Hans-Georg Pott (2003)

Adornos Kulturkritik - Zwischen Apokalypse und Messianismus

Vortrag in der Kunstsammlung NRW Düsseldorf 2003

Das Strohfeuer des Kulturbetriebs anlässlich des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno ist fast schon wieder verbrannt, die Geschäfte sind gemacht. Was bleibt, ist die „Wunde Adorno“, wie er einmal von der „Wunde Heine“ sprach. Ein Ärgernis – das wäre sein bestes Vermächtnis. Von Heine sagte er: „Sein Name ist ein Ärgernis und nur wer dem ohne Schönfärberei sich stellt, kann hoffen, weiterzuhelfen.“ (Die Wunde Heine, 146) Ein merkwürdiges Wort in dem Zusammenhang: weiterhelfen. Wohin: weiter? Ich meine: dass Vernunft-Aufklärung sich weiter über sich selbst aufkläre, ohne in das mythische Denken zurückzufallen. Weiter, nicht zurück. Es geht weiter. Die Kunst macht weiter. Kultur geht weiter. Ob es besser wird? Wer will das sagen?

Worin aber besteht das bleibende Ärgernis: doch darin, dass er uns anstößt, uns nicht zu bescheiden. Bescheiden zu werden, uns mit dem Bestehenden abzufinden. Dass es um nichts Geringeres geht, als um die „real befreite Menschheit“. Eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung, ohne Zwang und Versagung, ohne Gewalt und sogar ohne Herrschaft. „Die Wunde Heine wird sich schließen erst in einer Gesellschaft, welche die Versöhnung vollbrachte.“ (Ebd., 154) Das Ärgernis ist, wenn Sie so wollen, der religiöse Ton, der alle seine Schriften durchdringt, auch wo sie von Theologie nichts wissen wollen. Das, was ist, ist das Schlechte, die Not des Zustandes, die vollendete oder die drohende Katastrophe (der Holocaust und der Atomkrieg: Die Angst davor überschattete die 1950er und 60er Jahre; wir haben das fast vergessen - das ist nicht zu vergleichen mit der terroristischen Bedrohung heute, die zwar global ist, aber nicht den Globus bedroht), das Verruchte des Weltlaufs, der Verblendungszusammenhang, das Bewusstsein der Verstrickten, der Schrecken der Natur, die Naturverfallenheit, die Gewalt, die Kontrolle, die Unterdrückung, das Unrecht. Das sind alles Ausdrücke aus wenigen Seiten Prosa, herausgezogen und dem postmodernen Zeitgeist ein Ärgernis ebenso wie die positiven Gegenbegriffe zum Ärgernis geraten: dass es endlich besser werde, dass die Menschen einmal aufatmen dürfen, das lösende Wort, die Erlösung, die Versöhnung, Humanität. („Fortschritt“ in: Stichworte)
Eine Druckseite kulturkritischer Prosa Theodor Wiesengrund Adornos stellt eine gedankliche Herausforderung dar. Sie entzieht sich dem Konsum der gehobenen Unterhaltung und macht in ihrer Gedankenfülle ganze Zeitschriften- und Feuilletonjahrgänge entbehrlich, die man sich ersparen kann. Zeit, Er provoziert mit Dialektik! Es geht stets ums Ganze und zugleich um das Individuelle, das das Ganze negiert. Die Kunst des dialektischen Denkens Adornos besteht darin, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt, ohne doch herunterzufallen.

