Emanuel Kapfinger (2.9.09)

Elemente der Kulturkritik Adornos

Mit einer Kritik der Kultur kommen auch Entfremdungsphänomene außerhalb der Ökonomie, des traditionellen Felds marxistischer Gesellschaftskritik, ins Blickfeld der Gesellschaftskritik. Sie eröffnet die Kritik sozialer Verhältnissen nicht nur nach ihren materiellen Implikaten, Leid und Elend hervorzubringen und den Menschen ihre Bedürfnisse zu verwehren, sondern gewissermaßen den Menschen als Ganzes zu sehen.

Adorno war ein „herausragender Kulturkritiker“ [1], der mit seinem Verstand und Interesse für kulturelle Phänomene die kulturelle Entfremdung in dialektisch-materialistischer Begriffsbildung verarbeitete. Mit seiner philosophischen, psychoanalytischen und kunstwissenschaftlichen Bildung und seinem feinem Gespür für die Enge, Künstlichkeit und Gewalt der bürgerlichen Kultur konnte er die Kritik seiner Empfindung an ihr sehr genau formulieren. Seine „Kulturindustrie-These“ hat es bis in die bürgerlichen Feuilletons und Pop-Zeitschriften geschafft.

Es ist bei Adorno nicht bloß, wie im traditionellen Marxismus – übrigens nicht bei Marx selbst –, der stoffliche Gesellschaftszusammenhang, der die Menschen als außer ihnen stehender kontrolliert, sondern auch die Kultur, in der so verschiedene Bereiche wie das Gefühl, Zwischenmenschlichkeit und alltägliche Lebenszusammenhänge inbegriffen sind. Kulturkritik bei Adorno ist zu großen Teilen Verdinglichungskritik und konstatiert insofern die Bestimmung und Bewegung der Individuen nicht aus ihnen selbst – bei Adorno immer in der Negation ihres Allgemeinen, also auf dieses bezogen –, sondern unmittelbar durch ihr abstrakt Anderes, das abstrakte Allgemeine; diese Logik habe ich genauer formuliert in meinem Text Adorno über verdinglichtes Denken ([2], s. dort 3.2.2). Kulturkritik geht bei Adorno allerdings nicht in Verdinglichungskritik auf; wesentlich ist für sie ebenfalls das Benennen von Täuschungen durch die Kultur (s.u. 1.1-3).

Um seine kulturkritischen Themen und Perspektiven zu erarbeiten, wende ich mich hier den Minima Moralia [3] zu, die ein breites Spektrum an Phänomenen und insofern reichhaltiges Material und ganz unterschiedliche kulturkritische Analysen bieten.

1 Kulturkritik in den Minima Moralia

1.1 Kultur mehr als Ideologie (Aphorismus 22)

Als zentrales Motiv der Kulturkritik bezeichnet Adorno die Entlarvung von Kultur als Lüge, die über das wirkliche Elend der Menschen hinwegtäuscht und damit der Festigung der kapitalistischen Gesellschaft dient. Zugleich ist die Art der Kultur, die auf solchem Boden wächst, nicht unabhängig von ihm und selbst kritikwürdig. „... leicht lässt an allem, was über das Materielle sich legt oder es vermittelt, die Spur von Unaufrichtigkeit, Sentimentalität, ja gerade das verkappte und doppelt giftige Interesse sich finden.“ (48) Als Kultur ist hier wohl der gesamte außerökonomische und außerpolitische Bereich gemeint, d.h. nicht bloß „Kunst und Wissenschaft“; als Beispiel nennt Adorno das Private, und in ihm zarte erotische und sublime geistige Beziehungen (vgl. 48). Kultur jedoch einfach abzuschaffen, weil sie bloße Ideologie sei, würde „mit dem Unwahren auch alles Wahre ausrotten, alles was wie immer ohnmächtig dem Umkreis der universellen Praxis sich zu entheben trachtet ...“ (48) Kultur ist daher mehr als Ideologie. In Kultur zeigen die Menschen, dass sie in ihrer Zurichtung nicht aufgehen. Im Sinne Adornos ließe sich formulieren, dass die Menschen mit phantastischen Entwürfen ihre Einbildungskraft betätigen und so den Funken des Lebens bezeugen, der in ihnen wohnt und über die Gewalt der Gegenwart hinausgeht. Zugleich üben sie damit praktische Kulturkritik – in Kultur wohnt daher selbst der kritische Impuls, den der Kulturkritiker aufgreift und theoretisch ausarbeitet.

