Wolfram Pfreundschuh (1998)

 

Vorwort

zur politischen Notwendigkeit einer Analyse der bürgerlichen Kultur
und der Kritik der kulturpolitischen Psychologie

 

1.

Wir leben in einem der reichsten Ländern der Erde. Der Export von Waffen, Verkehrs- und Kommunikationstechnologie und von Produktionsmittel gibt uns die wirtschaftliche Macht über die Länder, welche diese Mittel für ihr Überleben und ihre Entwicklung dringend benötigen und gibt uns hierdurch die ökonomische Potenz des Maschinenbesitzers auf dem Weltmarkt. Das bestimmt die Einkaufspreise unserer Rohstoffe und Nahrungsmittel. Wir haben geringe Lohnstückkosten und einen relativ hohen sozialen Standard. Wir leben vom "Rest der Welt".

Doch die technologische Macht hat als ökonomische Gewalt des Kapitals ihre eindeutige Kehrseite: Sie braucht immer weniger Menschen zur Arbeit und immer mehr Menschen zum Konsum, um Mehrwert mit niedrigen Kosten zu schaffen und diesen durch den Verkauf der Erzeugnissen zu realisieren. Dies ist ja der Widersinn des Kapitalismus überhaupt: Nur wenn immer weniger Menschen und immer mehr Maschinen und Automaten die Produktion betreiben, können die Produktionskosten niedrig gehalten oder veringert werden und nur wenn die Produkte möglichst teuer und massenhaft verkauft werden, ist dieser Mehrwert, das sogenannte Wertwachstum verwirklicht. Das war schon immer das Dilemma der kapitalbildenden Produktionsgesellschaften, vom merkantilen, dem imperialistischen bis hin zum globalen Kapitalismus.

Aber jetzt, im Zeitalter der sogenannten Globalisierung, soll das Problem "gelöst" werden: Seit der Konferenz der Wirtschaftsführer in San Francisco (1995) ist ausgesprochen, wie sich die Kapitalisten, die Konzernchefs, die politischen Führer und Entscheider die Zukunft der Kapitalverwertungsgesellschaften vorstellen. Es wird dahin kommen – sagt man nicht ohne Kenntnis der kapitalistischen Stringenz – daß nur noch ein Fünftel der Menschen Arbeit bekommen können und die anderen vier Fünftel nurmehr als Konsumenten und als potentielle Konkurrenten der Arbeitsplatzinhaber taugen. Beides ist für das Kapital gleich wichtig: Nur durch viele Arbeitslose ist gewährleistet, daß die Arbeitslöhne auf dem Selbstkostenniveau (die Reproduktion der Arbeitskraft) bleiben und nur durch viele Konsumenten können die Produkte der Mehrwertproduktion auch verbraucht werden. Deshalb kommt man hier – mit etwas weniger Kenntnis des Krisenzyklus des Kapitals – zu dem Modell der Unterhaltungsgesellschaft, dem Tittytainment: Das Volk soll bei Laune gehalten werden, indem es durch den Konsum an den Brüsten (tits) der kapitalistischen Produktion genährt und bei fortschreitender Arbeitslosigkeit gut unterhalten (tainment) wird. Das Kapital kann so – meint man dort – sowohl die Arbeitslöhne niedrig halten, wie auch seine Absatzkrisen im Konsumwachstum überwinden, wenn nur alle Produkte auch im erschwinglichen Rahmen bleiben, dafür aber die Masse des Absatzes, die Ausdehnung des Markts sich vergrößert. Das erscheint auch ungemein praktisch: Die Produkte können sogar billiger verkauft werden, wenn der Kosumentenkreis der "kleinen Leute" hinzukommt. So wächst der Absatzmarkt auch über das Lebensnotwendige hinaus, es gibt mehr für die ganz Jungen und die Alten bis hin zu den Arbeitslosen, welche ja alle zum größsten Teil vom arbeitenden Teil der Bevölkerung getragen werden. Die Arbeitskosten werden somit zwar breiter, also nicht nur auf die arbeitende Bevölkerung, gestreut (man nennt das "soziale Sicherheit"), aber der Absatzmarkt wird auch ungemein erweitert (alleine die Sozialhilfeempfänger bleiben als Bedrohungspotential für andere auf dem untersten Lebenskostenniveau). Die Hauptsache: Die Stücklohnkosten sinken und der Absatz wächst. Als Konsument trägt jeder zur Mehrwertrealisierung bei. Und wenn dann noch die Lebensmittel zum größeren Teil zu Biligstpreisen aus dem abhängigen Ausland beigeschafft werden, dann klappt der Verwertungszyklus innerhalb der maschinenexportiereden Nationen oder Wirtschaftsgemeinschaften tatsächlich – für eine Weile.

