Konrad Lotter (2012)

 

Quelle: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie Nr. 37.1 – 2012, S. 45-68

Siehe auch den Begriff "Dekadenz" im Kulturkritischen Lexikon.

Marx als Theoretiker der Dekadenz

In seiner „klassischen“ Ausprägung bestand der Marxismus stets auf der Einheit von Theorie und Praxis: Die Theorie wurde als Ausdruck der Praxis, die Praxis als angeleitet durch die Theorie begriffen. Obwohl beide Seiten durcheinander vermittelt waren, besaßen sie doch auch eine relative Selbständigkeit. Die Praxis war (neben der Arbeit) vor allem durch die Politik definiert und richtete sich auf das Programm und die Organisation der Partei, auf die Strategie und Taktik des Kampfes oder auf politische Abgrenzungen; ihr letztes Ziel war die Verwirklichung des Kommunismus. Die Theorie hatte die Erkenntnis der Wirklichkeit, die philosophischen Voraussetzungen der Erkenntnis und insbesondere die Erklärung der Geschichte zum Inhalt. Ihr vornehmstes Ziel war es, die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Ökonomie aufzudecken und darzustellen. Aus heutiger Perspektive scheint sich die Einheit von Theorie und Praxis dagegen gelockert, wenn nicht überhaupt aufgelöst zu haben. Während die Praxis in ihrer sozialdemokratischen Form verbürgerlicht und in ihrer leninistischen Form gescheitert ist, genießt die Theorie mit ihren kritischen Potenzen ein unvermindertes, aktuelles Interesse. Infolge ihrer Trennung von der Praxis hat sich aber auch das Verständnis der Theorie geändert. Sie gilt nicht mehr als Wegweiser des Fortschritts und „Fahrplan“ zum Kommunismus, sondern ausschließlich als Kritik des Kapitalismus und Darstellung seines notwendigen Niedergangs. In diesem Sinne möchte ich die Marxsche Theorie als eine Theorie der Dekadenz rekonstruieren.

Im Vorwort zu Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) bezeichnet Marx die asiatische, die antike, die feudale und die modern bürgerliche Produktionsweise als „progressive Epochen“ der ökonomischen Gesellschaftsformation. (MEW 13, 9) Haben die drei zuerst genannten ihr Ziel, die höhere Produktionsweise, erreicht, so ist die vierte daran gescheitert. Der gescheiterte Übergang zum Kommunismus hat auch theoretische Konsequenzen, da von „Progression“ oder „Fortschritt“ genau genommen erst post festum gesprochen werden kann. Erst vom erreichten Ziel aus lässt sich – rückblickend – entscheiden, welche Ereignisse, Maßnahmen, Abzweigungen oder Streckenabschnitte tatsächlich zum Ziel hin- und welche davon weggeführt haben.

An der gleichen Stelle skizziert Marx seine Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Einerseits, so heißt es, gerät die Entwicklung der Produktivkräfte „auf einer gewissen Stufe […] in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen“, andererseits geht „eine Gesellschaftsformation […] nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist“. Zwischen dem Untergang der alten Gesellschaft und der Bildung der neuen liegt somit eine Zeit des Übergangs, in der sich der Widerspruch zwischen den fortschreitenden Produktivkräften und den stagnierenden Produktionsverhältnissen verschärft und allen Bereichen der Gesellschaft seinen Stempel aufdrückt. Diese Zeit des Übergangs, deren Ende offen und erst im Nachhinein zu bestimmen ist, möchte ich geschichtsphilosophisch als eine Epoche des Niedergangs oder der Dekadenz interpretieren. Gestützt wird diese Interpretation durch das Nachwort zum Kapital, in dem Marx seine dialektische Methode dadurch rechtfertigt, dass sie „in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis […] seines notwendigen Untergangs einschließt“ und „jede gewordene Form […] auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst“. (MEW 23, 28)

Zum Begriff des Fortschritts

„Fortschritt“ bezeichnet die Annäherung an ein bestimmtes Ziel, ein Mehr und Größer oder den Weg vom Schlechteren zum Besseren. Endlich ist der Fortschritt dann, wenn das Ziel erreicht werden kann, wie bei der Ankunft einer Reise oder der Vollendung eines Bauwerks, unendlich wenn das Ziel eine Idee ist, wie die moralische Perfektion des Menschen oder die versöhnte Gesellschaft, der man sich asymptotisch nähern, die man aber letztlich nicht erreichen kann. Beide können sich auch zu einer Synthese verbinden, wenn das höhere Ziel erst mit dem Erreichen des nächsten Zieles ins Blickfeld gelangt oder der unendliche Fortschritt sich in endlichen Etappen vollzieht. Demgegenüber ist der „Rückschritt“, der Niedergang oder die Dekadenz zwar ebenso ein Mehr oder Größer, also eine quantitative Veränderung, aber eine solche, die vom angestrebten Ziel wegführt und in eine schlechtere Qualität umschlägt.

Im Deutschen hat sich der Begriff des Fortschritts erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingebürgert, als Übersetzung des französischen progrès, der in der um die Mitte des Jahrhunderts entstandenen Geschichtsphilosophie eine prominente Rolle spielt. Darin nämlich wird die Geschichte der Menschheit mit dem Fortschritt der Menschheit gleichgesetzt. Die „Gesamtheit der menschlichen Gattung“, schreibt Turgot, „bewegt sich im Wechsel von Ruhe und Bewegung, von Gutem und Bösem, zwar langsam, aber stetig auf eine größere Vollkommenheit zu“.↓(1) Noch entschiedener setzt Condorcet die Geschichte mit dem Fortschritt gleich. Die Natur hat „der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt“,↓(2) und die Geschichte entwickelt, was in der Natur angelegt ist. Der Begriff des Fortschritts wird, nach dem Wort von Reinhart Koselleck, im „Kollektivsingular“↓(3) verwendet. Soll heißen: Die partikularen Fortschritte aller Bereiche menschlichen Handelns in Wissenschaften, „Künsten“, Moral und Politik sind bei Turgot und Condorcet zu einem einzigen, universellen Fortschritt vereinigt.

Gleichermaßen erkennen beide Philosophen, dass der Fortschritt bedroht ist und dass es zu allen Zeiten auch Hindernisse gegeben hat, die ihn verzögert oder sogar zum Stillstand gebracht haben. „Rückschritte“ aber werden explizit ausgeschlossen.↓(4) Turgot nennt als Hauptursache der Verzögerung „die Trägheit, den Starrsinn und den Schlendrian [der Menschen] sowie alles, was zur Untätigkeit beiträgt“.↓(5) Für Condorcet sind es vor allem die religiösen Mysterien, der Aberglaube und die Priester, die vor allem ihre Fähigkeit vervollkommnet haben, „die Menschen zu täuschen, um sie ausbeuten zu können und eine auf Furcht und wahnhafte Hoffnung gegründete Verfügungsgewalt über ihr Denken“ zu gewinnen.↓(6) Während Turgot auch das Mittelalter in die Bewegung des Fortschritts mit einbezieht und die christliche Religion – als soziale Institution betrachtet – wegen ihres Nutzens für die Tugend, die Gerechtigkeit und das Glück schätzt, wertet Condorcet das Mittelalter als eine „verhängnisvolle Epoche“, in der die christliche Religion, die sich darin in nichts von den anderen Religionen unterscheidet, der Aufklärung entgegensteht.

Kausale Zusammenhänge von Fortschritt und Verfall

Schon bei Rousseau ist die von Turgot und Condorcet entwickelte Vorstellung eines universellen Fortschritts, der die Fortschritte in verschiedenen Bereichen zu einem einzigen bündelt, durchbrochen und zwar in mehrfacher Hinsicht. Erstens gewinnen die einzelnen Bereiche eine größere Selbständigkeit; die Wissenschaften und die (mechanischen) Künste, die Sitten und die Politik haben ihre eigene geschichtliche Dynamik. Zweitens verlaufen die Entwicklungen der einzelnen Bereiche auch nicht parallel zueinander, sondern oftmals gegenläufig. Es findet eine ungleichzeitige Entwicklung statt; während ein Bereich fortschreitet und eine Blüte erlebt, stagniert ein anderer oder befindet sich sogar im Verfall. Der beunruhigendste Gedanke Rousseaus aber ist, dass diese gegenläufigen Entwicklungen zusammenhängen und sich bedingen, zwischen dem Fortschritt des einen und dem Verfall des anderen also eine kausale Verbindung besteht. „In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortschreiten, sind unsere Seelen [unsere Sitten und Tugenden] verderbt worden.“ Der „Fortschritt der Wissenschaft und Künste“ hat „nichts zu unserer wahren Glückseligkeit beigetragen“, sondern „unsere Sitten verdorben“ und „der Reinheit des Geschmacks Abbruch getan“.↓(7) Jeder Schritt über den Naturzustand hinaus war mit der Ausbildung neuen Fähigkeiten und der Erweiterung der eigenen Kräfte „zwar dem Scheine nach […] ein großer Schritt zur Vollendung des Individuums“; mit dem Verlust der ursprünglichen (sozialen) Gleichheit und der Verbreitung von Egoismus und Habsucht war er „in Wirklichkeit aber ein Schritt zum Verfall der Gattung“.↓(8) Insbesondere die Fortschritte der Metallverarbeitung und des Ackerbaus haben einigen Wenigen Reichtum, Muße und Luxus, der Masse der Menschen aber zusätzliche Mühen, „die Sklaverei und das Elend“ gebracht.