1.2 Positiv denken (Aphorismus 38)

Freilich bedient sich auch Adorno des eben genannten Motivs der Kulturkritik. So in Bezug auf die Psychoanalyse im Aphorismus Aufforderung zum Tanz, deren Patienten wegen ihrer neurotischen Erkrankung an gestörter Genussfähigkeit leiden. Die Psychoanalyse will ihnen die letztere wiedergeben. Während der Analyse üben die Patienten jedoch die permanente Selbsttäuschung über ihr Glück ein. Sie erhalten so die Fähigkeit zu genießen, jedoch ohne Beziehung auf den Gegenstand des Genusses, sie lernen etwa, sich wahllos „an dem Schundfilm, dem teuren aber schlechten Essen im French Restaurant, dem seriösen drink und dem als sex dosierten Geschlecht“ (69) zu begeistern. Dieses vom Analytiker „verordnete Glück“ (69) ist die einfache Setzung, glücklich zu sein, und besteht in der beständigen Selbstversicherung, glücklich zu sein, im Grunde wider besseres Wissen, in der „dezidierte[n] Proklamation von Verschwendungssucht und Champagnerfröhlichkeit“ (69). Nicht nur in der Psychoanalyse wird diese aufgesetzte und gezwungene Fröhlichkeit eingeübt, es entspricht auch der Methode der „omnipräsenten Reklame“ (69), die die Mär vom schönen Leben verbreitet.

Adorno übt hier Kulturkritik an einer Art von Glück, das bloße „Scheinbefriedigung“ (69) ist, und unter dem das wirkliche Unglück fortbesteht. Er fordert, den Menschen dieses Surrogat des Glücks zu nehmen; sie müssen erkennen, dass sie sich im Widerspruch gegen die sich als positiv setzende Scheinwelt befinden und viel weitergehende Möglichkeiten zu leben haben: „Erst in dem Überdruss am falschen Genuss, dem Wderwillen gegens Angebot, der Ahnung von der Unzulänglichkeit des Glücks ... würde der Gedanke von dem aufgehen, was man erfahren könnte.“ (69f) Diese „ungestörte(n) Genussfähigkeit“ (70), die sich vielmehr als solche proklamiert, ist nicht beziehungslos zu dem Elend, gegen das sie sich nämlich gerade blind macht und von dem sie nicht gestört werden will. Es ist dies vielmehr ihr „Schema“ (70). „[E]in gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, dass jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht.“ (70)

Die Methode der Entlarvung des Scheins eines schönen Lebens lässt sich noch auch auf das Höchste des bürgerlichen Subjekts selbst anwenden, seine Individualität. Zu dessen Selbstverständnis gehört es, trotz der universalen Standardisierung und Integration selbst davon ausgenommen zu sein. Was hier wirklich zum Ausdruck kommt, ist bloße Pseudo-Individualität; der Schein der Individualität wird andererseits von der Kulturindustrie gezielt verbreitet. Im Beispiel des Aphorismus Nummer 132 meinen radikale Intellektuelle, sich gegen alle Mechanismen des Systems zu stellen, während ihre Radikalität nur aus einer „Sparte des Schemas“ fertig entnommen ist; gleichzeitig können sie sich mit entsprechend „linken“ Kulturwaren eindecken.

Die Genese des subjektiven Bedürfnisses auf solche Scheinbefriedigungen liegt in unbefriedigten realen Bedürfnisses bzw. im realen Unglück. Die Kritik trifft aber nicht nur die ideologische Funktion dieses Glückssurrogats, nämlich dass es das reale Elend verdeckt, sondern die so entstehende Kultur selbst, die eine ungegenständliche und äußerliche Beziehung auf ihre glückversprechenden Tätigkeiten hat. Erst hierin läge eine immanente Kritik der Kultur, die deren eigene Widersprüche ins Auge fasst.

