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Podiumsgespräch vom 14.04.99 in Wiesloch
Moderation: Albrecht Mahr und Hunter Beaumont

 

In diesem Podiumsgespräch, aus der Arbeitstagung "Derselbe Wind läßt viele Drachen steigen" diskutieren der britische Wissenschaftler Rupert Sheldrake (Entdecker der morpho-genetischen Felder), die französische Psychologie-Professorin Anne Ancelin Schützenberger (Untersuchungen über die Häufung von bestimmten Ereignissen an bestimmten Daten) und Bert Hellinger über die Gemeinsamkeiten ihrer Arbeit.

MAHR Rupert, würdest Du den Anfang machen?

SHELDRAKE Ja. Zuerst möchte ich sagen, daß es mir eine große Freude ist, hier zu sein. Durch die Arbeit von allen hier auf der Bühne zieht sich ein gemeinsamer Faden. So etwas ist selten. Es ist selten, Menschen zu finden, die so viel gemeinsam haben und dazu noch genügend Zeit, darüber zu reden.

Mir wurde zum ersten Mal bewußt, welche Macht die Erinnerungen in Familien haben, als ich die therapeutische Arbeit von Frau Schützenberger vor einigen Jahren in Paris kennenlernte. Sie hat mir von einigen Entdeckungen in ihrer Arbeit erzählt. Mir scheint, daß diese auf Erinnerungen im Gruppenfeld hinweisen, denn meine eigene Arbeit hat sich mit Feldern und mit Erinnerungen in Feldern befaßt. Ich war sehr beeindruckt von ihren Beispielen, und ich wollte herausfinden, ob man das auch mehr systematisch verstehen könnte. Ihr neues Buch "The Ancestor Syndrome" zeigt diese Entwicklung. Das ist eine aufregende Entwicklung in ihrer Arbeit.

Was Bert Hellinger betrifft, so habe ich zuerst in Deutschland davon gehört. Viele deutsche Freunde haben mir gesagt: Du mußt mehr über seine Arbeit erfahren, es wird dich sicherlich interessieren. Ich habe das so oft gehört, daß meine Frau Jill und ich, als wir hörten, daß er nach London kam, seinen Workshop besuchten. Mich hat erstaunt, was ich dort sah. Ich habe ja sehr viel mit der Vorstellung von morphischen Feldern im sozialen Gruppen im Tierbereich und der biologischen Entwicklung gearbeitet.

Dort auf der Bühne habe ich vor mir die Familienaufstellungen gesehen, und es war ganz klar, daß dies die Felder von Familien waren. Sie wurden vor mir als Drama und Ritual mit eindrücklicher heilender Wirkung vorgeführt. Meine eigene Arbeit bezieht sich auf räumliche Bezugsfelder, die Erinnerungen an die Vergangenheit haben. Es gibt viele Feldtheorien von Beziehungen ohne Gedächtnis. Hier war mir deutlich: Das war eine Feldtheorie die das Gedächtnis miteinbezog. Den Prozeß, der ein solches Gedächtnis ermöglicht, nenne ich morphische Resonanz.

Für mich war das Erstaunliche, daß ich die morphischen Felder vor mir in Aktion sehen konnte, und nicht als abstrakten Begriff auf Papier oder im Rahmen von wissenschaftlichen Experimenten. Das war für mich eine große Entdeckung, die mich sehr beeindruckt hat. Anschließend haben Bert und ich uns in London getroffen.

Ich konnte auch einen Workshop von Hunter in London besuchen, der mir auch neue Erkenntnisse brachte. Es war eine großartige Erfahrung. Ich bin also sehr von dieser Arbeit beeindruckt, und ich denke, es gibt da sehr viele Gemeinsamkeiten mit meiner mehr theoretischen und biologischen Arbeit im Bereich der morphischen Felder.

Ich habe dazu so viele Fragen, daß ich nicht weiß, wo ich beginnen soll. Aber eine Frage möchte ich Bert stellen, keine sehr tiefe, aber eine die sich immer stellt, wenn Therapeuten eine große Entdeckung machen. Therapeuten verbringen ihre Zeit hauptsächlich in der Betrachtung des Abnormalen und des Extremen. Wir lernen natürlich sehr viel für das Normale durch die Betrachtung des Abnormalen, und wir lernen viel über die Gesundheit durch das Betrachten der Krankheit. Ich möchte aber gerne wissen, inwieweit sich diese Arbeit auch auf glückliche Familienfelder erstreckt, wenn es solche gibt. Solche Menschen kommen in der Regel nicht in Therapie. Kann man diese Arbeit erweitern, indem man die normalen Familien und die Familiendynamik im allgemeinen miteinbezieht?

HELLINGER zu Frau SCHÜTZENBERGER Kann ich hier weitermachen?

Wir wollen zur Zeit unser Arbeitsfeld über die Psychotherapie hinaus erweitern und auch andere Bereiche miteinbeziehen. Es scheint, daß die "Ordnungen der Liebe" die einerseits zu Verstrickungen führen und andererseits zu Lösungen, auch in diesen Bereichen wirksam sind.

Ein Beispiel dafür ist die Arbeit in Gefängnissen. Voriges Jahr haben wir in drei Gefängnissen in London gearbeitet. Es war erstaunlich, wie gut diese Arbeit von den Gefangenen angenommen wurde. Es scheint, daß auch in Deutschland die Möglichkeit besteht, daß demnächst Forschungsprojekte über die Anwendung dieser Arbeit in Gefängnissen in Gang gebracht werden können. Mein Vorschlag war, daß wir uns dabei zuerst auf Mörder und ihre Opfer konzentrieren, weil sich in diesen extremen Fällen diese Ordnungen am eindrucksvollsten zeigen.

zu Frau SCHÜTZENBERGER Soweit ich Ihre Arbeit kenne, habe ich den Eindruck, daß auch Sie mit den extremen Fällen beginnen. Die sind die wichtigsten. Wenn wir Wege finden, in solch schwierigen Fälle zu helfen, läßt sich das leichter auf andere Bereiche übertragen.

