Wolfram Pfreundschuh (20.02.2006)

Kultur, Kunst und politische Aktion

Eine Einführung in die Kritik der politischen Ästhetik

Kultur ist der Sinn, den Menschen für einander und für die Dinge ihres Lebens haben. Kultur ist, was sie dem Stoff ihres Seins, ihren Naturstoffen gegeben haben und worin sich die Natur der Menschen als menschliche Natur gesellschaftlich gestaltet. Kultur ist nichts für sich, weder als Verhältnis der Menschen, noch als Substanz ihrer Produkte, noch als Zivilisation überhaupt. Sie kann nicht bloß geistig oder bloß stofflich oder rein sittlich sein. Sie ist menschlich in der Sache und sachlich im Menschen wie er leibt und lebt. Von daher ist sie keine objektive Lebensnotwendigkeit, nicht funktional, nicht nützlich und nicht vernünftig. Sie ist wesentlich subjektiv, äußert sich in allem, was von und für Menschen ist, auch wenn es nicht als Produkt existiert, nicht unbedingt funktionell, ökonomisch oder politisch da ist. Und sie ist zugleich objektiv als Form des menschlichen Lebens, die Art und Weise des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, der tiefste Grund, aus welchem Menschen miteinander verkehren und sich zueinander verhalten. In der Kultur steckt menschliches Leben in seiner unmittelbaren Gestalt als eine Kraft, die über die Notwendigkeiten der Reproduktion und Produktion des Lebens hinausgeht, ohne wirkliche Not und also auch ohne Einwand.

Kultur ist für sich frei, ohne Wert und ohne Macht, menschliches Verlangen in gesellschaftlicher Wirklichkeit, auch wo Gesellschaft nicht wirklich ist, Bedürfnis ohne Wille, Gesellschaft ohne Politik, Lebenserzeugung ohne Wirtschaft. Sie ist Sinn, wie er gesellschaftlich gebildet wird und sich mitteilt und verwirklicht. Sie entzieht sich jeder Bewertung, auch wenn sie beurteilt, verändert oder zerstört wird. Sie ist das organische Lebensverhältnis der Menschen, menschliche Gegenwärtigkeit ihres praktischen Lebens, ebenso geistig wie auch stofflich, unmittelbar menschliche Erkenntnis und Selbsterkenntnis, auch wenn sie nur versachlicht erscheint - schlichte Wahrheit ihres sinnlichen Seins, wie es geworden ist und wird. Kultur ist Resultat und Ursprung menschlicher Geschichte, der Sinn menschlicher Zivilisation, auf welcher Stufe ihrer Sinnbildung sie auch sein mag und in welchen Widersprüchen sie auch befangen ist und gleich, in welcher Form sie besteht, welche Sittlichkeit sie nötig hat und welches Brauchtum sie veräußert.

Kunst hat sich schon immer mit Sinn befasst, auch wenn sie ihren Ursprung im Übersinnlichen hatte: Im naturhaften Geist, in der Götterverehrung und Gottesverherrlichung, dem Schönen und Guten, aber auch dem Tierischen und Herrschenden, dem Trieb und der Macht. Sie war schon immer mitten im menschlichen Leben, wie sie zugleich jenseits davon war, schon immer naturhaft und abstrakt, konkrete Lebensäußerung und abstrakte Lebensvermittlung, Arbeit und Ästhetik in einem. Eines war sie nie: Wirtschaftlich, nützlich und vernünftig. "Kunst kann nicht nützlich sein" (Oscar Wilde). Von daher war sie immer der Gegensinn zu wirtschaftlichem Kalkül mit dem Nutzen der Dinge und der Arbeit, zu Verwertungsinteressen und Sachzwängen, auch wenn sie der Wirtschaft gehorchen musste, den Sachzwängen nicht selten erlag und hin und wieder viel Wert hatte, obwohl sie niemals wissen konnte, was sie wert ist.