Das gesellschaftliche Mehrprodukt, welches durch den Einsatz immer besserer Technologien wachsen kann, wird somit hauptsächlich durch zunehmend leblosere Lebens- und Unterhaltungsmittel regelrecht verfressen. Es kommt nicht mehr darauf an, wie die Menschen ihr Leben im Zusammenhang mit anderen Menschen gestalten, sondern vor allem darauf, wie sie dazu gebracht werden, die herrschende Gestalt ihrer Arbeits- und Konsumwelt als passive Objekte des Verwertungszyklus ertragen zu lernen. Der Reiz individueller Unterhaltung soll ihren gesellschaftlichen Lebenszusammenhang ersetzen, die Übersättigung den Protest gegen die Zersetzung des Lebens ersticken.

Was das Kapital wirklich am besten kann, das bringt es erst durch seine Globalisierung zur Vollendung: Es verwertet nicht mehr nur die Arbeitskraft der abhängigen Menschen, die ihm als Ware zur Verfügung stehen müssen, es bestimmt nicht nur den Entwicklungsstand anderer Völker durch seine Exportgeschäfte, es plündert jetzt die ganzen Lebenszusammenhänge der Menschen selbst aus: Es nutzt die verschiedenen Kulturen als Material, als Infrastruktur, als überbrachte Arbeitsmoral, als menschliche Arbeitskraft und als gigantischen Absatzmarkt von Verbrauchsgütern jedweder Art. Das Kapital greift mittels des Aktienkapitaltransfers per Computer in sekundenschnelle in jede erdenkliche Wertlage auf dem Weltmarkt ein. Pro Stunde werden so etwa 30 Milliarden Doller verschoben – hier als Devisenhandel, dort als Investment. Gestern noch beschaffte sich z.B. ein Softwaregigant der USA (SUN) in Indien seine typistischen Datendienste für 4 US$ pro Stunde, heute bekommt er diese für 2 US$ aus Sibirien. Wachstum und Zerfall von Dörfern und Städten in Südamerika oder Asien hängen nur noch von der Datenbasis der verschiedenen Wertverhältnisse ab und können binnen Monate wechseln. Die Finanzlagen der Welt werden von Computerprogrammen abgegriffen und in sekundenschnelle dem Aktienhändler bei "Handlungsbedarf" gemeldet. Entscheidungen über das Leben und die Zukunft von tausenden von Arbeitskräften verlaufen in Sekundenschnelle. Das Kapital besteht als florierendes vollautomatisiertes Finanzierungsgeschäft mit ständig wechselnden Partnern. Und wo es zugreift, muß es nicht mal mehr seine Grundlagen schaffen: die Ausbildung der Menschen, die Verkehrswege, die Logistik für das Arbeitspotential oder gar die Versorgung der Alten und Kranken oder die Erziehung der Kinder bekommt es umsonst, weil inzwischen die abhängigen Nationen selbst um die Aufträge des internationalen Kapitals konkurrieren und sich gegenseitig mit ihren vorhandenen Potentialen bis zur völligen nationalen Entkultivierung unterbieten und ihr Selbstbestimmungsrecht dem Weltenherrscher Geld überantworten.