Ein anderer Anwendungsbereich wären die Schulen. Lehrer können diese Einsichten anwenden, ohne daß sie Psychotherapeuten sein müssen.

Auch in der Sozialarbeit können diese leicht angewendet werden. Wir versuchen also, diese Einsichten losgelöst von den Beschränkungen der Psychotherapie auf andere Bereiche auszudehnen.

zu Rupert SHELDRAKE Ich denke, das ist auch im Sinne dessen, was Sie durch Ihre Arbeit erreichen wollen.

SCHÜTZENBERGER Für mich ist es sehr faszinierend, einige der Rätsel zu lösen, über die ich mir seit einiger Zeit den Kopf zerbreche. Wie können wir eine Erinnerung haben von Tatsachen, Gegenständen und Szenen, die wir selbst nie gesehen haben? Die sich zwei, drei, zehn, zwanzig, dreißig Generationen vor unserer Geburt ereignet haben? Von denen wir klare photographische Bilder im Kopf haben, nach denen wir uns dauernd richten?

Ein Problem für mich ist, daß ich jemandem begegne, der etwas zum ersten Mal in seinem Leben macht. Wenn man etwas weiter zurückschaut, sieht man aber oft, daß es nur eine Wiederholung von etwas in der Vergangenheit ist. Von einem Unglück, einem Trauma, etwas Ungelöstem.

Ich bringe ein schwieriges, schmerzliches Beispiel, welches zur Zeit das Fernsehen und die Zeitungen beschäftigt: der Kosovo. Wenn wir die Ereignisse dort als eine Wiederholung sehen, dann müssen wir zurückgehen zur wirklichen Schlacht von Kosovo am 28. Juni 1389 vor mehr als 600 Jahren. Es war eine große Schlacht zwischen den Moslems, den Ottomanen, und den Christen, den Serben. Die Serben töteten einen Sultan, dann tötete der Sultan den serbischen Prinzen Lazar. Dann machten die Christen, die Serben den Prinzen Lazar zu einen Heiligen, und die Ottomanen wurden auf die Serben wütend. Dann, etwa 500 Jahre später kam ein österreichischer Kronprinz nach Sarajewo am 28. Juni. Die Serben sahen das als eine Herausforderung und haben ihn ermordet. Das war der Anfang des Ersten Weltkriegs. Ich konnte das früher nicht verstehen, bis ich sah, das war eine Wiederholung des 28. Juni. Dann hat jemand, der ein sehr gutes Gedächtnis hat, wenn vielleicht auch ein böses, mit Namen Milosevic, die Gebeine des heiligen Lazar am 28. Juni 1989 dem 600. Jahrestag nach Kosovo gebracht und in einem Monument beigesetzt auf dem steht: Juni 1389 – Juni 1989. Wir lassen die Moslems nicht über die Serben herrschen. An dem Tag haben sie angefangen, die Moslems zu töten. Das ist der Anfang des gegenwärtigen Kosovokrieges. Wenn wir es nicht als ein Generationen übergreifendes Gedächtnis betrachten, können wir diesen Krieg nicht stoppen, und wir können nicht verstehen, was da vor sich geht.

Was mich an der Arbeit von Hellinger fasziniert, von dem wenigen, das ich bisher gesehen habe, ist, wie schnell er eine Familie aufstellt und die sich erinnern, was vorher dort war. Ich arbeite an post-traumatischen Wirkungen der letzten Kriege von 1914, 1870, der Französischen Revolution, der Guillotine und sogar der Kreuzzüge. Wenn man mit Familien arbeitet, die beeinträchtigt sind und Probleme haben, müssen wir oft 100, 200, 500 oder sogar 900 Jahre zurückgehen, bis wir plötzlich sehen, was das Problem ist und es dort lösen. Wir bitten um Verzeihung für das, was in den Kreuzzügen geschah oder in der Französischen Revolution oder während des Krieges. Dann sind die Menschen wirklich von ihren Problemen geheilt, zum Beispiel Krebs im Endstadium, Tuberkulose, Asthma und viele andere Leiden.

Ich hoffe also, daß wir durch dieses Podiumsgespräch mehr von dem verstehen, was einer meiner Lehrer, Moreno, das Familien- oder Gruppenunbewußte nannte, was den morphogenetischen Feldern von Sheldrake und der Arbeit von Hellinger sehr nahe kommt. Ich hoffe, daß dieses Gespräch uns hilft, das besser zu verstehen.

BEAUMONT zu HELLINGER Das wäre vielleicht der Ort, etwas mehr über deine Gedanken über die Seele zu sagen. Daß wir eher in einer Seele sind, als daß wir eine haben.

HELLINGER In der Arbeit mit Familienaufstellungen sahen wir Verbindungen zu den morphogenetischen Feldern, denn bestimmte Erinnerungen wirken in späteren Generationen weiter. Wenn es in der Familie jemanden gab, der ein schweres Leben hatte oder traumatische Lebensumstände oder der auf tramautische Weise starb, dann wird das in einer späteren Generation wiederholt. Dahinter kann man bestimmte Gesetze oder Muster erkennen, nach denen sich das wiederholt.