Kunst zeigt und macht, was in den Menschen steckt, was auf die Welt muss, weil es nicht wirklich in der Welt ist, vielleicht wirksam, jedoch nicht gewiss. Kunst kann dies zeigen, sichtbar, hörbar und fühlbar machen. Es ist der Vernunft in einer Welt der Sinnentleerung Sehen und Hören vergangen. Der Verstand kann das objektivieren, formulieren und benennen, wissenschaftlich untersuchen, analysieren und synthetisieren. Aber wo Menschen Sinn suchen, geraten sie entweder an das abstrakte Menschsein, an Gott, Geister, Magie, Mystik und Fetische jeder Art, oder sie finden Kunst und Menschenliebe. Wissenschaft und Philosophie ist hiergegen schal, Worthülse, "Gebälk von Begriffen" (Nietzsche). Und Politik ist hierfür notwendig äußerlich, einer Allgemeinheit entsprungen, die nicht wirklich konkret sein kann, weil sie der Notwendigkeit entspringt, die Lebensverhältnisse in ein gesellschaftliches Lot zu bringen, sie einer ihnen fremden Allgemeinheit zu beugen. All dies sind Formationen von Wille und Macht, letztlich politische Ökonomie. Nur Kunst und Kultur stehen hiergegen unmittelbar im Sinn des Augenblicks zugleich wie ein Gedächtnis der menschlichen Geschichte.

Man könnte daher meinen, dass sich darin auch das konkrete menschliche Leben bilden lasse, wie es vor jeder historischen Form gedacht sein mag, dass mit der Auflösung dieser Form der Mensch als solcher freigestellt, dass er damit von der Widersprüchlichkeit seiner Existenz in seiner eigentlichen Urspünglichkeit reingewaschen sei wie eine Jungfrau aus dem Altweiberbrunnen. Solche Ursprünglichkeit des reinen Wesens ist die fatale Illusion einer Wesenssehnsucht, die in der Vereinigung von Kultur, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik die Wiederherstellung des Menschen zu betreiben sucht, ihn als ein Wesen jenseits der Widersprüche und Gegensätze dieser Welt identifiziert, worin er sich nur mit sich selbst vereinen, seine Wirklichkeit wie eine schlechte Gewohnheit abstreifen müsse. Indem er Kunst und Wissenschaft ganz in den Dienst seiner „eigentlichen Lebenssubstanz“ stelle und zu seinem Willen mache, würde er also Erlösung von einer falschen Welt finden, die ontologische Wahrheit seines Wesens und seiner Kultur wieder erlangen.

Darauf versteht sich das Bildungsbürgertum. Durch Kunst fixiert es die Kultur seines Besitzstands zum Maß des Lebens und Maßstab der Sittlichkeit: Die Hochkultur. Darin sind die Momente des Menschseins zu einer Kulturgestalt des Menschen zusammengetragen, worin sich die Ganzheit eines Bildes vom kultivierten Menschen errichtet, der illusionäre Zusammenhalt seiner Widersprüche in übermenschlicher Güte. Und dies ist niemals ungewollt. Damit wird das Bürgertum zum guten Menschen und damit hat es auch schon einiges angestellt. Die Rede ist dann schnell von Höherem, von hohen Werten, von politischer Kunst, von Wissenschaft als Kunst und von Politik als Wissenschaft. Und auch die Wirtschaft kann dies immer gut brauchen, wenn es ihr schlecht geht, denn gerade wo sie in Wirklichkeit unnütz wird, da muss sie in Gesellschaft mit Schönem sich zeigen und ihm nützlich sich erweisen. Zumindest ihr politisches Selbstverständnis, der gesellschaftlich formulierte Wille zum allgemeinen Über-Leben des Lebens, scheint auf diese Weise ungebrochen, das Unheile heil, das Triviale begeistert. Der Kreis ist damit geschlossen, der Bildungsbürger in seiner Kultur total und das Totale fatal für die ganze Menschheit, weil solche Kultur aus bloßer Selbstbehauptung besteht und sich gegen jede andere Kultur behaupten muss. Totale Kultur konstituiert einen Kulturkampf bis zum Niedergang.

