Conrad Schuhler

 

Globaler Kapitalismus im "Krieg gegen den Terror"

I. Das Afghanistan-Komplott

Der Krieg gegen Afghanistan, laut US-Präsident Bush Ouver-türe im "nie endenden Krieg gegen den Terrorismus", begann nicht nach den Attentaten auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11.9.2001. Der Krieg gegen die Taliban begann am 12. Februar 1998 vor dem "Subcommittee on Asia and the Pacific" des Abgeordnetenhauses zu Washington, DC. Dort trug der Vizepräsident der Unocal Corporation, John M. Maresca, die Vorstellungen seines Konzerns zur künftigen US-Strategie hinsichtlich Zentral-asiens vor. Mr. Maresca wies die Abgeordneten zunächst darauf hin, dass es sich bei Unocal um eine weltweit führende Gesellschaft zur Entwicklung von Energieprojekten handele. Und fuhr fort: "Ich gratuliere Ihnen, dass Sie sich auf die Öl- und Gasvorkommen in Zentralasien konzentrieren und auf die Rolle, die diese bei der Formung der Politik der USA spielen." Drei Aufgaben stellte der Erdölmanager der künftigen US-Politik: erstens müssten schnell Pipelines für die riesigen Öl- und Gasresreven in Zentralasien gebaut werden; zweitens müssten die USA dafür sorgen, dass in der Region neue politische Strukturen geschaffen werden, "einschließlich Afghanistans"; drittens müsste dort auf Dauer ein positives Inves-titionsklima geschaffen werden. Anschaulich führte Mr. Maresca den Abgeordneten vor Augen, dass die Sowjetunion ihre Pipelines rund um das Kaspische Meer nach Norden und Westen in ihre Zentren geführt hatte. Der Markt der Zukunft aber liege in Asien, im Süden und Osten Zentralasiens. Deshalb müssten die Pipelines nach Süden zum Indischen Ozean geführt werden. Da der Iran nicht kooperiert, "ist die einzige andere Möglichkeit, eine Pipeline durch Afghanistan zu bauen". Nun kommt der Konzernchef zum Punkt: "Von allem Anfang an haben wir klar gemacht, dass die Pipeline, die wir durch Afghanistan legen wollen, nicht gebaut werden kann, bevor dort eine anerkannte Regierung im Amt ist, die das Vertrauen von Regierungen, Kreditgebern und unserer Firma genießt." (Vgl. http://www.rense.com)

Die Taliban hatten sich zu diesem Zeitpunkt das Vertrauen von Unocal gänzlich verscherzt. Dabei hatte die Beziehung geradezu herzlich begonnen. Seit 1995 betrieb Unocal den Plan, Öl- und Gaspipelines von Turkmenistan durch Afghanistan zu pakistanischen Häfen am Indischen Ozean zu legen. Um eine stabile und solchen Plänen aufgeschlossene Regierung zur Verfügung zu haben, brachten die CIA und der pakistanische Geheimdienst 1996 die Taliban an die Macht. Taliban-Führer waren bei Unocal in Houston zu Gast, und ein US-Diplomat vertraute einem Journalisten an, "die Taliban werden sich wahrscheinlich so entwickeln wie die Saudis. Da wird es US-Pipelines geben, einen Emir, kein Parlament und eine Menge an Sharia-Gesetzen. Damit können wir leben." (The Guardian, 23.10.2001). Unocal und die US-Diplomatie sollten sich irren, die Taliban schlugen einen US-feind-lichen Kurs ein, und der Energiekonzern sah sich gezwungen, von der US-Regierung eine neue Staatsgewalt in Afghanistan zu fordern, die das Vertrauen der Firma rechtfertigen würde.

Die CIA erfindet den islamischen Terror

Die Erwartungen der Ölgesellschaft, die USA würden sich bei ihrer Afghanistan-Politik strikt an die Kriterien von Macht und Geschäft halten, hatten eine solide Basis. Nie hatten Demokratie und Menschenrechte für die Strategie der USA auch nur die geringste Rolle gespielt. So ist auch die Behauptung, die USA seien den Widerstandskämpfern in Afghanistan nach der Invasion der Sowjets zu Hilfe geeilt, eine glatte Lüge. Tatsächlich hat die CIA die Mudschahedin – die sie 1996 gegen die Taliban austauschte – schon lange vorher gegen die Regierung in Kabul unterstützt, und die Sowjets hatten Recht, als sie ihre Intervention im Dezember 1979 mit dem Eingreifen der USA begründeten. Auf die Frage, ob er das US-Vorgehen heute bedauere, entgegnet der damalige Nationale Sicherheitsberater von Präsident Carter, Zbigniew Brzezinski: "Was bedauern? Diese geheime Operation war eine hervorragende Idee. Sie hatte den Effekt, dass die Russen in die afghanische Falle tappten, und Sie wollen, dass ich dies bedauere? Am Tag, als die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter, dem Sinne nach: Wir haben jetzt die Möglichkeit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu bescheren." Der französische Interviewer fragt ungläubig nach: "Und Sie bedauern auch nicht, dass Sie islamische Fundamentalisten unterstützt haben, dass Sie zukünftigen Terroristen Waffen und Ausbildung verschafft haben?" Der Sicherheitsfachmann weist ihn zurecht: "Was ist wichtiger für die Weltgeschichte? Die Taliban oder der Kollaps des Sowjetreiches? Einige übergeschnappte Moslems oder die Befreiung von Mitteleuropa und das Ende des Kalten Krieges?" (Le Nouvel Observateur, 15.–21.1.1998)

Wenn der deutsche Außenminister Fischer für die anhaltende Bombardierung Afghanistans mit der Begründung eintritt, "das Kernproblem dieser humanitären Katastrophe ist die Herrschaft der Taliban" (SZ, 18.10.2001), müsste er eigentlich auch dafür plädieren, die Sonderkommandos der Bundeswehr in Richtung Washington in Marsch zu setzen. Es gab in Zentralasien keinen islamischen Terrorismus, bevor ihn die USA als Guerilla gegen die linken Kräfte in Afghanistan geschaffen haben, und diese Terroristen waren so lange "heilige Krieger", wie sie das Geschäft der CIA besorgten. Zur Bedrohung der zivilisierten Menschheit (Gerhard Schröder) wurden sie erst, als sie sich gegen die Interessen der USA wandten. Zu diesem Zeitpunkt, 1998, ist der frühere Präsdienten-Berater Brzezinski nun auch offiziell Berater der Ölindustrie, nämlich der Amoco Corporation (heute BP Amoco). Folgerichtig ernennt der Miterfinder des islamischen Terrorismus nun den "eurasischen Balkan" mit seinem Zentrum Afghanistan zum "Schachbrett, auf dem der Kampf um die globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird" (Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Berlin 1999, S.57). Die Reaktion des amtierenden Präsidenten Clinton, ein paar Cruise Missiles in den Hindukusch zu feuern, konnte der Ölindustrie nicht genügen. Immerhin geht es, nimmt man Zentralasien und den Mittleren Osten zusammen, um mehr als zwei Drittel aller Weltreserven an Öl und Gas. (Die Zeit, 11.10.2001) Die Ölindustrie brauchte nicht nur in Afghanistan, sie brauchte zunächst einmal im eigenen Land eine neue Regierung.

Die Öl-Regierung Bush

Und sie kaufte sich eine, nämlich die Regierung Bush. George W. Bush, dessen Vater George Bush als Präsident seinen Ölkrieg gegen den Irak geführt hat, entstammt einem texanischen Ölclan. Die Ölfirmen pumpten über 33 offizielle Millionen Dollar in den Wahlkampf, fast alles an Bush jr und andere Ölpolitiker. In das Team, das die Amtszeit von Bush vorzubereiten hatte, entsandten die Öl- und Gasfirmen über 20 ihrer besten Manager. Neben dem Präsidenten selbst gehören die wichtigsten Stützen des Kabinetts direkt zur Öllobby: Vizepräsident Dick Cheney war bis zum Wahlkampf Vorstandsvorsitzender von Halliburton, der weltgrößten Zulieferfirma für die Ölindustrie; Halliburton gab Cheney zum Abschied einen Bonus von 36 Millionen Dollar, man schied also als Freunde. Die Sicherheitsberaterin des Präsidenten, Condoleezza Rice, war früher Mitglied des Aufsichtsrats des Chevron-Ölkonzerns, der eine der größten Wahlkampfspenden an Bush vergab, allerdings einen Großtanker, den er zuvor zu Ehren seiner Beraterin auf den Namen "Condoleezza" getauft hatte, wieder umtaufte. Dies reichte jedoch nicht aus, den Eindruck zu verwischen, den das konservative Wochenmagazin "New Republic" so umschrieb: "Das Weltbild der Bush-Regierung ist das Weltbild von Ölmännern." (Vgl. Die Woche, 19.10.2001)

Diese Ölmänner brauchten einen Anlass, eine propagandistische Rechtfertigung, um auf dem "eurasischen Balkan" Remedur zu schaffen. Diesen Anlass bot der 11. September. Stan Goff, ein früherer Lehrer an der Militärakademie von West Point, belegt, dass der 11.9. niemals der Ausgangspunkt für die Militäroperationen der USA und Englands gewesen sein konnte. Ein Feldzug dieser Größenordnung braucht viele Monate Vorbereitung. Die BBC berichtete, dass das Außenministerium von Pakistan schon im Juli 2001 unterrichtet wurde, dass für Mitte Oktober von den USA eine Militäraktion gegen Afghanistan geplant sei. (Vgl. dazu die Web-Seiten von dieoff.org; emperors-clothes.com; globalcircle.com)

Es ist in diesem Zusammenhang keineswegs müßig, sich das unbegreifliche Versagen der US-Sicherheitsbehörden am 11.9. vor Augen zu führen. Zwischen 7.45 Uhr und 8.10 werden vier Flugzeuge entführt, ein beispielloser Vorgang. Doch der Präsident, der Commander-in-Chief, wird nicht informiert, er besucht vielmehr eine Grundschule in Florida. Spätestens um 8.15 Uhr muss den Sicherheitsbehörden klar sein, dass eine schreckliche Katastrophe droht. Um 8.45 Uhr kracht der American Airlines Flight 11 in einen Turm des World Trade Center, 18 Minuten später, um 9.03 Uhr, rast der United Flight175 ungehindert in den zweiten. Erst danach wird Bush in seiner Grundschule informiert, bleibt aber an Ort und Stelle, obwohl der ebenfalls entführte American Airlines Flight 77 im Anflug auf Washington ist. Der Präsident gibt keinerlei Befehle, sondern unterhält sich weiter mit den Grundschülern. Um 9.30 Uhr schließlich tritt der Präsident vor die Medien und erzählt seinem Volk, was es längst im Fernsehen gesehen hat. Zu diesem Zeitpunkt ist der Flug 77 noch zehn Minuten vom Pentagon entfernt, doch werden weder das Weiße Haus noch das Pentagon evakuiert oder sonst Vorsichtsmaßnahmen getroffen, außer dass der Vizepräsident in Sicherheit gebracht wird. Mit äußerster Präzision steuert der Pilot von Flug 77 seine Maschine auf das Verteidigungsministerium, auch er bleibt völlig ungehindert.