Ich bringe ein Beispiel der jüngsten Zeit aus einer Supervisionsgruppe. Ein Therapeut hat die Familie eines Klienten aufgestellt. Der Mann hatte seine Frau umgebracht, die beiden Töchter wurden von der Schwester seiner Frau aufgenommen. Die beiden Kinder verhalten sich sehr verstört. Wir haben also den Mann aufgestellt, die Frau, die beiden Kinder und die Schwester der Frau. Die Frau verhielt sich sofort sehr ängstlich und floh zu ihrer Schwester um Schutz. Der Mann stand abgewandt, er wollte weggehen. Er hatte sich nach dem Mord an seiner Frau selber umgebracht. Ich habe sie sich der wirklichen Situation stellen lassen. Ich habe daher die Frau sich auf den Boden legen lassen, um zu zeigen, daß sie nicht mehr lebt, sondern tot ist. Sie kann nicht mehr zu ihrer Schwester fliehen, um Schutz zu finden. Ich habe also diese Wirklichkeit ins Spiel gebracht. Dann habe ich den Mann sich umdrehen und seine tote Frau anschauen lassen. Er hat zu ihr geschaut, war aber ganz starr. Ich habe ihn tief atmen lassen. Plötzlich brach ein ganz tiefer Schmerz aus ihm heraus, ein unglaublicher Schmerz. Er fiel auf seine Knie, schaute die Frau an und schluchzte. Erst dann hat er seine Frau wirklich anschauen können. Dann habe ich ihn sich neben die Frau legen lassen, denn das war die Wirklichkeit. Er war ja auch tot. Die beiden wandten sich einander zu mit tiefer Liebe. Das ist seltsam, daß sie nach all dem in tiefer Liebe vereint waren. Von daher konnte ich schließen – ich hatte ähnliche Erfahrungen auch in anderen Aufstellungen, die sogar noch traumatischer waren – daß, wenn beide sich als Tote begreifen, rücken sie zusammen.

Um nun zum Beispiel des Kosovo zurückzukommen: Wenn die Serben alle ihre toten Soldaten über die Jahrhunderte hinweg Seite an Seite mit den toten Moslems anschauen könnten, wenn man das z. B. in einer Aufstellung darstellen würde, dann könnten sie die seltsame Bewegung sehen, daß die Toten sich aufeinander zu bewegen und sich miteinander vereinen mit tiefer Liebe und so Frieden finden.

Diese Bewegung ist für mich nur möglich, wenn Täter und Opfer sich beide im Dienst von Kräften wissen, die jenseits von ihnen wirken. Wenn beide auf diese größere Kraft schauen, hört die Feindschaft zwischen ihnen auf. Sie werden demütig innerhalb dieser größeren Kraft. Das, was sie so verbindet, nenne ich die größere Seele. Ich habe keinen besseren Namen dafür. Aber sie reicht über die Felder hinaus.

zu SHELDRAKE Sie kennen ja auch eine Kraft jenseits der Felder. Das Feld ist mehr statisch, die Seele ist etwas, das steuert. Sie steuert den Lauf der Geschichte und des persönlichen Lebens. An dieser Seele haben wir Anteil. Statt daß wir eine Seele haben, haben wir Anteil an ihr. Diese Seele wirkt auf verschiedenen Ebenen. Im Vordergrund wirkt eine Ebene von harten Gesetzen. Diese werden in solchen Kriegen ausgelebt. Unter dieser Ebene wirkt eine ganz andere.

Wenn ich z. B. eine Familie aufstelle, vielleicht auch nur zwei Personen, und ich überlasse sie dem, was abläuft ohne einzugreifen, dann werden die manchmal von einer Kraft ergriffen, die sie die Wirklichkeit begreifen läßt und sie zu einer Lösung führt, die weit über jene Gesetze reicht, die im Vordergrund gelten. Wenn wir diese Ebene der Seele erreichen, erreichen wir auch das, was heilt. Das wäre mein Statement.

Eines ist noch zu der ersten Konstellation nachzutragen. Die beiden Töchter waren sehr verstört. Die eine war voller Haß. Es war deutlich, sie wird eine Mörderin. Sie wollte zu ihrem Vater. Die andere war auf andere Weise verstört. Sie wollte ein Opfer sein. Ich habe sie beide sich neben ihre Eltern legen lassen. So wurden sie mit ihnen vereint. Danach konnten sie aufstehen. Die eine fühlte keinen Haß mehr, die andere keine Verzweiflung mehr. Dann konnten sie sich von den Toten wegwenden, hin auf das Leben. Das wäre hier die Lösung. Ich habe jetzt lange geredet, andere sind nun dran.

SHELDRAKE Mich hat das sehr interessiert, vor allem das Thema der heilenden Kraft und der größeren Seele. Ich denke, die Seele hat Ähnlichkeiten mit dem Feld, aber das Feld ist etwas, das die Gewohnheiten aufrecht erhält und die Stabilität des Systems bewahrt, so wie es ist. Wie Sie richtig gesagt haben, das Feld hat von sich aus nicht die Macht zu heilen. Jede Sprache hat ihre eigenen Worte. Im Englischen würden wir für Seele das Wort "spirit" (Geist) gebrauchen. Die bewegende Kraft ist für uns eher der Geist. Im Deutschen hat das eine umfassendere Bedeutung. Das, was steuert, etwas verändert, etwas heilt, ist für uns traditionell der Geist. Seele bedeutet für uns mehr das, was Stabilität gibt und Form und Struktur. Könnten Sie den Geist auch als etwas sehen, das durch die Seele wirkt?

HELLINGER Ja. Für mich ist die Seele begrenzt, obwohl ich sie sehr weit und tief verstehe. Der Geist reicht darüber hinaus. Das Reich des Geistes bleibt für mich ein Geheimnis, das Reich der Seele ist beobachtbar. Die Gesetze, die dort herrschen sind beobachtbar, sowohl die Gesetze, die zerstören, als auch die Gesetze , die zu Lösungen führen. Daher hüte ich mich, der Seele eine göttliche oder religiöse Qualität zuzuschreiben. Das Religiöse reicht für mich weit darüber hinaus. Das wäre das Reich des Geistes. Ich unterscheide also zwischen diesen beiden Bereichen.

SHELDRAKE Ich würde dem auch zustimmen, daß die Seele begrenzt ist und der Geist weniger oder überhaupt nicht begrenzt. Aber irgendwie muß der Geist durch die Seele wirken, muß sie berühren, wenn die Kraft des Geists durch die Seele und in der Seele wirken soll. Der Geist ist ein Geheimnis, aber wie sehen Sie den Geist durch die Seele wirken, oder ist er für Sie von ihr völlig getrennt, etwas, das nichts mit der Seele zu tun hat?

HELLINGER Nein, das würde ich nicht. Ihrer Beschreibung kann ich zustimmen, denn die Seele kann nicht unabhängig von dem wirken, was hinter ihr wirkt.