Das Wachstum der produktiven Potenzen menschlicher Arbeit und der von Menschen entwickelten Technologie wird zum wachsenden Koloß der Mehrwert akkumulierenden Konzerne. Die Geldbesitzer innerhalb der mehrwertschaffenden Nationen können per kleine Aktienvermögen auch ein bißchen mit dabei sein. Der Rest hat um seinen Job zu kämpfen, mit seiner Arbeitskraft als Dienstleister oder als "Selbständiger" mit seinem Laptop. Die klassischen Arbeitsverhältnisse schwinden. Es werden immer mehr Heimarbeiter zu "Selbständigen", die am Risiko ihres Marktes voll beteiligt sind und im Krisenfall höchstens den sozialen Schutz des Sozialhilfeempfängers erwarten dürfen. Ihre Verchuldung gegenüber ihren Computerlieferanten verstellt ihnen dann auch jede Hoffnung auf Besserung ihrer Lage. Der kleine selbständig Abhängige hat ja jetzt an seinem Schicksal auch selbst Schuld, schließlich hat er seine Produktionswerkzeuge selbst eingekauft und ist ja nur seinen Hoffnungen auf seinen Marktanteil und auf das bessere Leben in der Gewinnzone erlegen. Die großen wußten schon, daß er nur eine kleine Chance hatte. Aber: Ein Jeder sei seines Glückes Schmied, damit das ganz große Eisen der Finanzwirtschaft heftig am Glühen bleibt und das Glück der Kapitalbesitzer ewig währt.

Der ausschließliche Zweck des Kapitals, die Vermehrung des Geldbesitzes durch die Verwertung aller lebenden menschlichen, technischen und natürlichen Resourcen, ist dann wirklich gesichert, wenn die Allmacht des Welt-Kapitals in Form von schwindelerrregenden Konsumgütern in jeden Winkel der Erde und in jede Nische menschlicher Bedürfnisse sich ausbreitet, die nationalen Produkte und Kulturen übertönt und somit alle Menschen an eine globale Lebens- und Produktionsform bindet, in der sie nicht nur durch ihre Arbeit und Lebensmittel, sondern auch durch ihre Lebensvorstellungen immer ohnmächtiger werden. Ist ihre eigene Welt erst vernichtet, so können ihre Vorstellungen, die sie sich über ihr Leben und das Leben überhaupt machen, den Zielen des weltweiten Kapitalismus als Erlösungshoffnung nach einem "besseren Leben" unterworfen werden. Die Traditionen der nationalen Kulturen sind damit am Ende; die Unterhaltung als Botschaft über den großen, (noch nicht, aber vielleicht irgendwann) erreichbaren Lebensgenuß, ist schon jetzt das Hauptthema der weltumspannenden Informationssysteme.

"Mehr als 500 aktive Satelliten bestreichen inzwischen die Erde mit den Funksignalen der Moderne. Uniforme Bilder auf einer Milliarde Fernsehschirmen nähren die gleiche Sehnsucht an Amur, Jangtse, Amazonas, Ganges und Nil. Satelittenschüssel und Sonnenkollektoren haben auch in stromfernen Gegenden wie im westafrikanischen Niger Millionen Menschen von ihrem dörflichen Leben in eine planetarische Dimension gestoßen ... Selbst im Iran gilt amerikanischer Heavy-Metal-Rock als populäre Musik unter den Teenagern der Mittelschicht ... In den muffigen Hütten am trüben Rio Purus debattieren junge Caboclos, die vermischten Nachfahren der Indianer und schwarzen Sklaven, über die Oberweiten der Rettungsschwimmerin Pamela Anderson aus der kalifornischen TV-Serie "Baywatch", als wäre sie ein Mädchen von nebenan ... Die Macht der bewegten Bilder prägt inzwishen sogar Ianomami-Indianer, ... ebenso wie die Jugend im vermeintlich letzten Shangri-La, in Bhutan." (Die Globalisierungsfalle, S. 26f.)