An die Stelle eines linearen Fortschritts tritt bei Rousseau ein dialektischer, der die Höherentwicklung der menschlichen Gattung als eine Negation der Negation erklärt. Zuerst wird der Naturzustand und mit ihm die ursprüngliche Gleichheit der Menschen negiert; der Zivilisationsprozess in dem sich die Menschen zunehmend der Natur entfremden, wird als ein Verfallsprozess interpretiert. Dann aber, am Ende des Verfallsprozesses, wo unter despotischen Verhältnissen „der äußerste Grad der Ungleichheit“↓(9) ist, findet ein zweiter Umschlag statt; denn unter denjenigen, die vor dem Despoten gleichermaßen macht- und rechtlos sind, hat sich eine neue Gleichheit ausgebildet. Aus der Negation der Zivilisation kann (nach der Beseitigung des Despoten) ein neuer und qualitativ höherer Naturzustand hervorgehen.

Parallelen zwischen Rousseaus und Marx’ Geschichtstheorie

Zwischen Rousseaus und Marx’ Geschichtstheorie bestehen, zumindest in formaler Hinsicht, verschiedene Parallelen. Wie Rousseau lehnt auch Marx den universellen Fortschrittsbegriff Turgots und Condorcets ab. „Überhaupt [ist] der Begriff des Fortschritts nicht in seiner gewöhnlichen Abstraktion zu fassen“ (MEW 13, 640), schreibt er, was soviel heißt wie: Alle Bereiche der Wissenschaft, der Politik, der Moral, der Kunst oder auch der Religion haben ihre eigene Geschichte, nicht im Sinne der absoluten, aber doch einer relativen Autonomie. Letztlich stehen sie in einem Bedingungs- oder Wechselwirkungsverhältnis mit der gesellschaftlichen Basis, d.h. mit den Entwicklungen der Produktivkräfte und der Eigentumsverhältnisse. Wie Rousseau analysiert auch Marx das Problem des ungleichzeitigen und gegenläufigen Fortschritts verschiedener Bereiche. Wörtlich spricht er vom „unegalen Verhältnis“ oder der „Disproportion“ (MEW 13, 640) der geschichtlichen Entwicklungen. Während (oder gerade weil) die altgriechische Gesellschaft etwa noch unentwickelt und noch nicht staatlich organisiert ist, weist ihre Dichtung, das Homerische Epos, bereits eine höchste Vollendung auf. Oder: In dem Maße, in dem das „praktische Werkeltagsleben“ (MEW 23, 94) vernünftig geregelt und für die Menschen transparent geworden ist, werden die Religionen, die nur eine ideologisch-verschleiernde Widerspiegelung der realen Verhältnisse darstellen, verschwinden. Weitaus wichtiger für die Marxsche Theorie ist allerdings der „unegale“ Fortschritt innerhalb der praktisch-sozialen Verhältnisse selbst: die „Disproportion“ zwischen fortschreitenden Produktivkräften und stagnierenden Produktionsverhältnissen. Wie Rousseau stellt auch Marx kausale Beziehungen zwischen den Fortschritten bestimmter Bereiche (etwa der Arbeitsteilung oder der Maschinerie) und den Rückschritten anderer Bereiche (etwa der Lebensqualität) her. In bestimmten Epochen besitzen die Rückschritte sogar das Übergewicht, so dass die (scheinbaren) Fortschritte nur den Niedergang und Verfall beschleunigen.

Friedrich Engels nennt Rousseaus Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit ein „Meisterwerk der Dialektik“, dessen Gedankengang „dem in Marx’ Kapital […] auf ein Haar gleicht“ (MEW 20, 19 und 130). Als Beleg führt er einerseits die Gleichzeitigkeit von These und Antithese, die Überlagerung von Fortschritt und Rückschritt im Zivilisationsprozess, andererseits das Gesetz der Negation der Negation an, nach dem am Ende dieses Prozesses die äußerste Ungleichheit in eine neue Gleichheit umschlägt. Zu ergänzen wäre allerdings, dass diese Dialektik doch eine andere Verlaufsform besitzt. Bei Rousseau führt die Geschichte zur „Vollendung des Individuums“ und hat, als Kehrseite, den Verlust der sozialen Gleichheit und damit den „Verfall der Gattung“ an sich. Bei Marx wachsen umgekehrt die „Fähigkeiten der Gattung“ auf Kosten der Individuen; die Fortschritte der Menschheit werden „durch einen historischen Prozess erkauft […], worin die Individuen geopfert werden“. Die „Vorteile der Gattung“ gehen „stets […] auf Kosten der Vorteile von Individuen“. (MEW 26.2, 111)

Wohl hat Marx die Vision, dass die Höherentwicklung der Gattung eines Tages zusammenfällt mit der Höherentwicklung der Individuen und somit „der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem heidnischen Götzen“ gleicht, der „den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“. (MEW 9, 226) Es ist die Vision, die die revolutionäre Praxis beflügelt. Dagegen hält sich die Theorie, die das Bewegungsgesetz des Kapitals aufdeckt, an die Fakten und die faktischen Prozesse, die eine andere Sprache sprechen. Vor allem führt das Bewegungsgesetz des Kapitals nicht über den Kapitalismus hinaus, sondern nur zu seinem Niedergang und seiner Selbstzerstörung.

Dialektik des Verfalls

Der Niedergang im Sinne der Aufopferung der Individuen und ihrer menschlichen Integrität folgt, wie Marx an verschiedenen Beispielen aufzeigt, aus dem Bewegungsgesetz des Kapitals. Wiederholt wird im Kapital von den „Fortschritten“ der kapitalistischen Produktionsweise gehandelt, etwa von den Fortschritten bei der Teilung der Arbeit oder den Fortschritten des Maschinenwesens, von den Fortschritten des gesellschaftlichen Reichtums oder von den Fortschritten der kapitalistischen Agrikultur. Rechtfertigen diese Beispiele aber wirklich von gesellschaftlichem Fortschritt zu sprechen?

Die Fortschritte bei der Teilung der Arbeit oder beim Einsatz von Maschinerie etwa steigern die Produktivität der Arbeit, d.h. sie verringern die zur Produktion benötigte Arbeitszeit. Unter kapitalistischen Verhältnissen führen diese Fortschritte aber zu keiner Verbesserung, also zur Erleichterung der Arbeit oder einer Verkürzung der individuellen Arbeitszeit, son5 dern zu einer Verschlechterung. Sie erweisen sich „als ein Mittel zivilisierter und raffinierter Exploitation“ und haben sowohl eine „gewisse geistige und körperliche Verkrüppelung“ der Arbeiter, als auch eine Verlängerung und Intensivierung der Arbeit zur Folge. (MEW 23, 386 und 384) Marx spricht von einer „ökonomischen Paradoxie“: Der verstärkte Einsatz von Maschinen, der doch das „gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit“, verkehrt sich in das unfehlbarste Mittel, „alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln“ (MEW 23, 430. Vgl. 434f., 438f., 440).