Ob Versagen aller dreizehn Geheimdienste der USA oder Verschwörung oder eine Mischung von beidem – die Öl-Regierung der USA konnte endlich loslegen. Niemand würde ihr jetzt noch vorhalten können, sie sei unrechtmäßig im Amt, da sie weder die Mehrzahl der Stimmen noch die rechtmäßige Mehrheit der Wahlmänner erhalten habe, denn jetzt sammelte sich die angegriffene Nation um ihre Führung. Niemand würde ihr Steuer- und Konjunkturprogamm zugunsten der Reichen noch angreifen können, denn nun war dies die Antwort auf den Terror. Und niemand könnte sich jetzt erheben gegen die militärische Kontrolle von Ölquellen und -pipelines und des ganzen globalen Netzwerks der transnationalen Konzerne, denn damit würde nun die westliche Zivilisation stehen und fallen. Der 11.9.2001 bot den USA und ihren konkurrierenden Partnern die Gelegenheit, der ins Gerede gekommenen Globalisierung eine neue Legitimität und vor allem die nötige militärisch-strategische Grundierung zu verschaffen.

II. Machtstrukturen der Globalisierung

1) Die neue Qualität der Globalisierung

"Was die Weltwirtschaft anlangt, so ist sie verflochten" – auf diesem analytischen Niveau des Satirikers Kurt Tucholsky bewegen sich die Verfechter der These, dass Globalisierung kein neues Phänomen sei, sondern nichts weiter als eben die altbekannte Tatsache der weltwirtschaftlichen Verflechtung. Gerne wird auch darauf verwiesen, dass der Außenhandelsanteil am Bruttosozialprodukt Großbritanniens 1913 mit 45% höher gewesen sei als heute. Tatsächlich jedoch handelt es sich bei der Globalisierung unserer Zeit um völlig neue Dimensionen und auch um eine völlig neue Qualität.

Während die Weltproduktion seit 1945 um das Fünf-fache gestiegen ist, wuchs der Welthandel um das Zwölffache (John Gray: Die falsche Verheißung. Berlin 1999, S.78). In Deutschland zum Beispiel gehen heute 30% des gesamten Bruttoinlandsprodukts in den Export. Doch noch drei mal schneller als der Handel mit Gütern und Diensten entwickelten sich weltweit die Ausländischen Direktinvestitionen (ADI), also der Aufbau von Produktionsanlagen im Ausland (Klaus Dörre: Globalisierung – Ende des rheinischen Kapitalismus? In: Dietmar Loch/Wilhelm Heitmeyer: Schattenseiten der Globalisierung. Frankfurt/Main, 2001. S. 67f.) Drei Viertel dieser ADI werden von den 300 größten globalen Unternehmen getätigt, den die Weltwirtschaft bestimmenden Transnationalen Konzernen (TNK). (Werner Biermann/Arno Klönne: Globale Spiele. Köln 2001, S.175) Über 40 der hundert größten TNK realisieren bereits mehr als 50 Prozent ihrer Umsätze im Ausland. (Klaus Dörre, a.a.O., S. 72) Für die TNK geht es dabei keineswegs nur darum, im jeweiligen Ausland Produkte für den dortigen Markt herzustellen, sondern vor allem auch um die globale Diversifierung der Wertschöpfungskette des Konzerns. In ein Produkt, das schließlich weltweit vertrieben wird, gehen produktive Beiträge aus vielen Ländern ein. Während Forschung und Entwicklung und das Geld- und Kreditgeschäft in der Regel im hochentwickelten Heimatland verbleiben, werden zum Beispiel arbeitsintensive Vorgänge eher in Länder verlegt, wo die Arbeitskosten niedrig sind. Die Informationstechnologie ermöglicht die globale Abstimmung des Produktionsverlaufs und damit dem Management, die jeweils günstigsten nationalen Bedingungen an Löhnen, Steuern, Krediten, Subventionen, Transportkosten usw. auszuschöpfen. Diese globale Diversifikation ist so weit fortgeschritten, dass heute bereits ein Drittel des Welthandels sogenannter "intrafirm trade" ist, also innerhalb der TNK selbst stattfindet. (UNCTAD: World Investment Report 2000, S. 17)

Das Ausnutzen der globalen Extraprofite, das ihnen seit 1982 weit höhere Gewinne beschert, als der Rest der Unternehmen aufweisen kann, hat den TNK eine überragende Stellung in der Weltwirtschaft eingebracht: Sie kontrollieren ein Drittel der Weltproduktion und zwei Drittel des Welthandels. (John Gray, a.a.O., S. 89) Mehr als ein Viertel der gesamten Wirtschaftsaktivität der Welt kommt als Einnahmen in die Kassen der 200 größten Konzerne zurück. (Der Spiegel, 30/2001). Ihre wirtschaftliche Potenz misst sich mit denen hochentwickelter Nationalstaaten. Unter den hundert größten Wirtschaftskomplexen der Welt befinden sich 49 Staaten, aber schon 51 Konzerne. Ein Konzern wie General Motors erzielt einen Jahresumsatz, der dem Bruttosozialprodukt Belgiens entspricht.

So gewaltig Umsätze und internationale Warenströme auch geworden sind, so werden sie doch noch weit übertroffen von den Werten, die das internationale Finanzkapital um den Globus bewegt. 98% aller Devisentransaktionen haben überhaupt nichts mit Warenaustausch zu tun, sondern sind in der Regel rein spekulativ. 95% weisen eine Anlagedauer von weniger als acht Tagen auf, beziehen sich also nicht auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes oder irgendein produktives Vorhaben, sondern sollen einen schnellen Schnitt machen im Manipulationsgeschäft mit Währungen und Kursen aller Art. Da die täglich bewegte Summe von 1,2 Billionen Dollar fast doppelt so hoch ist wie Reserven aller Zentralbanken zusammen genommen, ist die Manipulationsmacht des internationalen Finanzkapitals enorm. Da es außerdem in der Regel auf Prozesse setzt, die es selbst nachhaltig beeinflussen kann – die Kursentwicklung von Devisen, Aktien, Rohstoffen usw. – entscheidet das Finanzkapital über das Geschick ganzer Volkswirtschaften und Regionen. Für das Finanzkapital wie für die Trans-nationalen Konzerne ist allerdings entscheidend, dass eine internationale Wirtschaftsordnung hergestellt ist, worin sie sich möglichst ungehindert bewegen können.

2) Die "weichen" Machtfaktoren

Im Zentrum der Globalisierungsstrategie der Reichen Länder stand zunächst die Umfunktionalisierung von Institutionen der Vereinten Nationen zu Werkzeugen der Durchsetzung einer rigiden neoliberalen Weltwirtschaftsordnung. Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) sind zwar formal Sonderorganisationen der UN, de facto aber reine Erfüllungsgehilfen der Reichen Welt. Der IWF kontrolliert über "Supervision" und "Konsultationen" die Währungs- und Finanzpolitik der meisten Länder der Welt, und mit den "Sonderziehungsrechten" reguliert er die Bereitstellung internationalen Geldes. Die USA, Deutschland, Japan, Frankreich und Großbritannien verfügen allein über 40% der Stimmrechte. Ähnlich funktioniert die Weltbank, die jährlich rund 30 Milliarden Dollar für Kapital-hilfe an Entwicklungsländer vergibt. (Vgl. dazu "Real exis-tierende Strukturen internationaler politischer Regulierung" in: BrandBrunnenbräber Schrade StockWahl: Global Governance. Münster 2000, S. 89–128)

Sind IWF und Weltbank die Instrumente für Währungs-, Finanz- und Strukturpolitik, so kommt auf dem Feld des internationalen Handels die WTO zum Zuge. Ihr offizielles Ziel ist die vollständige Liberalisierung des Welthandels durch den Abbau von Zöllen und anderen Handelshemmnissen. Die WTO mit ihren heute 142 Mitgliedsstaaten hat 1994 das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) abgelöst. Zu den wichtigsten Neuerungen zählt die Einrichtung des Dispute Settlement Body (DSB), der Streitfragen rechtsverbindlich schlichtet und auch Geldstrafen und Entschädigungsleistungen fest-legen kann. Nationale Versuche, die eigene industrielle Entwicklung vor dem Zugriff des globalen Kapitalismus zu schützen, können so von der WTO als "unerlaubte Handelshemmnisse" gebrandmarkt und in der Regel zu Fall gebracht werden (a.a.O., S. 105).

Den Gipfel dieser Institutionen, die dem internationalen System die Regeln der neoliberalen Marktwirtschaft, der Demokratie und Menschenrechte nach westlichem Verständnis auferlegen, bilden die G7, die Gruppe der sieben führenden westlichen Industrienationen (USA, Japan, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Kanada; die EU nimmt teil, Russland ist seit 1992 formal als achtes "Mitglied" dabei, hat aber keine Mitentscheidungsrechte). Ohne ein Mandat oder gar die Kontrolle der Vereinten Nationen bestimmen die G7 mittlerweile nicht nur die Grundlagen der internationalen Wirtschaftspolitik, sie legen vielmehr die Parameter für alle relevanten Felder der Weltpolitik fest, von Sicherheitsfragen über den Umweltschutz bis zur Sozial- und Arbeitspolitik.