Das Ziel des modernen Kapitalismus ist die Kultur einer Konsumgesellschaft, welche durch die platten Annehmlichkeiten der Übersättigung mit Unterhaltung und Illussionen, den gesellschaftlichen Nährboden der Menschen, ihr ursprünglichstes Zusammenwirken in der Sorge um ihre Reproduktion und Lebensgestaltung, verwirtschaftet (aushölt) und alle Kulturgesellschaften selbst der Kapitalproduktion, dem internationalen, globalen Kapitalismus, unterwirft. Das Kapital hat längst begriffen, daß es für die Handhabung seiner zwangsläufigen Krisen nicht ausreicht, sich menschliche Arbeitskraft zur Geldverwertung anzueignen, sondern daß es auch menschliche Bedürfnisse, Hoffnungen und Gläubigkeiten seinem Zweck einverleiben muß. Das ist die absolute Ausplünderung des Lebendigen – bis zu seinem Untergang. All dies soll nur für den einen Zweck geschehen: Durch die Macht des kapitalisierten Geldes absolute Gewalt über die Geschichte der Menschen zu haben. Das ist ein ökonomischer Größenwahn, der dem politischen Größenwahn des Faschismus in nichts nachsteht.

 

2.

Wir sind schon mittendrin in der Entwicklung dieser Tittytainment-Gesellschaft. Ein immer kleiner werdender Arbeitsmarkt ist "wachstumsrelevant" und daher so gut bezahlt, daß auch etwas Aktienbesitz (die Teilhabe an der Kapitalexpansion) drin ist. Die althergebrachten Arbeitsplätze werden zu Tode rationalisiert und nur zum geringen Teil durch technologisierte Arbeitsplätze ersetzt; immer mehr Roboter ersetzen Menschen im Arbeitsprozeß, die sich über weniger und allgemein gut verteilte Arbeit bei gleichem Lensstandard nicht beschweren würden. Da aber die Fortschritte der Technologie im Kapitalismus den Menschen bestenfalls in der Entwicklung des Alltagskomforts zugute kommen, fühlen sich diese zunehmend für die Entwicklungen der Arbeit, für die gesellschaftliche Lebensgestaltung unnütz und ausgegrenzt. Die Entwicklung macht das Kapital. Arbeit ist für immer mehr Menschen nicht mehr gesellschaftlicher Lebensmittelpunkt, sondern bestenfalls das öde "Glück", noch einen Job zu haben, mit dem man an den Ergüssen technologischer oder virtueller Bedürfnisbefriedigung teilnehmen kann. Für Jugendliche gibt es keine ausreichenden Lehrstellen mehr, sodaß sie oft nicht mal mehr den Einstieg in ein Arbeitsleben finden können. Nur technologische oder Informatik-Arbeitsplätze haben Bedarf, während alle andere Arbeit zunehmend zur Handlangerei wird.