Auch die Fortschritte des gesellschaftlichen Reichtums, der durch die gesteigerte Produktivität der Arbeit entsteht, schlagen sich in keiner qualitativen Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse (mehr Sicherheit, mehr Freizeit und Muße), sondern darin nieder, dass die Existenzbedingungen für die große Zahl der Arbeitenden immer prekärer werden. „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist […] zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation auf dem Gegenpol.“ (MEW 23, 675)

Die Fortschritte der kapitalistischen Agrikultur bestehen darin, dass durch den Einsatz von Maschinen das Areal des bebauten Landes ausgeweitet und die Erträge durch die Verwendung chemischer Düngemittel beträchtlich gesteigert werden. Aber auch hier schlägt der Fortschritt in einen Rückschritt um. Jeder „Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben“, jeder „Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen seiner Fruchtbarkeit“. (MEW 23, 529)

Wenn Marx und Engels in der Deutschen Ideologie oder dem Kommunistischen Manifest davon sprechen, dass unter den bestehenden Verhältnissen die Produktivkräfte „nur eine einseitige Entwicklung“ erhalten und zu „Destruktivkräften“ werden (MEW 3, 60), so haben sie neben der Destruktion der Individuen im Arbeitsprozess auch die Destruktion ganzer Völker und Kulturen durch die Kolonisierung im Blick. „Alle destruktiven Erscheinungen, welche die freie Konkurrenz in dem Innern eines Landes zeitigt, wiederholen sich in noch riesigerem Umfange auf dem Weltmarkt.“ (MEW 4, 456) Heute erweckt der Begriff der Destruktivkräfte noch die weitergehenden Assoziationen an Massenvernichtungswaffen, an den Einsatz von Technologien, die vom Menschen nicht beherrscht werden oder die „Nebenwirkungen“ des technischen Fortschritts, die den Lebensraum von Pflanzen, Tieren und Menschen zerstören↓(10)

Die Maße des Fortschritts und des Verfalls

Alle Fortschritte der Wissenschaft, der Technik, der Produktivität oder des Reichtums haben für Marx einen letzten gemeinsamen Bezugspunkt, den „sozialen Fortschritt“ (MEW 23, 465), der keinen Teilbereich neben den anderen darstellt, sondern die anderen Bereiche umfasst. Er ist das Maß, an dem die anderen Entwicklungen gemessen werden. Wo die vielen „Fortschritte“ keinen sozialen Fortschritt bewirken, für viele (oder alle) Menschen sogar eine Verschlechterung ihrer Lebensqualität zur Folge haben, da erweisen sie sich selbst als destruktiv und rückschrittlich. Sozialer Fortschritt oder Steigerung der Lebensqualität aber bezeichnet die Befriedigung und Entwicklung der physischen, psychischen, geistigen und sozialen Bedürfnisse, die Sicherheit der Existenz, die Überwindung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein „erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.↓(11) In ihm findet eine Annäherung an einen Gesellschaftszustand statt, in dem die assoziierten Produzenten ihren „Stoffwechselprozess mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinsame Kontrolle bringen, […] mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn“. (MEW 25, 828)

Umgekehrt gefragt: Woher nehmen Marx und Engels das Maß, an dem gemessen die (gegenwärtige) geschichtliche Bewegung als Dekadenz und Niedergang beurteilt wird? Ihre Antwort auf diese Frage steht in einem dreifachen Gegensatz: zur Romantik, die „die Gegenwart mit dem Maßstab der Vergangenheit“ misst↓(12) und, wie Novalis in Die Christenheit oder Europa, die Geschichte vom Mittelalter über die Reformation und die Aufklärung zur Französischen Revolution als fortwährenden Verfall begreift; zum Historismus, der wie Leopold v. Ranke jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ setzt, den Relativismus zum Prinzip erklärt und jede Rede von Dekadenz ausschließt, da die Epochen mit ihren Lebensformen und Wertvorstellungen gleichrangig nebeneinander stehen; und schließlich zur Metaphysik, die ein abstraktes, absolutes, ungeschichtliches Ideal oder Menschenbild voraussetzt, an dem sie die konkreten, geschichtlichen Zustände bemisst und beurteilt.

Dagegen legt Marx einen geschichtlichen Wertmaßstab an, der den Möglichkeiten des gegenwärtigen Entwicklungsniveaus der Gesellschaft entspricht. Sein Ausgangspunkt sind die Verheißungen der bürgerlichen Gesellschaft: das Programm der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, das sich die Revolutionäre von 1789 auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Von diesen Verheißungen ist in der Lebenswirklichkeit des zur Herrschaft gekommenen Bürgertums nur wenig übrig geblieben: Die ehemals geforderte Gleichheit ist zur formalen Gleichheit vor dem Gesetz geschrumpft, die die Voraussetzung ist, um Arbeitsverträge zu schließen und die private Aneignung des Mehrwerts ermöglicht; die ehemals geforderte Freiheit ist zur Vogel-Freiheit verkommen, bei der der von seinen Produktionsmitteln geschiedene Produzent seine Arbeitskraft verkaufen muss; die ehemals geforderte Brüderlichkeit und soziale Wärme sind vollständig außer Kurs geraten. Zum einen kritisiert Marx das Bürgertum, indem er es an seinen eigenen revolutionären Ansprüchen misst, zum anderen hebt er die Ideale des Bürgertums aber auch auf, indem er die bürgerliche Revolution als „radikale Revolution“ fortsetzen und die bürgerliche Emanzipation als „menschliche Emanzipation“ (MEW 1, 388) vollenden möchte.

Von der „Naturabsicht“ zur „List der Vernunft“

In seiner Schrift über den Streit der philosophischen Fakultäten beschäftigt sich Kant u.a. mit der Frage, wodurch das Fortschreiten der Menschheit vom Schlechteren zum Besseren erklärt oder bewiesen und damit auch für die Zukunft sichergestellt werden könne. Schließlich hat es die Geschichtsphilosophie doch „mit freihandelnden Wesen zu tun“, denen sich zwar „diktieren lässt, was sie tun sollen“, bei denen sich „aber nicht vorhersagen lässt, was sie tun werden“. (II,4; A VII, 83) Durch die unmittelbare Erfahrung sei dieser Beweis jedenfalls nicht zu erbringen. Selbst wenn die Menschheit bis zum heutigen Tage einen ununterbrochenen Fortschritt absolviert hätte, so böte das keine Gewähr für die Zukunft. Gerade in diesem Moment nämlich könnte sie an einem Wendepunkt stehen, der einen unaufhörlichen Verfall einleitet.

Um den Fortschritt zu beweisen, stützt sich Kant auf die Naturanlagen des Menschen: auf seine „ungesellige Geselligkeit“, die ihn gleichzeitig dazu disponiert, „sich zu vergesellschaften“ und mit den anderen Menschen zu gehen, wie „sich zu vereinzeln (isolieren)“ und sich in Opposition zu den anderen zu setzen. (Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 4.Satz; A VIII, 20f.) Hätten die Menschen nur die Neigung zur Geselligkeit, so verblieben sie „in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe“, ohne ihre Talente zu entwickeln. Erst die Vereinzelung, der Widerstand und Egoismus veranlasst sie, den „Hang zur Faulheit zu überwinden“ und, von Ehrgeiz, Herrschsucht und Habsucht angespornt, „sich einen Rang unter den Mitgenossen zu verschaffen“. Und so fasst Kant seinen Gedanken zusammen: „Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht“ (A VIII, 21) und treibt den Menschen damit an, sich zu vervollkommnen.

Die letzte Ursache des Fortschritts ist also die Natur, die bestimmte Absichten hat und sich des Menschen bedient, um ihre Zwecke zu verwirklichen. Obwohl die einzelnen Menschen nur ihren eigenen Vorteil im Sinn haben, befördern sie alle zusammen, ohne es zu wollen und ohne es zu merken, die Absichten der Natur. Was Kant als „Naturabsicht“ bezeichnet, ist von Adam Smith her als die „invisible hand“ Gottes bekannt und heißt bei Hegel dann die „List der Vernunft“. In diesen Begriffen ist gleichermaßen der Grundgedanke der Theodizee aufgehoben, der die Existenz des Bösen in der Welt dadurch rechtfertigt, dass er sie zum Mittel erklärt, durch das ein allwissender, allgütiger und allmächtiger Gott doch letztlich das Gute befördert. „Gott lässt die Menschen mit ihren besonderen Leidenschaften und Interessen gewähren“, schreibt Hegel; indem sich diese auf individuellen Nutzen und Vorteil berechneten Leidenschaften und Interessen überlagern und aneinander abreiben, kommt etwas zustande, das nicht in der Zwecksetzung der einzelnen Menschen enthalten war. In dieser Resultanten liegt die Verwirklichung der göttlichen Absichten, welche „ein anderes sind als dasjenige, um was es denjenigen, deren er sich dabei bedient, zunächst zu tun war“. (Enz. § 209 Zusatz, Werke 8, 365) Gott meint es also gleich auf eine doppelte Weise gut mit den Menschen. Er lässt sie tun, was sie wollen, und sorgt zugleich dafür, dass sich alles zum Guten wendet und die Geschichte ins Reich der Freiheit führt.

