HOME >>

_Materialien zu Hellinger II_ weitere Materialien: Rottenführer | Material I | Material III | Material IV

Das leere Selbst

Über Bert Hellinger, seine Anhänger und die Welt, in der sie leben. Von Heiner Keupp

Als ich vor einiger Zeit als Fachbeirat der Münchner Volkshochschule dafür sorgte, dass aus den Programmen dieses öffentlich geförderten Bildungsforums alle Veranstaltungen herausgenommen wurden, die sich explizit auf Bert Hellinger bezogen, dachte ich, das sei genug Engagement. Immerhin hatten wir uns gemeinsam im Fachbeirat Ausschnitte aus Aufstellungsvideos angeschaut und das Entsetzen gespürt, das einem beschert wird, wenn man die dort vorgeführten Machtinszenierungen erlebt.

Endgültig war für mich die Ekelschwelle überschritten, als ich einen Text aus dem Virtuellen Bert Hellinger Institut las, der unter dem Titel »Das Judentum in unserer Seele. Was Juden und Christen versöhnt« (1) angeboten wird. Die Auseinandersetzung mit einem Mann, der den jüdischen Überlebenden des Holocaust in Israel die »Diagnose« stellt, sie hätten in ihrem Handeln gegenüber den Palästinensern die »nationalsozialistische Täterenergie unbewusst übernommen« (2), ist unmöglich.

Wie konnte es Hellinger gelingen, eine so große Anhängerschaft zu rekrutieren, und warum erfolgte diese Zustimmung auch in Kenntnis von Hellingers Aussagen, die aufgeklärtem Bewusstsein nicht zumutbar sind? Warum protestieren Psychotherapeuten nicht, wenn die Antiaufklärung ungefiltert in Massenveranstaltungen ihre Stimme erhebt? Im Blick habe ich bei dieser Frage vor allem Kolleginnen und Kollegen meiner Generation, die durch die Lernprozesse der Studenten-, Frauen- und Friedensbewegung gegangen sind; die sich vielleicht sogar mit Kritischer Theorie und Ideologiekritik auseinandergesetzt haben und die konstruktivistische und dekonstruktivistische Analysen gelernt haben.

Am leichtesten tue ich mir bei dieser Suche nach Antworten bei einigen ehemaligen Mitgliedern politsektiererischer Kadergruppen, die schon im Ausgang der Studentenbewegung den antiautoritären Ausgangsimpuls verraten haben und lieber Mitglieder eines machtvollen Politbüros einer elfköpfigen kommunistischen Partei wurden. Dem mühsamen Weg, das »Handwerk der Freiheit« – um den Titel von Peter Bieri aufzugreifen – zu erlernen, wurde eine schlechte Aufhebung des autoritären Charakters vorgezogen. Diese »Abkürzung« von der proletarischen Revolution zum Gemeindemitglied der Hellingerschen Volkskirche erklärt aber nur Spurenelemente des Phänomens. Obwohl ich um Hellingers Texte einen Bogen machen wollte, ganz kommt man an ihnen nicht vorbei. Sie machen offensichtlich ein »Gebrauchswertversprechen«. (3) Sie liefern Erzählungen, die vielen Zuhörern und Lesern die Hoffnung auf Lösung von überkomplexen Problemen, die Hoffnung auf Antworten auf schwierige Sinnfragen oder die Hoffnung auf Überwindung von Ohnmacht geben.

Aber es ist ein »Versprechen« mit einem hohen Potenzial, Abhängigkeit zu fördern, die nicht zuletzt aus dem Mangel an wirklicher Erfüllung resultiert. Dieses Versprechen und die Bereitschaft, sich ihm auszuliefern, sind nur zu begreifen, wenn sie in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext eingeordnet werden.

 

Die Gebrauchswertversprechen

 

Was treibt Tausende von Psychofachleuten in die großen Hörsäle und in die Kongresszentren, um einem ehemaligen katholischen Ordenspriester bei seinen familientherapeutischen Schnellschüssen zu lauschen und zuzusehen?

