Emanuel Kapfinger (23.12.08)

Die Situationistische Internationale. Ihr Einfluss auf die Studentenbewegung

I.
Am 22. November 1966 wurde an der Straßburger Uni eine Broschüre verteilt, die in die bis dahin politisch sorglose Straßburger Studentenschaft gehörigen Wirbel brachte. Sie trug den Namen „Über das Elend im Studentenmilieu“ und desavouierte so manch falsche Vorstellung über dieses Milieu. Die Broschüre wuchs bald zum Skandal aus, zu dem sich sogar De Gaulle äußern musste, und der in Frankreich ein breites und aufgeregtes Presseecho entfachte. Der Aufruhr währte mehrere Wochen und war so gewaltig, dass schließlich ein Gericht am 13. Dezember die Studentenvertretung, von der die Broschüre gedruckt worden war, schloss und die fünf verantwortlichen Studenten exmatrikulierte.

Für die Broschüre hatte sich eine Gruppe linksradikaler Straßburger Studenten, die eher zufällig zur Verwaltung der Finanzen der Straßburger Studentenvertretung gekommen waren, mit Pariser Vertretern der Situationistischen Internationalen („S.I.“, 1957 - 1972), einer internationalen marxistischen Künstlervereinigung, zusammengeschlossen. Die Broschüre war von dem S.I.-Mitglied Mustapha Khayati geschrieben worden und enthüllte den Status der Studenten, der gemeinhin als privilegiert und in Autonomie lebend vorgestellt wird, als ganz und gar erbärmlich. Sie warf zudem den Studenten vor, dass sie sich genau diese falsche Vorstellung über sich selbst machten und ihr eigenes Elend zu großartigem Glück verklärten. Dabei hob sie deutlich hervor, dass die studentische Entfremdung „nur durch die Infragestellung der ganzen Gesellschaft kritisiert werden“ kann (221). Die Kritik der Situation der Studenten könne nicht auf das Studentenmilieu beschränkt werden, sondern müsse die Analyse seiner gesellschaftlichen Bedingungen einbeziehen.

Dieser Text enthielt eine gebündelte Darstellung der Theorie der S.I., die durch den Straßburger Skandal erst richtig bekannt wurde. An mehreren anderen Unis wurden Studentengruppen nach dem Straßburger Vorbild aktiv, und viele Aktionen der aufkommenden Studentenbewegung verstanden sich als „situationistisch“. Zentraler Begriff dieser Theorie ist das „spectacle“, eine von unserm Leben abgetrennte Bilderwelt, in der wir aber ideell unser Leben erfüllt und unsere real unterdrückten Bedürfnisse verwirklicht wähnen, und der wir unsere realen Handlungen zueignen; von der wir jedoch in all unseren Handlungen und Vorstellungen kontrolliert und gesteuert werden. Ihre charismatische Leitfigur war Guy Debord, dessen Hauptwerk „La société du spectacle“ 1967 erschien. Das Spektakel, das sich insbesondere (aber nicht nur) auf die Medien- und Werbewelt bezieht, wird dort explizit als die Vollendung der Marxschen Kritik des Warenfetischs benannt.

Um die Empörung, die Khayatis Text hervorgerufen hat, und seine Brisanz nachvollziehen zu können, muss man sich vor Augen führen, in welch vorteilhafter Lage man den Studenten glaubte. Von staatlichen Subventionen und einem gehobenen Elternhaus großzügig finanziell ausgestattet, sei er von aufreibender Arbeit freigestellt, könne sich dem geistigen Leben widmen und genieße die Freiheit, seinen eigenen Interessen nachzugehen. Der Student befinde sich zudem inmitten der kulturellen Elite, in der Universität, dem Hort des Geistes und der Wahrheit, und nach seiner Eingliederung ins Berufsleben werde ihn seine Arbeit in eine herausragende, gut bezahlte Stellung führen.

Khayati zerstört diesen Schein. Zwar ist das Studium die Negation der herrschenden Gesellschaft; aber es ist nicht unabhängig davon, sondern die Negation bewahrt das Negierte in sich, das in ihr als dieselbe Entfremdung in anderer Form auftritt (Ähnliches gilt für die Kunstanalyse der S.I.). Das Studentendasein, heißt es, ist nur „eine provisorische Rolle, die ihn auf die endgültige vorbereitet, die er als positives und bewahrendes Element im Warensystem erfüllen wird“ (216).