Die „List der Vernunft“ als Naturgesetz des Verfalls

Dass man Marx oft als einen Theoretiker des Fortschritts begriffen hat, hängt damit zusammen, dass man ihn allzu stark in die Tradition Hegels eingeordnet hat. Hegels „großer Grundgedanke“ war es, schreibt Engels, die Welt als einen „Komplex von Prozessen“ zu begreifen, als ständiges Werden und Vergehen, wobei sich „bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen RücklaÅNufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung“ durchsetzt. (MEW 21, 293) So hat er die gesamte Weltgeschichte als einen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ dargestellt.

Hegels „List der Vernunft“ spielt auch in Marx’ Argumentation eine zentrale Rolle. Dort stellt sie allerdings keine „Offenbarung des göttlichen Wesens“ (PhdG, Werke 12, 27) im Sinne der Theodizee dar, auf dessen Vernünftigkeit man vertrauen könnte, sondern das gerade Gegenteil. Ihr liegen der Schrecken und das Entsetzen über einen nicht beherrschten, selbstläufigen Naturprozess zugrunde. Obwohl die Menschen mit Vernunft begabt sind und auf bestimmte Ziele hin arbeiten, gelingt es ihnen nicht oder nur selten, das Gewollte auch zu erreichen. „Die Zwecke der Handlungen sind gewollt, aber die Resultate, die wirklich aus den Handlungen folgen, sind nicht gewollt.“ (MEW 21, 297) Niemand will die Krise, die Polarisierung der Gesellschaft, die Zerstörung des natürlichen Lebensraumes und trotzdem ereignen sich diese Dinge mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses.

Zum einen sieht Marx in der Geschichte keine Teleologie, sondern einen kausalen, naturwüchsigen Prozess, der sich hinter dem Rücken der Menschen vollzieht. Zum anderen führt die Geschichte – als Naturprozess betrachtet – zu keinem guten Ende. Von den Sachzwängen des verselbständigten Wirtschaftsprozesses geht kein Vertrauen in die Zukunft aus. Mit naturgesetzlicher Notwendigkeit führt dieser Prozess weder zur besten aller möglichen Welten (wie bei Leibniz) noch zu nationalem Wohlstand (wie bei Adam Smith) oder zur Freiheit (wie bei Hegel). An seinem Ende stehen Wirtschaftskrisen, die Akkumulation des Kapitals auf der einen, die Akkumulation von Elend auf der anderen Seite (MEW 23, 674f.) oder die Zerstörung des menschlichen Lebensraumes. Das Kapital ist keine Theorie des geschichtlichen Fortschritts, sondern in erster Linie eine Theorie der Dekadenz, d.h. der durch das ungebremste Kapitalwachstum beförderten Selbstzerstörung der Systems. Was jenseits der Selbstzerstörung als „Utopie“ aufleuchtet, ist eine bloße Möglichkeit, ohne zwingende Verbindung zur Bewegung der Sache selbst.

Ein zweiter Abgrund zwischen Marx’ und Hegels Geschichtsauffassung besteht darin, dass die Geschichte bei Hegel an einem Ziel ankommt, nämlich der „Freiheit aller“, die als Versprechen in der aufgeklärten preußischen Staatsverfassung angelegt ist.↓(13) In Zukunft wird es also noch Entwicklungen und Verbesserungen (Reformen), aber keine qualitativen Umwälzungen (Revolutionen) mehr geben wird. Bei Marx existiert ein solches Ziel nicht; die Geschichte ist ein prinzipiell offener Prozess. Nur unter der Voraussetzung aber, dass das Ziel erreicht ist, kann man (wie Hegel) rückblickend von Fortschritt sprechen und darüber entscheiden, welche Ereignisse das Erreichen des Ziels befördert und welche es verzögert und behindert haben. Ohne Ziel fehlt ein solcher Orientierungspunkt.

Kritik an Proudhons Fortschrittsbegriff

Marx’ Kritik an Proudhons Fortschrittsbegriff gleicht in seinen Hauptpunkten derjenigen an Hegels Fortschrittsbegriff. Der erste Vorwurf geht an die Adresse von Proudhons Idealismus, der Begriff und Sache verkehrt, die ökonomischen Kategorien, die doch nur Abstraktionen der realen Verhältnisse sind, zu „ewigen Wahrheiten“ aufbauscht und der „absoluten Methode“ Hegels folgt, die die Wirklichkeit als „Fleischwerdung des Logos“ aus dem Begriff hervorgehen lässt. (MEW 4, 552f.)↓(14) Der zweite Vorwurf richtet sich gegen die Auffassung der Geschichte als eines teleologischen Fortschrittsprozess, die unmittelbar aus dem Idealismus und der absoluten Methode folgt. Proudhons „ewige Gerechtigkeit“ entspricht Hegels „absoluter Idee“. Ausgehend vom Resultat, der Versöhnung, wird die ganze Geschichte als Annäherung der Realität an das vorgegebene Ziel interpretiert. Marx’ dritter Vorwurf bemängelt die Vorstellung eines Endes der Geschichte, nach der es eine Geschichte gegeben, weil es feudale Institutionen gegeben hat, aber keine Geschichte mehr gibt, weil die bürgerlichen Institutionen ja dem Begriff entsprechen, den Proudhon aus ihnen abstrahiert hat. (MEW 4, S.139f.) Damit kommt der Fortschritt in den bürgerlichen Institutionen zu seinem Ziel. Dass das Ende der Geschichte bei Hegel von der realen Epoche seiner Gegenwart, bei Proudhon von einer Utopie, der Idee der gerechten Gesellschaft, repräsentiert wird, macht dabei keinen grundsätzlichen Unterschied.

Die Rolle des Bösen oder der „schlechten Seiten“ für den geschichtlichen Fortschritt

Sehr verschieden sind dagegen Hegels und Proudhons Begriffe des Bösen bzw. der „schlechten Seiten“ und damit ihre Auffassung von Dialektik. Hegel rechtfertigt das Böse ganz im Sinne der Theodizee als dasjenige, was im Gesamtprozess doch letztlich das Gute hervorbringt. Sokrates (Hegels Paradebeispiel für diesen dialektischen Umschlag) spreizte sich gegen das Gute, das allgemein Geltende der atheniensischen Sittlichkeit, auf, er verweigerte ihm die Anerkennung und erhob die Willkür seiner Subjektivität zum Prinzip des Handelns. Nach den geltenden Bestimmungen war er damit „böse“; zugleich aber trat in seiner Person das höhere Gute des zukünftigen (moralischen) Zeitalters in Erscheinung. (Rph, §138 Zusatz und §139; Werke 7, 260) Engels, der Hegels Gedanken verallgemeinert, spricht von der „historischen Rolle des moralisch Bösen“: „Bei Hegel ist das Böse die Form, worin die Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung sich darstellt.“ (MEW 21, 287) Da jeder Fortschritt als Frevel und Rebellion gegen ein Altes, Gewohntes und Heiliges auftritt, sind es gerade die schlechten Leidenschaften des Menschen, die zu Hebeln der geschichtlichen Entwicklung werden.

Ganz im Gegensatz zu Hegel möchte Proudhon die bösen und schlechten Seiten nicht dialektisch negieren und aufheben, sondern einfach beseitigen und ausmerzen. Alle ökonomischen Entwicklungen wie etwa die zunehmende Arbeitsteilung, der Einsatz von Maschinerie oder die Konkurrenz haben ihr Gutes und Schlechtes, wobei das Gute die Verwirklichung der sozialen Gleichheit fördert und die Gesellschaft der „ewigen Gerechtigkeit“ näher bringt, das Schlechte hingegen der sozialen Gleichheit entgegenwirkt. Fortschritt ist für Proudhon somit die (unter Beibehaltung der bestehenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse vonstatten gehende) Eliminierung der schlechten Seiten.

Wenn Marx – in Anlehnung an Hegel – Proudhon vorhält, mit den „schlechten Seiten“ gerade das zu eliminieren, was „die Bewegung ins Leben ruft“, „den Kampf zeitigt“ und also die Geschichte ausmacht (MEW 4, 140), so steht er doch gleichzeitig auch im Gegensatz zu Hegel. Zum einen sind für ihn gute und schlechte Seiten, Fortschritt und Rückschritt, stets miteinander verbunden und also unzertrennlich, wobei – unter der Voraussetzung kapitalistischer Verhältnisse – der Rückschritt dominiert. In „denselben Verhältnissen, in denen der Reichtum produziert wird“, wird „auch das Elend produziert“, in „denselben Verhältnissen, in denen die Entwicklung der Produktivkräfte vor sich geht“, entwickeln diese Produktivkräfte auch ihre „Repressionskraft“. (MEW 4, 141) Zum anderen redet Marx keinem göttlichen Heilsplan und keiner Theodizee das Wort, die das Schlechte, das Elend der Arbeiter und die Repressionskraft der Produktivkräfte dadurch rechtfertigt, dass er sie zur Ursache eines zukünftigen Guten erklärt. Wenn er feststellt, dass „ohne Gegensatz kein Fortschritt“ (MEW 4, 91f.) möglich sei, dann meint „Fortschritt“ nur soviel wie „geschichtliche Bewegung“, aber nicht „Verwirklichung des Kommunismus“.