MAHR Ich möchte Madame Schützenberger etwas fragen. Sie haben gerade etwas über den Hintergrund des Kosovo-Konfliktes gesagt. Daß Sie in ihm eine Art Jahrestag-Syndrom sehen. Sie sagen, daß dieser Konflikt nicht gelöst werden kann, ohne daß man auf diese Dynamiken schaut. Diese Zusammenhänge sind bekannt.

SCHÜTZENBERGER Ja, bekannt aber vergessen.

MAHR Meine Frage wäre nun: Haben Sie eine Vorstellung, wie dieses Wissen eingesetzt werden kann, um diesen großen Konflikt zu lösen?

Es gibt da für mich eine Lücke. Auf der einen Seite geschieht etwas mit enormer blinder Kraft. Auf der anderen Seite haben wir dieses Wissen um das Jahrestag-Syndrom. Haben Sie eine Vorstellung wie man das überbrücken könnte?

SCHÜTZENBERGER Ich glaube, da ist etwas in den Büchern von einem Ungarn. Sein Name ist Boszormeny-Nagy. Er hat darüber geschrieben, wie man Schulden ausgleicht. Ich sehe, im Kosovo gab es Verrat. Der Sultan wurde umgebracht durch Verrat. Der Serbische Prinz wurde durch Verrat umgebracht.

MAHR Es war ein gewisser Milos.

SCHÜTZENBERGER Nein 600 Jahre früher.

MAHR Ja, ich weiß. Es war ein gewisser Milos.

SCHÜTZENBERGER Das Problem ist, daß man dafür auf symbolische Weise um Verzeihung bitten müßte. Das kann getan werden.

Der König von Spanien bat die Juden in Jerusalem um Verzeihung für das , was den Juden durch die Inquisition in Spanien angetan wurde. Der Bürgermeister von Salem ging auf den Friedhof, um die Hexen um Vergebung zu bitten, die dort vor vielen Jahren verbrannt wurden. Daher denke ich, daß etwas symbolisch getan werden sollte, um das Leid zu überwinden und anzuerkennen, daß unsere Vorfahren Unrecht taten.

Manchmal ist das sehr schwierig. Ich möchte die Gelegenheit benutzen, um Sheldrake oder Sie beide zu bitten, mir zu helfen, dieses Rätsel zu lösen. Ich will das erläutern. Haben wir genug Zeit?

MAHR Ja, haben wir.

SCHÜTZENBERGER Etwas passierte einer meiner Klientinnen, und ich weiß nicht, was zu tun. Eine Frau bat mich, mit ihr eine Tragödie zu bearbeiten, denn ihr Cousin wurde durch einen Lift in Paris getötet. Gewöhnlich, wenn man einen Lift benutzt, passiert nichts. Man macht das jeden Tag. Aber dieser junge Mann wurde durch den Lift getötet. Er hat die Tüte zum Lift geöffnet, da war aber kein Lift. Er hat nach ihm geschaut. In diesem Augenblick kam der Lift und hat ihm den Kopf abgerissen. Es war also ein tragischer Unfall. Der junge Mann war 18 Jahre alt. Das alles war schwer zu verstehen.

Also habe ich es in den Rahmen der Familie und der Geschichte gesetzt. Ich sagte, das hat etwas mit den Königen zu tun. Ich fragte: Was war das Datum. Das Datum war der 6. Januar. Das ist für die Christen das Fest der Heiligen Drei Könige. In Frankreich haben wir an diesem Tag einen besonderen Kuchen. Man geht zum Bäcker und holte ihn und hat eine Krone mit einem besonderen Stein darin. Und dann spielt jemand den König und jemand die Königin. Dieser junge Mann hatte an diesem Tag keine Krone. Er ging zum Bäcker, um die Tasche mit der Krone zu holen, und kam dabei ums Leben.

Ich fragte: Gibt es eine Verbindung zur Französischen Revolution? Es gab eine. Der Ururgroßvater war der erste, der während des Terrors für den Tod von Ludwig XVI. gestimmt hat. Anschließend hat der sich schuldig gefühlt. Der König wurde nämlich mit einer Stimme Mehrheit zum Tode verurteilt. Daher fühlte sich der erste, der dafür stimmte schuldig, weil er vielleicht den Ausschlag gab. Nun wurde der Ururenkel dieses Mannes am Tag der Könige durch den Lift getötet. Wie kann so etwas passieren?

Ich habe viele ähnliche Fälle gesehen. Ich frage mich, wie solche alten Erinnerungen weiterwirken und jemand für etwas bestraft wird, was seine Ahnen taten. Ich frage mich, ob Ihr eine Antwort dafür habt.

SHELDRAKE Ich habe keine Antwort, aber es gibt mehrere alternative Hypothesen. Eine ist ein geheimnisvolles unbewußtes Gedächtnis, das sich an Orte, Daten und Todesumstände erinnert, und das so etwas bewirkt. Mir scheint das sehr geheimnisvoll.

Die andere Hypothese wäre: Als der König enthauptet wurde, gab es sehr viele, die dagegen waren. Wenn es nur eine Stimme Mehrheit gab, gab es sicherlich viele Menschen, die denen, die das taten, Böses wünschten. Liegt die Ursache daher in der Familie des Täters, oder liegt sie im Rachebedürfnis derer, die gelitten haben? Liegt die Ursache also bei einem unbewußten Gedächtnis, oder ist es die Folge eines Fluches. In manchen Fällen wird so ein Fluch bewußt ausgesprochen.

Das sind also zwei entgegengesetzte Hypothesen. Der Fluch ist die aktivere Hypothese. Er ist weniger geheimnisumwittert. Denn hier haben wir die Projektion einer bösen Absicht, die vielleicht auch auf geheimnisvolle Weise später ein Muster von Rache auslöst.

Was denken Sie über diese Fluchtheorie?

