Karl Reitter (12.05.2015)

Karl Marx – Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals?

Vorwort

Über Marx und den Marxismus wird angesichts der anhaltenden Krise wieder offen diskutiert. Dabei werden auch verschiedene Schulformen erneuert. Sind es in Frankreich eher ältere Herren wie Alain Badiou oder Etienne Balibar, die sich in neuem Ruhm sonnen können, gibt es im deutschsprachigen Raum eine eigene, höchst eigenartige – und eher von jüngeren Semestern getragene Welle. Dafür scheint sich der Begriff der Neuen Marx-Lektüre zu etablieren. Bücher und Aufsätze führen diesen Ausdruck im Titel, auch ein Wikipedia Eintrag existiert bereits.1 Sammelbände werden unter diesem Begriff publiziert. Der Anspruch, der mit diesem Label verbunden wird, ist kein geringer: Immerhin soll es sich dabei um die avancierteste Marxrezeption auf der Höhe der Zeit handeln, die für jede Beschäftigung mit Marx die Messlatte darstellt. Wer sich also auf diesen Standard nicht verpflichten lässt und „die argumentative Überlegenheit“ der „Neuen Marx-Lektüre“ (Backhaus 1997, 131) bezweifelt, darf wenig freundliche Punzierungen erwarten: Arbeiterbewegungsmarxismus, Weltanschauungsmarxismus, Traditionalismus, Orthodoxie, Substantialismus, Essentialismus und verkürzte Kapitalismuskritik bekommen wir zu hören.

Strategisch bedeutet die Setzung dieses Begriffs für alle jene, die ihn für sich reklamieren, einen bedeutenden Vorteil. Wer die Gepflogenheiten im universitär-akademischen Feld und Darstellungen der Ideengeschichte kennt, weiß, einmal durchgesetzt, sichert ein derartiges Label allen ProtagonistInnen Bedeutsamkeit und einen fixen Platz im Diskurs.

Dieser Band will dagegen Einspruch erheben und zugleich den Weg für eine emanzipatorischere Marxinterpretation ebnen. Es gibt andere „neue“ Marxlektüren, die mit dieser Strömung wenig gemeinsam haben – und aus unserer Sicht wesentlich produktiver sind. Vorweg ist anzumerken, dass wir es keinesfalls mit einer stringenten, methodisch einheitlichen Strömung zu tun haben. Schon bei einer ersten Betrachtung erweist sich die Neue Marx-Lektüre als durchaus heterogen. Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt, zwei wichtige Wegbereiter, stehen in der Tradition Adornos, bei dem sie auch gemeinsam studierten. Hingegen ist der Einfluss von Althusser auf Michael Heinrich nicht zu übersehen. Dass sich Frieder-Otto Wolf, der sich seit Jahren um die Verbreitung der Philosophie Althussers bemüht, zum Mentor einer jüngeren Generation von Autoren der Neuen Marx-Lektüre avanciert ist, zeigt erneut die methodische Distanz zu den Gründervätern Backhaus und Reichelt. Zudem ist auch die sogenannte Wertkritik zu nennen. Tatsächlich zeigt die Wertkritik mit beiden Flügeln der Neuen Marx-Lektüre, also dem Hegelmarxismus von Backhaus und Reichelt, als auch dem von Althusser inspirierten Zugang, bedeutsame Übereinstimmungen, insbesondere was den Charakter der Herrschaft im Kapitalismus als auch die Rolle und Bedeutung des Klassenverhältnisses betrifft. Ein wesentlicher Unterschied existiert allerdings: Während die an Robert Kurz orientierte Wertkritik unbeirrt davon ausgeht, dass der Kapitalismus immer weniger lebendige Arbeitszeit einzusaugen in der Lage sei, weisen die ProtagonistInnen der Neuen Marx-Lektüre diese spezifische Version der Zusammenbruchstheorie eindeutig zurück. Wie diese Heterogenität einzuschätzen ist, wäre separat zu diskutieren, Fakt ist sie allemal.