Unverlierbares Kernstück und bleibende Erbschaft von Adorno dürfte die Dialektik der Aufklärung sein. Ich möchte auf dieses zusammen mit Max Horkheimer verfasste und auch bekannteste Werk gleichsam in einem Randgang eingehen. In den Minima Moralia heißt es: „Dem Kind, das über der Lektüre von Tausendundeiner Nacht an Rubinen und Smaragden sich berauschte, stieg die Frage auf, worin eigentlich die Seligkeit im Besitz solcher Steine bestehe, die ja gerade nicht als Tauschmittel, sondern als Hort beschrieben werden. In dieser Frage spielt alle Dialektik der Aufklärung.“ (Minima Moralia, 156) Die Vernunft erkennt natürlich die Vergötzung, den Fetisch des Hortes – zumal es eine Eigenschaft despotischer Herrschaft ist, Schätze zu horten. Folgerte die Vernunft aber daraus, die Steine in ein Tauschmittel zu verwandeln, so wäre das gerade der Verrat an ihr und ein Rückfall in die „rationale Gestalt der mythischen Immergleichheit“ („Fortschritt“ in: Stichworte, 48); denn: „kein Glück ohne Fetischismus“. In der verwalteten, zweckrational zugerichteten Welt der bloßen Nützlichkeit hält einzig Kunst dem Glücksversprechen die Treue. Aber auch sie nicht ungebrochen. In einer hässlichen Welt wird sie selbst hässlich. „Die festgehaltene Idee des Schönen verlangt, Glück zu verwerfen zugleich und zu behaupten.“ (Minima Moralia, 157) Adornos Ausfälle gegen die Kulturindustrie sind allzu bekannt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Über „Industrie“ regt sich heute niemand mehr auf. Mit der „Verdummung und Lüge, wie sie unterm Schutz der Pressefreiheit gedeihen“ (Kulturkritik und Gesellschaft, 10) haben wir uns abgefunden. Manche Ohren mag vielleicht noch erschrecken, dass dies „Schandmale der [d. h. unserer, P.] Sklaverei“ seien. Solche Ohren mögen sich dann ins Private zurückziehen und Bach oder Beethoven oder Berg hören. Wir haben uns eingerichtet im (vergoldeten) Käfig, aus dem es kein Entkommen gibt, eine Studiotür zur einer Außenwelt, wie in dem Film Die Truman Show.

Das lässt sich am Begriff der Kulturkritik leicht zeigen. „Dem Kulturkritiker passt die Kultur nicht, der einzig er das Unbehagen an ihr verdankt.“ (Ebd., 7). Was passt ihm nicht an der Kultur? Die Anspielung auf Freuds Das Unbehagen in der Kultur verweist darauf, dass Kultur immer auch Opfer, Verzicht und Verlust bedeutet (auf ursprüngliche Natur, Lust, Einklang, Fetischismus), was sich wiederum als Ideologie und kulturelles Konstrukt er- weisen lässt. Nicht nur was ihm nicht passt, sondern dass es ihm nicht passt, ist selbst ein Kulturprodukt. Der Kulturkritiker hat Freud gelesen und Karl Marx und Nietzsche und einige andere. Er ist „bis in seine innerste Zusammensetzung hinein vermittelt“ (ebd., 7) durch den Begriff, wie Adorno sagt, das heißt durch Kultur und Gesellschaft. Dennoch dünkt er sich souverän und unabhängig ihnen gegenüber. Gerade darin besteht die Verblendung, die die Gesellschaft produziert; denn „die Gesellschaft ist wesentlich die Substanz des Individuums“ (Ebd., 10). Die Kritik der Kultur ist letztlich deren „verblendet-hochmütige Anerkennung“ (Ebd., 7). „Wo Verzweiflung und unmäßiges Leiden ist, soll darin bloß Geistiges, der Bewusstseinszustand der Menschheit, der Verfall der Norm sich anzeigen. Indem Kritik darauf insistiert, gerät sie in Versuchung, das Unsagbare zu vergessen, anstatt wie sehr auch ohnmächtig zu trachten, dass es von den Menschen abgewandt werde.“ (Ebd. 7/8) Das verweist implizit auf die berühmte Marxsche 11. These über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ (MEW 3, 7)

Adorno hat sich mit einer Ausdifferenzierung und Abspaltung eines nur Geistigen nicht abfinden wollen. So gilt ihm als der eigentliche Bereich der Philosophie die „Lehre vom richtigen Leben.“ (Minima Moralia, 7) Gleichzeitig sperrt er sich vehement gegen eine Diffamierung von Theorie und eine Verherrlichung blinder Praxis. Und das mit gutem Grund, denn mit der praktischen Verwirklichung von Ideen hat man im 20. Jahrhundert katastrophale Erfahrungen gemacht. Heute aber ist die Bestimmung von Bewusstsein durch Sein zu „einem Mittel geworden, alles nicht mit dem Dasein einverstandene Bewusstsein zu eskamotieren.“ (Kulturkritik und Gesellschaft, 22) Heute, ich sage das fünfzig Jahre später, ist aus dem Totalitarismus des Staates ein Totalitarismus der Massenmedien geworden oder jener hat sich mit diesem verbunden. Man muss nunmehr Marx auch von den Füssen auf den Kopf stellen; denn nicht länger bestimmt das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein allein, sondern das Bewusstsein der Massenmedien bestimmt das gesellschaftliche Sein ebenso. Womit wir bei Niklas Luhmann wären, den ich hier zur Anschlusskommunikation empfehle.