Vom alten Engels sind die schönen Sätze überliefert: „Faktisch gibt es ja in der Geschichte nichts, was nicht in der einen oder anderen Weise dem geschichtlichen Fortschritt dient, aber oft auf einem ungeheuren Umweg“ und „Es gibt kein großes historisches Übel ohne einen ausgleichenden historischen Fortschritt“. (MEW 38, 363; MEW 39, 150)↓(15) Auf der Folie der Theodizee gelesen, möchte man glauben, der gütige Gott habe nach Engels’ Auffassung ein Konkordat mit der Arbeiterklasse geschlossen und betreibe die Verwirklichung des Kommunismus. Tatsächlich aber handelt es sich, ganz im Sinne von Marx’ Kritik an Proudhon, nur um „ironische Wendungen“: um die Verdeutlichung einer Ironie im vorhergehenden Brief, die der Adressat nicht verstanden und wörtlich genommen hatte.

Doppelte Bedeutung von Hegels „List der Vernunft“

Die List der Vernunft tritt bei Hegel in einer doppelten Bedeutung auf. Bisher war nur von ihrer geschichtsphilosophischen Form die Rede, die in der Tradition der Theodizee steht und von Marx „auf die Füsse“ einer Verfallstheorie gestellt wurde. Weitaus bedeutender ist die zweite Bedeutung, die in der menschlichen Arbeit zum Vorschein kommt. Auch der Arbeit liegen kausale Prozesse zugrunde, nicht die selbstsüchtigen Interessen, die das menschliche Tun determinieren (wie in der Geschichtsphilosophie), sondern die Gesetze der Natur. Auch bei ihr wird die Kausalität (als Mittel) in einer teleologischen Setzung aufgehoben, aber nicht in den Zwecken des „Weltgeistes“ oder Gottes, sondern in denen, die der Mensch selbst in seiner Arbeit verfolgt. Listig verhält sich der Mensch demnach, wenn er sich z.B. die Strömung des Flusses (Kausalität) zunutze macht, um eine Mühle zu betreiben und sein Getreide zu mahlen (Teleologie). Er lässt, wie Hegel schreibt, „die Natur sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert nur mit leichter Mühe das Ganze“↓(16) oder anders ausgedrückt: Er spannt die Naturkräfte in seine Maschinerien ein und lässt sie, ohne dass er sich selbst anstrengen müsste, seine Zwecke verrichten.

Trotz der Verfallstheorie, die er im Kapital entwickelt, setzt Marx Vertrauen in die Zukunft. Dieses Vertrauen gründet sich auf die menschliche Arbeit. Zum einen, weil der Mensch in der Arbeit „seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“ und sich die Natur „in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form“ aneignet. (MEW 23, 192) Zum anderen, weil die Arbeit zugleich das Modell ist, wie die nach blinden Naturgesetzen ablaufende Entwicklung der Gesellschaft unter die Herrschaft des Menschen gebracht werden kann. Unbeherrschte Produktivkräfte und ein verselbständigter, selbstläufiger Produktions-Mechanismus wirken „blindlings, gewaltsam, zerstörend“ (MEW 19, 222); nur planmäßig eingesetzte Produktivkräfte und ein gesteuerter, regulierter Wirtschaftsprozess können Vertrauen in die Zukunft erwecken. Erst wenn die assoziierten Produzenten ihren Stoffwechsel mit der Natur „unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden“ (MEW 25, 828), entsteht Freiheit.

Wissenschaftliche und politische Prognosen

Missverständnisse der Marxschen Theorie kamen dadurch auf, dass wissenschaftliche und politische Prognosen nicht richtig unterschieden und miteinander verwechselt wurden. Wissenschaftliche Prognosen sind die Kehrseiten und auf die Zukunft gerichtet Formen von Erklärungen. Sind bestimmte Erscheinungen der kapitalistischen Ökonomie durch ein Gesetz erklärt, so erlaubt dieses Gesetz zugleich, Voraussagen über das zukünftige Auftreten dieser Erscheinungen zu machen. Dagegen richten sich politische Prognosen auf das praktische Verhalten der Menschen, also darauf, wie sie in der Zukunft auf bestimmte Umstände reagieren werden. Verbleiben die wissenschaftlichen Prognosen innerhalb des Systems der politischen Ökonomie und konstatieren seine Entwicklungs- und Verfallstendenzen, so weisen die politischen Prognosen über das System hinaus. Sie sind durch das Bewegungsgesetz des Kapitals allein nicht mehr gedeckt und stützen sich auf eine ganze Reihe anderer Faktoren, wie z.B. die politische Konstellation, die psychische Verfassung der Handelnden oder den Einfluss der Ideologie. Zu den wissenschaftlichen Prognosen des Kapital zählen etwa die zunehmende Akkumulation und Zentralisation des Kapital, die Polarisierung von Arm und Reich, die materielle und psychische Verelendung breiter Bevölkerungsschichten oder die Zerstörung des Lebensraumes. Zu den politischen Prognosen (oder Hoffnungen) gehört, dass eine bewusste und gut organisierte Arbeiterklasse auf die Kenntnis der Niedergangstendenzen gestützt, die „Geburtswehen“ der neuen Gesellschaft „abkürzen und mildern“ (MEW 23, 16) wird.

Wie eng die beiden Arten von Prognosen in manchen Fällen bei Marx selbst ineinander verwoben sind, bekundet die Voraussage, dass „mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten […] die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch der Empörung der stets anschwellenden […] Arbeiterklasse“ wächst. (MEW 23, 790f.) Die abnehmende Zahl der Kapitalmagnaten, die wachsenden Massen des Elends, des Drucks usw. sind Prognosen, die sich aus dem Mechanismus des ökonomischen Prozesses ergeben. Die Aussage, dass mit dem Anschwellen der Arbeiterklasse auch die Empörung wächst und in die Revolution, die „Expropriation der Expropriateure“ und den Kommunismus einmünden wird, ist dagegen eine Hoffnung oder eine Ermutigung zum politischen Handeln. Sie folgt nicht aus dem bloßen Anschwellen und der Verelendung der Arbeiterklasse, sondern hat noch andere Voraussetzungen, die jenseits des ökonomischen Prozesses liegen. Aus dem Anschwellen und der Verelendung können, wie wir inzwischen erfahren haben, auch Resignation, die (manipulative) Umlenkung der Empörung auf äußere oder innere „Feinde“ (Nationalismus, Rassismus) oder die Besänftigung der Empörung durch Lohnerhöhung und verstärkte Beteiligung am Konsum folgen.

Für das richtige Verständnis dessen, was Marx als Prognose fasst, ist es weiterhin wichtig, sich einen bestimmten Aspekt seiner Methode der Darstellung zu vergegenwärtigen. Naturwissenschaftliche Gesetze lassen sich, wie es im Vorwort zur ersten Auflage des Kapital heißt, am besten dort beobachten, „wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen“ (MEW 23, 12), also im Experiment. Bei ökonomischen Gesetzen in dieser Weg im großen Stil ausgeschlossen. Sie müssen entweder dort beobachtet werden, wo sie in möglichst „reiner“ oder „klassischer“ Form vorliegen (wie zu Marx’ Zeiten in England) oder sich der Abstraktion bedienen und von gegenläufigen, modifizierenden Einflüssen wie geschichtlichen Ereignissen (Kriegen) oder politischen Interventionen, die den „reinen“ ökonomischen Prozess trüben, absehen. Durch solche äußere Einflüsse kann die vorherrschende Tendenz zum Niedergang, die dem Kapitalismus eigen ist, zumindest abgemildert oder auch vorübergehend gestoppt werden. Wie das Fallgesetz aber nicht durch den Wind widerlegt wird, der die herbstlich fallenden Blätter in die Höhe wirbelt, so kann das Gesetz des Niedergangs nicht durch den Hinweis auf Sozialgesetzgebung oder Sozialstaat falsifiziert werden. Richtig ist, dass die Verfallsdynamik dadurch unterbrochen oder ausgesetzt wird. Richtig ist aber auch, dass diese politischen Errungenschaften dem ökonomischen Prozess äußerlich sind, nur in wirtschaftlichen Aufschwungphasen und durch politischen Druck zu realisieren sind und in Krisenzeiten (wie nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus, der Globalisierung oder der Weltwirtschaftskrise) schnell wieder aufgeweicht oder preisgegeben werden.