Mithilfe solcher und vieler ähnlicher nachgeordneter Einrichtungen ist es der Reichen Welt gelungen, dem internationalen System Strukturvorgaben zu verordnen, die es auch ohne die Ausübung direkten Zwangs in der gewünschten Richtung hält. Für diese Herrschaftsausübung mittels "weicher" Machtfaktoren hat die Politologie den Terminus "strukturelle Macht" hervorgebracht. (Vgl. Susan Strange: The Persistent Myth of Lost Hegemony. In: International Organization 41, 1987, S. 551–574) Solche "weiche" Macht kann aber nur funktionieren, wenn ihre ideologischen Grundlagen von den Unterworfenen anerkannt werden: die Werte des Westens wie Pluralismus, Individualismus und materieller Eigennutz als prägende Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens müssen als "universal", als überall und für jedermann verbindlich, anerkannt werden. Sobald dies nicht mehr gewährleistet ist, müssen "weiche" von harten Machtfaktoren abgelöst oder zumindest ergänzt werden.

3) Die "harten" Machtfaktoren der "neuen Weltordnung"

Von der Prägekraft seiner Werte war der Westen allerdings immer nur im Verbund mit den härtesten aller Machtfaktoren überzeugt. Seine "neue Weltordnung" verkündete der damalige US-Präsident George Bush im Januar 1991 als Erläuterung der Bombenangriffe auf den Irak, dem umfangreichsten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg der USA. Die USA hatten den Irak hoch gerüstet und zum Krieg gegen den Iran gedrängt und ihn dabei auch mit Aufklärung und direkten Militäraktionen unterstützt. Als Saddam Hussein dennoch die eigenen Ölvorräte selbst vermarkten wollte, wurde er zum "Wiedergänger Hitlers", und der Irak wurde zunächst mit Bomben und dann mit einem Embargo belegt, was möglicherweise zwei Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Für Bush gehörte dies zur "großen Idee", worin "verschiedene Nationen sich in einer gemeinsamen Sache vereinen, um die universellen Hoffnungen der Menschheit zu verwirklichen: Frieden und Sicherheit, Freiheit und die Herrschaft des Rechts" (vgl. Leo Mayer/Fred Schmid: "Kollektiver" Kapitalismus. Manuskript, S. 1. Das Buch "Die Macht der Multis" erscheint im Frühjahr 2002 im Neue Impulse Verlag, Essen.) Die USA, sagte Bush damals, "fühlen sich berufen, die Welt aus dem Dunkel und dem Chaos der Diktatur zur Verheißung besserer Tage zu führen".

Auf welchem Wege man zur Verheißung gelangen würde, erklärte dann der Nachfolger Bill Clinton. In seiner Stellungnahme zur "NationalSecurityStrategyof Engage-ment and Enlargement" stellte der US-Präsident 1994 fest: "Unsere nationale Sicherheitsstrategie besteht darin, die Gemeinschaft der Marktdemokratien zu vergrößern und gleichzeitig eine Reihe von Bedrohungen gegen unsere Nation, unsere Verbündeten und unsere Interessen abzuwehren." (Vgl. Biermann / Klönne, a.a.O., S. 152). Der Mann aus Arkansas, den mancher wegen seiner Frauengeschichten zu Unrecht für einen Liberalen hält, sprach Klartext: nicht um "die universellen Hoffnungen der Menschheit" ging es, sondern um die Schaffung neuer "Marktdemokratien"; nicht um die "Verheißung besserer Tage", sondern um "unsere Interessen". Zum ersten Mal verbanden die USA ihre "nationale Sicherheitsstrategie" offen mit dem Umsturz von Gesellschaftssystemen, die nicht in den Entwurf der imperialistischen Globalisierung passten: mehr Länder mit Marktdemokratie sollten her. Drei Jahre später legt Clinton seine "National Security Strategy for a New Century" vor, worin nun alle Instrumente exakt auf die Bedürfnisse einer möglichst störungsfreien Globalisierung ausgerichtet sind: Erstens müsse man gerüstet sein, regionale Konflikte, Terrorismus und Drogenhandel zu bekämpfen, die deshalb schädlich seien, weil US-Wohlstand und US-Arbeitsplätze von einer weltweit stabilen Wirtschaft abhingen; zweitens müsse man die US-Armee umrüsten von einer Armee, die zwei Großkonflikte gleichzeitig führen könne, auf eine Streitkraft, die an vielen Punkten der Welt den jeweils sehr individuellen Herausforderungen gewachsen sei, die also jederzeit auf jede Herausforderung mit den nötigen Eingreiftruppen reagieren könne. (A.a.O., S. 169f.)

Kernstück dieser Strategie ist das Konzept der "strategischen Kontrolle", mit der "angestrebt werden (soll), sich durchsetzen zu können, ohne wie bisher das gegnerische Territorium zu besetzen. Vielmehr soll mittels einer gründlichen Durchleuchtung des Gegners die Möglichkeit geschaffen werden, durch eine präzise Zerstörung der militärischen, industriellen und politischen Ressourcen den Gegner zu besiegen. Das soll durch den Einsatz der Luftwaffe geleistet werden. Bei Kampfhandlungen werden Bodentruppen kaum benötigt, höchstens im Rahmen der politischen Lösungen." (Paul-Marie de la Gorce: A New Balance of Power: Moving Targets. Le Monde Diplomatique (English Edition), September 2000. Zitiert nach Biermann/Klönne, a.a.O., S. 166) Zur strategischen Kontrolle der einzelnen Konflikte addierten die USA die strategische Kontrolle des Globus schlechthin: Mit dem NMD, dem Nationalen Raketen-Programm, wollen die USA einen undurchdringbaren Schild um sich legen und gleichzeitig auch ihre Partner gegen jeden Raketenangriff sichern, weil sie überall auf der Welt die Raketen schon beim oder sogar schon vor dem Abschuss ihrerseits vernichten würden. Ein perfektes Programm für den globalen Sheriff und Scharfrichter in Personalunion.

Parallel zu den USA qualifizierte die NATO ihre eigene Verteidigungsdoktrin. 1991 – wir erinnern uns: Golfkrieg, die neue Weltordnung von US-Päsident Bush – stellte auch die NATO ein "Neues strategisches Konzept" vor. Das "Verteidigungsbündnis" entdeckt völlig neue "Sicherheitsrisiken": die "Verbreitung von Waffenvernichtungswaffen, Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen sowie Terror- und Sabotageakte". (Vgl. Mayer/ Schmid, a.a.O., S.28) 1999 schließlich, es ging um die Vorbereitung des Angriffs auf Jugoslawien, warf die NATO alle Fesseln von sich. Jetzt sollte es gar nicht mehr um die Verteidigung des NATO-Gebiets gehen, sondern um die Durchsetzung von "gemeinsamen Werten", von "Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit", wo auch immer in der Welt nach dem Befund der NATO solche Werte in Gefahr sein sollten. Der deutsche Außenminister Fischer wird seit dem Nato-Krieg gegen Jugoslawien nicht müde darauf hinzuweisen, dass die "westliche Wertegemeinschaft" aufgerufen sei, einneues "Auschwitz" zu verhindern. Mit dieser beispiellosen Relativierung des Nazi-Völkermords haben es Fischer und Co. verstanden, das deutsche Volk nach und nach kriegsbereit zu stimmen. Beim Golfkrieg waren nur 17Prozent für den Einsatz deutscher Bodentruppen vor Ort, beim Kosovo 19Prozent und jetzt gegen Afghanistan wünschen sich schon 58Prozent der Deutschen eigene Truppen im Hindukusch. (Spiegel, 41/2000).

Indem die NATO sich selbst das Recht zuspricht und auch in die Hände nimmt, im Auftrag der Menschheit zu handeln, hebelt sie natürlich das Privileg der UN aus, in eben diesen Fragen tätig zu werden. In Art. 53, §1, Satz 2 der UN-Charta wird zwar ausdrücklich verboten, ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates der UN Zwangsmaß-nahmen auf Grund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen zu ergreifen. Dies hat aber zum Beispiel die NATO beim Angriff auf Jugoslawien nicht gestört, sie hat sich selbst "mandatiert". Wahrscheinlich ging sie davon aus, dass Russland, das als Ständiges Mitglied des Sicherheitsrates sein Veto hätte einlegen können, Schwierigkeiten machen würde. In solchen Fällen müssen die weltweiten Verfechter der Menschenrechte natürlich Ausnahmen von den demokratischen Regeln machen. Normalerweise ist das seit dem Zusammenfall des Realsozialismus nicht mehr nötig, da der Sicherheitsrat der UN meist auf Zuruf der USA und ihrer Partner funktioniert. So durften die Russen im Auftrag des Sicherheitsrates in Georgien für "Sicherheit" sorgen, die Franzosen in Ruanda, die NATO in Bosnien und Herzegowina, die USA in Somalia und Haiti. Die UN haben, neben der globalen Wirtschaftspolitik, längst auch die "kollektive Sicherheitspolitik" aufgegeben. (Vgl. Berthold Meyer: Kollektive Sicherheit oder Weltinnenpolitik? In: Claus Leggewie/Richard Münch: Politik im 21. Jahrhundert. Frankfurt/Main 2001, S. 359-374)

III. Gewinner und Verlierer der Globalisierung

Ganz im Gegensatz zur Propaganda der Reichen - die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung überschrieb ihren Vorbericht zum WTO-Treffen in Katar: "Globalisierung ist gut für die Armen" (FAZ, 28.20.01) – sorgt die Globalisierung für immer größere weltweite Ungleich-heit. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Der sogenannte GINI-Koeeffizient, mit dem die Diskrepanz zwischen dem obersten und dem untersten Fünftel der Einkommensverteilung gemessen wird, hat sich von 1960 bis 1990 von 1:30 auf 1:60 geöffnet, d.h. das reichste Fünftel der Erde hatte 1960 30mal mehr als das ärmste und 1990 60mal mehr. "Von 1990 bis 1997, als die Globalisierung sich beschleunigte, stieg er noch einmal von 1:60 auf 1:74." (Global Governance, a.a.O., S. 11 – die Daten wurden vom UN-Entwicklungsprogramm UNDP errechnet). Der Anteil des ärmsten Fünftels der Menschheit am Welteinkommen fiel von 1989 bis 1998 von 2,3% auf 1,4%. Das Pro-Kopf-Einkommen in 20 zentralafrikanischen Staaten ist heute niedriger als Ende der Siebziger Jahre (Anthony Giddens: Entfesselte Welt. Frankfurt 2001, S. 27f.)