1.3 Die Kultur des unwirklichen Lebens (Aphorismus 121)

Eine solche immanente Kulturkritik führt Adorno im Aphorismus 121 durch. Gegenstand seiner Kritik ist eine Lebensweise, näher eine der Oberschicht zugehörige Kultur, das „high life“ (215). Es ist ein „Kult formvoller Lebensführung“ (216) und besteht in der sorgsamen Ausführung des Stils, so dass jedes Detail des Alltags ästhetisiert wird; diese Form zu wahren, wird hier zur eigentlichen Aufgabe des Lebens, die einigen Aufwand fordert. „[D]ie Gestaltung des Lebens [wird] zu einer Aufgabe ..., in der man Spielregeln zu befolgen, einen Stil artifiziell zu bewahren, das delikate Gleichgewicht von Korrektheit und Unabhängigkeit zu halten hat ...“ (215) Diese Kultur setzt sich selbst als substantiell und unabhängig von der ökonomischen Basis, sie meint in ihrer hingebungsvollen „Ästhetisierung des Alltags“ eine Wirklichkeit sui generis zu sein. Tatsächlich führt sie eine von der „leibhafte[n] Wirklichkeit“ (215) abgespaltene Existenz, so dass sie eher als Sphäre der Unwirklichkeit zu bezeichnen wäre. An sich ist der Vollzug dieses Kultes sinnlos, wiewohl er sich als Sinn hypostasiert, das heißt: Er ist gesellschaftlich unbezogen, seine gesellschaftliche Voraussetzung und soll sich in der Tat „selbst genug sein“ (215). Es ist jedoch nur ein „sich selbst veranstaltendes Leben“ (216). Es wird nicht etwa ein kulturelles Ereignis, sondern das Leben in seiner Gesamtheit veranstaltet, das sich als Event, als einzige Ausnahme begreift und formvollendet inszeniert ist. Leben im eigentlichen Sinne fehlt. Glück ist selbst in dieser Sphäre des Reichtums nicht zu finden; dies „kommt zutage an der Langeweile der Cocktail Parties und der Weekend-Einladungen auf dem Lande, des für die ganze Sphäre symbolischen Golfs und der Organisation von Social Affairs – Privilegien, an denen keiner rechten Spaß hat ...“ (216)

Für die Erarbeitung von Adornos kulturkritischen Motiven ist von besonderem Interesse, dass Adorno keine ökonomische Kritik an dieser Oberschicht übt, wie dass sie, obwohl untätig, die Früchte der gesellschaftlichen Arbeit genießt. Er nennt diese Schicht zwar „gesellschaftlich Überflüssige(n)“, richtet sein Augenmerk jedoch auf ihre Kultur, die der Wirklichkeit enthoben, also unwirklich ist, und die trotz oder gerade wegen ihrer Perfektionierung von Form und Stil des Sinns und des wirklichen Lebens entbehrt.

1.4 Keine Tiefe mehr (Aphorismus 120)

Ein authentisches Stück bildungsbürgerlicher Kulturkritik findet sich in Aphorismus 120. Adorno beklagt hier – unter anderem – den Verlust des Bürgertums an Geist. Dieser wird von den Bürgern als beliebige Qualität neben andere gestellt, die „einladens- oder heiratswert machen, wie gutes Reiten, Naturliebe, Charme oder ein tadellos sitzender Frack.“ (214) Der so verdinglichte Geist entbehrt seines ursprünglichen Sinnes. Statt sich mit Geistigem zu beschäftigen, gehen die Bürger im Alltäglichen auf. Das frühere Niveau ist verloren. „Die Tiefe von vorgestern ist in die äußerste Banalität umgeschlagen.“ (214)

Die „verdinglichten“ Interessen führen auf das zentrale Feld von Adornos Kulturkritik: die Verdinglichung. Sie kritisiert den Verlust von Subjekteigenschaften; im folgenden will ich mich auf die Verdinglichungskritik konzentrieren.