Zugleich erlebt die Unterhaltungs- und Freizeitindustrie einen Boom ohne gleichen. Die Produkte werden immer billiger und immer weiter verbreitet. Nicht weil es ein Kapitalist jemanden eingeflüstert hat, nimmt das Konsuminteresse an Musik und Unterhaltung durch Film und Fernsehen zu, sondern weil das gesellschaftliche und alltägliche Leben immer weniger geschichtlich wirklich bewegende Ereignisse erbringen kann. Der Zustand in der Arbeit und der in der Arbeitslosigkeit gleichen sich an; – der Unterschied liegt lediglich im verfügbaren Quantum an Geld und sozialen Kontakten. Das passive Welterleben ist angesagt, weil sich immer weniger Menschen als Subjekte in dieser Welt verstehen können. Ihre Unterhaltungsbedürfnisse lassen daher geradezu zwangsläufig den Markt der Unterhaltungsgüter anwachsen und somit auch die Preise dieser Güter senken. Die "Freizeit" erscheint nicht mehr nur als Freiheit von dem Zwang zur Arbeit, sondern als Zeit des subjektivierten Welterlebens, welches keine Welt mehr kennt. Der Arbeitsprozeß ist von Technologie zubetoniert und in seinem Zweck für die Menschen undurchsichtig, weil nur durch Rationalisierungs- also Kostensenkungserwägungen des internationalen Kapitalbesitzers (Finanz- und Aktienkapital) bestimmt, sodaß seine Wahrnehmbarkeit als gesellschaftlicher Arbeitsprozeß für Menschen schwindet. Das gesellschaftliche Subjekt der Arbeit, der Arbeiter, kommt in der Tittytainment-Gesellschaft daher auch nur noch als kleine Minderheit vor. Mehr noch: Die Tatsache, daß die Menschen sowohl in der Arbeit als auch durch ihre Arbeitslosigkeit ein gesellschaftliches Mehrprodukt erzeugen, welches sich das Kapital aneignet, wird durch die wachsende Einverleibung kapitalisierter Freizeitgüter auch ihr Bedürfnis nach Teilnahme an den gesellschaftlichen Lebensprozessen verstellt. Was die Gesellschaft, das Ensemble menschlichen Zusammenwirkens, nicht mehr hergibt, wird im individualisierten Verfügungsrausch des Konsumenten übermalt. Zur Ausbeutung der lebenden Arbeit ist die Ausbeutung der lebenden Bedürfnisse hinzugekommen, welche dadurch zum Mehrprodukt beitragen, daß sie auch durch Scheiße sich befriedigt fühlen.

Ging die altherhenrachte Produktion von Waren von vorhandenen menschlichen Bedürfnissen aus, die durch geeignete Produkte befriedigt werden mußten, so geht es dem globalen Kapitalismus zumindest in den Ländern, welche als maschinenexportierende Nationen Überschüsse machen, darum, innerhalb der nationalen Schranken seine Produktions- und Absatzkrisen dadurch zu kontrollieren, daß variable Bedürfnisse geschaffen werden, welche sich auf Produkte beziehen, die zwar nicht notwendig sind, aber als Bedarfsreserve auch dann die Produktion in Gang halten, wenn diese ansonsten zu stagnieren droht. Diese Bedarfsreserven lassen ein solches Land – verglichen mit der Armut der lebensmittelexportierenden Länder – wirklich reich erscheinen: Dort hat man ja mehr, als man braucht und mehr, als es der gesellschaftliche Lebenszusammenhang erfordert. Viele haben somit auch indirekten Anteil an den Mehrprodukten und können ihre persönliche Welt entsprechend ausstatten; andere sind – hiervon ausgeschlossen – immer ärmer, weil sie von der "sozialen Sicherheit" in Form von Sozialleistungen abhängig sind, die zunehmend minimalisert wird. Der gesellschaftliche Lebenszusammenhang und die darin offensichtliche Verpflichtung gerät unter die Armutsdecke. Die Armut nimmt zu, aber der Reichtum wird umso lauter.

 

3.