Zunächst einmal verspricht Hellinger einen Zuwachs an »Pastoralmacht«, wie Michel Foucault die hegemoniale Kontrolle über die Seelen von Menschen nennt. (4) Er verspricht Macht, Handlungsfähigkeit, schnelle Lösungen und das Gefühl von Selbstwirksamkeit, also Auswege aus der Ohnmacht, die bei psychotherapeutischen Helferinnen und Helfern immer droht. Im psychosozialen Bereich ist immer mehr von Burnout oder von der Hilflosigkeit der Helferinnen und Helfer die Rede, von den alltäglichen Mühen, die das Arbeiten an der Entfremdung, der Hektik, der Gehetztheit oder der Beziehungslosigkeit in einer turbokapitalistischen Gesellschaft bedeutet. Da ist oft nicht viel zu bewegen.

Auch große Visionen, die einen bewegen könnten, dem eigenen Tun Sinn geben könnten, werden rar. Dieser »Ohnmacht« der Helferinnen und Helfer begegnet der Hellingerismus mit einem Versprechen der Macht. Da werden im Schnellverfahren »Lösungen« geboten. Man wundert sich nur, dass die Krankenkassen diese »Lösungen« nicht zu ihrem Kassenschlager machen. Hier werden doch effektive »Heilungen« im Eiltempo offeriert. Es bedarf nicht mehr zeitaufwändiger und teurer Analysen, die kaum mehr als nur »Reflexionszuwachs« und eben keine effektiven »Lösungen« bieten.

Aber die Gewinnung von »Lösungsmacht« allein erklärt die Anhängerschaft nur unzureichend. Hellinger bietet eine faszinierende Erzählung. Es ist die von unerschütterlicher Gewissheit getragene Erzählung von der unverrückbaren Ordnung der Dinge. Da gibt jemand eindeutige Antworten, und er strahlt in unbeirrbarer Sicherheit einen Habitus aus, den man in einem einfachen und klaren Satz unterbringt: »Ich weiß, dass es so ist.« Er spricht von der »Wahrheit« und dem »Richtigen« und immer wieder davon, dass er Wahrheit »herausgefunden« habe. (5) Er sieht »Ordnungen, die heilend in der Seele wirken«. Eine dieser Ordnungen ist die von Ehre und Liebe, die Kinder ihren Eltern entgegenzubringen haben, auch wenn sie von ihnen misshandelt worden sein sollten: »Wenn man den Eltern Ehre erweist, kommt etwas tief in der Seele in Ordnung.«

Die »Ursprungsordnung« in den Familien muss anerkannt werden. »Wer oder was zuerst in einem System da war, hat Vorrang vor allem, was später kommt«, und natürlich hat auch das Geschlechterverhältnis seine Urform: »Der Mann muss Mann bleiben, die Frau muss Frau bleiben. Denn wenn der Mann das Weibliche in sich zu entwickeln sucht, dann ist das nicht richtig und umgekehrt.« Was für eine Botschaft in einer Welt, in der in den letzten Jahren traditionelle Geschlechterrollen »dekonstruiert« werden: Strampelt euch an dieser Front nicht ab, die Ordnung der Dinge könnt Ihr doch nicht verändern. Hellinger sieht auch gar keinen Grund für grundlegende Revisionen der bestehenden Welt: »Ich stimme der Welt zu, wie sie ist. Ich bin ganz zufrieden damit. Ich denke, dass in der Welt Kräfte am Werk sind, die lassen sich nicht steuern.«

Leid tun Bert Hellinger alle, die die Welt verändern wollen. Widerstand gegen diese vermeintlich nicht steuerbaren Kräfte sei sinnlos. Das exemplifiziert er am antifaschistischen Widerstand: »Was war das Ergebnis des Widerstandes? Er war gleich Null. Das zeigt, dass Widerstandskämpfer nicht im Einklang waren. Das waren Leute, die gemeint haben, sie könnten das Rad der Geschichte aufhalten. Das geht nicht.« Diese Formulierungen aus dem Jahre 1995 sind möglicherweise längst überholt, denn Hellinger betont ja den permanenten Wandel: »Die Theoriebildung (ist) immer neu im Gang, denn es zeigt sich, dass vieles, was vor einigen Jahren noch wichtig erschien, durch anderes überholt wurde«. (6)