Formen der Dekadenz I: Niedergang als zunehmende Entfremdung

Weit über die ökonomische Sphäre hinaus geht die Kritik der Dekadenz, die Marx und Engels in ihren Frühschriften äußern. Ausgangspunkt auch der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (1844) sind die verhängnisvollen Konsequenzen, die das Privateigentum und der ökonomische Prozess, durch den sich dieses auf erweiterter Stufenleiter reproduziert, auf das Leben der Arbeiter haben. „Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert“; „je mehr der Arbeiter produziert, […] um so weniger [hat er] zu konsumieren“; „je mehr Werte er schafft, […] um so wertloser, und so unwürdiger“ wird er; „je geformter sein Produkt, um so missförmiger der Arbeiter“; „je zivilisierter […] je geistreicher die Arbeit“, um so „ohnmächtiger“ und „geistloser“ der Arbeiter, der sich „in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert“. (MEW 40, 511, 513f.)

Die Arbeit produziert nicht nur Waren, sondern zugleich das gesellschaftliche Verhältnis, in dem sie Waren produziert. Das Produkt, das die Arbeit produziert, verselbständigt sich, tritt dem Produzenten als ein „fremdes Wesen“ und eine unabhängige Macht entgegen und beherrscht ihn. Von der entfremdeten Arbeit ausgehend unterscheidet Marx vier Formen der Entfremdung, die zugleich als vier Formen der Dekadenz begriffen werden können (MEW 40, 515, 517): (1) die Entfremdung des Arbeitenden vom Produkt seiner Arbeit: die Enteignung und Verselbständigung der Arbeitsprodukte mit der Folge zunehmender Verarmung, Abhängigkeit, Entwürdigung und „Entwirklichung“ des Arbeitenden; (2) die Entfremdung des Arbeitenden von der Tätigkeit der Arbeit: der Verlust der Eigeninitiative, der Universalität, der Freude an der Arbeit und der Kreativität bei wachsender Uniformität, Eintönigkeit und Langeweile; (3) die Entfremdung des Menschen von der Natur als seinem „unorganischen Leib“ und seinem eigenen Körper: die Zerstörung des menschlichen Lebensraumes oder die Reduktion des Lebens auf die tierischen Funktionen des Essens, Trinkens und Zeugens bei Verlust aller menschlich-kultivierten Formen; (4) die Entfremdung des Menschen vom Menschen durch Konkurrenz, Feindschaft und Kalkül, bei dem jeder den anderen nur als Mittel für seine eigenen Zwecke betrachtet, bei Verlust von Liebe, Freundschaft und gegenseitiger Anerkennung.

Letzte Konsequenz des Niedergangs ist, dass der Mensch sich selbst „abhanden“ kommt, sein Menschsein verliert, zum „geistig wie körperlich entmenschten Wesen“ und zur „Menschenware“ verkommt. (MEW 40, 523f.) Statt sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art anzueignen und durch „Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben“ ein vielfaches, menschliches Verhältnis zur Welt auszubilden, werden die Gegenstände nur unter dem Aspekt des Habens betrachtet. Da unter der Herrschaft des Privateigentums alle physischen und geistigen Sinne auf den einen „Sinn des Habens“ reduziert sind, erscheint die Entwicklung der Bedürfnisse, die den Menschen doch bereichern und sein Leben vielfältig machen sollten, nur noch als ein Mittel, um ihn „zu einem neuen Opfer zu zwingen“ und ihn in eine „neue Abhängigkeit zu versetzen“. (MEW 40, 539f., 546f.) Das einzige und wahre Bedürfnis, das die Nationalökonomie erzeugt, ist das maßlose, ins Unendliche gehende „Bedürfnis des Geldes“, das die Befriedigung aller Bedürfnisse verspricht ohne doch nur ein einziges wirklich zu befriedigen.

Formen der Dekadenz II: Verfall der Lebensqualität

In Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) schildert Engels den Verfall der Lebensqualität, wie er in den modernen Großstädten im Gange ist. Auch wenn das Bewegungsgesetz des Kapitalismus noch nicht erkannt ist, sind seine Auswirkungen schon allenthalben zu beobachten. Was die Genialität von Engels’ Jugendschrift ausmacht, ist das breite Spektrum, in dem er diese Verfalls-Phänomene zur Sprache bringt. Es reicht von der Verwahrlosung des öffentlichen Raums (verschmutzte Straßen mit Schlaglöchern; keine geregelte Abfallbeseitigung; mangelnde Hygiene; Hektik, Staus und „Strassengewühl“), den ökologischen Schäden der Umwelt (verschmutzte Flüsse; wilde Kloaken; schlechte, vom Gestank der Fabriken erfüllte Luft), den miserablen Wohnverhältnissen (Enge, Feuchtigkeit, Dunkelheit, mangelnde Ventilation und Reparaturbedürftigkeit der Häuser, Mangel an sanitärer Ausstattung), über die schlecht verarbeitete Kleidung aus billigen Stoffen, die minderwertige Ernäh13 rung (aus bereits faulendem Gemüse und Obst oder Gammelfleisch, dessen Haltbarkeitsdatum längst überschritten ist; Beimischung von allerlei Surrogaten), die Schwächung des menschlichen Körpers und die wachsende Anfälligkeit für Krankheiten (Schwindsucht, Typhus, Scharlach), bis zur Reduktion der geistigen Interessen und der Auflösung des Bildungssystems oder zur zunehmenden Demoralisation („barbarische Gleichgültigkeit“ und „egoistische Härte“ gegenüber den Mitmenschen, Zerfall der Familie, Isolation, Verlust menschlicher Gefühle, Zunahme psychischer Erkrankungen, Alkoholismus, Prostitution, wachsende Kriminalität). (MEW 2, 257, 282, 287, 295, 297f., 300f., 324f., 327, 338f., 343, 369)

Engels führt diese Phänomene nicht als Kultur- oder Großstadtkritiker an, wie es viele Kulturphilosophen um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert tun (Nietzsche, Max Nordau, Tönnies, Spengler). Im Gegenteil: Er ist von der Zivilisation und den Möglichkeiten der modernen Großstädte begeistert. Über der Begeisterung verliert er aber auch deren reale Schattenseiten nicht aus den Augen. Die „Wunder der Zivilisation“, von denen die modernen Städte zeugen, sind dadurch erkauft, dass die überwiegende Zahl von Menschen „das beste Teil ihrer Menschheit“ aufgeopfert und „hundert Kräfte“ verkümmert hat. (MEW 2, 256f.)

„Dekadenz“ ist, wie sie – mit Bezug auf die Kunst – später von Paul Bourget oder Nietzsche definiert wird, Zerfall des Ganzen und die Verselbständigung der Teile. Engels spricht – mit Bezug auf die Gesellschaft – von der „Auflösung der Menschheit in Monaden“ und „Atome“, von der „gefühllosen Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen“ und vom „sozialen Krieg […] Aller gegen Alle“. (MEW 2, 257)

Aufstieg und Fall des Bürgertums

Ganz im Gegensatz zu den Ökonomisch-philosophischen Manuskripte und der Lage der arbeiten Klasse in England, in denen das bürgerliche Privateigentum als die Ursache des gegenwärtigen Verfalls dargestellt wird, beginnt das Kommunistische Manifest (1848) mit einer Hymne auf die „höchst revolutionäre Rolle“ (MEW 4, 464), die das Bürgertum gespielt und die Fortschritte, die es im Laufe der Geschichte gebracht hat. Es hat die Leibeigenschaft des Mittelalters abgeschafft und das Zunftwesen des Feudalismus hinweggefegt; es hat die Produktionsinstrumente verbessert, die Kommunikation erweitert, die nationale Begrenzung der Märke aufgehoben und den Weltmarkt ausgebildet; es hat die persönlich-patriarchalischen Abhängigkeiten durchbrochen und eine neue Form der Freiheit geschaffen. Von „Dekadenz“ oder Niedergang keine Rede, im Gegenteil: Das Bürgertum hat ökonomische und politische „Fortschritte“ gebracht und „Wunderwerke vollbracht“, die die ägyptischen Pyramiden, die römischen Aquädukte und die gotischen Kathedralen in den Schatten stellen.