Der Kulturkritiker entkommt dem Verblendungszusammenhang nicht. „Er webt als bezahlter und geehrter Plagegeist der Kultur [...] mit am Schleier.“ (Ebd., 8/9) Wie geht Adorno damit um, dass er sich in den Selbstwiderspruch verstrickt, als einer der scharfsinnigsten Analytiker und Kritiker des Schleiers an genau diesem mitzuweben? Die Beantwortung dieser Frage führt ins Zentrum seines Denkens als einer negativen Dialektik. Ich möchte versuchen, das einmal im Einzelnen genau vorzuführen.

„Wahr ist Kultur bloß als implizit-kritische“. Dieser Satz für sich genommen wäre gänzlich undialektisch; denn die Behauptung wäre nur möglich, wenn es einen Standpunkt außerhalb gäbe, gleichsam von einem objektiven Beobachterposten. Der wird aber gerade als Schein entlarvt. Daher fährt er fort: „Kritik ist ein unabdingbares Element der in sich widerspruchsvollen Kultur, bei aller Unwahrheit doch wieder so wahr wie die Kultur unwahr.“ (Ebd., 11/12) Unwahrheit der Kritik und Unwahrheit der Kultur ergibt Wahrheit. Das könnte als höherer Blödsinn erscheinen. Der Satz ist aber nicht logisch zu verstehen, sondern als Paradoxie. Die Paradoxie ist der letzte Grund aller Erkenntnis, bei der der Erkennende sich als Teil des Erkannten begreifen muss; ein Zirkel, aus dem es kein Entrinnen gibt. Und genau dies macht ein Fortschreiten und Fortschreiben, ein Weitergehen notwendig, denn es leistet eine Entparadoxierung, ohne die Widersprüche beseitigen zu können. Eine andere Art der Legitimation von Kulturkritik ist auch gar nicht denkbar; denn dann müsste man sich auf höhere Werte und Normen berufen können. Das könnte man nur, wenn man eine Religion (oder Ersatzreligion) als Fundament (fundamental) der Kultur überordnen würde. Die Menschheit hat so ihre Erfahrungen damit.

Adorno verfährt bewunderungswürdig konsequent in der stilistischen Umsetzung dieser Dialektik bis in nahezu jede Satzformulierung hinein. Dazu noch ein Beispiel: „Denn nur gebrochen, in der Zurücknahme auf sich selbst geht der bürgerlichen Kultur die Idee der Reinheit von den entstellenden Spuren des zur Totalität über alle Bereiche des Daseins ausgebreiteten Unwesens auf. Nur soweit sie der zum Gegenteil ihrer selbst verkommenen Praxis, der immer neuen Herstellung des Immergleichen, dem Dienst am Kunden im Dienst der Verfügenden sich entzieht und damit den Menschen, hält sie den Menschen die Treue. Aber solche Konzentration auf die absolut eigene Substanz, wie sie in der Dichtung und Theorie von Paul Valéry den großartigsten Niederschlag gefunden hat, arbeitet zugleich an der Aushöhlung jener Substanz.“ (Ebd., 13/14) Um es einfacher zu sagen: Nur die Kunst, die sich dem Menschen entzieht, hält ihm die Treue, indem sich die Kunst selbst entsubstantialisiert. Genau das tut aber die moderne Kunst. Was ist mit Entsubstantialisierung und Enthumanisierung von Kunst gemeint? Es geht ihr - und ich folge hier dem Aufsatz Weltkunst von Niklas Luhmann - nicht mehr um einen wie immer gearteten Bezug zur Welt und zum Menschen, der gleichwohl zustande kommen mag, sondern um Selbstbezug. Die Welt ist dann das, was übrigbleibt, wenn Form geschaffen worden ist. „Wir verstehen unter ‚Weltkunst‘ nicht eine Kunst, die die Welt auf überlegene Weise repräsentiert, sondern eine Kunst, die die Welt beim Beobachtetwerden beobachtet und dabei auf Unterscheidungen achtet, von denen abhängt, was gesehen und was nicht gesehen werden kann.“ (Luhmann, Weltkunst, 40) Die Kunst hat daher ein ambivalentes Verhältnis zur Realität. „Sie spaltet die Realität durch ihre Form, so dass im Effekt zwischen zwei Seiten unterschieden werden kann: zwischen eine fiktionale gegenübergestellt wird, erzeugt die Kunst auf beiden Seiten ihrer Form einen Zustand, der vorher nicht da war oder jedenfalls nicht beobachtet werden konnte. Die reale Realität wird zum normalen Alltag, zum Bereich der vertrauten Erwartungen. Die fiktionale Realität wird zum Bereich der Reflexion anderer, unvertrauter, überraschender, nur artifiziell zu gewinnender Ordnungsmöglichkeiten.“ (Ebd., 13)