Das klingt fast wie bei dem aufregenden Theoriebildungsprozess bei Freud, der seine Konzepte immer wieder revidiert hat und seine Leser an diesem Prozess teilhaben lässt. Freud formuliert Konzepte wie seine Triebtheorie, und stets sucht er nach der stimmigen Passung. Davon ist bei Bert Hellinger außer dem Versprechen nichts zu spüren. In seinen neuesten Verlautbarungen begegnen einem die gleichen Grundmuster, die einen bereits in den neunziger Jahren daran zweifeln ließen, ob man der eigenen Lektüre trauen darf.

Aber genau das, was einen am eigenen Verstand zweifeln lässt, enthält das »Gebrauchswertversprechen«. Da hat einer in die »Tiefe« geblickt und dabei mehr als einen Zipfel der »Wahrheit« zu fassen bekommen. »Es gibt eine Tiefe, in der alles zusammenfließt. Sie liegt außerhalb der Zeit. Ich sehe das Leben wie eine Pyramide. Oben auf der ganz kleinen Spitze läuft das ab, was wir Fortschritt nennen. In der Tiefe sind Zukunft und Vergangenheit identisch. Dort gibt es nur Raum, ohne Zeit. Manchmal gibt es Situationen, in denen man mit der Tiefe in Verbindung kommt. Dann erkennt man z. B. Ordnungen, verborgene Ordnungen, und kann in der Seele an Größeres rühren.« (7) Auch das ein älterer Text, aber klingen denn die Formulierungen aus jüngerer Zeit anders?

Gegenwärtig präsentiert sich da jemand, der im »Dienste der Wirklichkeit« und im »Dienst der Wahrheit« steht, nicht angekränkelt von philosophischen Zweifeln von Kant bis zum zeitgenössischen Konstruktivismus: »Der Familienaufsteller weiß, dass er im Dienst einer Wirklichkeit steht, die ans Licht drängt«, er soll ermöglichen, »dass Verborgenes ans Licht kommt«, er »verhält sich als einer, der im Dienst einer großen Sache steht«. Seine Aufgabe besteht darin, »etwas größeres Ganzes in den Blick zu bekommen«. (8) Der gleiche Gedanke taucht auch in selbsterfahrungsgesicherten Bekenntnissen seiner Anhängerschaft auf: »Wer sich intensiv mit Hellinger und seinen Gedanken beschäftigt, findet viele Antworten auf anfangs völlig Unverständliches. Auch große Wahrheiten, die zum Teil sehr schwer anzunehmen, noch schwerer zu leben sind. Ich spreche da aus eigener und der Erfahrung einer ganzen Reihe von Aufstellungen.« (9)

Unverändert ist Hellinger auch in seiner Verachtung für Menschen, die sich für eine Veränderung der bestehenden Ordnung einsetzen. Die Hoffnung auf eine »bessere Welt«, eine »Revolution«, die die entfremdete »alte Welt« durch einen qualitativen Sprung hinter sich lässt, wird nicht bedient. Das ist auch gar nicht notwendig, weil ja alles in Ordnung ist: »Ich gehe davon aus, dass die Welt gut ist. Das ist sozusagen meine Ausgangsposition. Und dass jeder Versuch, sie zu verbessern, eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Umgekehrt: Wenn ich sie so nehme, wie sie ist, und dem zustimme, wie sie ist, dann kann ich in diesem Zustand etwas ändern.« (10)

Jede große »Bewegung« hat und braucht ihre Feinde. Aus der Massenpsychologie wissen wir, wie wichtig sie für den inneren Zusammenhalt einer Anhängerschaft sind. Auf sie kann all die Wut und Enttäuschung projiziert werden, die im Binnenverhältnis der Eigengruppe nicht artikuliert werden kann. Hellinger braucht sich nicht zu beklagen. Es gibt die Gegnerschaft, und er weiß auch, was er ihr verdankt. Entsprechend großzügig ist er bei ihrer Bewertung. Er spricht von der »Kraft der Feinde«, denn auch sie dienen dem »größeren Ganzen«. Er steht der Kritik souverän gegenüber, denn »wer sein Eigenes gefunden hat, der ist mit allen anderen gelassen verbunden. Zugleich ist er auch der Feindschaft anderer ihm gegenüber duldsam. Er wartet, bis auch deren Feindschaft sich in der Beziehung auf das je Eigene löst.«