Wir kennen das schon seit der größten Wirtschaftskrise des letzten Jahrhunderts. Die Gewohnheiten der Kultur wurden verstaatlicht, der Staat zum Kulturstaat und der Mensch zum Volkskörper, zur selbstbewussten Art und Rasse, der schließlich auch noch eine Volksseele bekam - Sinn und Geist des Übermenschen. Gesinnung war damit eine Angelegenheit des Staates, seinem politischen Willen geschuldet, seine Art. Ihre finsterste Zeit hatte die Kunst, wo sie artig war und von Abartigem sich abscheiden ließ. Da war sie dann auch selbst vernünftig und wurde schließlich bewirtschaftet, wie es hierfür nötig ist. Künstlerinnen und Künstler scharten sich um die Machthaber der Staatskultur und waren von der gewaltigen Ästhetik des herrschenden Willens fasziniert, weil sie darin ihre Kunst gewaltig machen durften. Sie waren der Ästhetik der Gewalt ohne Scheu dienstbar, solange es für sie Kunst blieb – aber für sie eben als Gewaltigkeit ihres Werkes, als Macht ihrer Kunst in einer Welt ohnmächtiger Menschen.

Sie hatten damit zugleich auch eine ganz besondere Funktion für ästhetische Selbstbehauptung: Kunst sollte den Blick auf die menschlichen Mängel eines Systems verstellen, weil es durch sie ein übermenschliches Ziel bekam, die heile Welt des Schönen und Guten. Kunst sollte Übermenschlichkeit vorstellen und praktizieren, Menschen vergöttern, die als göttliche Menschen herrschen wollten. Soweit Kultur politisch wurde, sollte Kunst auch immer mit von der Party sein, denn dafür musste geworben, Größe vermittelt werden - nicht im Geist, sondern in Raum und Fläche, Blut und Boden. Politik musste schmuck sein und irgendwie auch Sinn haben, am besten Übersinn, der sich gegen die Armseligkeit des Alltäglichen wendet, seine Not mit ihrem Anspruch verdeckt, seine Unnötigkeit behauptet, indem sie das Gewohnte zur Notwendigkeit des guten Lebens erklärt und den kulturell isolierten, den ausgehungerten, begierigen Menschen als Wesen einer anderen Art ausgrenzt, als Unkultur, als Bosheit schlechthin. Das Prinzip ist dann immer dasselbe: Das Gute muss Not wenden, weil das Böse sie verursacht hat; und das Böse wird bekämpft, indem das Gute zur Allgemeinheit des Notwendigen gekürt wird. Es soll herrschen, was das Volk zufrieden stellt, völkisches Erleben, Brot und Spiele. Und das ist dann der Fallstrick der Anpassung, Ästhetik der Gewohnheit im Erleben der Besonderheit. So wird die Allgemeinheit zu einer besonderen Stringenz der Notwendigkeit, zum Zirkus besonderer Erlebnisse, der geboten ist, weil das Allgemeine ihn bietet, um seine Sonderbarkeiten zu vertuschen. Den Rest besorgen die Machthaber, heute die Dramaturgen des großen Fressens, des Tittytainments der blanken Verdummung zum Zweck der Wertmaximierung, zur Ausbreitung von Sinnentleerung - Arbeit und Konsum wie von Sinnen. Kunst gehört dann zum einfachen Lebensunterhalt, zur Unterhaltung der Lebenden mit plattem Erleben, Lebenssucht, welche alles Leben einverleibt, auffrist.

Kunst ist also nicht durch sich selbst schon wirklich menschlich und nicht einfach gesellschaftlich wirklich. Sie kann nicht einfach sein, was sie ihrem Sinn nach ist. Sie ist wie alles andere, das über die bestehenden Verhältnisse hinausgreift, in den Formbestimmungen ihrer Zeit befangen und beherrscht, schmerzhafte Beziehung auf die Gegegenheiten bürgerlicher Existenz. Und diese kann weder durch Kultur, noch durch Kunst überwunden werden – im Gegenteil. Es wäre ein schlimmes Missverständnis, würde man Politik zu ihrem Zweck machen, etwa als "sozialistische Kunst“. Politik darf Kunst nicht bestimmen. Es ist umgekehrt: Politische Kunst wäre ein Widersinn in sich, Bezichtigung ihrer eigenen Freiheit. Aber Kunst ist in der Tat politisch, wenn auch nicht als Kunst. Sie macht nicht Politik, aber sie wirkt in der Gesellschaft, ist Teil und Moment der Polis, nicht als wirkliche Gesellschaft oder als gesellschaftlicher Wille oder als nützliche Funktion, sondern als Moment des Menschseins, das nicht ohne Gesellschaft ist, ein Sinn und ein Gedanke darin, ein Licht im Nichts, im schwarzen Loch des Kapitals.