Das Elend der Armen Welt ist nicht bloß auf den "Selbstlauf der Marktkräfte" zurückzuführen, die "sanften Machtfaktoren" des globalen Systems haben kräftig mitgeholfen. Seitdem IWF und Weltbank ihre Programme der "Strukturanpassung" aufgelegt haben, hat die Verschuldung Schwarzafrikas um 400Prozent zugenommen. (Biermann/Klönne, a.a.O., S. 220) Für die Gesamtheit der Entwicklungsländer ist die Verschuldung in den letzten zehn Jahren um 70% gestiegen. Die Armen Länder haben jährlich sieben mal so viel an Schuldendienst in die Reichen Länder zu überweisen, wie sie an Entwicklungshilfe erhalten. So entschieden die Reichen verlangen, dass die Entwicklungsländer alle Hemmnisse für ihre Produkte und ihre Investitionen aus dem Weg räumen, so skrupellos schotten sie die eigenen Märkte gegen Produkte aus der Armen Welt ab. Selbst der Chef der WTO, Mike Moore, muss zugeben, dass eine wirklich zweiseitige Handelsliberalisierung den Armen Ländern Hunderte Milliarden Dollar einbringen würde. Doch stattdessen subventionieren die OECD-Staaten ihre eigene Landwirtschaft – zunächst geht es beim Export der Armen überwiegend um Agrarprodukte – mit jährlich 300 Milliarden Dollar, was wiederum dem Siebenfachen der Entwicklungshilfe entspricht. Auch in der zentralen Frage der Patente, wo die Armen um Sonderkonditionen bitten, sind die Reichen bisher hart geblieben. Dies gilt auch bei Arzneimitteln, was ein millionenfaches Todesurteil für die Menschen in der Armen Welt bedeutet. 13 Millionen Afrikaner sind bereits an Aids gestorben, 23 Millionen sind infiziert, 10 Millionen Kinder sind durch Aids zu Waisen geworden. (FAZ, a.a.O.) Die Pharma-Konzerne hat dies nicht dazu bewegen können, diesen Ländern Ausnahmepreise für ihre Heilmittel einzuräumen. Die auf dem G7-Gipfel gewährte "Aids-Hilfe" ist lächerlich; die eine Milliarde Dollar müssen die Armen Länder an zwei Tagen an Zinsen und Tilgung für ihre Schulden leisten, und im übrigen werden die Mittel an die Pharma-Konzerne überwiesen, die bei ihren hohen Preisen bleiben.

Globalisierung tötet

Globalisierung tötet. Alle zwei Stunden verhungern mehr Menschen, als bei dem Anschlag auf das World Trade Center ums Leben kamen. Jeder siebte Mensch, jedes fünfte Kind ist unterernährt, obwohl die globale Produktion an Lebensmitteln den Bedarf bei weitem übertrifft. Drei Milliarden Menschen, die Hälfte der Erdbevölkerung, müssen mit weniger als 2 Dollar pro Tag auskommen; 1,3 Milliarden haben nicht einmal einen Dollar am Tag. In Indonesien leben 40 Prozent der über 200 Millionen Einwohner unterhalb dieser offiziellen Armutsgrenze. Eine Milliarde Menschen, jeder vierte Erwerbsfähige, ist ohne Arbeit. Zwei Milliarden Menschen leiden an mangelbedingter Anämie (Vgl. u.a. die jeweiligen Ausgaben des "Human Development Report", die vom United Nations Development Programme, New York, zusammengestellt werden).

Während große Teile der Menschheit in Armut und Elend versinken, häufen die Nutznießer der Globalisierung in den Industrieländern phantastischen Reichtum auf. Die 15 reichsten Personen haben ein größeres Vermögen als das Bruttosozialprodukt aller Schwarzafrika-Staaten. Das Privatvermögen der 225 Reichsten entspricht fast dem Jahreseinkommen der Hälfte der Menschheit. Doch verdeckt die Formel von der "Reichen Welt" den Umstand, dass die Globalisierung dafür sorgt, dass auch in diesem Teil der Welt die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet. Neoliberale Globalisierung, stellt Jonathan Gray, der frühere Wirtschaftsberater der britischen Premierministerin Thatcher fest, bedeutet den "Wettbewerb der Nationalstaaten um den Abbau von Lenkungsmaßnahmen und sozialen Sicherungssystemen" (Gray, a.a.O., S. 119). Da Arbeit in Billiglohnländer verlagert wird – "die Löhne werden jetzt in Peking gemacht" – erreicht der freie Markt in den Industrieländern genau das, was der Sozialismus nie geschafft hat: "er lässt das bürgerliche Leben absterben", führt zu Reproletarisierung und der Entbürgerlichung der Mittelschichten (a.a.O, S. 102). "Die Beschäftigung der armen Armen stürzt die reichen Armen ins Elend; noch ärmer geworden, und den armen Armen näher gerückt, werden sie ihrerseits geringere Ansprüche stellen." (Viviane Forrester: Der Terror der Ökonomie. München 1998, S. 147).

Die Zahlen bestätigen den düsteren Befund: In den USA ist der Durchschnittslohn von 80 Prozent der Beschäftigten von 1973 bis 1995 um 18% gesunken, während die Einkommen der Manager um 19% gestiegen sind. Top-manager verdienen mittlerweile das 150fache eines Arbeiters (Gray, a.a.O., S. 158f.; vgl. auch Richard D. Wolff: Die US-Wirtschaft im Jahr 2000. In: isw-report Nr. 43. S.11–15). 50 Millionen, fast 20Prozent der US-Bevölkerung, gelten offiziell als arm, 40 Millionen haben keine Krankenversicherung, 52 Millionen sind Analphabeten, schon deshalb zu Verlierern der Globalisierung verurteilt. (Vgl. Viviane Forrester: Die Diktatur des Profits. München 2001, S. 69ff) Die Europäische Union ist wie in der Glo-balisierung auch hier den USA auf den Fersen: Sie weist offiziell 20 Millionen Arbeitslose und 50 Millionen Arme auf. (Biermann/Klönne, a.a.O., S. 198f.)

Dem fortgeschrittenen Elend in den USA entspricht die wachsende "Anomie", das Auseinanderfallen der sozialen Beziehungen und die Zunahme der Kriminalität. Fünf Millionen Menschen befinden sich in den USA im Strafvollzug (was u.a. der Arbeitslosenstatistik aufhilft, denn Strafgefangene werden nicht zur erwerbsfähigen Bevölkerung gezählt). In der Hauptstadt Washington, DC, sind 40 Prozent der männlichen Farbigen zwischen 18 und 35 Jahren entweder im Gefängnis, auf Bewährung, auf der Flucht oder vor Gericht. Die Anwort der Reichen und Mächtigen besteht nicht etwa in der Entwicklung von Ausbildungs- und Arbeitsprogrammen, sondern in der Verschärfung der Gesetze und der Stärkung der polizei-lichen Schlagkraft. Gegen Elend und Kriminalität versuchen die Reichen sich in speziell bewachten Festungen abzuschotten. 28 Millionen Menschen, 10 Prozent der US-Bevölkerung, wohnen in sogenannten "gated communities", eigenen Wohnbezirken, die von privaten Wachgesellschaften geschützt werden. (Gray, a.a.O., S.161f) In der Organisation ihrer eigenen Gesellschaft, Inseln des Reichtums zu sichern inmitten einer verrottenden Umgebung, die nach Bedarf polizeilich diszipliniert wird, lässt sich unschwer das Muster der nach dem 11.9.2001 angestrebten Globalisierung erkennen.

IV. Der "Krieg gegen den Terror": Die neue Sicherheitsstrategie der Globalisierung

1) Die ideologische Munition

Nichts hat die Verfechter des "Kriegs gegen der Terror" hierzulande mehr aufgebracht, als die Feststellung der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy, Osama bin Laden sei der "dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Missachtung aller nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen, ihre Unterstützung für despotische und diktatorische Regimes, ihre wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben. Ihre marodierenden Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken."

Entrüstet fragt der Kommentator der Zeit: "Welche Logik erlaubt es, beliebige Amerikaner für die Politik beliebiger Regierungen ihres Landes mit dem Tode zu bestrafen? Und welche Logik, umgekehrt, erlaubt es den Intellektuellen beliebiger Staaten der Dritten Welt, sich mit den (übrigens bloß unterstellten) Motiven eines beliebigen Terroristen zu identifizieren?" (Zeit, 4.10.2001) Von all dem, was da an rhetorischen Fragen aufgeworfen wird, ist bei Roy nichts zu lesen. Sie nennt Bin Laden einen "dunklen Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten", den sie offenbar verabscheut. Sie sagt, Bin Laden, ist aus der Rippe einer Welt gemacht, deren ungeheuerlicher Zustand vor allem den USA zur Last zu legen ist. Offenbar missbilligt sie diesen Weltzustand, doch erkennt sie im Handeln der Terroristen die Obszönität der Zustände wieder. Dass dieser Zusammenhang, dieses Spiegelbild gezeigt wird, bringt den Zeit-Autor um den Verstand. Dass Roy "Amerika mit den Ursachen dieses Elends identifiziert", lässt ihn der indischen Schriftstellerin "paranoiden Beziehungswahn" bescheinigen.