SCHÜTZENBERGER Ich habe so etwas häufig beobachten können, vor allem in der französischen Königsfamilie, daß ein Fluch sich hundert und zweihundert Jahre später ausgewirkt hat. Aber in dem Fall, den ich berichtet habe, geschah es nicht durch einen Menschen, sondern durch einen Lift. Niemand hat einen Knopf gedrückt, um den Mann zu töten. Es ist einfach passiert. Doch es gibt auch die Wirkung von Fluch.

SHELDRAKE Wenn man an Gebete, Segenssprüche und Flüche denkt, sieht man, daß sie, obwohl sie in erster Linie menschliche Absichten beinhalten, doch auch Handlungen setzen, die nicht nur durch andere Personen wirken, sondern auch durch die Natur. Sonst würden ja Leute nicht täglich beten und an Sonntagen etwas tun, was die menschliche Ebene übersteigt. Wir müssen also annehmen, daß zumindest auf der Ebene traditionellen Glaubens diese Intentionen nicht nur durch Menschen wirksam sind.

Ich stelle mir vor, daß jede Form von Intention reine Zufallsereignisse beeinflußt. Ich denke, der einzige Weg, auf dem eine Intention oder sagen wir ein morphisches Feld in der Welt wirkt, ist, daß unbestimmten Ereignissen von außen Muster auferlegt werden. Vielleicht gibt es in der Mechanik des Liftes etwas, daß vom Zufall abhängt, wenn etwas schief läuft. Dieser Zufall könnte so beeinflußbar sein. Das ist es, was ich am ehesten als allgemeines Modell beitragen kann. Bert hat vielleicht ein anderes.

HELLINGER Viele Jahre habe ich mit der Annahme gearbeitet, daß der Einfluß von Ereignissen nicht weiter als 4 Generationen zurück reicht. Erst, als ich von Ihrer Arbeit gehört habe, habe ich noch weiter zurückgeschaut. Sie hat meine Sicht sehr erweitert. Albrecht hat uns mit dieser Sichtweise bekannt gemacht.

Ich habe eine Beobachtung gemacht, die jetzt noch erweitert werden kann, daß wir ein unbewußtes Gewissen haben, das nach bestimmten Gesetzen vorgeht. Diese Gesetze habe ich beschrieben. Das erste ist, daß dieses unbewußte Gewissen die Vollständigkeit der Gruppe bewahren will. Wenn ein Mitglied ausgeschlossen oder vergessen wurde, wählt diese Gewissen jemand aus einer späteren Generation, um diese Person zu vertreten. Diese Person lebt noch einmal das Schicksal der früheren. Das ist die eine Beobachtung.

Das zweite Gesetz, daß ich beobachtet habe, ist, daß dieses Gewissen einen Ausgleich herbeiführen will zwischen Vorteil und Nachteil. Wenn jemand in einer früheren Generation schuldig wurde, sich aber dieser Schuld nicht gestellt hat, dann wird jemand aus einer späteren Generation die Sühne für diese Schuld auf sich nehmen, z. B. indem er sich umbringt. Wir können das bei den Nazimördern sehen. Viel Nachkommen zwei oder drei Generationen danach sind suizidgefährdet, weil sie das ausgleichen wollen.

Vor kurzem habe ich während einer Familienaufstellung eine Beobachtung gemacht, die auch auf den Kosovo angewendet werden könnte. Wenn wir den toten Opfern und den toten Mördern erlauben, sich in die Augen zu schauen – in einer Familienaufstellung können wir das so arrangieren, daß das möglich ist –dann braucht es nicht einmal einen Eingriff von außen. Dann entsteht eine Bewegung, die sie zueinander führt. Es wird deutlich, daß alles, was die Lebenden als ungerecht empfinden und was daher Sühne verlangt, auf die Toten nicht anwendbar ist. Sie begegnen sich auf einer Ebene, auf der sie wirklich eins sind. Es stört sie daher, wenn die Lebenden etwas auf sich nehmen, was nur die Toten erreichen können.

Die heilende Bewegung ist daher, daß die Lebenden auf die Toten schauen, sie diese Bewegung vollenden lassen. Daß sie noch einmal zurückschauen, sich dann wegwenden und nach vorne schauen. Das wäre die heilende Bewegung auf einer anderen Ebene (als dem Ausgleich). Wenn die Lebenden eingreifen in das, was nur die Toten angeht, hat es für die Lebenden eine schlimme Wirkung.

SCHÜTZENBERGER Ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen, die mich seit Jahren bewegt. Wenn wir auf eine Familie schauen, in der es vielleicht 15 Cousins und Cousinen gibt, aber nur einer von ihnen etwas aus der Vergangenheit übernimmt, ist es die Familie, die das bestimmt, oder macht das diese Person selbst. Haben Sie eine Vorstellung dazu?

HELLINGER Es ist weder noch. Es ist die Familienseele oder das Familiengewissen, das diese Person bestimmt. Es gibt keinen Schuldigen, der das zu verantworten hat. Es ist eine verborgene Kraft, die das fordert, und es ist in der Regel der Schwächste, der es auf sich nimmt.

SCHÜTZENBERGER Ist es der Schwächste oder der Stärkste oder der Schwächere oder der Stärkere in der Familie?

HELLINGER Der Schwächste. Wenn es ein Kind ist, ist es oft das jüngste, das es auf sich nimmt. Es ist das Kind, das dieser Kraft am wenigsten widerstehen kann. Ich will das aber nicht verallgemeinern. Oft ist es auch das erstgeborene Kind, aber es ist immer jemand in einer schwachen Position.

Ich komme nochmals auf die Täter und Opfer zurück. Die Mörder fühlen sich oft groß und sehr stark, wenn sie den Opfern gegenübergestellt werden. Doch in den Familien übernehmen die Schwächsten die Sühne. Wenn die Mörder sich den Opfern stellen müssen, werden die Opfer sehr groß und die Mörder sehr klein. Es wird auf diese Weise auch ein Ausgleich erreicht. Dann sind die Lebenden von der Aufgabe befreit, den Ausgleich herbeizuführen. Das ist daher auch ein heilendes Ritual. Albrecht hat mir erzählt, daß Sie auch heilende Rituale verwenden, um Frieden zu erreichen.