Der Zusammenhang der Menschen besteht in ihrer Kultur, welche die Inhalte des gegebenen gesellschaftlichen Reichtums innerhalb eines Kulturvolkes ausmacht. Solche Kulturen sieht das globale Kapital lediglich als Möglichkeiten, Mittel und Wege, seine Produkte billig zu erzeugen und massenhaft umzusetzen. Es hat die Entkultivierung des Lebenszusammenhanges der Menschen, der Haushalte und der sozialen Öffentlichkeit dadurch fortgetrieben, daß es die Kultur des reinen "Verbrauchers" entfaltet. Der Verzehr überproduzierter Lebensmittel ist so bestimmend geworden, daß der "Verbraucher" zum Entscheider über die jeweilige Auswahl des Angebots am nationalen Markte geworden ist. Er mag sich daher auch produktbestimmend fühlen. Es dreht sich ja alles um ihn. Aber er bestimmt nicht, was und wie produziert wird. Er bestimmt lediglich, die Art und Eigenschaft des Produkts, das Design, die Sorte, die Vorzüge der einen oder anderen Marke – kurz: Wie sich das Produkt fühlen läßt. Nicht was als geschichtliche Notwendigkeit zur Entwicklung des menschlichen Lebens geboten ist, bestimmt die Entwicklung der Technologie und Ökonomie, sondern was in großer Masse schnell verbraucht wird, damit die Automaten keine Leerläufe und die Kassen keine Leerräume erfahren müssen. Die Kultur des "Verbrauchers", wie nun der Konsument genannt wird, ist eine Kultur des Verzehrs – nicht von Lebensmitteln zur Existenzsicherung und sozialen Lebensgestaltung, sondern von Produkten, welche die Selbstwahrnehmung befriedigen, während sie auch als Lebensmittel gereichen. Solche Produkte sind gesellschaftslos: für die Gesellschaft sind sie nichts als eben nur Geld, für den Konsumenten sind sie alles als Unterhaltung.

Die Kultur des Verzehrs und der Unterhaltung ist die Kultur der gesellschaftlichen Vernichtung. Darin bestärken die Menschen vor allem das Leben in der Nische der individualisierten Person, die im schmächtigen Raum der selbstgeschaffenen Welt ihre zwischenmenschliche Beziehungen hat und innerhalb der Grenzen des individuellen Besitzstandes ihre Befriedigungen als Selbstgenuß ihrer zwischenmenschlichen Persönlichkeit verwirklicht.

Die gesellschaftsliche Leblosigkeit ist die Kehrseite einer Überschußproduktion von gesellschaftslosen Gütern. Die Produkte selbst haben schon etwas an sich, was den einzelnen Menschen in seiner sozialen Leblosigkeit besticht, was ihm die Not seiner sozialen Subjektlosigkeit ertragen läßt und ihm als zunehmend vereinsamendes Lebewesen eine Fülle von Vergügungen bereitet – solange die Bedarfsreserven für die Verwertungsinteressen des Kapitals nötig sind. Umsomehr fühlen sich die Menschen in ihrer Privatsphäre als Subjekt – und nur dort. Das ist die Grundlage der Selbstwahrnehmung vollkommen individualisierter Personen.

Solche Lebensräume müßten nicht interessieren – sie sind ja meist auch furchtbar langeweilig – wenn sie nicht zugleich kulturelle Macht darstellen würden. Alle relevanten Entscheidungen über Infrastruktur und öffentlicher Kultur sind ihnen unterordnet. Der allgemeine Egoist bestimmt den sichtbarsten Teil der Öffentlichkeit. Die Kultur verallgemeinert sich in seiner Selbstwahrnehmung und erzeugt durch diese neue Gesellschaftlichkeit eine neue Ohnmacht: die Menschen, die durch die herrschenden Wahrnnehmungen ihre Selbstwahrnehmung und ihre Identität verlieren.

Produkte, welche keine gesellschaftlichen Bedürfnisse mehr befriedigen, müssen mehr Leben zeigen, als sie erfüllen konnen. Sie befriedigen nicht den sinnlichen Bedarf der Menschen nach ihren gesellschaftlich entwickelten Lebensgütern, sondern vor allem das Bedürfnis nach Lebenssinn, wie er sich ihnen vorstellt, wenn das Leben nicht mehr durch sich selbst sinnvoll ist. Das ist der Bedarf an Subjektivität, Besonderung im Gegensatz zur sinnlosen Allgemeinheit, also Bedarf an Individualität, die sich als persönliches Design und soziale Potenz der Lifestyle-Attribute bestimmter Markenartikel gestalten läßt. Das menschliche Bedürfnis, das notwendige sinnliche Verlangen, was Menschen nach dem haben, was sie durch ihre stoffliche Arbeit erzeugen, wird somit zum Bedarf an Lebensgütern, welche dem subjektlosen Konsumenten Lebendigkeit, individuelle Potenz als objektive Macht vermitteln. Es sind dies somit Mittel der Selbstwahrnehmung, Befriedigungsgegenstände eines sozialen Verlangens nach lebendiger Individualität. Die Vielfalt der Bedürfnisse von Menschen nach ihren vielfältigen Arbeitsprodukten verkehrt sich zur Einfalt der Wahrnehmung allseitiger, omnipotenter Bedürfnisbefriedigung – sofern sie sich auf die abstrakten Signale und Verheißungen der allgemeinen Produktangebote bezieht. So leer diese dürftige Selbstwahrnehmung ist, so vital aber ist die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Beziehungen, die solche Wahrnehmungen hervorbringen.