Insgesamt geht es im kulturellen Feld - um es pauschal zu sagen – um den Wandel von einem kosmologischen zu einem funktionalistisch-konstruktivistischen Weltbild, das hier nur mit dem Schlagwort der Kontingenz bezeichnet werden soll, und um den Modus des Beobachtens von Beobachtungen. „Aussagen über die Welt können nun nicht mehr als ein Hinübercopieren von Sachverhalten ins Bewusstsein verstanden werden. [...] Es kommt darauf an, welche Differenz es macht, wenn Welt beobachtet wird; und das kann man nicht an der Welt, sondern nur an Beobachtern beobachten.“ (Ebd., 8)

Weit entfernt jedoch, sich einem wie immer aufgefassten Funktionalismus zu verschreiben, besteht Adorno darauf, sich jeglichen Verschreibungen und Festschreibungen zu entziehen. Seine negative Dialektik besteht gerade darin, die Logik eines Entweder-oder zu verwerfen. Negativ betrachtet ist seine „Kunst“ die der konkreten Negation: A nicht und B auch nicht usw. Es gibt halt kein wahres Leben im falschen. Positiv betrachtet könnte man das als die „Logik“ des Sowohl-als-auch bezeichnen. Das ist vielleicht eine etwas gewaltsame Transformation. Die Logik des Sowohl-als-auch findet sich etwa in der Betrachtung der Kategorie des Fortschritts. Zunächst wird der Fortschritt negiert, und auch diejenigen Positionen werden negiert, die den Fortschritt negieren. Er gelangt zu einer vermittelnden Position: Mahnt das Bild der fortschreitenden Menschheit „an einen Riesen, der nach unvordenklichem Schlaf langsam sich in Bewegung setzt, dann losstürmt und alles niedertrampelt, was ihm in den Weg kommt, so ist doch sein ungeschlachtes Erwachen das einzige Potenzial von Mündigkeit; dass die Naturbefangenheit, in welche der Fortschritt selbst sich eingliedert, nicht das letzte Wort behalte.“ („Fortschritt“ in: Stichworte, 37) Schließlich bleibt das Paradox: „Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch dem des Fortschritts“ (ebd.).

Ich gebe zu: ihm eine Logik des Sowohl-als-auch zu unterstellen – sowohl gilt: nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, als auch: nach Auschwitz sind Gedichte möglich (was nichts damit zu tun hat, dass welche geschrieben werden – das könnte ja ein Unwahres sein), ihm eine solche „Logik“ zu unterstellen, hieße Adorno aus dem konkreten geschichtlichen Zusammenhang herauszulösen, in dem er steht. Und es verrät auch die Negative Dialektik.

Ich möchte auf diesen berühmten, zum Spruch geronnenen Satz genauer eingehen, der sich am Schluss des Essays über Kulturkritik und Gesellschaft findet. „Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und umso paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ (Kulturkritik und Gesellschaft, 31)