Im Anschluss an diese geschichtlichen Erscheinungen formulieren Marx und Engels die Gesetzmäßigkeit, die sie darin zum Ausdruck kommen sehen. Die feudale Produktions- und Eigentumsordnung war der Entwicklung der Produktivkräfte nicht mehr angemessen. Sie „hemmte“ diese Entwicklung „statt sie zu fördern“, wurde zu einer Fessel der Produktion und musste daher gesprengt werden. (MEW 4, 467) Dies geschah in der Französischen Revolution, die das Ziel und die Grenze des bürgerlichen Fortschritts und der geschichtliche Umschlag in eine neue Qualität des Lebens war.

Was die Revolution von 1848 von der Französischen Revolution unterscheidet, ist ihr Scheitern. Sie hat noch nicht einmal die Etablierung, geschweige denn die Aufhebung der bürgerlichen Produktionsordnung erreicht. Auch die Kommune von 1871 oder die Russischen Revolution von 1917 sind gescheitert und haben keine Ziel- und Orientierungspunkte gesetzt, von dem aus die Entfaltung und Lösung der kapitalistischen Widersprüche in Verbindung mit dem Emanzipationskampf des Arbeiters als Fortschritt zum Kommunismus interpretiert werden könnte. Was bleibt, ist die bloße Zuspitzung der Widersprüche und die zunehmende Verwandlung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte. Das Bürgertum wechselt aus ihrer „höchst revolutionären“ in eine reaktionäre Rolle. Von der Ökonomie ausgehend, legt sich die Dekadenz wie Mehltau auf alle Bereiche der Gesellschaft.

Wenn Marx auch an seinem politischen Ziel, der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsordnung, festhält, so schiebt sich in seiner Theorie nach 1848 doch ein anderes Argument in den Vordergrund, das im Kommunistischen Manifest zwar angesprochen aber noch nicht begriffen war. Es ist das Argument der Krise, die nicht als Zufall oder persönliche Fehlentscheidung, sondern als Regel und „Normalität“ des alltäglichen Produktionsablaufs begriffen wird. Die „Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse“, von der der Niedergang seinen Ausgang nimmt, tritt in der periodischen Wiederkehr von (Handels-) Krisen in Erscheinung, die zur Vernichtung von bereits erzeugten Produkten und Produktivkräften und – inmitten der Überproduktion – zu Unterkonsumtion und Hungersnöten führen. Explizit von „Dekadenz“ sprechen Marx und Engels nicht; stattdessen ist von „gesellschaftlicher Epidemie“ und „Krise“, von „Verfall“ oder der Zurückversetzung der Gesellschaft in einen „Zustand momentaner Barbarei“ (MEW 4, 467f.) die Rede.

Allgemeiner Begriff der Dekadenz (I)

Die politische Ernüchterung über die gescheiterte Revolution von 1848 /49 geht mit tiefgreifenden Veränderungen des geistigen Klimas einher. Zum einen führt der Aufschwung der Physik (Ohm, Maxwell, Kirchhoff, Helmholtz), der Chemie (Bunsen, Liebig), der Medizin (Virchow), der Biologie (Darwin, Wallace, Haeckel) usw. zu einem Siegeszug des Positivismus; zum anderen findet, wie sich an der späten Karriere der Schopenhauerschen Philosophie ablesen lässt, der Pessimismus eine weite Verbreitung und die Überzeugung, in einer Epoche der Dekadenz zu leben. Wer will, kann die bereits zitierte Absicht von Marx, im Kapital mit dem „positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis […] seines notwendigen Untergangs“ darzustellen, als Reverenz an beide Tendenzen zugleich begreifen.

Zu den Autoren, die sich (pseudo-) wissenschaftlich mit dem Problem der Dekadenz beschäftigten zählen Gobineau (Essai sur l’inégalité des races humaines, 1853-1855), Morel (Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine, 1857), Lombroso (Genio e follia, 1872), Charles Féré (Dégénérescence et criminalité, 1888) oder Max Nordau (Entartung, 1892 /93). Ihre Werke erscheinen etwa zur gleichen Zeit wie Marx’ Werke zur Kritik der politischen Ökonomie (1857 /1867 /1885 /1894). Große Bedeutung besitzt der Begriff der Dekadenz in der Kunstwissenschaft. Ausgehend von Baudelaires Les Fleurs du Mal (1857) und seinen Neuen Abhandlungen zu Edgar Poe (1857), die den Begriff – mit Assoziationen an „lodernde Paradiese“, „schwermütigem Glanz“, „Wollust des Bedauerns“, „Schönheit des Bösen“ usw.↓(17) – ins Positive wenden, wird die décadence zum ästhetischen Programm des Symbolismus, der Neuromantik, des Decadentismo oder des Fin de siècle in ganz Europa.

Der klassische Versuch, den Begriff der Dekadenz allgemein zu bestimmen, stammt von Paul Bourget und ist in seinen Essais de psychologie contemporaine (1883) enthalten. Auf dieses Werk stützt sich auch Friedrich Nietzsche, der sich selbst als die (gegenwärtig) „höchste Instanz“ in Fragen der Dekadenz rühmt.↓(18) Was Nietzsche in erster Linie mit Bourget verbindet, ist die Gleichsetzung von Dekadenz und Moderne,↓(19) was so viel heißt wie Gleichsetzung von Dekadenz und bürgerliche Gesellschaft. Bourgets vornehmliches Interesse ist zwar auf die Psyche moderner Schriftsteller gerichtet, allen voran auf die Psyche Baudelaires. In deren Grundstruktur („Ekel vor der Unzulänglichkeit der Welt“, Nihilismus, Pessimismus, Melancholie, nervöse Reizbarkeit) erkennt er das Muster eines Auflösungsprozesses, der in der Natur (Verwesung), in der Gesellschaft (Dissoziation) und in der Literatur in gleicher Weise abläuft. Dekadenz in der Natur definiert Bourget so: „Wenn die Energie der Zellen selbständig wird, so hören die Organismen, aus welchen der Gesamtorganismus sich zusammensetzt, in gleicher Weise auf, ihre Kraft der Gesamtkraft unterzuordnen; die Folge ist eine Anarchie, welche den Verfall des Ganzen mit sich bringt.“ Dekadenz in der Gesellschaft: Wenn die Gesellschaft „eine zu große Anzahl von Individuen hervorbringt, die für die Arbeit des gemeinsamen Lebens ungeeignet sind“. Dekadenz in der Literatur: „Wenn die Einheit eines Buches zerstört wird, um der Selbständigkeit einer einzelnen Seite Platz zu machen, und wenn die Seite zerstört wird, um den Satz selbständig hinzustellen, und der Satz, um dem Worte Selbständigkeit zu verschaffen, dann tritt eine Dekadenz des Stiles ein.“↓(20)

Allgemein wird „Dekadenz“ somit als Zerfall des Ganzen und als Verselbständigung der Teile bestimmt; während das Leben aus dem Ganzen entweicht, beginnen die Teile ein verhängnisvolles Eigenleben zu führen. Es ist die gleiche Formel, in der (wie gesehen) schon Engels – vier Jahrzehnte vor Bourget und Nietzsche – den Niedergang des großstädtischen Lebens beschrieb. Es ist die gleiche Formel in der auch Marx in den Grundrissen (1857 /58) den Niedergang des Kapitalismus als „Auflösungsprozess“ und als „die Scheidung bisher verbundener Elemente“ (MEW 42, 402) schildert. Die Naturrechtslehrer von Hobbes bis Rousseau begriffen die (bürgerliche) Gesellschaft als eine durch Vertrag bewerkstelligte Überwindung des Naturzustandes, in dem die menschlichen Individuen voneinander isoliert waren und in den Wäldern jagten. Dagegen erkennt Marx (wie vor ihm schon Engels) umgekehrt in der bürgerlichen Gesellschaft einen Zustand, in dem alle zwischenmenschlichen Bande aufgelöst sind und die Individuen in einem bellum omnium contra omnes, einem „Krieg aller gegen alle“, liegen. Erst die freie Konkurrenz bringt jenen „Naturzustand“ hervor, den die Naturrechtslehrer (in Form von „Robinsonaden“) als den Anfang der Geschichte konstruierten. (MEW 42, 5) Keines der 1793 zur Zeit der Französischen Revolution proklamierten Menschenrechte geht, wie Marx schon 1843 feststellte, „über den egoistischen Menschen hinaus“, der sich „auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür“ zurückgezogen und „vom Gemeinwesen abgesondert“ hat. (MEW 1, 366) Während das einzelne Unternehmen durch Planung und effiziente Organisation ein Eigenleben führt, verkommt das Ganze der Produktion in Planlosigkeit und „Anarchie“. (MEW 25, 888; MEW 19, 215f.) Auch die Krisen, in denen der Niedergang des Kapitalismus zum Ausdruck kommt, beruhen auf einem Zerfall des Ganzen (der Einheit von Kauf und Verkauf, von Produktion und Konsumtion, vgl. MEW 23, 127f., 134) und der Verselbständigung der Teile (in Form der Überproduktion oder der Unterkonsumtion). Zwischen Krise und Dekadenz besteht allerdings ein erheblicher Unterschied. Bei der Krise liegen Rückschritt und Fortschritt, Auflösung (Schwächung) und Wieder-Erstarken im Kampfe miteinander, wobei der Ausgang offen ist. Sie kann ins Verderben aber auch zurück zu einer neuen Vitalität führen. Bei der Dekadenz hingegen liegt die Richtung ins Verderben fest.