Auf diese Weise ist Kunst eine politische Tat. Umgekehrt ist Gesellschaft aber auch ihr Schoß, Grund ihres Werdens und Vergehens, ihres Denkens und Tuns. Kunst ist gesellschaftliches Handeln durch sich selbst, politische Aktion, die sich auf den gesellschaftlichen Sinn einer gesellschaftlichen Form bezieht, um ihr den Sinn einer sich verändernden Gesellschaft zu entnehmen und ihm zur Wirklichkeit zu verhelfen – nicht als Alternative zur Politik, als Alter Natus, als andere Geburt desselben Wesens, als Ausgeburt der Verwesung, sondern als geschichtliches Handeln der Kunst, welche sich im Wirklichwerden ihrer Sinne aufhebt.

Darin unterscheidet sich politische Aktion von politischer Reaktion, vom Handeln als Reaktion, als Bezichtigung. Sie verhält sich also in diesem Bewusstsein gesellschaftlich gegen unmenschliche Gesellschaftlichkeiten, "erinnert" die Menschen an das gesellschaftliche Sein ihres Lebens, an den Sinn ihrer Liebe. Fortschrittliche Kunst entzieht sich der Dienstleistung der Kultivation, dem Auftrag, Gefühle und Fühl-Mäler zu erzeugen, die Alltag vergessen machen und Erlebenswerte zu vermitteln, verweigert sich individualisierter Selbstwahrnehmung und verhält sich als deren Kritik. Sie schafft Denk-Mäler, die Alltag sind, Aufruhr der Erkenntnis. Von daher hat sie mit Wissen zu tun, mit Gewissheit, die nicht bei sich bleiben, nicht privat sein kann, weil sie gesellschaftlich ist. Kunst wendet sich in dieser Gewissheit gegen eine Erlebenswelt der Selbstgefühle, die sich an sich selbst erbauen um Lebenswirklichkeit zu verschleiern. Aber um diese Selbstwahrnehmungen in solche Gewissheit zu wenden, um sie im Bewusstsein gesellschaftlicher Gewissheit aufzuheben, verlangt es die Kritik der zur Selbstbezogenheit politisierten Wahrnehmung, die Kritik der politischen Ästhetik. Darin steckt die Sprengkraft gegen eine politische Kultur, welche die Menschen alleine dem Interesse der Vernutzung ihrer Sinnlichkeit überlässt.

Und darin steckt auch das Bewusstsein des Lebenszusammenhangs der Menschen, also die Einheit des Wissens über ihren Lebensprozess, ihre Kultur, das die Selbstbeschränkung des bürgerlichen Bewusstseins, die rationalen Beschränktheiten der Wissenschaften, Erkenntnistheorien, Philosophien und Ideologien, das ganze sogenannte objektive Wissen, aufhebt. In dieser Kritik bildet sich ein Bewusstsein, worin sich die Menschen als Subjekte ihrer Objektivität begreifen, weil sie sich in ihrer Subjektivität gegen die herrschenden Objekte gewiss werden, indem sie ihr Leben in den gegenständlichen Lebensformen erkennen. Das gesellschaftliche Subjekt kann nur gesellschaftliche Subjektivität, das Ineinandergreifen des menschlichen Lebens sein, wie es sich in seiner Kultur gewiss wird, sich darin erkennt und tätig ist. Als solches müssen sich die Menschen den Verkehrungen ihres Lebens, der Verfremdung seiner Form entgegensetzen, weil sie dies als ihre Lebensnotwendigkeit begriffen haben. Jede objektiv scheinende Macht besteht nur solange, wie Menschen ihre eigene Notwendigkeit verleugnen.

Begriffen ist damit die Formation der Isolation, die Privatform gesellschaftlicher Wirklichkeit als weltweites Klassenverhältnis des internationalen Besitzstands, der Egozentrismus der Individuen und Nationen als Grund menschlicher Verarmung, Verelendung und Barbarei. Nicht Avantgardismus, politische Macht oder Attentate verändern dies, sondern die Gewissheit eines großen Teils der Menschheit im allgemeinen Bewusstsein der Lebensnotwendigkeit einer Überwindung herrschender Lebensformen.

 

Wolfram Pfreundschuh