SCHÜTZENBERGER Ich verwende heilende Rituale verschiedenster Art. Manchmal ist es ein christliches Ritual. Ich bitte Leute, eine Messe lesen zu lassen, wenn sie katholisch sind, z. B. eine Totenmesse.

Manchmal machen wir ein Gruppenritual, z. B. eine Schweigeminute für die Toten und die Leidenden. Manchmal das Ritual, einen Baum zu pflanzen, z.B. an einer Straße, wo ein Unfall passierte. Oder Blumen ins Meer werfen, oder eine Kerze anzünden und den Toten sagen, sie können jetzt zur Rechten Gottes treten und Frieden haben. Riten dieser Art.

Oder wir machen ein Psychodrama, indem wir eine kleine Szene spielen. Der Protagonist wählt einen Stellvertreter für den Toten und bittet diesen zu sagen, was er sich wünscht. Seltsame Dinge passieren dabei. Er sagt z. B.: "Ich möchte erinnert werden" oder "Ich möchte einen Baum auf mein Grab gepflanzt haben". Dinge wie diese.

Manchmal ist das sehr bewegend. Ich arbeite auch mit Leuten, die in den beiden letzten Kriegen nahe bei den Toten waren. Oft sagen diese Toten, daß sie erinnert werden wollen, und daß sie wollen, daß so etwas nicht mehr passiert. Wir machen dann ein kleines Ritual, das bewirkt, daß Leute, die Asthma hatten, plötzlich davon befreit waren.

Es ist spannend, das zu sehen. Für mich ist das auch Forschung. Ich bin eine Universitätsprofessorin, daher zitiere ich oft wissenschaftliche Forschungen. Kurt Levin hat am psychologischen Institut der Universität Berlin einen Forschungsauftrag an eine Frau vergeben über unvollendete und vollendete Aufgaben. Diese Frau hat nachgewiesen, wenn eine Aufgabe nicht vollendet ist und die Gestalt nicht geschlossen ist, dann muß diese Gestalt geschlossen werden. Das gleiche gilt für die Erinnerung und unerledigte Aufgaben.

Wir müssen also ein Leiden oder ein Ereignis zu Ende bringen, die 50 oder 200 oder 1000 Jahre zurückliegen. Bevor das nicht erledigt wird, leiden Menschen von Generation zu Generation an diesem Problem. In der Bibel gibt es den Spruch: Die Eltern haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. Und das über 4 bis 10 Generationen. Das geschieht die ganze Zeit. Daher müssen wir die Gestalt schließen und das Trauma beenden.

Hellinger zu Rupert SHELDRAKE Vor einiger Zeit sprachen wir über Orte, an denen immer wieder Unfälle passieren. Sie haben mir erzählt, daß in England viele solche Plätze bekannt sind, und daß sie meistens nahe an alten Schlachtfeldern liegen.

SHELDRAKE Ja.

SCHÜTZENBERGER Oh. Erzählen Sie mir mehr davon.

SHELDRAKE In England nennen wir das schwarze Unfallstellen. Haben Sie einen ähnlichen Ausdruck in Frankreich?

SCHÜTZENBERGER Was ist eine schwarze Unfallstelle?

SHELDRAKE Eine Stelle, an der viele Straßenunfälle passieren. Oft gibt es dort große Warnschilder: "Vorsicht schwarze Unfallstelle". Einige davon sind nahe meinem Haus. Schon als Kind war ich von diesen Schildern fasziniert. Es ist ein Platz wo die Straße etwas hügelig ist. Daher kann man das auch natürlich erklären, z. B. wenn Leute überholen, und es kommt ein Laster von vorne. Es ist eine nicht ganz ebene und gerade Straße. Es gibt also gewisse topographische Eigenheiten. Aber die Stelle ist auch genau am Rand eines Schlachtfeldes, der Schlacht von Stoke 1487, eine der großen Schlachten im Bürgerkrieg in England. Viele Menschen wurden dort getötet. Irische Truppen wurden dort in großer Zahl getötet. Ganz nah an diesem Schlachtfeld ist die schwarze Unfallstelle. Da ist auch eine in Irland. Wir sind mal in Irland in der Nähe des Schlachtfeldes der Schlacht von Boyne gefahren und fanden dort auch ganz in der Nähe ein Warnschild: Schwarze Unfallstelle. Ich bin auf mehrere Beispiele dieser Art gestoßen. Daher denke ich, daß Erinnerungen, die an Orten haften, auch wichtig sind.

Gemäß der Annahme von morphischen Feldern, sind diese Felder nicht beschränkt auf menschliche Gruppen und menschliche Geistestätigkeit, sie sind auch nicht beschränkt auf Tiergruppen. Orte können auch davon betroffen sein.

In der ganzen Welt finden wir Traditionen von Erinnerungen und Orte. Alle Wallfahrten gehen zu Orten, die uns erinnern an etwas, das dort früher geschah.

Es gibt auch Geschichten von Gespenstern und schlimmen Einflüssen in der Nähe von Schlachtfeldern. Daher meine ich, daß jede Hypothese über Erinnerungen auch die Erinnerungen in Betracht ziehen muß, die an Orten haften. Im Augenblick sind diese Daten weitgehend anekdotenhaft. Doch ich wage zu sagen, daß man systematisch solche schwarzen Stellen finden und nach dem historischen Hintergrund fragen könnte.

Natürlich gibt es dabei auch ein positives Feedback. Wenn an einem Ort ein Unfall passierte, dann ist es wahrscheinlicher, daß andere dort wieder einen Unfall verursachen. Daher würde sich auch ohne die Schlachtfelder die Neigung ergeben, daß eine schwarze Unfallstelle immer bedeutsamer wird.

SCHÜTZENBERGER Das ist faszinierend. Ich habe das gleiche mit Daten herausgefunden. Wollen Sie ein Beispiel?

SHELDRAKE Ich zittere schon deswegen, weil der 28. Juni mein Geburtstag ist. Also, erzählen Sie uns ein andres Beispiel. Ich habe nur einen Geburtstag.