Anders hingegen stellt sich die Sachlage bei den Einwänden und Kritiken dar, die aus verschiedenen Perspektiven gegen die Neue Marx-Lektüre, aber auch gegen die mit ihr teilweise seelenverwandte Wertkritik vorgebracht werden. Im Gegensatz zu üblichen Gepflogenheiten in Vorworten werde ich nicht versuchen, die elf Beiträge mit knappen Worten zu charakterisieren, zumal die Titel für sich sprechen und die Reichhaltigkeit der Argumentationen bei Paraphrasierungen notwendig verloren geht. Ich werde stattdessen die wichtigsten Kritikpunkte im Überblick zusammenfassen und davon ausgehend auf die Beiträge verweisen. Müßig hinzuzufügen, dass die genannten Einwände nicht auf alle ProtagonistInnen in gleichem Maße zutreffen. Ebenso ist es wohl unnötig darauf hinzuweisen, dass die nun angeführten Kritikpunkte bloß eine erste Information darstellen, was denn an der Neuen Marx-Lektüre problematisch sei. Die ausführliche Argumentation dazu findet ihr in den Artikeln. Schlussendlich ist darauf hinzuweisen, dass die hier versammelten Positionen ihrerseits nicht nach einem neuen Label trachten und Unterschiede zwischen ihnen bestehen.

Von der Verrätselung der Marxschen Theorie zu ihrer schlussendlichen Depotenzierung

Innerhalb der Neuen Marx-Lektüre zählt es zum Repertoire, Marx hätte uns ein nur sehr unvollständiges, ja hoch problematisches Werk hinterlassen. Die Bandbreite der Urteile reicht vom Befund, Marx habe uns Fragmente mit „enormen Lücken“ hinterlassen, welche von Engels „zu einem guten Teil überkleistert wurden“2(Heinrich 2011, 190)3 bis zur These, Marx selbst wäre nicht in der Lage gewesen, seine Werttheorie authentisch auszuformulieren. Die von Marx geschriebenen Texte seien „als Surrogat des ursprünglich geplanten Werks“ (Backhaus 1997, 18) aufzufassen. Die von der Wertkritik favorisierte Unterscheidung zwischen einem „esoterischen“ und einem „exoterischen“ Marx tendiert in eine ähnliche Richtung. Den Fluchtpunkt dieser Auffassung hat bereits Jürgen Habermas vor Jahrzehnten anvisiert, in dem er behauptete, das Marxsche Werk sei bloß als Sammelsurium interessanter Ideen zu begreifen. So weit geht die Neue Marx-Lektüre in der Regel nicht, aber immerhin zeigt die Übernahme des Okishio-Theorems4 durch Heinrich, dass die Tür für tradierte akademische Marxkritiken weit geöffnet wurde. Insbesondere der Beitrag von Christoph Henning zeigt am Beispiel der Marxschen Geldtheorie, wie wenig überzeugend dieser Kritikgestus eigentlich ist. In diesem Zusammenhang steht auch die pauschale und undifferenzierte Denunziation von Popularisierungsversuchen durch die Autoren der neuen Marx-Kritik, insbesondere durch Hans-Georg Backhaus. Der Beitrag von Johnny Anders greift diese Problematik auf und belegt, dass die Sinnhaftigkeit der Popularisierung des Kapital keineswegs ernsthaft diskutiert, sondern bloß rhetorisch verworfen wird. Fritz Reheis verweist positiv auf die Bedingungen einer gelingenden pädagogischen Vermittlung der Marxschen Theorie.

Die These, Marx habe uns eher Fragmente denn ein anschlussfähiges Werk hinterlassen, wird unter anderem durch den Nimbus gestützt, die Neue Marx-Lektüre wäre eine philologisch besonders sorgfältig arbeitende Strömung. Die Sachlage stellt sich bei näher Betrachtung eher umgekehrt dar, Passagen und Formulierungen, die nicht ins Rezeptionskonzept passen, werden in der Regel ignoriert, nur beiläufig unter ferner liefen zitiert oder als Fehler und Unzulänglichkeit von Marx selbst angekreidet. Symbolisch für den saloppen Umgang mit den Texten ist der Verweis, Marx hätte die kapitalistische Produktionsweise in ihrem „idealen Durchschnitt“ (MEW 25, 839; MEGA II 4.2, 853) darzustellen versucht, wobei das Wörtchen „sozusagen“ (ebenda) elegant unter den Tisch fällt.5 Mit dem Fokus auf diesen fiktiven idealen Durchschnitt wird die irreversible Dynamik des Kapitalverhältnisses als primärer Gegenstand von Gesellschaftsanalyse mit Marxschen Denkmitteln verabschiedet und durch den a-historischen Blick auf das Immergleiche des Kapitalismus ersetzt. Diesen Blick kritisiert zwar auch die sogenannte Wertkritik, die Historizität des Kapitalverhältnisses wird hier allerdings eng an die Geltung der von ihr formulierten Zusammenbruchstheorie gekoppelt, könnte also insofern als a-historisch charakterisiert werden, als hier eine übergreifende „Logik des Kapitals“ unterstellt wird, demgegenüber soziale Kämpfe und politische Verhältnisse eine untergeordnete, nachrangige oder abgeleitete Rolle spielen. Mit der Sicht der sogenannten Wertkritik auf die Rolle sozialer Kämpfe befasst sich unter anderem der Beitrag von Andreas Exner.