Hellinger kennt die gruppendynamischen Basisprozesse, die aus der Konkurrenz entstehen und die ihm im Verhältnis zur überzeugten Anhängerschaft nur nützen können: »Die Feindschaft braucht in der Regel Gefährten. Sie gewinnt an Kraft durch die Anzahl und die Treue derer, die sich in ihr gegen etwas verbünden. Doch dadurch stärken sie auch die Gefolgschaft jener, gegen die sie sich stemmen. « (11)

Ein treuer Anhänger Hellingers ist Bertold Ulsamer vom Freiburger Bert-Hellinger-Institut. Für ihn wird sich das Thema der Gegnerschaft zu seinem Meister vor allem biologisch erledigen. Er glaubt an die Durchsetzungskraft des »revolutionären Gedankenguts«, und es ist für ihn normal, dass Repräsentanten der alten Denkordnung das »radikal Neue« bekämpfen: »Wenn so etwas total Neues kommt, dann ist es klar, dass es Widerstand gibt, das ist immer so. Alles radikal Neue hat sich nicht dadurch durchgesetzt, dass man Leute überzeugt, sondern dadurch, dass die junge Generation die Ideen angenommen hat und die alten Gegner langsam ›ausgestorben‹ sind. So wird das beim Familienaufstellen auch sein.« (12)

Es soll mich nicht weiter beschäftigen, was das »radikal Neue« sein könnte, das Hellinger und seine Anhängerschaft für sich reklamieren. Inhaltlich wirkt es wie ein Revival eines reaktionären Tribalismus, in dem Subjekte in ihrem widersprüchlichen Verhältnis von Autonomie und Gebundenheit gegenüber ihrer Herkunft auf ihre »Sippenzugehörigkeit« reduziert werden. Ein handelndes und sein Handeln individuell verantwortendes Subjekt gibt es in der »Theorie« des Hellingerismus nicht, und damit wird nicht nur eine Gegenmoderne zelebriert, sondern vor allem all das »durchgestrichen«, was wir über die Ambivalenzen des modernen Subjekts und seine Reflexionspotenz wissen. Der Subjektbegriff der Moderne impliziert einerseits ein aktives Bild des Individuums, das zielgerichtet auf die natürliche und soziale Umwelt einwirkt und sein Leben autonom zu bestimmen bemüht ist; andererseits drückt der Begriff schon vom Wortstamm her das Scheitern dieses Souveränitätsanspruchs aus. Das Subjekt ist das »unterworfene« (bzw. »sich unterwerfende«) Individuum, das sich in eine gegebene und machtstrukturierte Welt einzugliedern hat – und dies somit notwendigerweise als Einschränkung seiner Selbstwirksamkeit erlebt.

Insofern ist die Dialektik von Autonomie und Herrschaft im Subjektbegriff und seiner Geschichte aufgehoben. Genau diese Dialektik wird im Hellingerismus nicht einmal in Spurenelementen erkennbar. Im Gegenteil: Die angebotenen »Ordnungen« sind traditionale unaufhebbare Einbindungen, die den Anspruch auf individuelle Lebensoptionen als illusionären Selbstbetrug entlarven. Aber ist nicht genau das das »Gebrauchswertversprechen« einer tief verorteten Ordnung oder »Schicksalsgemeinschaft«? (13) Akzeptiert diese schicksalhafte Ordnung der Dinge, so Hellinger, sie gibt euch Lebenssicherheit!

 

Neue Lebensformen

 

Die meisten Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart sind sich in ihrem Urteil relativ einig. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche gehen ans »Eingemachte« in der Ökonomie, in der Gesellschaft, in der Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identität der Subjekte. In Frage stehen zentrale Prämissen der hinter uns liegenden gesellschaftlichen Epoche, die Burkart Lutz schon 1984 als den »kurzen Traum immerwährender Prosperität« bezeichnete.