Allgemeiner Begriff der Dekadenz (II)

Neben dem Zerfall des Ganzen und der Verselbständigung der Teile könnte man bei Marx noch einen zweiten allgemeinen Begriff der Dekadenz nennen: Es ist die zunehmende Herrschaft des Toten über das Lebendige. An sich, in der Produktion von Gebrauchswerten, bei der die Natur mit Hilfe von Werkzeugen umgeformt und angeeignet wird, ist die Arbeit eine Verlebendigung des Toten. „Die lebendige Arbeit muss diese Dinge [Produktionsmittel] ergreifen, sie von den Toten erwecken, sie aus nur möglichen in wirkliche und wirkende Gebrauchswerte verwandeln“; durch Spinnen, Weben oder Schmieden „erweckt die Arbeit […] die Produktionsmittel [Rohstoffe, Werkzeuge] von den Toten“. (MEW 23, 198, 215) In der kapitalistischen Form der Arbeit, in der Produktion von Tauschwerten, tritt dagegen eine „Verkehrung […] des Verhältnisses von toter und lebendiger Arbeit“ ein. Das Produktionsmittel, das der Teil der aus der früheren Arbeit abgeschöpfte Mehrwert ist, der wieder in die Produktion investiert wird, hat sich gegenüber der Arbeit verselbständigt. Er ist zum Kapital geworden, das „die lebendige Arbeit beherrscht und aussaugt“, weil es sich nur so verwerten, d.h. beleben kann. „Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebender Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.“ (MEW 23, 329, 247, vgl. 446)

Während die organische Zusammensetzung des Kapitals, d.h. das Verhältnis des konstanten Kapitals (die angehäufte tote Arbeit) zum variablen Kapital (das für die lebendige Arbeit ausgegebenen Geld) wächst, erhöht sich die Produktivität der Arbeit. Gleichzeitig verschlechtert sich die Lage der Arbeitenden, die zum bloßen „Zubehör des […] Kapitals“ degradieren. Alle Spontaneität, alle freie Entscheidung, alle Vielfalt, alles Lebendige erstarrt zum „toten Mechanismus“ der Fabrikarbeit (MEW 23, 598, 445), deren Trostlosigkeit auf andere Lebensbereiche abfärbt. Die Herrschaft des Toten über das Lebendige erstickt die Poesie der Zukunft und zwängt sie unter die Prosa der Vergangenheit. Sie unterwirft das Neue den Mustern und Vorgaben des Alten.

Konsequenzen für die politische Praxis

Zwei Grundannahmen liegen der Rekonstruktion der Marxschen Theorie als einer Dekadenztheorie zugrunde. Die erste zentriert die aktuelle Bedeutung des Kapital auf seine Kritik des ökonomischen Wachstums, d.h. auf die Kritik der Akkumulation sowie der räumlichen Ausweitung und der zeitlichen Beschleunigung der Produktion im Interesse des Profits, das sich über die menschlichen Bedürfnisse der Sicherheit, der Ruhe oder der Selbstbestimmung hinwegsetzt und seinen natürlichen Lebensraum zerstört. Die zweite sieht in diesem Wachstum einen naturwüchsigen, verselbständigten und selbstläufigen Prozess, der sich als „Sachzwang“ verfestigt hat und sich das Leben unterordnet.↓(21) Es ist die Verselbständigung des Kapitalwachstums, die aller Dekadenz zugrunde liegt. Indem Marx die Mechanismen dieses Kapitalwachstums aufdeckt, ist er ein Theoretiker oder Kritiker der Dekadenz.

Aus dem Perspektivenwechsel ergeben sich Konsequenzen für die politische Praxis. Solange man die Geschichte als Fortschrittsprozess zum Sozialismus begriff, solange konnten sich die kommunistischen Parteien als die Avantgarde dieses Prozesses begreifen. Da die realen Tendenzen selbst in Richtung des Sozialismus zeigten, hatten sie gewissermaßen geschichtlichen Rückenwind. Es kam nur darauf, den Geschichtsprozess zu beschleunigen, um Irrwege und überflüssiges Leiden zu vermeiden. Begreift man die Geschichte dagegen als Niedergang, als Verselbständigung des Kapitalwachstums, als wachsende Ohnmacht der Menschen gegenüber dem, was sie als Sachzwang selbst produzieren, so hat auch die Politik eine Richtungsänderung vorzunehmen. Mit geschichtlichem Gegenwind gewinnen alle die Versuche Priorität, die darauf abzielen, das „blind wirkende Naturgesetz“, das sich als selbstläufiger Prozess „gewalttätig und zerstörend durchsetzt“ (MEW 19, 222) unter die Kontrolle der Menschen zu bringen.

Fußnoten:

↑(1) Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von J. Rohbeck /L. Steinbrügge, Frankfurt a.M. 1990, 141.

↑(2) Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von W. Alff, Frankfurt a.M. 1963, 29.

↑(3) Zuletzt Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten, Frankfurt a.M. 2006, 173.

↑(4) Condorcet, Entwurf (Anm. 2), S.29.

↑(5) Turgot, Über die Fortschritte (Anm. 1), S.107.

↑(6) Condorcet, Entwurf (Anm. 2), 61. Vgl. 53, 65f., 89, 95, 107.

↑(7) Rousseau, Abhandlung über die Frage: Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen? In: Schriften zur Kulturkritik, übersetzt und hg. von Kurt Weigand, Hamburg 2. Aufl. 1971, 15 und 53.

↑(8) Rousseau, Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Schriften zur Kulturkritik (Anm. 7), 213.

↑(9) Ebd., 261.

↑(10) Vgl. den Artikel „Destruktivkräfte“ von Kurt Jacobs, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. von W. F. Haug, Bd.2, Hamburg 1995, 614ff. (MEW 1, 385),

↑(11) Im Brief an Kugelmann vom 12. Dezember 1868 versteigt sich Marx zu der These, der gesellschaftliche Fortschritt ließe sich „exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die Hässlichen eingeschlossen)“. (MEW 32, 583)

↑(12) So Heinrich Heine, der im zweiten Buch der Romantischen Schule den Kunstkritiker A. W. Schlegel verspottet, der mit den „Lorbeerzweigen“ der älteren Dichter „den Rücken der jüngeren Dichter zu geißeln pflegte“.

↑(13) Vgl. Gertrude Lübbe-Wolff: Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf, Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), 476ff.

↑(14) In Das Elend der Philosophie schreibt Marx: „Was Hegel für die Religion, das Recht etc. getan hat, sucht Herr Proudhon für die politische Ökonomie zu tun.“ MEW 4, 128.

↑(15) Es handelt sich um die zwei Briefe an N. F. Danielson vom 18.6.1892 und 17.10.1893. Mit dem „Übel“ meint Engels die Missernte in Russland 1891, die die Verwandlung der Bauern in Proletarier beschleunigte.

↑(16) Hegel, Jenenser Realphilosophie, Leipzig 1932, II, 198 f. Vgl. Wissenschaft der Logik, Werke 6, 452 f.

↑(17) Baudelaire, Sämtliche Werke /Briefe, hg. von F. Kemp /C. Pichois, München /Wien 1977 ff., Bd. 2, 342.

↑(18) Im seinem Brief an Malwida von Meysenbug vom 18. Oktober 1888.

↑(19) Joëlle Stoupy, Maître de l’heure. Die Rezeption Paul Bourgets in der deutschsprachigen Literatur um 1890, Frankfurt a.M. u.a. 1996, 328ff., 335.

↑(20) Paul Bourget, Psychologische Abhandlungen über zeitgenössische Schriftsteller, übersetzt von H. Köhler, München 1903, 21 und 22. Bourgets Definition der Dekadenz des Stils wird von Nietzsche fast wörtlich übernommen und gegen Richard Wagner gewendet. Vgl. Der Fall Wagner 7, KSA 6, 27 oder Nietzsches Brief an Carl Fuchs vom 26. August 1888.

↑(21) Elmar Treptow, Die erhabene Natur. Entwurf einer ökologischen Ästhetik, Berlin 2. Auflage 2006, 161ff.