Zunächst einmal: Dieser Satz hat ein Datum. Geschrieben 1949. In diesem Datum liegt die objektive Wahrheit dieses Satzes begründet. Denn: Es gibt „nur einen Ausdruck für die Wahrheit: den Gedanken, der das Unrecht verneint.“ (Dialektik der Aufklärung, 195f.) Dieses Datum bezeichnet den Ort der totalen und universalen Vernichtung des Menschlichen, des Menschheitlichen, des gesamten Wertekanons abendländischer kultivierter Kultur. Wer heute meint, ohne diesen datierten Ort denken und schreiben zu können, ohne dieses Gedenken, wird keinen wahren Gedanken fassen können. Wenn heute Gedichte geschrieben werden und wenn weiterhin Kunst gemacht wird und Kunstkritik, dann heißt das, dass die Barbarei fortbesteht. Es bestätigt die Permanenz des Schuldzusammenhangs. Das geht über die Kritik am Tausch und an der Verdinglichung hinaus. Damit möchte ich insistieren, dass die Negative Dialektik gleichsam überschattet ist von einer metaphysischen Dimension. Adorno denkt nicht ohne Gedenken. Heidegger bringt den Gedanken mit dem Danken zusammen. Für Adorno gibt es nichts zu danken. Das Schlusskapitel der Minima Moralia lautet: „Zum Ende. – Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellen. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. [...] Selbst seine [des Gedankens, P.] eigene Unmöglichkeit muss er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selbst fast gleichgültig.“ (Ebd., 333f.)

Das Schlusskapitel der Negativen Dialektik von 1966 nimmt die Gedanken aus dem frühen Aufsatz von 1949 und aus den Minima Moralia, von 1944 bis 1947 geschrieben, wieder auf; ein Hinweis darauf, dass Adorno sie keineswegs für zeitbedingt und überholt hielt. In den Meditationen zur Metaphysik heißt es, Auschwitz habe das Misslingen der Kultur unwiderleglich bewiesen. „Dass es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, dass diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern. In jenen Sparten selbst, im emphatischen Anspruch ihrer Autarkie, haust die Unwahrheit. Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“ (Negative Dialektik, 357) Kultur ist zur Ideologie geworden. „Wer für Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte. Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus“ (Negative Dialektik, 358). Authentisch wäre für Kulturschaffende einzig das Bewusstsein, Müllmänner zu sein. Ich sehe nicht, warum das kein ehrenhafter Beruf sein soll. Aber ich will es mir nicht zu einfach machen.

Den Zustand der Gegenwart hat wohl in seiner vollendeten Negativität neben Adorno niemand deutlicher zum Ausdruck gebracht als der Müllverwerter Samuel Beckett, vor allem in seinem Endspiel. Becketts Theater wird zur Mülldeponie für die Altlasten der Kultur. Er sperrt nicht nur die Alten, die Eltern in Mülleimer; Adorno bemerkt in seinem Versuch, das Endspiel zu verstehen: „Was Beckett an Philosophie aufbietet, depraviert er selbst zum „Kulturmüll [...]. Der natürliche Zusammenhang des Lebendigen ist zum organischen Abfall geworden. [Damals gab es noch keine Stammzellenforschung! P.] [...] Becketts Mülleimer sind Embleme der nach Auschwitz wiederaufgebauten Kultur.“ (Noten zur Literatur 2, 188, 224) Auf das Bestimmteste benennt er auch den Zustand der totalen Verdinglichung durch das Identitätsprinzip in den Worten Clovs: „Ich liebe die Ordnung. Sie ist mein Traum. Eine Welt, in der alles still und starr wäre und jedes Ding seinen letzten Platz hätte, unterm letzten Staub.“ (Beckett, Dramatische Dichtungen, 279) Diese Apokalypse des Stillstands berührt den messianischen Zustand der Erlösung im bilderlosen Bild des Todes: „In ihm verschwindet der Unterschied zwischen der absoluten Herrschaft, der Hölle, in der Zeit gänzlich in den Raum gebannt ist, in der schlechterdings nichts mehr sich ändert, - und dem messianischen Zustand, in dem alles an seiner rechten Stelle wäre. Das letzte Absurde ist, dass die Ruhe des Nichts und die von Versöhnung nicht auseinander sich kennen lassen.“ (Noten zur Literatur 2, 236)