Welche gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen prägen heute die gesellschaftlichen Lebensformen der Menschen? Sie lassen sich einerseits als tiefgreifende Individualisierung und als explosive Pluralisierung andererseits beschreiben. Diese Trends hängen zusammen. In dem Maße, wie sich Menschen herauslösen aus vorgegebenen Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher ein Stück eigenes Leben gestalten können, aber auch müssen, wächst die Zahl möglicher Lebensformen und wachsen die möglichen Vorstellungen von Normalität und Identität. Peter Berger spricht vom »explosiven Pluralismus« (14): »Die Moderne bedeutet für das Leben des Menschen einen riesigen Schritt weg vom Schicksal hin zur freien Entscheidung. (…) Aufs Ganze gesehen gilt (…), dass das Individuum unter den Bedingungen des modernen Pluralismus nicht nur auswählen kann, sondern dass es auswählen muss. Da es immer weniger Selbstverständlichkeiten gibt, kann der Einzelne nicht mehr auf fest etablierte Verhaltens- und Denkmuster zurückgreifen, sondern muss sich nolens volens für die eine oder andere Möglichkeit entscheiden. (…) Sein Leben wird ebenso zu einem Projekt – genauer, zu einer Serie von Projekten – wie seine Weltanschauung und seine Identität.« (15)

Unsere Vorstellungen vom »guten Leben«, also unsere zentralen normativen Bezugspunkte für unsere Lebensführung, haben sich in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert: »Dieser Wertewandel musste sich in Form der Abwertung des Wertekorsetts einer (von der Entwicklung längst ad acta gelegten) religiös gestützten, traditionellen Gehorsams- und Verzichtsgesellschaft vollziehen: Abgewertet und fast bedeutungslos geworden sind ›Tugenden‹ wie ›Gehorsam und Unterordnung‹, ›Bescheidenheit und Zurückhaltung‹, ›Einfühlung und Anpassung‹ und ›fester Glauben an Gott.‹« (16)

Von diesem Wertewandel sind zentrale Bereiche unseres Lebens betroffen. Wenn Familie zum Thema wird, dann scheinen alle zu wissen, wovon die Rede ist, und doch kann das nicht mehr ein gemeinsam geteilter Bestand sein. Auch die Werte, Wünsche und Bedürfnisse, die mit Familie verkoppelt sind, haben sich im Zuge des Wertewandels verändert. Familie ist am besten als prozesshaftes Geschehen zur Herstellung von alltäglichem Vertrauen, von Sicherheit, Verlässlichkeit und Intimität zu verstehen. Es ist ein aktiver Herstellungsprozess, der im Ergebnis zu höchst unterschiedlichen Lösungen führen kann, und er ist permanent, d.h. immer wieder erneuer- und veränderbar. Familie ist kein Besitz, sondern ein gemeinsames Handlungssystem der beteiligten Personen, das sich ständig neu organisieren muss.

Der Wertewandel vollzieht sich nicht als eine kollektive Formierung, sondern er findet in einer chaotischen Vielfalt einfach statt. Er wird teilweise als Chance zur Selbstgestaltung begriffen, kann aber auch Widerstände auslösen, die sich in einem Festhalten am immer schon Gehabten ausdrücken können. Insofern ist der Wertewandel in seiner »Ungleichzeitigkeit« auch Ausdruck der Pluralisierung.

Die empirisch erhobene Milieuvielfalt zeigt anschaulich, was mit dem Schlagwort von der Pluralisierung eigentlich gemeint ist: eine schier unübersichtliche Vielfalt von Vorstellungen vom guten und richtigen Leben mit der zwangsläufigen Folge, dass es die Wächter allgemein verbindlicher Normen für die individuelle Lebensgestaltung nicht mehr schaffen, Gehör zu finden. Es scheint so, als habe eine Botschaft der Aufklärung ihr Ziel erreicht: Das »Ideal der Authentizität«, das von Herder in klassischer Weise so formuliert wurde: »Jeder Mensch hat ein eigenes Maß«, also »seine eigene Weise des Menschseins«. (17)