Tatsächlich sei es so, dass die Studenten in äußerster Armut leben; „90% von ihnen [verfügen] über weniger Mittel als der einfachste Lohnempfänger“ (217). Sie führen kein autonomes Leben, sondern stehen in Abhängigkeit von ihrer Familie, und werden von den gesellschaftlichen Institutionen als Unmündige behandelt. Die Universität ist nicht der Ort kritischen Geistes und einer herausragenden Bildung, sondern der „Massenherstellung ungebildeter und zum Denken unfähiger Studenten“ (218) – so wie es die moderne kapitalistische Produktion verlangt. Ihre berufliche Zukunft wird eine geringfügig gehobene Stellung sein, mit wenig Herrschaft ausgestattet, doch demselben Herrschaftsapparat untergeordnet – d.h. sie ist ebenso entfremdete Arbeit wie die ihr untergeordnete, schlechter bezahlte, „das Äquivalent für den Facharbeiter im 19. Jahrhundert“ (217).

Aber der Student verkennt dieses sein Elend. Um sowohl seine gegenwärtige als auch künftige Lage, in der ihm ebenfalls kein Glück beschieden sein wird, zu kompensieren, schmückt er die Gegenwart „mit illusorischem Prestige“ aus (217) und „hält ... sich für das gesellschaftliche Wesen mit der größten ‚Autonomie’“ (217). Er lebt daher in vollständiger Illusion über seine Entfremdung.

So vernichtend zieht Khayati über das Studentenmilieu her und alle romantischen Vorstellungen über es durch den Dreck. Trotzdem sieht er „seit einigen Jahren“ (222) eine kritische Jugend heranwachsen, der er auch die Studentenschaft zurechnet. Freilich seien die meisten der modernen Jugendbewegungen, die Rocker und Provos, zu wenig radikal und mündeten wieder ein in den Lauf des Bestehenden; aber auch die amerikanische Studentenbewegung, die von Berkeley ausging, findet bei ihm schon Erwähnung. Khayati und die S.I. hatten offensichtlich ein Gespür für die sich anbahnende Bewegung, die ihre Kritik, ganz im Sinne der S.I., gegen das „kolonisierte Alltagsleben“ richten sollte.

Am Ende skizziert Khayati ein Gegenmodell zur Gesellschaft der totalen Entfremdung. Er kennzeichnet es durch „die bewusste Bestimmung des gesamten Lebens durch alle“ (230), in dem die Spaltung zwischen „verdinglichte[r] Arbeit und passiv konsumierte[r] Freizeit“ (230) zugunsten einer spielerischen, freien Lebensäußerung aufgehoben ist. Er verbindet dies mit dem politischen Modell der Rätedemokratie. „Alle Macht den Räten“ fordert der Text als Parole der revolutionären Bewegung. Und mit dieser Forderung sollte sich die S.I. mit einer Studentenbewegung treffen, deren grundlegende Forderung eine radikale Demokratie war, nicht die bestehende Pseudodemokratie, beginnend mit der Organisation der Universitäten, in denen die Ordinarien noch hoheitlich über Studien-Angelegenheiten verfügten.

Weite Kreise der Studenten sahen nach der Lektüre der Schrift sich und ihre gesellschaftliche Lage in einem neuen und kritischen Licht. 1966 war sie in Straßburg zunächst in einer Auflage von 10000 erschienen; ein Jahr später hatte sie in ganz Frankreich eine Auflage von 300000 Stück und leistete so einen wesentlichen Beitrag zur erstarkenden Studentenbewegung. Ins Deutsche übertragen und unter den Studenten verbreitet wurde die Broschüre im Juni 1968 als „Raubdruck“, der eigentlich keiner war, da auf allen Texten der S.I. ein „Anti-Copyright“ lag. Dies dokumentiert das Interesse der deutschen Studenten an der Broschüre, die auch hierzulande zur Erarbeitung eines kritischen Verhältnisses der Studenten zu ihrer eigenen Situation beitrug.