Selbstverständlich muss er dies tun, wenn er die Haltung der USA und ihrer Partner rechtfertigen will. Denn, wie Erhard Eppler, der im übrigen Kritiker in seiner SPD zu Mitläufern des Terrorkriegs zu machen versucht, im zaghaften Konjunktiv konstatiert: "Sollte es stimmen, dass die globalisierte Wirtschaft weltweit nur einen geringen Teil der arbeitsfähigen Menschen brauchen kann, so wäre dies nicht nur inhuman, es würde auch privatisierte, kriminalisierte und schließlich chaotische Gewalt freisetzen." (Spiegel, 41/2001). Nun ist es aber so, dass Arbeitslosigkeit und Hunger, Krankheit und Tod auf der Welt außerordentlich viel damit zu tun haben, dass ein großer, wachsender Teil der Menschheit "von der globalisierten Wirtschaft nicht gebraucht" bzw. entsprechend seinen Profitvorgaben verbraucht wird. Wir haben schon festgestellt, dass jeder vierte Erdenbürger unter der Armutsgrenze lebt, dass jeder vierte Erwerbsfähige ohne Arbeit ist und dass jedes fünfte Kind Hunger leidet, und dass dieses Elend die Kehrseite der Produktionsmaschine des globalen Imperialismus darstellt. Die imperialistische Globalisierung ist ein permanenter Bruch der elementaren Menschenrechte. In Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – von den Vereinten Nationen im Dezember 1948 beschlossen – ist festgelegt: "Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit." In Artikel22 wird die "Soziale Sicherheit" zu einem Grundrecht des Menschen erklärt: "Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und inter-nationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen."

Der neoliberale Kapitalismus und die neoliberale Globalisierung, die ideologisch eine Vielzahl von Modernisierungsverlierern postulieren, damit sich ihre Art von Fortschritt durchsetzen kann, und die in der Praxis schon mehr als die Hälfte der Menschheit zu Verlierern, zu Opfern gemacht haben, bilden eine monströse Struktur der permanenten Menschenrechtsverletzung. Andererseits reklamieren sie für sich unter Hinweis auf die Gefährdung oder Verletzung von Menschenrecht das Recht, ja die Pflicht zu militärischen Eingriffen überall dort, wo es ihren Interessen zuwiderläuft. Dass der Bock sich hier zum Gärtner aufschwingt, dass die Menschenverachtung von Terroristen dem Zugriff der Globalisierer entspringt und entspricht, darf nicht ausgesprochen werden. Wer dieses Tabu bricht, muss entweder auch zum Kriminellen – US-Präsident Bush: entweder man schließt sich dem Kreuzzug gegen den Terrrorismus an oder man steht an der Seite der Terroristen – oder aber zum Wahnsinnigen gestempelt werden, was die "Zeit" pflichtschuldigst erfüllt, wenn sie Roy und ihresgleichen als "paranoid" wegsperren will.

Natürlich sind nicht nur die Menschen, die das Elend der Globalisierung als Nährboden des Terrors ansehen, paranoid, sondern vor allem die Terroristen selber. Gelten sie als "geistes-krank", muss man sich um eventuelle Motive ihres Handelns jenseits der Psychiatrie nicht mehr kümmern. Für diese Art der propagandistischen Zurichtung ist in unserem Land seit längerem Hans Magnus Enzensberger zuständig, der schon Saddam Hussein als Hitlers Wiedergänger ausgemacht hatte, "Ausdruck einer stets mobilisierbaren Zerstörungs- und Selbstzerstörungsbereitschaft, die sich ihre Anlässe und Gegenstände nach Belieben sucht." (Zeit, 31.10.2001). Auch Bin Laden und Gefolgsleute sind höchstens Fälle für die Geschlossene Abteilung: "Auf die Frage, woher ihre psychische Energie stammt, die den Terror speist, kann die ideologische Analyse jedoch keine Antwort geben. Vorgaben wie links oder rechts, Nation oder Sekte, Religion oder Befreiung führen genau zu denselben Handlungsmustern. Der gemeinsame Nenner ist die Paranoia. Auch im Fall des New Yorker Massenmordes wird man sich fragen müssen, wie weit das islamistische Motiv trägt; jede beliebige andere Begründung hätte es auch getan." (A.a.O.)

Auf zum "Kampf der Kulturen"

Enzensbergers Paranoia-Verfahren entlastet zwar den globalen Imperialismus, versäumt es aber, den Gegner, der jetzt auszuschalten ist, in die Schusslinie zu bringen. Denn natürlich kann es im "Krieg gegen den Terrorismus" nicht nur darum gehen, die Oberen von Bin Ladens Netzwerk Al Qaida in Zwangsjacken oder in Särge zu stecken. Es geht um den islamischen Fundamentalismus schlechthin, die nach dem Verstummen des Sozialismus einzige weltweite Ideologie, die sich der imperialistischen Globalisierung widersetzt, die insbesondere dafür plädiert, dass Erdgas und Erdöl der islamischen Ländern den westlichen Multis entzogen und für die Entwicklungsziele der Länder selbst eingesetzt werden soll. "Auschwitz"-Fischer ist auch diesmal zur Stelle und ernennt die Anschläge des 11. September zur allgemeinen "totalitären Herausforderung" und der Bruder im Geiste Cohn-Bendit hält die Taliban für "faschistoid" und befindet, "der radikale Islamismus surft auf dem Unglück der arabischen Massen wie einst der Bolschewismus auf dem Unglück des Proletariats". (A.a.O.) Da sind nun alle beisammen: die Faschisten, die Kommunisten und nun der islamische Fundamentalismus, es geht also mal wieder um nichts weniger als um das Schicksal der gesitteten Welt. Kanzler Schröder fasst zusammen: "Das ist ... ein Konflikt zwischen Mittelalter auf der einen Seite und Moderne auf der andern." (Zeit, 18.10.01)

Aber reicht dieses Mittelalter nicht weit über den islamischen Fundamentalismus hinaus? Immer mehr psychologische Kriegführer in den deutschen Medien kommen zu der Erkenntnis, dass dem Islam schlechthin der Kampf anzusagen ist. Das islamische Gesetz, weiß der neue Literaturchef der Süddeutschen Zeitung, sei "inhuman und zerstörerisch". Überhaupt bewege sich der Islam in den Fußstapfen des Faschismus. Dass die Muslime in ihrer Mehrheit nicht extremistisch seien, sei nicht unbedingt beruhigend. Schließlich seien auch die Deutschen im Dritten Reich mehrheitlich keine Fanatiker gewesen. Es reiche aber, wenn ein fanatischer Kern von einer verständnisvollen Mehrheit getragen werde. Der Artikel beginnt mit seiner Quintessenz: "Das fromme Wünschen hat nichts geholfen, einen Kampf der Kulturen wird es doch geben müssen." (SZ, 24.10.01)

Der Kampf der Kulturen richtet sich also jetzt nicht etwa gegen eine kleine radikale Minderheit, sondern gegen die "verständnisvolle Mehrheit" des Islam, immerhin weit über eine Milliarde Menschen. Und natürlich findet der Kampf nicht als Diskurs einer zivilen Weltgesellschaft statt. "Das Prinzip heißt Politik – wiewohl unter Beimischung von Blei." (Zeit, 4.10.2001). Wer sich politisch nicht fügen will, den werden die Eingreiftruppen Mores lehren. "Der Westen wird (den Kampf der Kulturen) wohl führen müssen: so werbend wie möglich und so wehrhaft wie nötig." (FAZ, 29.10.01). Die Absolution für Mord und Totschlag ist schon von oberster philosophischer Stelle erteilt. Jürgen Habermas möchte, dass wir "den prekären Übergang von der klassischen Machtpolitik zu einem weltbürgerlichen Zustand über die Gräben eines aktuellen, auch mit Waffen ausgetragenen Konflikts hinweg als gemeinsam zu bewältigenden Lernprozess verstehen". Hat der Philosoph für diese schöne These vom "Krieg als kommunikatives Handeln" (Konkret, 10/2001) hin zur globalen Zivilgesellschaft im Jahr 1 des Terrorkriegs den "Friedenspreis" des deutschen Buchhandels verliehen bekommen? So wie V.S. Naipaul just in diesem Jahr des Angriffs auf das Mittelalter den Literatur-Nobelpreis erhalten hat, weil er die Arme Welt so eindrucksvoll als "Reich der Finsternis" wiedergibt? US-Präsident Bush hat recht, wenn er sagt, dieser Krieg werde an vielen Fronten geführt.

Wir sind die Moderne, also die Guten, die anderen das Mittelalter, die Bösen: "grauenhafte Strukturen, jenseits dieser Welt" (Gerhard Schröder, a.a.O.) "Die moderne Zivilisation (ist) schon deshalb grundsätzlich überlegen, weil nur sie in der Lage ist, für die gewaltig gestiegene Weltbevölkerung einigermaßen auskömmliche Lebensgrundlagen zu schaffen und zu erhalten." (Ex-CDU-Vorsitzender Wolfgang Schäuble, SZ 24.10.01). Nun fragt man sich natürlich, warum diese moderne Zivilisation das noch nicht realisiert hat, warum stattdessen Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend sich ausbreiten. Auch auf diese Frage sind die Propagandisten des Terrorkriegs präpariert. Der Zeit-Redakteur, der die Globalisierungskritikerin Roy als paranoid entlarvt hat, sieht deren "Irrsinn" schon deshalb "aus allen Ritzen" lugen, weil "keineswegs erwiesen (ist), wie weit die Erste Welt am Elend der Dritten überhaupt beteiligt ist und wie hoch der Anteil von deren eigenen korrupten Eliten zu veranschlagen ist." (Zeit, 4.10.2001) Das Elend in der Dritten Welt muss also konzediert werden, aber Schuld daran trägt in seinen Ländern der Islam und im übrigen die jeweilige einheimische Elite.