Der globalisierte Kapitalismus entfaltet sich als »Netzwerkgesellschaft«, die sich als Verknüpfung von technologischen und ökonomischen Prozessen erweist. Dies zeigt vor allem Manuel Castells auf. Er hat in einer groß angelegten Analyse die gesellschaftlichen Transformationen der Weltgesellschaft in den Blick genommen. (18) Er rückt die elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten ins Zentrum seiner Globalisierungstheorie. Sie hätten zum Entstehen einer »network society« (so der Titel des ersten Bandes seiner Trilogie) geführt, die weltweit gespannte Kapitalverflechtungen und Produktionsprozesse ermöglichen würde und kulturelle Codes und Werte globalisiert. Die Konsequenzen der Netzwerkgesellschaft »breiten sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität aus, und transformieren die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben«. (19)

Dieser neue Kapitalismus greift unmittelbar in die Lebensgestaltung der Subjekte ein. Auch die biografischen Ordnungsmuster erfahren eine reale Dekonstruktion. Am deutlichsten wird das in Erfahrungen der Arbeitswelt. Einer von drei Beschäftigten in den USA hat mit seiner gegenwärtigen Tätigkeit weniger als ein Jahr in der Firma verbracht, in der er derzeit arbeitet. Zwei von drei Beschäftigten sind in ihren aktuellen Jobs weniger als fünf Jahre beschäftigt. Vor 20 Jahren waren in Großbritannien 80 Prozent der beruflichen Tätigkeiten vom 40-zu-40-Typus (eine 40-Stunden-Woche über 40 Berufsjahre hinweg). Heute gehören nur noch 30 Prozent zu diesem Typus.

In seinem Buch »Der flexible Mensch« liefert Richard Sennett eine Analyse der gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt. (20) Der »Neue Kapitalismus« überschreitet alle Grenzen, demontiert institutionelle Strukturen, in denen sich für die Beschäftigten Berechenbarkeit, Arbeitsplatzsicherheit und Berufserfahrung sedimentieren konnten. An ihre Stelle ist die Erfahrung einer »Drift« getreten: von einer »langfristigen Ordnung« zu einem »neuen Regime kurzfristiger Zeit«. Hier stellt sich die Frage, wie überhaupt noch Identifikationen, Loyalitäten und Verpflichtungen auf bestimmte Ziele entstehen sollen.

Sennett hat erhebliche Zweifel, ob der flexible Mensch menschenmöglich ist. Die wachsende Gemeinschaftssehnsucht interpretiert er als regressive Bewegung, eine »Mauer gegen eine feindliche Wirtschaftsordnung« hochzuziehen. »Eine der unbeabsichtigten Folgen des modernen Kapitalismus ist die Stärkung des Ortes, die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung in einer Gemeinde. All die emotionalen Bedingungen modernen Arbeitens beleben und verstärken diese Sehnsucht: die Ungewissheiten der Flexibilität; das Fehlen von Vertrauen und Verpflichtung; die Oberflächlichkeit des Teamworks; und vor allem die allgegenwärtige Drohung, ins Nichts zu fallen, nichts ›aus sich machen zu können‹, das Scheitern daran, durch Arbeit eine Identität zu erlangen. All diese Bedingungen treiben die Menschen dazu, woanders nach Bindung und Tiefe zu suchen«.

Was uns Sennett mit besorgter Grundhaltung vermittelt, wird von anderen Gegenwartsdeutern lockerer genommen und als Chance für die »fitten Subjekte« gesehen. Neue normative Modelle entstehen, an deren Etablierung sich auch Sozialwissenschaftler beteiligen. Ernest Gellner hat diesen »neuen Menschen« als den »modularen Menschen« beschrieben. Er greift damit auf eine Metapher aus der Möbelindustrie zurück. Der modulare Mensch mit seiner Ikea-Identität ist kein stabiler Charakter, sondern stellt ein »Wesen mit mobilen, disponiblen und austauschbaren Qualitäten dar«. (21) Es zeichnet sich jener Menschentypus ab, der in einer »Netzwerk-Gesellschaft« funktional ist.