 

4.

Über die Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle, beziehen die Menschen ihre Zwischenmenschlichkeit im Nachhinein der Produktion. So wenig Sinn diese Güter auch für das wirkliche Leben der Menschen haben: Dadurch, daß lebende Menschen über ihre Wahrnehmungen zwischenmenschlich verkehren, haben sie den Stoff ihres Lebens in ihren Sinnen selbst. Zwischenmenschliche Gesellschaft ist Gesellschaft – wenn auch jenseits des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels und der Notwendigkeit der Arbeit. Der gesellschaftliche Verkehr über die Wahrnehmung hat seine Stofflichkeit unmittelbar in den menschlichen Sinnen selbst, welche diese Form der Gesellschaftlichkeit empfinden und fühlen. Diese haben daher alle objektiven Wirkungen als Einzelschicksal von menschlichen Sinnen, Wahrnehmungen, Gefühlen und dergleichen mehr. Hierin finden die Auseinandersetzungen über das Leben statt und hierin bildet sich die Sinnesgeschichte der Menschen und ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen. Deren Werden und Vergehen, deren Krisen und Entfaltungen haben letztlich dieselbe Lebenskraft, die ihre Produkten als Existenzmittel und Kulturgüter enthalten. Wo die Produkte nicht mehr ihre gesellschaftlichen Kulturgüter, sondern vor allem Mittel der Selbstwahrnehmung sind, haben sie sich immer noch als lebende Menschen, die sich über die Notwendigkeiten ihrer Wahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen verständigen müssen.

Die Wahrnehmung wird hierdurch selbst zum Kulturträger, zur zwischenmenschlichen Kultur jenseits und auch gegen die Allgemeinkultur des globalen Kapitalismus und seiner sinnlich verödeten Arbeitswelt. In dieser Kultur des Zwischenmenschen haben die Menschen auch ihren Sinn, weil sie darin ihre Sinne haben – ohne hierfür tätig zu sein. Ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge sind nicht unmittelbar gegenständlich, sondern in den Sinnen, welche die Menschen für ihr zwischenmenschliches Leben haben. Ihre Sinne sind für sie unmittelbar objektive Lebensgüter, die in dieser Kultur auch als solche objektive Existenz bekommen.

Und darin liegt sowohl die Sprengkraft gegen die Aushölung des Lebens wie zugleich auch die Möglichkeit seiner vollständigen Unterwerfung im Menschen selbst. Wo die Kultur zur Vereinzelung von Menschen dient, zerstört sie deren letztliche gesellschaftliche Identität. Wo sie sich als soziale Lebenskraft für Menschen erweist, da entsteht zugleich auch die subjektive Kraft der Menschen gegen die Welt ihrer Subjektlosigkeit.

 

5.

