissen in der patriarchalischen Kleinfamilie viel Material bekommen.

In den studentischen Kommunen wurden auf der Grundlage Reich’scher Begrifflichkeiten die Wunden der Faschistenkinder bis zum Exzess dargestellt und vermittelt. Sie litten vor allem unter Idenditätsstörungen, sexuellen Konflikten, Arbeitsstörungen und Sinnkrisen. Es zeigte sich tatsächlich (z.B. in den Berichten der Berliner Kommune II), dass die Überwindung sexueller Verspannungen ein ungeheures Reservoir an Spontaneität und Produktivität freilegen konnte, die sich damals im direkten Gegensatz zu den Borniertheiten der öffentlichen Kultur verhielten. Von da her traf Reichs Darstellung von Sexualität und Hemmung zu und spielte eine zentrale Rolle in der persönlichen Emanzipation der ersten Nachkriegsgeneration, die sich in diesem Gegensatz auch politisch verstehen konnte. Aber ohne diesen muss man die persönliche Befreiung nicht unbedingt als politisch ansehen. Sie geschah auch nicht wirklich durch „freien Sex“, was immer das Wort auch bedeuten mag. Solche formalisierte Freiheit wurde leicht zu einer weit sublimeren Repression, die allerdings erst später in Berichten der freien Kommunen (z.B. der Kommunen-Kommando-Gesellschaft des Otto Mühl) reflektiert wurde.

Die viel zitierte „sexuelle Revolution“ der antiautoritären Bewegung beruht indes weniger auf wilden Sexualpraktiken als auf der Erkenntnis, dass Sexualität in der Gesamtheit menschlicher Bedürfnisse nur dann vollständig aufgeht, wenn sie in der Vielfalt ihrer Lebensäußerung akzeptiert und bejaht wird wie jedes andere Bedürfnis. Zur Verbreitung dieser Erkenntnis bedurfte es allerdings keiner politischen Aktivität. Dazu genügten schon die Filme von Oswald Kolle.

Politische Wirkung hatte Reich auf anderen Ebenen. Alexander Sutherland Neill, ein langjähriger Freund von ihm, gründetete auf seiner Theorie die erste antiäutoritäre Schule Summerhill, die zu einer der bekanntesten Einrichtungen antiautoritärer Erziehung wurde und heute noch ist. Auch Kinderläden und Kinderhäuser übernahmen viele seiner Denkanstöße, vor allem, was repressive Erziehung betraf. Sie stellten das Kind endlich als vollständigen Menschen in den Mittelpunkt ihrer Beziehungen, weil sie der inneren Verknechtung von Menschen entgegenwirken wollten und die kindlichen Lebensverhältnisse als eigentümliche Welt der Kinder mit eigenen Konflikten und Entwicklungschancen anerkannten. Daher sollten vor allem auch wirkliche Beziehungen der Kinder jenseits der Kleinfamilien möglich sein, was durch die Beteiligung der Eltern an den Kinderläden geschehen konnte.

Die radikalste politische Umsetzung fand Wilhelm Reichs Theorie wahrscheinlich im sogenannten „Sozialistischen Patientenkollektiv“ in Heidelberg (SPK). Hier wurde sein therapeutisches Konzept unmittelbar als politische Konzeption der in der „psychischen Krankheit“ enthaltenen „Befreiungspotenziale“ umgesetzt. „Aus der Krankheit eine Waffe machen“ sollte heißen, dass Krankheit unmittelbar aufgehoben werde, wenn die Hemmungen, welche den Menschen durch die gesellschaftliche Gewalt der „Kommandozentrale des Kapitals“ auferlegt seien, durch Protest gesprengt würden und sich das hierdurch freigesetzte Leben unmittelbar gestalten könne. Krankheit sei nichts anderes als ein gehemmtes Leben und daher sei „Krankheit die unmittelbare Produktivkraft“ der Gesellschaft, weil sich das natürliche Leben im Aufstand gegen die kapitalistische Gesellschaft seiner Kränkung entledigen könne. Die herrschende Klasse sei die Klasse der Ärzte, weil sie die Menschen an ihrer Befreiung hindere und nur durch ihre Krankheit existieren könne. Schaltet man ihr Wirken aus, so wäre Therapie unmittelbar Revolution, Selbstbefreiung unmittelbar Befreiung der Gesellschaft von ihrer Unterdrückungsmacht. Zehn Mitglieder des SPK trieb es auf dieser Grundlage dazu, in der zweiten Generation der RAF ihren Freiheitskampf zu vollenden (siehe Sozialistisches Patientenkollektiv). Der jedoch fand keinen gesellschaftlichen Aufschluss.

Im oben beschriebenen Fehlschluss der Reich’schen Theorie ist eine solche Position durchaus konsequent. Die Körperabstraktionen, mit denen Reich psychologisch hantiert hatte (z.B. Trieb, Hemmung, Orgon) lassen jede Selbstbeziehung zu einer allgemeinen Beziehung werden und somit auch jede Selbstbefreiung als gesellschaftliche Befreiung, jede Subjektivität unmittelbar objektiv erscheinen. Dass dieses Befreiungskonzept prinzipiell dem Körperverständnis der Nazis nahe kommt, die den einzelnen Körper als unmittelbaren Teil eines Volkskörpers, einem konkreten Gattungswesen schlechthin verstehen wollten, in welchem sich das heile, das ungebrochene Leben auch unmittelbar verwirklichen soll, ist von Reich nicht erkannt worden. Er hat es sicher nicht gewollt.

 

Was ist geblieben?

Man kann heute meinen, dass die antiautoritäre Bewegung und ihr Fundamentalist Wilhelm Reich längst von der Entwicklung der Gesellschaft, die ihr Gegenstand war, überholt und sogar übertroffen worden ist. Das ist insofern richtig, wie diese Bewegung auch eine restaurative Bewegung des Liberalismus und eines schrankenlosen Konsumbedarfs war, die auf den Faschismus folgte. Wesentlich aber war sie eine kulturkritische Bewegung, die Fragen angerührt hatte, die bis heute nicht beantwortet sind: die Fragen nach einer Emanzipation der Menschen aus ihrer Selbstentfremdung, wie sie durch die Verhältnisse ihrer Arbeit und ihrer Bedürfnisse immer noch allgegenwärtig ist.

Aber diese Bewegung hat auch die Probleme einer solchen Emanzipation gezeigt: Sie kann nicht so unmittelbar sein, wie sie nötig ist. Auch wenn die Befreiung und Entfaltung menschlicher Bedürfnisse ein politisches Bedürfnis nach gesellschaftlicher Veränderung hervorruft, so kann dieses nicht einfach natürlich sein. Es selbst ist eine Reflexion politischer Verhältnisse und kann sich daher auch nur gegen die politischen Formbestimmungen verhalten, die es hervorgerufen haben. Die Natur der Bedürfnisse kann keine Politik begründen. Sie ist so oder so unmittelbar bei den Menschen, die sie haben und für deren Befriedigung sie arbeiten. Alle Kritik der Politik kann sich nur dagegen richten, dass die Bedingungen, worin ihre Beziehungen bestimmt erscheinen, die Notwendigkeiten des Bedarfs und der Arbeit, durch die bürgerliche Form dieses Verhältnisses, durch die Geldform beherrscht wird, durch die es gesellschaftlich existiert.

 

Wolfram Pfreundschuh