Eines ist klar: Die beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen greifen in unser Leben ein, und sie verändern unsere Vorstellungen von Normalität und das darauf bezogene psychosoziale Handeln.

 

Die neuen Identitäten

 

Diese Dynamik hat Auswirkungen auf Menschenbilder und ihre orientierende Kraft für die Subjekte, aber auch für die Psychotherapie und ihre Vorstellungen vom Menschen. Der diagnostizierte Verlust der Glaubwürdigkeit der großen alteuropäischen »Meta-Erzählungen« (22) hat nicht zu einer »tabula rasa« geführt, sondern es gibt eine Fülle von Ersatznarrationen. Identität könnte man als erzählende Antworten auf die Frage »Wer bin ich?« verstehen. In diesen Antworten wird subjektiver Sinn in Bezug auf die eigene Person konstruiert. Doch wir sind nicht nur Autoren unserer Erzählungen, sondern wir finden kulturelle Texte immer schon vor, Lebensskripte, in die wir unsere persönlichen Erzählungen einschreiben. Psychotherapie ist auch ein Markt solcher Identitätserzählungen, die den Subjekten Plätze und Optionsräume für ihre Selbstverortung anbieten.

Man kann fünf Typen von Identitätserzählungen unterscheiden, die in ihrer jeweiligen Spezifik auf die Krise der Moderne antworten. (23) Erstens: Der »proteische Typus« sieht in der Erosion moderner Lebensgehäuse die große Chance für den Einzelnen, sich flexibel und mobil in immer neuen Gestalten verwirklichen können. Er vertritt einen neoliberalen Freiheitsmythos. Zweitens: Der »fundamentalistische Typus« lehnt all das ab, was für den ersten Typus als »Freiheitsgewinn« verbucht wird, und verspricht die unverrückbaren Behausungen, in denen man sein gesichertes Identitätsfundament finden könne. Hier wird in Gestalt des Angebots von »unverrückbaren Ordnungen« ein Skript geboten, das sich jeder historisch-kulturellen Reflexivität entzieht. Drittens: Der »reflexiv-kommunitäre Typus«, für den der gegenwärtig wirksame Individualisierungsschub und Entbettungsprozess Anlass für die Förderung von posttraditionalen Einbindungen darstellt, in denen Menschen sich selbstbestimmt vernetzen und dadurch kollektive Handlungs- und Gestaltungsressourcen schaffen. Viertens: Der »Typus Selbstsorge«, der sich den heimlichen Fesseln der allgegenwärtigen »Pastoralmächte« entzieht und in Empowermentprozessen Eigensinn und Selbstbemächtigung zu entwickeln versucht. Fünftens: Der »Typus ›beschädigtes Leben‹«, der gegenüber allen vier auf positive Veränderungsmöglichkeiten setzenden Typen auf der provokanten Gegenposition beharrt: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«

Hellinger repräsentiert für mich den Typus des »fundamentalistischen Selbst«, aber zugleich ist er keine Kopie vergangener Zeiten. Er stellt für mich den C. G. Jung der Postmoderne dar. Wie dieser formuliert er unhintergehbare Wahrheiten, die durch keine historischen Dynamiken relativiert werden können. Doch er liefert sie in einer schnell konsumierbaren Nescafé-Version. Bei Jung ist das alles aufwändiger.

Die Gefährlichkeit der Unterstellung solcher ewigen »Wahrheiten« hat schon sehr früh John Rittmeister kritisiert. (24) Er war Mitglied der Widerstandsgruppe »Rote Kapelle«, stand als einer der wenigen Psychoanalytiker im aktiven Widerstand gegen das NS-Regime und verlor dabei sein Leben. Zunächst war er Jungs Schüler. Doch in seinem Engagement gegen ein menschenfeindliches Regime sah er die gefährlichen Mystizismen Jungs immer deutlicher. 1936 spricht er von »dem Hochmut … esoterischer Ideenschau« auf die »eigenmächtig-präexistenten, idealen Wesenheiten«. Der Patient der Jungschen Therapie sei, so Rittmeister, »gewöhnlich ganz vollgesaugt und aufgebläht mit mythologischen Fantasiegestalten, aber am Ende (wird er) doch ganz klein vor den Allgewalten der kollektiv-unbewussten Sphäre, um schließlich vor der Archäologie ganzer Jahrtausende auf die Knie zu sinken«.