Wir leben immer noch in der bürgerlichen Gesellschaft. Der Besitzstand, das Burgherrentum, welches deren Grundlage ist, besteht in der Form der Vereinzelung tätiger Menschen, deren soziales Zusammenwirken diese Gesellschaft zwar durch die gesellschaftliche Arbeit bildet, sie aber nur auf dem Markt der Güter und Arbeitskräfte als Geld realisiert. Durch die Reduktion ihres lebendigen Eigentums an Arbeitsvermögen und Erfindungsreichtums auf den Besitz an Arbeitskraft und Intelligenz, wird ihre gesellschaftliche und gesellschaftsbildende Kraft zur reinen Sache, die als Ware auf dem Markt bemessen wird. Das ist die Form des Privateigentums, die im Widerspruch zur Gesellschaftlichkeit seiner Erzeugung ist. Kapital ensteht nur aus diesem Widerspruch, der ihm per Besitz an Produktionsmittel den gesellschaftlich produzierten Mehrwert zur alleinigen Verfügung übereignet.

Die bürgerliche Gesellschaft existiert auch in der zwischenmenschlichen Kultur als geistige und politische Potenz zur Vereinzelung von Menschen, welche das Verhältnis von dem, was sie wahr haben und dem, was sie wahr nehmen, bestimmt. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen enthalten die Eigentümlichkeit menschlicher Sinne und bilden sich hieraus; in der Form des Besitzes an solchen Sinnen, in der Verfügung über sie, werden sie verbraucht. Wo Menschen füreinander Sinn haben, können sie sich keinen Sinn geben und wo sie Sinn geben, treten sie in der zwischenmenschlichen Kultur als Sinn für andere auf.

Menschliche Sinne bilden sich nicht in der Wahrnehmung oder durch sie. Sie sind eigentümliche Gestalt der gegenwärtigen und vergangenen Tätigkeit von Menschen, ihrer Liebe und ihrer Auseinandersetzung mit anderen Menschen. In der zwischenmenschlichen Kultur existieren sie für die zwischenmenschliche Existenz, in welcher die Menschen sich als das wahrnehmen, was sie voneinander wahr haben. Hier existieren sie als beseelte Einzelwesen, die sich Liebe und Leben geben und nehmen, die hierfür Existenzformen wie Familie, Gemeinde und öffentlichen Lebensraum schaffen und die sich schließlich zu einem Gemeinwesen zusammenfügen, welches als allgemein kultivierte Seele, als Volksseele, jeden einzelnen Sinn zu bestimmen trachtet.

Die Entfaltung dieser Kultur ist für den liebenden Menschen total und fatal zugleich. Sie bedeutet letztlich seine vollständige Beherrschung, Vernutzung seiner sinnlichen Identität. Was immer er tut, er wird zum Stoff dieser Kultur und ihrer sozialen Agenturen.

 

6.

Die geistigen und politischen Protagonisten dieser Kultur arbeiten in den Agenturen des Sozialmanagements, der Religionen oder Sekten und der Kunst und Unterhaltung. Sofern sie sich hierüber theoretisch überhaupt Wissen verschaffen wollen, wird es vor allem psychologisches (das ist auch pädagogisches) Wissen sein, was sie zur Begründung ihres Tuns und ihres Selbstverständnisses heranziehen (auch wenn dies immer häufiger nur noch als lebenspraktisches Wissen über Gefühle oder deren esotherische Gestaltungen auftritt).

Die Analyse der bürgerlichen Kultur ist deshalb nicht nur die Auseinandersetzung derer Existenz, sondern zugleich auch Angriff auf wissenschaftlichen Vertreter derselben. Die kulturpolitische Psychologie ist die Theorie, welche die Vereinzelung menschlicher Lebenszusammenhänge auf einen quasi naturgegebenen Gegenstand der Seele, der Triebe, der Wahrnehmung, des Gefühls oder des Verhaltens reduziert und damit als unausweichliche Lebenstatsache hinstellt, mit welcher jeder umzugehen hat. Dies aufzubrechen hat ein Bewußtsein über diese Lebenszusammenhänge zur Folge, in welchem auch die "Probleme" und Nöte der einzelnen kulturobjektivierten Menschen eine Öffnung und Veröffentlichung ihres gesellschaftlichen Zustands erfahren.

Wolfram Pfreundschuh