Dem Geist der Negativen Dialektik zuwider wäre es, dies oder anderes als ein letztes Wort zu nehmen. Es gibt keine letzten Worte. Trotzdem muss dieser Vortrag einmal enden. Das Ende ist meine Entscheidung und behauptet nicht, Adorno in einem Endspiel wie in einem Schachspiel zu sistieren. Er selbst anerkennt ausdrücklich am Schluss der Negativen Dialektik, dass alles Denken ein Bedürfnis enthält, getragen ist vom Wunsch. „Aus dem Bedürfnis wird gedacht, auch wo das wishful thinking verworfen ist.“ (Negative Dialektik, 397) Es ist mein Bedürfnis etwas vom metaphysischen Wahrheitsgehalt zu retten. Er selbst gibt Hinweise. Metaphysik wandert, schreibt er auf der letzten Seite der Negativen Dialektik, in die „Mikrologie“ ein, die er nicht mehr näher erläutert. Der Schlusssatz der Negativen Dialektik lautet: „Die „kleinsten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs Absolute, denn der mikrologische Blick zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos vereinzelten und sprengt seine Identität, den Trug, es wäre bloß Exemplar. Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick des Sturzes.“ (Negative Dialektik, 398)

Ein solches Denken wäre vielleicht am ehesten ein Denken und Bedenken der Kunst, der Dichtung zumal als ein liebevolles Versenken in den Gegenstand. Deutende und bedeutende Betrachtung des Kleinen und Kleinsten ist ein Verfahren in bedeutendsten Werken. Hier wäre nur Joyce zu nennen oder Proust. Daher möchte es vielleicht angemessen sein, mit einem Zitat aus der Dichtung zu enden, mit dem von Adorno verehrten Proust. In diesem Zitat zeigt sich der mikrologische Blick in einer Beschreibung, der es gelingt, eine lesbare Konstellation von Seiendem zu einer Konfiguration zu fügen, in der „die Elemente zur Schrift zusammentreten“ (Negative Dialektik, 397), um ein Nichtidentisches zu bewahren.

„Als ich die Kirche verließ, sah ich vor der alten Brücke Dorfmädchen stehen, die, sicher des Sonntags wegen in ihren besten Kleidern, den Burschen, die vorübergingen, neckende Worte zuriefen. Weniger gut gekleidet als die übrigen, aber ihnen gleichwohl, wie es schien, durch eine geheime Macht überlegen – denn sie antwortete kaum auf das, was jene zu ihr sagten – ernster und eigenwilliger saß eine Große halb auf dem Brückengeländer und ließ die Beine hängen; vor ihr stand ein kleiner Eimer mit Fischen, die sie offenbar gerade gefangen hatte. Ihre Haut war sonnverbrannt, ihre Augen sanft, hatten aber dabei einen Blick, der über alles, was sie umgab, hinweg- zusehen schien; ihre kleine Nase war von feiner, bezaubernder Form. Meine Blicke ruhten auf ihrer Haut, und meine Lippen konnten beinahe glauben, sie seinen meinen Augen gefolgt. Doch nicht nur ihren Körper hätte ich damit anrühren mögen, sondern auch die Person, die sie im Innersten war und mit der es nur eine Form des Anrührens geben konnte, die darin bestand, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und nur eine Art, in sie einzudringen, nämlich die, in ihr einen Gedanken zu wecken.“ (Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 3, 941f.)

Proust nennt nicht den Namen der „Großen“, er identifiziert sie nicht, drängt sich ihr nicht auf; sein Eindringen beschränkt sich auf die Aufmerksamkeit, die er in ihrem Bewusstsein erregen möchte, ohne wissen zu wollen, ob es gelingt. So bleibt es bei der „lesbaren Konstellation von Seiendem“. Das ist Dichtung ohne den Gestus der Herrschaft, des Sichbemächtigen-Wollens der Dinge und Menschen und sei es des Dichters selbst, solidarisch mit Metaphysik im Augenblick des Sturzes.

Literatur:

Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1973

Theodor W. Adorno: Die Wunde Heine. In ders.: Noten zur Literatur1. Frankfurt a. M. 1971, S. 146-154

Theodor W. Adorno: Fortschritt. In ders.: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt a. M. 1969, S. 29-50

Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In ders.: Prismen. Frankfurt a. M. 1976, S. 7-31

Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Frankfurt a. M. 1980

Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1970

Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur 2. Frankfurt a. M. 1970

Samuel Beckett: Dramatische Dichtungen. Frankfurt a. M. 1981

Niklas Luhmann: Weltkunst. In N. L., Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld 1990

Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd. 3. Berlin 1969 (= MEW 3)

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 3. Frankfurt a. M. (4)1985