1.5 Die Kälte zwischen den Menschen (Aphorismen 9, 15, 20 und 21)

Zu ihr gehört die Kritik der verdinglichten Zwischenmenschlichkeit, an der Kälte zwischen den Menschen. Die Menschen sind in ihren Beziehungen nicht mehr fähig, sich in die Bedürfnisse der anderen einzufühlen und sich für deren Glück hinzugeben, eine Beziehungsform, deren Modell nach Adorno das Schenken ist. „Wer dazu [zum Schenken] durch die Logik der Konsequenz unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert.“ (47) Schenken setzt ein nicht-verdinglichtes Denken voraus, es begreift in sich, „den andern als Subjekt [zu] denken“ (47). Verdinglichtes Denken dagegen löst alles in Objekt und äußerliche Bestimmtheit auf.

Kälte bedeutet aber auch, sich in den instrumentellen, äußerlichen Beziehungen emotional vom anderen zurückzuziehen, gerade um keine Verbindlichkeiten zu riskieren. Adorno exemplifiziert das an der Lüge. „Gelogen wird nur, um dem andern zu verstehen zu geben ..., dass man seiner nicht bedarf ...“ (32) Mithilfe der Lüge verbreitet jeder „die Kälte um sich ..., in deren Schutz er gedeihen kann.“ (32) So verhindern sie, in emotionale Abhängigkeit zu anderen zu geraten und sich gegen ihren Willen zu irgendetwas zu verpflichten. Diese Möglichkeit zeigt aber, dass sie durchaus noch füreinander offen sind, und es ihnen selbst schwierig ist, dem andern offen ihre Nichtachtung zu zeigen. Genau deswegen erzeugen sie die Kälte um sich. Kälte setzt daher den Gegensatz zur Verdinglichung voraus.

In solchen zwischenmenschlichen Beziehungen gleichen die Menschen mechanischen Atomen; es ist nicht mehr eine gemeinsam geteilte Substanz, auf der solche Beziehungen gründen: „Der Kitt zwischen den Menschen [wird] ersetzt durch den Druck, der sie zusammenhält.“ (45) Die Menschen haben so keinerlei Sinn mehr füreinander, oder er ist reduziert auf den abstrakten Nutzen, der sie zusammenbringt.

1.6 Schnellabfertigung von Bedürfnissen (Aphorismus 75)

Das entwirft das Bild einer Gesellschaft, in der noch der dunkelste Winkel im Individuum, der letzte Rückzugsort, von einer Sachlogik erfasst ist. Gegen jegliches wird unter der Maxime seiner Benutzbarkeit verfahren. Das Individuum, das sich in diesen verdinglichten Verhältnissen bewegt und noch eine ihm als Individuum gerecht werdende Beziehung sucht, erfährt von anderen Kälte oder eine schlecht gespielte Fassade der Wärme. – So wie Adorno in der Kalten Herberge.

Im gleichnamigen Aphorismus beschreibt er den Verfall der Gastlichkeit in Wirtshäusern. Er orientiert sich an einem heimeligen Ideal von Wirtshaus, in dem dem Wirt das leibliche Wohl und die Gemütlichkeit des Gastes am Herzen liegt. Jedoch: „Zug um Zug ... vernichten die Mittel den Zweck“ (132), kehren sich die Mittel des Gastgewerbes gegen das Wohl des Gastes. „Die Arbeitsteilung, das System automatisierter Verrichtungen, bewirkt, dass keinem am Behagen des Kunden etwas gelegen ist.“ (132) Indem das Gasthaus im Zwecke maximaler Effizienz durchorganisiert ist und die Gäste durch „unbequeme Sitze“ und „moralischen Druck“ (132) zur Schnellabfertigung gebracht werden, schwindet alle Nähe zwischen Angestellten und Gästen. Das Wirtshaus wird zur „Kalten Herberge“. Wenn diese mit einer hostess ein gewisses Maß an Heimeligkeit vorspielen will, dann ist das Gegenteil offenbar: „Ihr [der hostess] wahrer Zweck ist, darüber zu wachen, dass der eintretende Gast sich nicht einmal mehr den Tisch selber aussucht, an dem der Betrieb über ihn ergeht.“ (133)

Adorno erlebt also die aus ökonomischen Gründen rationalisierte Wirtshausorganisation als kulturelle Entfremdung. Diese Kulturkritik greift also den kulturellen Umgang von Menschen oder Institutionen mit einem anderen Menschen an, obwohl er in ökonomischen Formen gründet, die ihrerseits ökonomisch kritisiert werden. Dies zeigt, wie wenig Kultur und Ökonomie zu trennen sind oder andererseits wie eng die Wechselwirkung zwischen beidem ist.