SCHÜTZENBERGER Ich nehme wieder eines im Juni, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich nehme ein Beispiel aus der französischen Geschichte, weil ich ja Französin bin.

Während des Krieges erließ General de Gaulle am 18. Juni einen Aufruf, weiterzukämpfen. Was bedeutet der 18. Juni in der Geschichte? Es ist das Datum von Waterloo, wo die Engländer die Franzosen besiegten. 60 Jahre später war die Schlacht von Sevastopol, in der die Engländer und Franzosen gemeinsam gegen die Russen kämpften. Es gab einen britischen und einen französischen General, und sie konnten sich nicht einigen, wer am nächsten Tag die Schlacht anführen sollte. Ich weiß nicht wie sie diese Entscheidung getroffen, ob mit Karten oder Strohhalmen. Jedenfalls fiel das Los auf den französischen General. Sie wurden prompt vor Sevastopol geschlagen, denn es war der 28. Juni.

SHELDRAKE Der 18. Juni.

SCHÜTZENBERGER Verzeihung, ich habe das jetzt mit Ihrem Geburtstag verwechselt. Es hat nichts mit Ihrem Geburtstag zu tun.

Es ist also seltsam, wie sich Ereignisse wiederholen. Nehmen wir nun die Daten der Kreuzzüge. Eine Stadt wurde eines Tages von den Christen eingenommen, und genau hundert Jahre später am gleichen Tag von den Moslems.

Es scheint also, daß Daten sehr wichtig sind. Sie haben von Ereignissen an bestimmten Orten gesprochen. Ich stimme damit überein. Es geschieht das gleiche mit den Jahrestagen.

Sheldrake zu SCHÜTZENBERGER Mit Bezug auf die Jahrestage stimme ich mit Ihnen überein. Ich habe Ihren Artikel über die Daten mit großem Interesse gelesen. Weil Jahrestage so wenig mit den natürlichen Rhythmen zu tun haben, müssen sie etwas sein, das weitgehend im menschlichen Bewußtsein bewahrt wird. In einigen Beispielen berichten Sie, wie Unfälle an Tagen passieren, an denen andere aus der Familie in großen Schachten wie Verdun umgekommen sind.

Mir scheint, daß die Erinnerungen mit dem natürlichen menschlichen Bedürfnis zu tun haben, die Jahrestage zu begehen. Leute gehen auf den Friedhof, legen Blumen auf die Gräber ihrer Vorfahren am Jahrestag ihres Todes oder an ihrem Geburtstag. Viele Familien haben ihre privaten Rituale mit Bezug auf diese Jahrestage. Ich denke, die meisten von ihnen erinnern die wichtigen Tage. Vor allem in der ersten Generation wird das, was an einem bestimmten Tag geschehen ist, an diesem Tag Jahr für Jahr oft erinnert. Mir scheint daher, daß diese Daten dadurch fest in der bewußten Erinnerung einer Gruppe gespeichert werden und später in einem unbewußten Gedächtnis aufbewahrt werden. Die Bedeutung der Jahrestage hängt daher mit dem Bedürfnis zusammen, diese zu erinnern und sie mit bestimmten Ritualen zu begehen. Würden Sie damit übereinstimmen?

SCHÜTZENBERGER Ja, aber ich habe gesehen, daß es oft völlig vergessen wurde.

Kommen wir nun zu freudigeren Ereignissen statt den schlimmen. Ich habe beobachtet, daß Leute 300 oder 400 Jahre später am gleichen Tag geheiratet haben, wie ein Vorfahre. Sie wußten es nicht, bevor sie nachgeforscht haben.

SHELDRAKE Mir scheint, daß eine einfache statistische Analyse der Daten für Heiraten, Todesfälle und vielleicht auch Geburten im Lichte Ihrer Forschungen leicht durchgeführt werden kann. Man braucht nur die Heiratsregister durchzuschauen, um herauszufinden, ob es eine statistische Häufigkeit bestimmter Heiratsdaten in einer Familie gibt. Man könnte das in großem Stil mit Hilfe von Computern und verfügbaren Statistiken machen. So könnte man solche Vorlieben studieren. Ob das jeweils bewußt oder unbewußt ist, müßte man getrennt betrachten. Es gibt da eine Menge Daten, die man statistisch untersuchen könnte.

HELLINGER Für mich ist die Frage wichtig, wie man solche Orte und Daten erlösen könnte, wie man den Fluch aufhebt, der an ihnen haftet. Das ist eine wichtige Frage.

zu Rupert Sheldrake Als wir vor einiger Zeit darüber geredet haben, haben wir bezüglich de Orte an einen Gedenkstein gedacht. Vielleicht könnte man etwas Ähnliches mit den Jahrestagen machen. Ich habe dazu eine bestimme Vorstellung.

SCHÜTZENBERGER Was für eine?

HELLINGER Sie ergibt sich aus Erfahrungen, die ich in letzter Zeit mit Familienaufstellungen gemacht habe. Wenn es einen Gedenkstein auf einem Schlachtfeld gibt, müßte er zu Ehren aller Toten dort errichtet werden. Das wäre wichtig. Wenn es nur die eine Partei macht, hilft es wenig. Ich könnte mir z.B. vorstellen, wenn alle Toten der Schlacht von Waterloo durch einen solchen Gedenkstein erinnert und geehrt würden, dann würde auch der Fluch auf dem Jahrestag gemildert.