Das Entlastungsmanöver taugt nicht. Denn die Eliten in der Dritten Welt wären in der Regel gar nicht an der Macht, hätten sie die USA und ihre Partner nicht dorthin gebracht und dort gehalten. Allein 1998 haben die USA in 110 Ländern sogenannte Joint Combined Exchange Training-Missionen durchgeführt – Trainingsprogramme von Sondereinheitsspezialisten der USA mit den einheimischen Militärs und Polizeieinheiten, wie sie am besten ihre innere Opposition bekämpfen können. (Chalmers Johnson: Ein Imperium verfällt. München 2000, S. 102f). In den Genuss dieser speziellen Modernisierungshilfe kamen u.a. die Türkei bei ihrem Feldzug gegen die Kurden und alle 19 lateinamerikanischen Länder. Wann immer die Völker es schafften, die eigenen korrupten Regimes zu stürzen, waren die USA und Partner zur Stelle, um die Demokratiebewegungen zu liquidieren und ihre Marionetten wieder zu installieren. So geschehen u.a. im Iran, als die Regierung Mossadegh es wagte, die Ölgesellschaften zu verstaatlichen; in Guatemala, als die Regierung Arbenz eine Bodenreform gegen die US-Multis durchführen wollte; in Indonesien gegen Präsidenten Sukar-no, weil der sich zu einem Sprecher der "Blockfreien" gemacht machte – US-Außenminister Dulles verfügte damals, Neutralität sei "unmoralisch"; im Kongo gegen den Premierminister Lumumba, der die Bodenschätze des Landes vergesellschaften wollte; in Vietnam gegen die erfolgreiche antikolonialistische Revolution, drei Millionen Menschen kamen in diesem Krieg der USA zu Tode; in Chile gegen den demokratischen Präsidenten Allende, der, wie Zehntausende Anhänger der Unidad Popular, ermordet wurde; gegen das sozialistische Kuba wurde eine Invasion gestartet und nach deren Scheitern ein bis auf den heutigen Tag wirksames Embargo verhängt; in Nicaragua und Salvador führte die CIA "Contras" ins Feld, um die demokratisch-revolutionäre Entwicklung abzuwürgen; in Südafrika stützte die CIA bis zuletzt das Apartheid-Regime, auch die Festname von Nelson Mandela wurde von der CIA organisiert (Vgl. Conrad Schuhler: Return to sender? Konkret 11/2001) Die USA und Co. waren und sind die Schutztruppe der einheimischen korrupten Eliten, die ja dann auch vor allem von den Staaten und Konzernen des Westens korrumpiert werden.

Zwei Wochen nach dem Anschlag auf New York und Washington wurde George W. Bush gefragt, wie er auf den Hass reagiert, den es offenbar in den islamischen Ländern gegen die USA gibt. Die Antwort des Präsidenten: "Ich bin entgeistert. Ich kann es einfach nicht glauben, weil ich weiß, wie gut wir sind." Wie gut "wir" sind, zeigt sich beispielhaft im Bündnis gegen Afghanistan. "Freunde, die zum Fürchten sind" und "Wenn aus Schurken Alliierte werden" überschrieb die "Zeit" (27.9.01, 4.10.01) ihre Analysen zu diesem Bündnis "gegen das Mittelalter". Pakistan, Usbekistan, Tadschikistan, die Türkei, Saudi-Arabien und die Golfstaaten Kuweit, Bahrain und Katar – überall finden gröbste Menschenrechtsverletzungen statt, viele sind nur möglich, weil US-Truppen den Schindern wie in Saudi-Arabien und Kuweit zur Seite stehen. Eben noch "Schurkenstaaten", werden jetzt der Sudan, Syrien und der Iran als "Alliierte" begrüßt. Prompt fehlen in der Schwarzen Liste von 27 Terrororganisationen, die Präsident Bush vorgelegt hat, damit ihre Konten weltweit eingefroren werden, die von Syrien und dem Iran unterstützten Palästinensergruppen Hamas und Hizbullah. Der Umgang der USA und ihrer Partner mit Terror und Terrorgruppen ist rein taktisch, mit "Moderne" oder "westlichen Werten" hat dies nichts zu tun. Der Westen ist eine Machtmaschine, die Moral nur zur Propaganda braucht.

2) Das strategische Konzept: Weltpolizei – Nation-Building – Innere Sicherheit

Die USA fungieren seit langem als globaler Polizist. Ihre Satelliten und Horchgeräte kontrollieren alles, was sich bewegt oder mitteilt. Auf 800 Stützpunkten in aller Welt ist Militär platziert. (Chalmers Johnson, a.a.O., S. 20) Der Realsozialismus ist mittlerweile als Begründung für diese Besetzung des Globus entfallen. In seiner letzten Sicherheitsdirektive hat Bushs Vorgänger Bill Clinton schon die neuen Gegner benannt: den Terrorismus, die Drogen und regionale Konflikte. Clinton hat auch schon Cruise Missiles auf sechs Ausbildungslager Bin Ladens in Afghanistan abschießen und den Sudan bombardieren lassen. In Lateinamerika haben die USA mehrfach im "Kampf gegen die Drogen" eben die Regimes stabilisiert, die am Drogenhandel beteiligt sind. Die neuen "globalen Gefahren" haben den unschätzbaren Vorteil, dass die USA nach Belieben irgendwo eine "Sicherheitsgefahr" ausmachen und militärisch eingreifen können. Bush hat dieses Rezept nun im "Krieg gegen den Terror" perfektioniert. Er hat zudem klar gemacht, dass, wie schon zu Zeiten des Kalten Krieges, keine "Neutralen" mehr geduldet werden. "Entweder ihr seid auf unserer Seite", wandte er sich im US-Kongress an die Völker der Welt, "oder ihr seid auf der Seite der Terroristen." In Zukunft wird es nur noch Staaten geben, die den Qualitätstest der US-Regierung bestanden haben. Alle anderen sind Terroristen und werden, wenn nötig, in Grund und Boden gebombt. Das Kriterium "Menschenrechte", das bisher die Begründung für militärische Interventionen zu liefern hatte, ist abgelöst worden vom "Antiterrorismus". Das macht die Eingriffe noch leichter, da die USA, wie schon im Präzedenzfall Afghanistan, sich nicht darum zu scheren brauchen, irgendwelche Beweise vorzulegen. Dass es nicht um ein Szenario nur für Afghanistan, sondern um einen neuen Zugriff auf die ganze Welt geht, wird Bush selbst nicht müde zu unterstreichen: "Unser Krieg gegen den Terrorismus beginnt mit der Al-Qaida, aber er endet dort nicht. Er wird nicht aufhören, ehe sämtliche Terroristengruppen mit weltweiter Reichweite aufgespürt, gestoppt und niedergerungen sind." Lange wird das dauern: "Nicht bloß eine Schlacht, sondern einen lang andauernden Feldzug – wie wir ihn bisher noch nie erlebt haben." (Zeit, 27.9.01).

Zwar haben die USA im Sicherheitsrat der UN einen Beschluss fassen lassen (mit 15 : 0 Stimmen), der alle Regierungen in ihren Staaten zu Maßnahmen gegen den Terrorismus verpflichtet. Eine Ermächtigung zur Kriegführung ist dies mitnichten, was aber die USA nicht kümmert. Auch lassen sie sich bei der Planung und Durchführung der militärischen Operationen nicht von den UN und auch von sonst niemandem dreinreden, auch nicht von den Freunden in der Nato, die eiligst den "Bündnisfall" festgestellt, sich also auch selbst als im Krieg befindlich erklärt haben. Es geht eben nicht darum, dass die "Weltgemeinschaft" einem internationalen Recht unterworfen wird, sondern dass die USA nach eigenem Gutdünken ihre Art von Ordnung schaffen. "Die Stärke des Rechts wurde spätestens im Kosovo-Krieg durch das Recht des Stärkeren abgelöst. Besonders die einzig verbliebene Supermacht weigert sich immer öfter, recht-lichen Regelungen und Verträgen beizutreten – ich nenne den Landminen-Vertrag, das Abkommen über Biologische Waffen, den Internationalen Strafgerichtshof." (Dieter S. Lutz, Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik. "Freitag", 21.9.2001).

Vor allem an ihrem Widerstand gegen den Aufbau des Internationalen Strafgerichtshofs erweist sich die Doppelzüngigkeit der US-Regierung. Zu Recht wird beklagt, dass Gewalt und Verbrechen "entgrenzt" sind, im staat-lichen Rahmen nicht mehr zu bekämpfen. Menschheitsverbrechen wie das vom 11. September sollen deshalb in Zukunft von einem Internationalen Tribunal geprüft und geahndet werden. Doch ausgerechnet die USA bekämpfen das Projekt mit allen Mitteln. Die Bush-Regierung hat erklärt, sie werde allen Staaten die Militärhilfe streichen, die das Tribunal unterstützen. Sie will zudem "alle notwendigen und geeigneten Mittel einsetzen", um US-Bürger aus der Haft des Gerichtshofs zu befreien. US-Streubomben auf Den Haag? (Vgl. SZ, 8.10.2001) Natürlich hat die US-Regierung gute Gründe für ihre Obstruktion, muss sie doch davon ausgehen, dass vor allem ihre Repräsentanten sich vor den Schranken des neuen Weltgerichts wiederfinden würden.