Das Kapital wird als Theorie gelesen, die uns über das Funktionieren des Kapitalismus aufklärt – und sonst nichts.

Daher auch der Titel dieses Bandes: Karl Marx – Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals?. Das eigentliche Anliegen von Marx, die Kritik an den Verhältnissen von einer utopischen, voluntaristischen und daher notwenig unreifen zu einer wissenschaftlichen Perspektive weiterzuführen, indem nach den verborgenen sprengenden und emanzipatorischen Elementen gesucht wird, ignoriert die Neue Marx-Lektüre weitgehend. Das ist nicht nur sachlich, sondern auch philologisch unhaltbar. John Holloway zeigt in seinem Beitrag überzeugend auf, dass das Kapital keineswegs mit der Ware, sondern mit dem Reichtum beginnt, ein Umstand, der trotz akribischer MEGA6 Lektüre offenbar nicht aufgefallen ist. Oder auf Grund mangelndem Erkenntnisinteresses nicht auffallen konnte? Aber was folgt aus dieser Tatsache? Der Reichtum nimmt zwar im Kapitalismus Warenform an, kann aber darin als wahrer Reichtum nicht aufgehen. „In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen?“ (MEW 42, 395) Über solche Passagen geht die Neue Marx-Lektüre hinweg, ebenso wenig wird der doppelte Blick von Marx auf die Verhältnisse gewürdigt. Marx analysiert das Kapitalverhältnis nämlich einerseits stets unter dem Gesichtspunkt der spezifischen Formen der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus (also Arbeit als Lohnarbeit, Produktionsmittel als Kapital, Grund und Boden als Eigentum), andererseits verweist er zugleich auf die, die kapitalistische Produktionsweise überschreitende Potentialität scheinbar rein kapitalimmanenter Entwicklungen. Ich nenne jetzt nur einen sehr wichtigen Aspekt: Konkurrenz und Hoffnung auf Extraprofit zwingt das Kapital dazu, die Produktivkraft der Arbeit zu erhöhen. Dadurch überschreitet sich das Kapitalverhältnis permanent selbst: „Weil das Kapital hier – ganz unabsichtlich – die menschliche Arbeit auf ein Minimum reduziert, die Kraftausgabe. Dies wird der emanzipierten Arbeit zugute kommen und ist die Bedingung ihrer Emanzipation.“ (MEW 42, 597f) Auch die Tatsache, dass Marx stets einen naturalistischen Arbeitsbegriff verwendet, wird in der Regel ignoriert oder Marx zum Vorwurf gemacht. Dass er von eigener Hand an prominenter Stelle einen explizit alle historischen Formationen übergreifenden Arbeitsbegriff formuliert, scheint nicht zu beeindrucken:

„Die Produktion von Gebrauchswerten oder Gütern ändert ihre allgemeine Natur nicht dadurch, dass sie für den Kapitalisten und unter seiner Kontrolle vorgeht. Der Arbeitsprozess ist daher zunächst unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form zu betrachten. … Indem er durch diese Bewegung [gemeint ist die Arbeit K.R.] auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.“ (MEW 23, 192)

Diese an Deutlichkeit kaum zu überbietende Passage hindert die ProtagonistInnen der Neuen Marx-Lektüre keineswegs, gegen einen substantialistischen oder ontologischen Arbeitsbegriff zu Felde zu ziehen, wobei die Marxsche Unterscheidung zwischen Arbeit an sich und ihrer entfremdeten Form als Lohnarbeit kaum gewürdigt wird. An die Stelle der mehrfach von Marx entfalteten Spannung zwischen den spezifischen Formen des Kapitalverhältnisses und den widerstrebenden Potentialen der Befreiung setzt die Neue Marx-Lektüre den alles verschlingenden Monismus des Werts, beziehungsweise des Kapitals.7 Dabei müssten zahlreiche Passagen bei Marx ignoriert oder umgeschrieben werden. Insbesondere im Beitrag von Jürgen Albohn und in meinem findet ihr diese Thematik ausgearbeitet.

Der soziale Herrschaftscharakter des Kapitalverhältnisses wird weitgehend durch den Fokus auf anonyme, klassenübergreifende Zwänge relativiert, wenn nicht gar als Fehlbegriff verworfen.