SHELDRAKE Im Falle der Schlacht von East Stoke, die nahe meiner Heimat stattfand und nahe an der schwarzen Unfallstelle in Nottinghamshire liegt, habe ich dem Pfarrer von East Stoke vorgeschlagen, ein Requiem am Jahrestag der Schlacht zu zelebrieren. Es gibt dort einen örtlichen Verein, der diese Schlacht noch einmal feiert. In England haben wir diese Vereine die solche Schlachten spielen. Sie tragen die alten Uniformen und spielen die Schlachten der englischen Geschichte. Das machen sie vor allem an den Jahrestagen. Es kamen also mehrere hundert Personen zusammen, die diese Schlacht von East Stoke spielen wollten. Die Zeitungen haben viel davon berichtet. Ich habe dem Pfarrer vorgeschlagen, daß er am Ende dieses Tages ein Requiem hält für die Toten beider Seiten, die dort fielen, und auch für die Opfer, die an der schwarzen Unfallstelle ums Leben kamen. Er hat ohne Zögern zugestimmt und fand das einen sehr guten Vorschlag. Ich habe mir nicht die Unfallstatistik danach angeschaut, aber es würde sich lohnen, das zu tun.

BEAUMONT Vielleicht ist jetzt die rechte Zeit für Fragen aus dem Publikum, um so diesen Tag abzurunden.

TEILNEHMER Sie drei haben auch über den Kosovo Konflikt gesprochen. Frau Schützenberger sprach über ein symbolisches Ritual, ein Vergebungsritual, das die grausame Energie dieses Konfliktes mildern könnte. Und du, Bert, hast uns in deinem Vortrag heute abend gesagt, daß du dagegen bist, den Kosovo Konflikt in Form einer Familienaufstellung sichtbar zu machen. Ich sehe darin einen Widerspruch. Meine Frage ist, ob es möglich wäre, diesen Konflikt so aufzustellen, daß es zu einem vergebenden Ritual wird, vielleicht mit den Leuten in diesem Saal, so daß diese negative Energie, von der Frau Schützenberger gesprochen hat, abnimmt.

HELLINGER Ich meine, daß eine Familienaufstellung nicht die Wurzeln dieses Konflikts und eine Lösung darstellen könnte. Das ginge über unsere Kräfte. Deswegen bin ich dagegen.

zu SCHÜTZENBERGER Doch inspiriert von dem, was Sie dazu gesagt haben, kann ich mir vorstellen: Es wäre ein heilendes Ritual, wenn der Prinz Lazar und der Sultan im gleichen Denkmal beigesetzt würden.

BEAUMONT Andere Fragen?

TEILNEHMERIN Mich hat die Geschichte der Jahrestage fasziniert und was Frau Schützenberger dazu gesagt hat. Ich habe an den 9. November gedacht, den Tag der Reichskristallnacht. Es war auch der Tag an dem die Berliner Mauer geöffnet wurde. Das eine war ein schlimmes Ereignis, das andere ein freudiges. Haben sie dazu etwas zu sagen?

SCHÜTZENBERGER Ich weiß leider zu wenig über die deutsche Geschichte, um dazu etwas zu sagen. Vielleicht kann Herr Hellinger.

SHELDRAKE Ich könnte etwas dazu sagen. Ein Datum, das mich besonders interessiert ist der 10. November. Daher habe ich ein Interesse am Datum des 10. und des 9. November. Es gibt da mehrere Daten zusammen. Der 10. November ist der Vorabend des Festes des heiligen Martin. Es ist ein wichtiges Datum in der Geschichte der Naturwissenschaft. An diesem Tag hatte René Descartes in Deutschland die Vision von der Welt als einer großen Maschine. Er war am 10. November 1619 im Winterquartier in Neuburg an der Donau, als er die Vision von der ganzen Welt als einer Maschine hatte. Es war die erste Vision von der Welt allein als Materie in Bewegung. Es war der Anfang der mechanistischen Weltbetrachtung, die Grundlage der wissenschaftlichen Revolution. Descartes dachte, sie sei ihm vom Engel der Wahrheit geoffenbart worden. Er glaubte auch, daß die schwarze Madonna sie inspiriert hatte. Er machte sich auf eine Wallfahrt nach Loretto in Italien, um für diese Vision zu danken. Diese Vision war für ihn sehr bedeutsam, ein leuchtendes Ereignis, gefolgt von drei Tagen verwirrender Träume.

Jedenfalls war ich immer sehr interessiert am Datum des 10. November und der Ereignisse in Deutschland um dies Datum herum. Da ist natürlich auch das Datum des Waffenstillstandes am 11. November, das in England mit einer Schweigeminute zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs begangen wird.

Die Daten vom 9.-11. November haben zu tun mit dem römischen Marsfest. Sankt Martin mit dem roten Mantel ist ein christianisierte Version des Marsprinzips. Es ist eine alte Ansammlung militärischer Feste. Descartes war zur Zeit seiner Vision ein Soldat. Genau ein Jahr später rückte er in der Schlacht vom Weißen Berg in Prag ein, mit der die Gegenreformation begann, um das Regime des Winterkönigs zu beenden. Es war der Anfang des Dreißigjährigen Krieges in Europa. Es ist also eine sehr interessante Ansammlung von Daten.

Ich war so davon fasziniert, daß ich vor einigen Jahren mit einigen Freunden aus München am 10. November nach Neuburg gereist bin. Wir haben dort eine kleine Feier veranstaltet und haben gebetet, um über die Vision von Descartes hinaus zu gelangen. Es war ein kraftvoller Ort und eine kraftvolles Datum, um das zu tun. Jedenfalls habe ich viel über diese Tage im November nachgedacht.

Sicherlich gibt es da noch mehr bezüglich dieser Tage zu entdecken, vor allem in Deutschland. Aber sie haben auch eine allgemeine Bedeutung wegen des militärischen Zusammenhanges. Auch sind sie Teil des allgemeinen Totengedenkens, daß mit Hallowe’en am 31. Oktober beginnt, gefolgt vom Fest Allerheiligen und Allerseelen und dem Gedenken an die Gefallenen.

Zu diesem Zeitpunkt begann auch das keltische Jahr. Er hat zu tun mit dem Totengedenken und Bruch in der Zeit, an dem die Toten wieder gegenwärtig werden. Deswegen verkleiden sich Leute am Fest Hallowe’en als Hexen, Skelette und Geister. Diese Festperiode dauert vom 31. Oktober bis Mitte November.

MAHR Wir können hier diesen erfolgreichen Abend beenden. Danke, daß Ihr hier wart.

© 2003 Bert Hellinger International