II.
Die Theorie der Situationisten war auch in der hiesigen Bewegung von maßgebender Bedeutung, wenngleich in anderer Weise als in Frankreich. Viele ihrer Gedanken gingen als Impulse in die Texte und Diskussionen der „Subversiven Aktion“ ein, die das Zentrum der Antiautoritären in der aufkommenden Studentenbewegung bildete. Zu ihren Mitgliedern gehörten unter anderen die dann führenden Aktivisten, Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann. Die personelle Schnittstelle zur S.I. bildete dabei zunächst die Münchner Gruppe SPUR(1957-1965), der die beiden Anfang der 60er Jahre angehörten. Später wurden ehemalige SPUR-Mitglieder in der Subversiven Aktion aktiv.

Die Inspiration durch die S.I. lässt sich an den Inhalten der „Subversiven Aktion“ und mit ihr der Studentenbewegung feststellen. So wurde der Kapitalismus von ihr nicht nur ökonomisch als System der Ausbeutung aufgefasst, sondern vor allem als ein kulturelles Zwangssystem. Für sie war die Gesellschaft ein System von Normen, das die kulturellen Tätigkeiten in eine entfremdete Form presst und dadurch die wahren Bedürfnisse und die menschliche Kreativität unterdrückt – und dies zugleich verschleiert. Sie trafen sich damit mit den Positionen der Situationisten und standen in Gegensatz zu den traditionell ökonomistischen Ansätzen des Marxismus und der Arbeiterbewegung. Es sollte denn auch vor allem die Opposition gegen die kulturelle Enge sein, die die Studentenbewegung motivierte und die kulturelle Befreiung, der Sexualität, der Lebensansprüche und -entwürfe, des Geschlechterverhältnisses zu einem ihrer vorrangigen politischen Ziele machte, bündig in dem Slogan „Das Private ist politisch“ ausgedrückt.

Die Gemeinsamkeiten mit der S.I. zeigt auch die Kritik der Studenten am „kolonisierten Alltagsleben“. Die Utopie der S.I. von einem Reich vollkommener Freiheit, in dem keine äußerlichen Zwecke den Menschen ein zweckgerichtetes und freiheitsraubendes Denken mehr aufzwingen, vom „Spiel“ und einem „frei aufgebauten Leben“ ist von den meisten 68ern vorbehaltlos geteilt worden. Die Wahrnehmung der Welt als eines geschlossenen und undurchdringlichen Netzes aus Lügen, über den US-Krieg in Vietnam, über die NS-Vergangenheit der Eltern, über die Kolonialherrschaft des Westens, hatte Debords „Spektakel“ als ideologischer Macht der Verhüllung allgegenwärtiger Gewaltverhältnisse auf den Begriff gebracht.

Für die künstlerische Arbeit der S.I. war die Theorie der „Konstruktion von Situationen“ zentral. Das routinemäßige, durch das Spektakel festgelegte Handeln, Wahrnehmen und Urteilen sollte durch eigene Konstruktionen aufgebrochen werden, durch selbstentwickelte Formen also, die die wahren Begierden verwirklichen. In dieser Selbstkonstruktion von Situationen sahen die Situationisten „das Brandzeichen eines höheren Spiels an einigen Punkten auftauchen“. Diese Theorie der Konstruktion als kulturelle Form revolutionärer Praxis fand ihre Fortsetzung in den vielfältigen Aktionen der 68er. Das Stören von Vorlesungen, die Interventionen bürgerlicher Feierlichkeiten, die Einrichtung der Berliner Kommunen waren Aktionsformen, die die „systemstabilisierenden“ Selbstverständlichkeiten aufbrechen und in der Irritation darüber zugleich Optionen auf die „wirkliche Vollendung des Individuums“ aufzeigen sollten.

Es war das Schicksal der Situationistischen Internationale, dass sie trotz ihres großen Einflusses auf die französische, aber auch die deutsche Studentenbewegung und trotz ihrer ausgefeilten kritischen Kulturtheorie schnell in Vergessenheit geriet. Dennoch bleibt angesichts der Fußball-, Papst- oder Obama-Hypes die These vom Spektakel aktuell. Und in der „Clownsarmee“ oder dem „Radioballett“ werden ihre politisch-kulturellen Aktionsformen – auch wenn sie sich nicht explizit auf diese Tradition berufen – weitergeführt. Im Untergrund, so scheint es, wirkt ihre Theorie und Praxis weiter nach.

Emanuel Kapfinger