Überhaupt kommt man nicht umhin anzuerkennen, dass die Strategie des "lang andauernden Kriegs gegen den Terror" in der Logik der kapitalistischen Globalisierung liegt. In "Jihad vs. McWorld" beweist Benjamin R. Barber, dass "McWorld" – die aggressive wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung – zu Anarchie und sozialem Chaos führen, "die das Klima der Verzweiflung erst geschaffen haben, das der Terrorismus jetzt so effektiv ausgenutzt hat". (Financial Times Deutschland, 19.10.01). Doch nicht nur der Terrorismus erwächst aus Elend und sozialem Chaos. 1992 wurde Mexico Mitglied der neugegründeten Freihandelszone zusammen mit den USA und Kanada. Zwei Jahre später kam es in Mexico synchron zum großen Crash des Geld- und Währungssytems sowie zum ersten Losschlagen der Chiapas-Rebellen. Fünf Jahre später fand sich dann zur Weltkonferenz der WTO erstmals "das Volk von Seattle" zusammen und machte unter dem Schlachtruf "Die WTO tötet Menschen. Tötet die WTO" der dortigen Tagung ein Ende. Zum "Volk von Seattle" zählen nicht nur Indianer Lateinamerikas oder Nike-Kulis aus Hongkong und Malaysia, sondern immer mehr auch Betroffene der Ersten Welt, Gewerkschafter und vor allem Mitglieder der von Soziologen sogenannten "Avantgarde", jüngere Menschen, die mit idealistischem Engagement für eine globale Zivilgesellschaft eintreten (Vgl. Michael Vester: Wer sind heute die "gefährlichen Klassen?" In: Loch/Heitmeyer, a.a.O., S. 298–345. Nach Vester macht das Potential der "Avantgarde" in den Ländern der alten Bundesrepublik rund ein Viertel der Bevölkerung aus.) Seitdem war dieses Volk bei allen großen internationalen Konferenzen zugegen, zuletzt beim G7-Gipfel in Genua mit 250.000 Menschen, so dass selbst der französische Staatspräsident Chirac auf den Gedanken kam, so viele Menschen würden wohl nicht auf die Straße gehen, wenn alles zum Besten stünde. Mittlerweile zählt allein Attac, ein europäisches Sammelbecken der Globalisierungsgegner, mit 50.000 Menschen so viele Mitglieder, wie zwei Jahre zuvor in Seattle demonstrierten.

Was sollen also nun die Herren der Globalisierung tun, wenn sie mit dem "Ausbruch des globalen Terrors einem Tschernobyl der Weltwirtschaft" (Ulrich Beck) konfrontiert wurden? Selbstverständlich stempeln sie als erstes jeden Globalisierungsgegner zum Terroristen, was aber nicht einmal Attac bremsen kann, geschweige denn etwas an den Zuständen in der Armen Welt ändert. Um dort Hass und Gewalt den Boden zu entziehen, fordert der Politologe Barber "eine zweite, demokratische Front", die für weltweite Verteilungs-Gerechtigkeit und Religi-onsfreiheit sorgen soll. Der Soziologe Beck mahnt, "staatliche Strukturen und Institutionen zu schaffen, die eine Weltoffenheit sowohl im Hinblick auf religiöse, nationale und lokale Vielfalt und Grundrechte wie im Hinblick auf die wirtschaftliche Globalisierung ermöglichen". Wie bei den Attac-Vorschlägen einer Steuer auf spekulative Devisengeschäfte oder der Einführung weltweiter Sozialstandards, laufen alle diese Rezepturen einer "Global Gover-nance" auf einen Welt-Sozialstaat unter imperialistischen Bedingungen hinaus, denn die Frage der Ökonomie, der Herrschaft der Transnationalen Konzerne wird in der Regel nicht einmal erwähnt. Der Diskurs über die globale Zivilgesellschaft soll auf jeden Fall zivil und unbedingt ohne jede Grenze geführt werden, mit einer Ausnahme: das entscheidende Problem der Ökonomie und die daraus resultierende Herrschaft sind diesem Diskurs entzogen. Das Dumme ist nur, dass das Lebensinteresse der Transnationalen Konzerne und die globale Zivilgesellschaft einander ausschließen.

Barber und Beck scheinen das nicht zu wissen, George W. Bush weiß es und macht es zur Grundlage der US-Strategie. Die geht von der Existenz von Elend und Ungleichheit und daraus resultierender Gewalt aus und entwickelt als Lösung die militärische Niederschlagung von Widerstand und Protest. "Kriegsverhütung als Doktrin wurde aufgegeben," stellt Dieter S. Lutz, der Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik fest, "und die Verteidigungskräfte – einschließlich der Bundeswehr – wurden beziehungsweise werden zu Einsatzarmeen umgebaut. An Stelle von Interessenausgleich wird zunehmend Interessendurchsetzung, die Erweiterung des Interessenspektrums und die Ausdehnung des militärischen Interessen- und Einsatzgebietes propagiert." (a.a.O.) Kriege gehören zum Kalkül dieser Strategie; es geht nicht darum, sie zu verhindern, sondern sie zu gewinnen. Auch bei der Führung des Krieges gibt es keine zivilen Skrupel. Eben hatte man sich noch empört über die Barbarei der Terroristen, die unschuldige Zivilisten umgebracht hatten, nun bombardiert man selbst – "so versehentlich wie regelmäßig" (Franziska Augstein) – die afghanische Zivilbevölkerung. Mit wachsender Intensität kommen B-52-Bomber zum Einsatz, von denen jeder jedesmal 30 Clusterbomben abwirft, von denen jede einzelne ein Gebiet von 400 mal 200 Metern absolut verwüstet. Jede Bomberbesatzung kann sich beim Rückflug sagen, dass sie ein Gebiet von der Größe von 360 Fußballfeldern vernichtet hat. Wie "zielgenau" die US-Angriffe erfolgen, kann man auch daran ersehen, dass vier der fünf Lagerhallen des Roten Kreuzes in Kabul von US-Bomben vernichtet wurden. Auch wurden, neben dem Militärkrankenhaus mit 500 Patienten, die Einrichtungen der UN-Entminungsorganisationen getroffen. Die würden indes bald noch dringender gebraucht als bisher. Noch lagern Millionen Minen aus dem vorigen Krieg in Afghanistan, nun kommt womöglich ein Vielfaches dazu: die UN-Spezialisten schätzen, dass 10 bis 30 Prozent der US-Bomben Blindgänger sind. (Vgl. Spiegel, 45/2001) Die Menschen, die Bomben und Hunger überstehen sollten, werden in einem gigantischen Minenfeld leben.

Deutsche Vasallentreue oder "Griff nach der Weltmacht"?

Viele deutsche Kommentatoren fragen sich, warum der deutsche Kanzler dabei bleibt, einer solchen Kriegsmacht immer von neuem seine "uneingeschränkte Solidarität" zu beteuern, und sie mit Angeboten eines substantiellen militärischen Beitrages so lange bombardierte, bis die USA schließlich "spezifische Anforderungen" stellten, woraufhin die deutsche Regierung umgehend Truppen in Stärke von 3.900 Mann zur Verfügung stellte, darunter auch Spezialeinheiten für den Bodeneinsatz. Zu Recht wurde das deutsche Engagement als Zäsur, als endgültige "Enttabuisierung des Militärischen" (Gerhard Schröder) verstanden. Denn erstmals bewegen sich deutsche Truppen weit weg vom Verteidigungsgebiet außerhalb von Nato- oder UN-Einsätzen. Und wie die USA wollen sich die Deutschen keineswegs auf Afghanistan beschränken. Für die zunächst auf ein Jahr befristete Operation nannte die Regierung als Einsatzgebiet "die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nordost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete." (Financial Tim-es Deutschland, 8.1.01). Die Büchse der Pandora steht bereit, und die USA und Deutschland sind offenbar entschlossen, sie zu öffnen, um das Übel des Kriegs vom Sudan bis an die Grenzen Chinas zu verbreiten.

Simple, stupide teutonische Vasallentreue zu den USA? Keineswegs, eher im Gegenteil. Schröder hat, wie sein Außenminister, begriffen, dass Deutschland eine größere globale Rolle nur spielen kann, wenn er die neuen globalen Herrschaftsinstrumente – nämlich Eingreiftruppen – nicht nur vorzeigen, sondern auch effektiv nutzen kann. Seit Jahrzehnten klagen die politischen Eliten hierzulande, der wirtschaftliche Riese Deutschland müsse endlich aus seiner politischen Zwergenrolle heraus. Seit der Wiedervereinigung, die Deutschlands zentrale Rolle in Europa noch einmal erheblich qualifizierte, verlangen die Deutschen von den Amerikanern immer heftiger, ihre Hegemonie-Position zugunsten einer multilateralen globalen Politik aufzugeben. "Multilateralismus" ist die Chiffre für die Anerkennung als Weltmacht, und "Europa" ist die Chiffre für Groß-Deutschland, das sich einerseits so als "deutsche Gefahr" zum Verschwinden bringen will, andererseits sein politisches Gewicht noch vergrößert. Auf die Frage, ob er mit der politischen Verfassung der Europäer angesichts des "Kriegs gegen den Terror" zufrieden sei, antwortet Gerhard Schröder: "Bei dem, was man Neupositionierung in einer sich verändernden weltpolitischen Landschaft nennt, würde Deutschland ohne Europa jedenfalls weniger wert sein als integriert in Europa. Das ist also nicht etwa die Stunde der Verlangsamung der europäischen Integration; sie ist eher mit Dynamik auszustatten." (A.a.O.) Außenminister Fischers Art der Verschleierung bringt die Wahrheit fast noch schöner zum Vorschein: "Das hat nichts mit deutschem Großmachtstreben unseligen Angedenkens zu tun. Wir sind eingebunden in Europa, und dieses Europa als ganzes hat globale Interessen... Der 11. September hat zu einer Achsenverschiebung geführt und wir Europäer müssen darauf achten, nicht an den Rand gedrängt zu werden. Wenn wir getrennt bleiben, werden wir unsere Rolle in der Welt und bei ihrer Gestaltung nicht wahrnehmen können." (SZ, 18.10.01).

So wie es den Deutschen um eine "Neupositionierung" in der Weltpolitik geht, und sie mithilfe der Dynamik der europäischen Integration eine neue Rolle bei der Gestaltung der Welt einnehmen wollen, so versuchen umgekehrt die USA, die neue Sicherheitsgefahr als Disziplinierungsinstrument gegenüber ihren Partnern zu nutzen. So wie der "Kalte Krieg" gegen den Realsozialismus ihnen die Handhabe bot, den Bündnispartnern ihre Militärlasten vorzuschreiben wie auch ihren Umgang mit der anderen Seite bis hin zu umfangreichen und detaillierten Handelsverboten, so wollen die USA jetzt ihre ins Wanken geratene Rolle als Hegemon neu zementieren: Sie wollen die Deutungshoheit behalten, wann es sich um einen Sicherheitsfall von Terrorismus handelt, und sie wollen ihre Partner an den entsprechenden militärischen Operationen beteiligen, wann und wie es ihnen opportun erscheint.