1.7 Verdinglichtes Sein zum Tode (Aphorismus 148)

Hier beschreibt Adorno die veränderte Bedeutung des Todes. War er früher einmal das absolute Nichts, das dem Sein des absoluten Individuums entgegengesetzt war und ihm sein Ende bereitete, so ist er heute eine „quantité négliable“ (265), eine gleichgültige Operation gegen ein gleichgültiges, austauschbares Element im Gesellschaftsprozess. Früher war es „das emphatische Bild des Todes, der das Individuum, das Substrat allen bürgerlichen Verhaltens und Denkens, ganz auslöscht.“ (264) Später „verwandelt sich die Erfahrung des Todes in die des Austauschs von Funktionären.“ (265) Adorno kritisiert also das verbreitete unpersönliche Verhältnis zum Tod, das ihn nicht mehr in seiner Würde und Absolutheit begreift. Die Gesellschaft, in der der Tod seine Bedeutung verloren hat, charakterisiert Adorno als selbst tot, es ist „eine Menschheit, ... die sich selber starb ...“ (266) Hiermit erhält die kulturkritische Kategorie der Lebendigkeit, die Adorno im Aphorismus 121 im Gegensatz zur Unwirklichkeit verwendet, noch eine eine weitere Bedeutung, die also dem Tod entgegengesetzt ist.

1.8 Weitere kulturkritische Phänomene

Um den Text nicht durch weitere genaue Analyse von Aphorismen in die Länge zu ziehen, und das Ensemble der Adornoschen Kulturkritik andererseits zumindest ansatzweise zu vervollständigen, nenne ich hier noch einige Themen der Minima Moralia, um daraus weitere kulturkritische Kategorien zu gewinnen.

Den Verfall der sprachlichen Nuance (250) könnte man als Verlust von Kultiviertheit – von Bildung (vgl.a. 28) und Feinsinnigkeit – bezeichnen. Stattdessen herrscht Halbbildung, Wahrnehmung vollzieht sich nur mehr undifferenziert, „objektiv verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle ... Differenzen“ (28). Erfahrung und Erkenntnis (72) sind zunehmend verdinglicht, ein ursprüngliches und nicht entstelltes Verhältnis zum Gegenstand, das diesen in seiner Singularität nimmt und das erfahrende Subjekt in innigen Kontakt zum Gegenstand wirklich angeht, wird unmöglich. „Die Regression der Massen heute ist die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören [und] Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können ...“ (DA 43) Statt Erkenntnis aus eigener Initiative zu tätigen, wird sie lediglich noch auswendig übernommen, und Denken ist bloße schematische Bearbeitung vorgegebener Aufgaben (223f). Entsprechend sind Dinge wie Menschen auf ihnen äußerliche Schemata heruntergebrochen, die nach ihrem Nutzen sortiert und dann wirklich so, nämlich bloß instrumentell, behandelt werden (149). Das wird zum Teil unter der Kategorie der Massenkultur behandelt, welche die Tiefe und Differenz der Individualität auf dieselbe Einheitlichkeit herunterbringt. „[D]er gesellschaftliche Mechanismus [macht] ..., was auffällt, gleich ...“ (DA 251) Gerade in Bezug auf die Kulturindustrie findet eine Nivellierung ästhetischer Erfahrung statt (259f), ebenso wie der künstlerischen Äußerung selbst (244); die Massenkultur verwehrt es den Individuen, Ausdruck und Urteil in Spontaneität zu entwickeln. Statt der Bestimmung durch sich selbst sind die Menschen bloße Anhängsel einer Maschine geworden. Sie reagieren und handeln mechanisch, nach ihrem optimalen Nutzen für die Apparatur (261ff).