An die Stelle der sozialen Klassenherrschaft, einem „Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis“ (MEW 25, 399), setzt die Neue Marx-Lektüre das automatische Subjekt Kapital, dem alle gleichermaßen unterworfen seien. Die bloße Existenz von Klassen wird keineswegs bestritten, diese jedoch als bloßes Binnenphänomen des Kapitalismus ohne Sprengkraft eingeschätzt. Dass im Kapitalismus die soziale Herrschaft als „verkleidet in gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“ (MEW 23, 92; Herv. K.R.) auftritt, wird zur Herrschaft der Sachen selbst.8 Diese klassenübergreifenden Zwänge würden durch die Fetischisierung der Verhältnisse gefestigt. Politische, soziale oder ideologische Strategien der herrschenden Klassen geraten weitgehend aus dem Blick. Der bewusst geführte Klassenkampf der herrschenden Klassen existiert nicht. Die Kombination aus automatischem Subjekt Kapital plus Fetischisierung führt in die Nähe einer allgemeinen klassenunspezifischen Zivilisationskritik, wie sie etwa im Begriff des Verblendungszusammenhanges bei Adorno vorzufinden ist. Georg Klauda informiert in seinem Beitrag unter anderem über diese Zusammenhänge. Dass Marx den Ausdruck „automatisches Subjekt“ (MEW 23, 169) explizit auf die Form des Kapitals bezieht „wie es unmittelbar in der Zirkulationssphäre erscheint(MEW 23, 170, Herv. K.R.), und das „Geheimnis der Plusmacherei“ (MEW 23, 189) in diesen Abschnitten des Kapital noch nicht enthüllt ist, scheint da nicht zu beirren. Gesellschaft wird primär aus der Perspektive der Oberfläche der Zirkulation thematisiert, der geldvermittelte Tausch avanciert zum bestimmenden Modus der gesellschaftlichen Synthesis; Tauschabstraktion, Fetisch und Wertgesetz würden als klassenübergreifende und klassenneutrale Faktoren das gesellschaftliche Sein des Kapitalismus bestimmen. Dass in der Formel G – W – G’ (also Geld – Ware – mehr Geld) bloß die Erscheinungsform des Kapital angesprochen wird, dass also das „automatische Subjekt“ (MEW 23, 169) selbst noch durch die Analyse des Klassenverhältnisses entschlüsselt werden muss, bleibt außen vor. Insbesondere in den Beiträgen von Tobias Brugger und Andreas Exner wird diese hier skizzierte Kritik anschaulich und präzise ausgeführt.

Diese Exklusion des Klassenkampfes als geschichtsmächtige Triebkraft des Kapitalverhältnisses korrespondiert mit der Neigung der Neuen Marx-Lektüre, die innere Geschichte und Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise systematisch-begrifflich auszublenden. Diese Abkehr von der historischen Erfahrung als primärer Gegenstand des Marxschen Denkens wird teilweise noch eine Stufe weiter bis zur Abwertung von Empirie überhaupt geführt, indem die Unterscheidung Althussers zwischen Erkenntnisobjekt und Realobjekt modifiziert beibehalten wird. Aber auch in der hegelmarxistischen Variante wird der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit eine begriffslogische Welt vorangestellt, die den eigentlichen Gegenstand der marxschen Kapitalanalyse darstellen soll. Leider klingt diese Thematik in einigen Artikeln nur an, aber trotzdem sei es mir gestattet, diesen Aspekt anzuführen.

Ob euch die hier skizzierten Einwände überzeugen, wird die Lektüre der hier gesammelten Aufsätze erweisen. Zwei Beiträge gehen jedoch über die Begründung von Einwänden hinaus und versuchen mit Marxschen Denkmitteln aktuelle gesellschaftliche Fragen und Prozesse zu thematisieren. Christoph Lieber beschäftigt sich mit den Möglichkeiten der emanzipatorischen Transformation des Eigentums, ohne dabei einer allgemeinen Verstaatlichung das Wort zu reden. Roland Atzmüller analysiert die Rolle und Funktion der Qualifizierung der Arbeitskräfte im Fordismus und Neoliberalismus hinsichtlich des Wechselspiels von Unterwerfung der lebendigen Arbeit unter das Kapital und den Widerstand dagegen. Leider ist es mir trotz aller Bemühungen nicht gelungen, Autorinnen für dieses Buchprojekt zu gewinnen. Trotz positiven Rückmeldungen ist die Abfassung von Texten an formalen Umständen wie Zeitmangel, und anderen vordringlicheren Aufgaben gescheitert. Abschließend bleibt noch eine Frage offen:

Warum ist der Neuen Marx-Lektüre (und der Wertkritik) Erfolg beschieden?