Dass die Transnationalen Konzerne zu einem Triaden-, in den letzten Jahren eher zu einem transatlantischen (USA-EU-)Block zusammenwachsen, die von ihren Staaten eine integrierte Politik der globalen Ausbeutung verlangen, ist die eine, prägende Seite der Weltpolitik. Die andere ist, dass gerade vor dem Hintergrund einer synchronen Wirtschaftskrise in allen bedeutenden Regionen der Welt die Tendenz zum Protektionismus und zur Nutzung einzelstaatlicher Vorteile zunimmt. Immerhin erzielt die große Mehrheit auch der Transnationalen Konzerne den größten Teil ihres Umsatzes in ihren Heimatländern. Selbst ein Weltkonzern wie Siemens, der in 190 Staaten präsent ist und 75 Prozent seines Umsatzes im Ausland macht, muss sich in der Krise v.a. an den eigenen Staat halten. Wenn Kanzler Schröder in dieser schwierigen Zeit einen Staatsbesuch in China macht, dann ist Siemens-Chef von Pierer ebenso an seiner Seite wie weitere 46 Top-Manager der deutschen Wirtschaft. Schröder ist nichts weiter als der oberste Handelsvertreter der Nation, und die Bundesregierung hat den Erfolg der Reise denn auch stolz damit begründet, dass man Aufträge für 20 Milliarden DM hereingeholt habe.

Neue Bedeutung erwächst den Nationalstaaten auch aus einem zusätzlichen Element der neuen Sicherheitsstrategie: dem Nation-Building. Noch im Wahlkampf gegen den demokratischen Kontrahenten Al Gore hat sich Bush über das Nation-Building geradezu empört. Wieso sollten sich US-Truppen und -Fachkräfte in Gefahr bringen, um rückständigen Menschen beizubringen, wie sie ihre Gesellschaft aufzubauen hätten. Wenn es irgendwo Probleme gibt, schicken wir das Militär hin, räuchern den Feind aus und basta. Nun gibt der US-Präsident zu: "Wir haben eine Lektion gelernt: Wir dürfen nicht einfach weggehen, nachdem wir das militärische Ziel erreicht haben." (Financial Times Deutschland, 19.10.01). Bush hat begriffen, dass man stabile gesellschaftliche Strukturen errichten muss, die kompatibel sind mit den eigenen Zielen, er hat sich hinaufgeschwungen auf das Niveau von Bill Clinton, der schon 1994 die Sicherheit der USA damit gleichsetzte, dass die ganze Welt zu "Marktdemokratien" ausgebaut wird. Bush meint nun hinsichtlich Afghanistans, "es wäre nützlich, wenn die UN das so genannte `Nation-Building` übernehmen könnten". Vor allem wäre dies insofern nützlich, als er damit die Deutschen vom Zentrum der Entscheidungen heraus halten könnte, denn Deutschland hält bekanntlich keinen Sitz im Sicherheitsrat der UN. Eben deshalb plädiert Berlin für die unverzichtbare Rolle der Europäischen Union beim Post-Taliban-Afghanistan, weist auf die historisch gewachsene Beziehung zu den Stämmen am Hindukusch hin und auf die Tatsache, dass ein Deutscher die Afghanistan-Kommission der UN leitet. Der Kampf um die Positionen nach dem Sieg im Krieg (Sollte der Sieg in Afghanistan auf sich warten lassen, muss man damit rechnen, dass der Krieg ohne weiteres auf die Region ausgedehnt wird; der Irak ist längst im Visier und Spezialeinheiten der USA und Israels trainieren bereits die Besetzung der Nukleareinrichtungen Pakistans. Vgl. Spiegel, 45/2001) hat begonnen, darum, wer denn nun die Geschäfte mit Öl- und Gaspipelines machen und in der globalen Energiestrategie mit welchem Gewicht mitreden kann. Der Nationalstaat gewinnt beim "Krieg gegen den Terror" unter mehreren Aspekten generell neue Bedeutung: Über die Bereitstellung von Einsatztruppen entscheiden die staat-lichen Organe; die Postkrieg-Strukturen werden von den nationalen Agenten der "Allianzen" festgelegt; und in den bekriegten Ländern selbst werden "marktdemokratische" staatliche Strukturen entwickelt. Die neoliberale Globalisierung erhält ein militärisches wie ein staatlich-organisatorisches Gerüst. Es handelt sich gewissermaßen um Neoliberalismus mit einer Beigabe von Stamokap – von staatlicher Regelung im Interesse der Transnationalen Konzerne. Diese Faktoren stellen den globalen Kapitalismus auf eine neue Grundlage, können aber ebenso die Konflikte zwischen Transnationalen Konzernen und ihren Staaten schärfen.

Innere Sicherheit – Mobilmachung an der Heimatfront

Die Globalisierung hat nicht nur in der Armen Welt, sondern auch in den kapitalistischen Zentren selbst zu Gewalt und Chaos und zu wachsendem politischen Widerstand geführt, die sich auf vier Ebenen manifestieren:

a) In Abwehr der Forderungen der "Moderne" radikalisierte sich ein religiöser Fundamentalismus, der sich besonders in den USA mit der reaktionären Rechten überlappte. Die "Religious Right" ist der wichtigste ideologische Stoßtrupp des Präsidentschaftskandidaten Bush gewesen. Die ersten Milzbrandanschläge in den USA richteten sich gegen eine Abtreibungsklinik, bevorzugtes Hass-objekt der "Religiösen Rechten". Der Terror hat in der extremen US-Rechten Tradition. Auch der Massenmord in Oklahoma City, der zunächst "den Arabern" in die Schuhe geschoben worden war, wurde von einem US-Nazi verübt.

b) Von dem Machtverlust des Nationalstaates profitierten Bestrebungen des regionalen Separatismus, die nun öfter auch von den "reichen" Regionen ausgehen (Lega Nord in Italien), die in neoliberaler Logik Finanzausgleiche mit den armen Landesteilen ablehnen. Innerhalb ethnischer Minderheiten – Nordirland, Baskenland – inten-sivierte sich der Kampf der Terrorgruppen. (Zu a) und b) vgl. Dietmar Loch/Wilhelm Heitmeyer: Globalisierung und autoritäre Entwicklungen. A.a.O., S. 11-40)

c) Es rückten die Bewegungen der "idealistischen Globalisierungsgegner" und der Globalisierungsverlierer zusammen. Ohne die Unterstützung des US-Gewerkschaftsverbands AFL/CIO wäre das "Volk von Seattle" nicht entstanden. Das Anschwellen von Attac und ähn-lichen Gruppen dokumentiert den wachsenden Willen der "Idealisten" an aktiver Teilhabe am globalen Geschehen. Die Forderung der IG Metall nach Einstellung der Kriegshandlungen in Afghanistan widerspiegelt den stärkeren Druck der Mitglieder auf ihre Führung, die bislang in Treue fest zum SPD-Kanzler stand.

d) Es fand ein Prozess der "umgekehrten Kolonisierung" (Anthony Giddens) statt – ganze Städte und Stadtviertel der Ersten Welt entstanden, in denen die Dritte Welt zu Hause ist. Ihre Bewohner versorgen die Metropolen mit billiger Arbeit, aber sie sind nicht bloß Arbeitskräfte, sondern Menschen, noch dazu oft genug solche, die der deutschen Leitkultur und den Ansprüchen des Ausländer-Experten der Grünen Özdemir nicht entsprechen: "Wer unsere Werte teilt, kann kommen, wer nicht, kriegt Probleme."

Nun kriegen sie und alle Staatsbürger mit den neuen "Sicherheitspaketen" Probleme ganz neuer Art. Am wenigstens betroffen können sich bislang die Fundamentalreligiösen und Rechtsextremen in den USA fühlen, denn obwohl selbst das FBI ziemlich unverhohlen in ihre Richtung weist als Verantwortliche der Milzbrand-Attentate, nehmen sich weder die Medien noch die Polizei ihrer an. Die in den USA und Deutschland geplanten "Antiterrorgesetze" haben eine ganz andere Stoßrichtung: sie gehen den Weg zum allgemeinen Überwachungsstaat, sie wollen die politischen Gegner der Globalisierung und die Immigranten und Asylsuchenden und darüber hinaus die ganze Gesellschaft unter Kontrolle stellen. Burkhard Hirsch, FDP-Politiker und früherer Vizepräsident des Bundestages, nennt den Entwurf des Bundesinnenministeriums zum "Terrorismusbekämpfungsgesetz" den "Abschied vom Grundgesetz" (SZ, 2.11.01). Auszüge aus der Horrorliste verraten in der Tat "totalitären Geist":

 

Was hat das mit Terrorismusbekämpfung zu tun, fragt der Rechtsexperte Hirsch, wenn der Staat alle seine Bürger behandeln darf wie verdächtige Straftäter. In der Verfassung stehe, dass Aufgabe jeder staatlichen Gewalt sei, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Der Gesetzentwurf des Bundesinnenministers erfülle diese Aufgabe nicht. Dies trifft zu.

Es stimmt aber auch, dass ein Staat, der als sich als Agent der Transnationalen Konzerne versteht, auf die von der Verfassung geschützte Würde des Menschen nur in Maßen Rücksicht nehmen kann. Zur Militarisierung der globalen Politik gehört die polizeiliche Durchdringung der Gesellschaft nach innen. Diese Durchdringung muss um so intensiver vorangetrieben werden, je schwächer der im "zivilen Diskurs" hergestellte Konsens, d.h. die freiwillige Unterwerfung unter die Regeln der globalen Mächte, ausfällt. Die Sicherheitsstrategen der Regierungen in Deutschland wie in den USA gehen offenbar davon aus, dass das Maß an Freiwilligkeit abnimmt.

Conrad Schuhler, Journalist (München) ist Mitarbeiter des isw e.V.