In diese Phänomene gehen die folgenden kulturkritischen Kategorien ein: die Kultiviertheit, das unmittelbare und innige Verhältnis zu Dingen wie zu Menschen, die Nivellierung, die Instrumentalisierung und die Spontaneität.

2 Zur Kritik an Adorno

2.1 Die aporetische Voraussetzung der Verdinglichungskritik (Aphorismen 16, 97 und 99)

Adornos Verdinglichungskritik hat einen prekären Status: Wird die Verdinglichung des Todes angeklagt, so muss dazu auf die Würde des Individuums, als Zweck an sich, rekurriert werden. Doch gerade das ist problematisch, wenn die Individuen keine mehr sind. Entgegen Adornos Aussagen von der Liquidation des Individuums (vgl. z.B. 153) beharrt er also insgeheim auf dem Fortbestehen des Individuums. Gleichzeitig besteht seine Kritik – wie hier am verdinglichten Tod – darin, das Ende des Individuums aufzuzeigen (vgl. [2], dort 3.2.1 „Der Widerspruch in der Liquidation des Individuums“). Entsprechend aporetische Bestimmung durchzieht Adornos gesamte Verdinglichungskritik. Dem soll nun nachgegangen werden.

 Die Basis seiner Verdinglichungskritik ist der bürgerliche Subjektbegriff, wie in der Untersuchung deutlich wurde, sei es hinsichtlich der Selbstbestimmung, der Einzigartigkeit, der ganzheitlichen Persönlichkeit, der Kultiviertheit oder anderem. Zugleich bestimmt Adorno gerade dieses Subjekt als „eine Abstraktion. Was als ursprüngliche Entität, als Monade auftritt, resultiert erst aus einer gesellschaftlichen Trennung vom gesellschaftlichen Prozess.“ (175) Das Subjekt als solches gibt es also nicht. Mehr noch: „Dass die Freisetzung des Individuums ... nicht etwa den Widerstand [gegen die Gesellschaft] stärkt, sondern ihn, ja die Individualität selber eliminiert ..., ist das Modell eines der zentralen Widersprüche, die vom neunzehnten Jahrhundert in den Faschismus trieben.“ (170) Gerade in der Vollendung des Individuums setzt sich die Gewalt des Allgemeinen durch und löscht alle Individualität aus.

Was aber ist diese Individualität dann, wenn sie nicht die Unabhängigkeit von anderem, die Bestimmung durch ein Selbst meint? Offensichtlich kann sie nicht im Gegenteil bestehen, d.h. der Verdinglichung des Individuums, denn das Individuum wird gerade gegen die Verdinglichung – wie sie durch die Vollendung des Individuums entstanden ist – in Stellung gebracht. Läge die „wahre Individualität“ irgendwie „zwischen“ der Selbstbestimmung und der Fremdbestimmung? Darauf deutet etwa Adornos Dialektik des Takts (38) hin. Letzterer ist eine „Differenzbestimmung“ (40) zwischen der Konvention – die dem Individuum unangemessen und äußerlich ist – und der absoluten Angemessenheit ihm gegenüber. Letztere als einseitige „bestätig[e] nur das Alleräußerlichste, ein Leben unmittelbarer Beherrschung.“ (40) Nur in der widersprüchlichen, dialektischen Einheit beider lässt sich Angemessenheit gegenüber dem Individuum erreichen. Die „wahre Individualität“ liegt daher in der dialektischen Vermittlung von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Durch das Abstellen dieser Dialektik dagegen, „[d]urch diese Auflösung alles Vermittelnden im Individuum selber ... verarmt, verroht und regrediert es auf den Stand des bloßen gesellschaftlichen Objekts.“ (171)