Bei Jung wie bei Hellinger wird das »leere Selbst« mit »Wahrheiten«, mit zeitlos gültigen Geschichten, angefüllt. Diese brauchen sich nicht in der komplizierten realen Welt zu bewähren und ermutigen nicht dazu, sich mit ihr auseinanderzusetzen und die je eigene Geschichte zu erzählen.

 

Gek. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: AStA der Uni München (Hrsg.): »Niemand kann seinem Schicksal entgehen…« Kritik an Weltbild und Methode des Bert Hellinger. Alibri, Neuauflage Juni 2004. 165 S., 11 Euro

 

Anmerkungen:

 

(1) Hellinger, Bert: Das Judentum in unserer Seele. Was Juden und Christen versöhnt. In: Das Virtuelle Hellinger Institut (DVBHI), www.hellinger.com/ deutsch/virtuelles_institut/bert_hellinger/vortraege/judentum_in_unserer_Seele.shtml (1. Nov. 2003).

(2) Ebenda, S. 10.

(3) Vgl. Haug, Wolfgang F.: Kritik der Warenästhetik. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1971.

(4) Vgl. Steinkamp, Hermann: Die sanfte Macht der Hirten. Matthias-Grünewald. Mainz 1999.

(5) Vgl. Interview Bert Hellingers mit Psychologie heute, Juni 1995, S. 22-26.

(6) Hellinger, Bert: Das Familien-Stellen in Bewegung. In: DVBHI, www.hellinger.com /deutsch/virtuelles_institut/ grundlagen_voraussetzungen/familien_stellen_in_bewegung.shtml, S. 1 (1. Nov. 2003).

(7) Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist. Kösel. München 1996, S. 82

(8) Hellinger, Bert: Das Familien-Stellen in Bewegung, S. 1 und 3

(9) Krause, Kordula: Ich stelle meine Familie – in mein Herz. In: Venus. Mai 2002, S. 4. Zit. nach: DVBHI, www.hellinger.com/ deutsch/oeffentlich/ medienecho/ venus_mai 2002.shtml (1. Nov. 2003).

(10) Ebenda, S. 8.

(11) Alle Zitate Hellinger, Bert: Die Kraft der Feinde. In: DVBHI, www.hellinger.com/deutsch/virtuelles_institut/ kontroversen/kraft_der_feinde. shtml (1. Nov. 2003).

(12) Zit. in: Krause, Ich stelle meine Familie – in mein Herz, S. 8.

(13) Hellinger, Bert: Die Mitte fühlt sich leicht an. Kösel. München 1996, S. 136.

(14) Berger, Peter L.: Sehnsucht nach Sinn. Campus Frankfurt 1994, S. 83.

(15) Ebenda, S. 95.

(16) Gensicke, Thomas: Wertewandel und Familie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/1994, S. 36-47.

(17) Vgl. Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt: Suhrkamp 1995, S. 38.

(18) Castells, Manuel: Das Informationszeitalter. 3 Bände. Leverkusen: Leske+ Budrich 2001.

(19) Castells, Manuel: Informatisierte Stadt und soziale Bewegungen. In: Wentz, Martin (Hrsg.): Die Zukunft des Städtischen. Campus. Frankfurt 1991, S. 137-147, hier S. 138.

(20) Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Berlin Verlag. Berlin 1998.

(21) Bauman, Zygmunt: In search of politics. Stanford California Press. Stanford 1999, S. 158.

(22) Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Böhlau. Wien 1986.

(23) Vgl. Keupp, Heiner: Braucht eine Gesellschaft der Ichlinge Psychotherapie? In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 34 (2002), i.E.

(24) Rittmeister, John F.: Die psychotherapeutische Aufgabe und der neue Humanismus. In: Psychiatrische en Neurologische Bladen Nr. 5 (1936), S. 777-796. Hier zit. nach: Psyche, 22 (1968), S. 934-953.

_______________________________