Doch in was besteht nun das Moment des Individuums in dieser Dialektik? Adorno schreibt: „Es hat keinerlei Inhalt, der nicht gesellschaftlich konstituiert ... wäre.“ (170f) Demnach gäbe es dieses Moment der Dialektik gar nicht, da es sich im Handumdrehen in sein Gegenteil verwandelt – nicht aber umgekehrt das Moment der Gesellschaft in seines, wie anzumerken ist. So kommt es dahin, dass Adorno, offensichtlich gegen seinen dialektischen Standpunkt, am vereinzelten Individuum festhalten muss. Diese aporetische Position wird etwa an seiner Kritik an der Persönlichkeit im Aphorismus 39 deutlich. „... was als Ich sich selber setzt, ist in der Tat bloßes Vorurteil, die ideologische Hypostase der abstrakten Zentren von Beherrschung, deren Kritik den Abbau der Ideologie von 'Persönlichkeit' erfordert.“ (71) Zugleich, also mit diesem Abbau, wird der Mensch dadurch vollends zum Objekt gemacht, wie sich an der Psychoanalyse zeigt, die „dem Menschen ... [im] Nachweis [der Persönlichkeit als Illusion] sein Nichtsein“ bestätigt (71). Obwohl die Kritik an der Persönlichkeit also richtig und notwendig ist, muss gegen dieselbe an der Persönlichkeit festgehalten werden.

Aber muss denn unbedingt in dieser Weise am Prinzip des Individuums – wohlgemerkt am nicht in dialektischer Vermittlung bestimmten – festgehalten werden? Ein echtes Argument findet sich m.E. bei Adorno nicht, es ist eine Art letztes Prinzip, dass das Individuum in seiner Integrität und Selbstheit zu bewahren sei.

Stellt sich jedoch die Frage, aus welchem Grund Adorno diese komplizierte Argumentation aufbaut, wenn sie doch wieder auf die Bewahrung des Subjekts in seiner Selbstbestimmung und Einzigartigkeit hinausläuft – was zu vermeiden ja ursprünglich ihr Anliegen war. Ich würde sagen: Es ist eben seine Intention, eine solche Kulturkritik zu üben. Von der lässt er nicht ab – trotz seiner dialektisch-matierialistischen Positionen, die eine solche Kulturkritik augenblicklich verdampfen ließen. Deshalb versucht er beides „dialektisch“ zu vermitteln.

Daraus ist zu schließen, dass auch die Verdinglichungskritik, da ihr die Basis entzogen ist, sich auflöst oder zumindest als eine falsche Kritik herausstellt. Was bleibt ist eine subjektive Kritik aus dem Erfahrungshorizont eines Bildungsbürgers, an die jedoch durchaus zu weiteren theoretischen Zwecken anzuschließen ist, indem Adornos Kritik etwa auf ihr Kritikvermögen untersucht wird, bzw. in der Analyse der Kultur die Widersprüche aufgefunden werden, die Adorno in der Form der Verdinglichung artikuliert.

2.2 Adorno ein elitärer bürgerlicher Moralist

Es ist diese bürgerliche Grundlage der Verdinglichungskritik Adornos nicht singulär, sondern systematisch für sein Denken. Das zeigen schon die in dieser Untersuchung angesprochenen Begrifflichkeiten wie Tiefe oder eigentliche Erfahrung. Seine Aphorismen sind häufig aus einer bürgerlich-elitären Haltung motiviert, etwa indem er sich gegen „Durchschnittlichkeit“ und „Clichés“ (236) wendet, „Dummköpfe“ (209) abwertet, von „Banausen“ (247) in Bezug auf Kunstrezeption, die durchaus harte geistige Arbeit sein muss (vgl. 248), spricht, eine Deformation des Geistes, der sich nicht von der schmutzigen Praxis rein hält, befürchtet (vgl. 150f) oder bürgerliche Distanz und Fremdheit im zwischenmenschlichen Umgang verteidigt (vgl. 207). Schlagend ist auch Adornos Utopievorstellung einer umstandslosen und völlig unbezogenen Glücksempfindung (vgl. 179) bzw. ganz entsprechend ein verkürztes Gesellschaftsmodell, in der der eine ganz für den andern da ist, nämlich in der Form des Schenkens (vgl. 47). Dies soll nur etwas eklektisch einige Anliegen Adornos versammeln, wobei mir natürlich nicht an einer bloßen Diffamierung Adornos als „bürgerlich“ liegt. Vielmehr müssen diese Kritiken auch argumentativ als unsachgemäß aufgewiesen werden, wie eben (2.1) exemplarisch an der Grundlage der Verdinglichungskritik durchgeführt. Was „bürgerlich“ ist, könnte ja auch richtig sein. In der Tat bringt Adorno gerade Argumente hierfür. Diese bewegen sich in dem Muster, dass, gerade um am materialistisch-dialektischen Standpunkt festzuhalten, auch der bürgerliche notwendig sei. Zugleich gleitet eine Kritik an Adorno als an einem bürgerlichem Philosophen notwendig ab. Sie kann an keiner festen Stelle ansetzen, da einer solchen Kritik seine auch materialistischen Grundlagen entgegenstehen. Dem Vorwurf, er sei „bürgerlich“, kann daher entgegnet werden, er meine es ja nicht so. Die obige Analyse (2.1) zeigt, dass er es sehr wohl so meint. Ganz entsprechend wird gegen Vorwürfe wie die oben aufgeführten ihre Einseitigkeit und daher Untriftigkeit eingewandt werden, welcher Einwand aber umgekehrt untriftig ist. Insofern jedoch Adorno in der Tat umfangreiche Kritik an bürgerlichen Argumenten übt und sich scharf von bürgerlichen Philosophen wie Heidegger abgrenzt – der in dieser Hinsicht konsequenter als Adorno verfährt (und als konservativer Kulturkritiker und letztlich als Nazi dies auch ohne Adornos Gewissensbisse kann) –, führt er auf sehr subtile Weise bürgerliches Denken in die materialistische Tradition ein.

Damit soll natürlich auch nicht gesagt werden, dass das alles Quatsch ist. Bürgerliche Kulturkritik trifft durchaus etwas, etwas anderes wäre ein völlig falsches Verständnis von Widersprüchen und ihrer Verarbeitung. Allerdings kann sie nicht unhinterfragt, sondern nur durch ihre Kritik, d.h. auch: Negation, fortgeführt werden. Das ist jedoch bei Adorno wie etwa bei Heidegger der Fall. Die Qualität Adornos ist seine gute Beobachtungsgabe, die ihn zu sehr eindrücklichen Beschreibungen befähigt – obgleich ihm dennoch die Begriffe für diese fehlen. Auch findet sich bei ihm keine moralistische Kulturkritik, auch wenn es ihn zuweilen dazu drängt; Moralismus übt er nur subjektiv, d.h. das Subjekt muss sich selbst in die Pflicht nehmen.

Résumé

Gleichwohl hat Adorno, wie wir gesehen haben, eine reichhaltige Kulturkritik hinterlassen. Mit ihr lässt sich Kultur unter etlichen Kategorien auf ihre Entfremdung hin analysieren; zudem kennt er verschiedene Perspektiven der Kritik, sei es eine psychologische (1.2), auf eine bestimmte Alltagskultur (1.3), eine der subjektiven Erfahrung (1.3 und 1.6), auf zwischenmenschliche Interaktion (1.5) oder eine gesellschaftliche (1.7). Es hat sich gezeigt, dass Adornos Kulturkritik in der Tat vor allem Verdinglichungskritik ist (1.4-8); wo das nicht der Fall ist, geht es in der Regel um Kritik des falschen Scheins, um die Kritik der Täuschung (2.1-3). Adornos kulturkritische Kategorien scheinen sehr eng zusammenzuhängen, ohne dass dies explizit würde. Hier wäre wohl eine systematische Rekonstruktion von Adornos Kulturkritik ertragreich.

 

[1] Wolfram Pfreundschuh, Hundert Jahre Wiesengrund. Zu Theodor W. Adornos 100. Geburtstag, http://kulturkritik.net/philosophie/wiesengrund/index.html

[2] Emanuel Kapfinger, Adorno über verdinglichtes Denken, http://kulturkritik.net/philosophie/verdinglichung/index.html

[3] Seitenzahlen aus: Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Suhrkamp 2003