Um es ungeschminkt und direkt zu sagen: An der argumentativen Dichte und Überzeugungskraft kann es kaum liegen. Die Neue Marx-Lektüre formuliert ein Angebot. Sie erfüllt die Bedürfnisse nach einer Marxlektüre, die sich – ohne auf den Klassenkampf Bezug nehmen zu müssen – in abstrakter Negation des Bestehenden erschöpft. Als sinnliche Gewissheit sind die ArbeiterInnenbewegung und ihre Kampfparteien Geschichte. Der Status des Proletariats hat sich dermaßen verallgemeinert, dass es in die unterschiedlichsten sozialen Gruppen und Milieus zerfällt und die klassische Arbeiterschaft nur noch einen kleinen Teil darstellt. Deskriptive Soziologie kann nur noch Milieus erkennen und diese mit empirischen Kategorien beschreiben. Dem hat die Neue Marx-Lektüre wenig entgegenzusetzen, außer der lakonischen Bemerkung, dass Klassen wohl existieren, sie aber als Teil des kapitalistischen Binnenverhältnisses keine gesellschaftlich bestimmende Konfliktstruktur konstituieren. Die Opposition zum Bestehenden erschöpft sich im „leeren Starren aufs Unheil“, so Georg Klauda in seinem Beitrag. Dies lässt die eigene Existenz als politisches Wesen schweben, die Distanz zu Bewegungen, Initiativen oder gar konkretem Engagement ist jederzeit zur Hand. Man geht nicht mit den Herrschenden, aber auch nicht mit HoffnungsträgerInnen der sozialen und politischen Emanzipation. Diese Grundhaltung bestimmt nicht nur die Neue Marx-Lektüre, sondern auch weite Teile der wertkritischen Szene. Eine Ursache für die oftmals schroffe Abgrenzung dieser Strömungen voneinander liegt in der unterschiedlichen sozialen Positionierung dieser Gruppen. Während die AutorInnen der Neuen Marx-Lektüre im universitär-akademischen Feld beheimatet sind oder zumindest versuchen, sich dort zu verankern, entstammen die TheoretikerInnen der Wertkritik durchwegs aus politisch aktivistischen Gruppen ohne akademische Perspektive und Neigung. Neue Marx-Lektüre oder Wertkritik? Der Streit um das Wort steht für das Ringen um Hegemonie in der linksradikalen, sich weitgehend als Szene verstehenden oder organisierenden Sub-Kultur. Und gerade weil Übereinstimmungen unübersehbar sind, bedarf es besonders mitunter scharfer Abgrenzungen. Theoretische Positionen bestimmen auch das Selbstbild jener, die sie vertreten. Wenn eine alles umfassende, klassenübergreifende Fetischisierung der Verhältnisse angenommen wird, dann kann Überwindung des Kapitalverhältnisses auch kaum als Resultat sozialer und politischer Konflikte und Kämpfe gedacht werden. Sondern muss primär aus einem Akt der Einsicht, nämlich als des Durchschauens dieser Fetischverhältnisse, erwachsen. Aber auch hier gilt, dass dies „keineswegs den gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Charakter der Arbeit verscheucht“ (MEW 23, 88). Die sympathische Variante besteht darin, die „Abschaffung“ des Kapitalismus zu propagieren. Tatsächlich findet sich dieser Ausdruck öfters in den Schriften der Neuen Marx-Lektüre. So mündet ihre praktische Konsequenz nicht selten im Gestus, dem schlechten Sein ein gutes Sollen entgegenzusetzen oder sich als WissenschaftlerInnen überhaupt aus dem Getriebe der Welt zurückzuziehen. Die weniger sympathische Variante mündet in einer elitären Verachtung der „gewöhnlichen“ Menschen; aber für diese wollen wir die Neue Marx-Lektüre nicht verantwortlich machen.

Wien, im Jänner 2015

Erwähnte Literatur:

Backhaus, Hans-Georg, (1997) „Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Ökonomiekritik“, Freiburg

Haug, Wolfgang Fritz (2013) „Das Kapital lesen – aber wie?“, Hamburg

Heinrich, Michael (1999) „Die Wissenschaft vom Wert“, 2. überarbeitete Auflage, Münster

Heinrich, Michael (2011) „Entstehungs- und Auflösungsgeschichte des Marxschen Kapital“, in: W. Bonefeld, M. Heinrich (Hg.) Kapital & Kritik, Hamburg, Seite 155 – 193

Krätke, Michael (Internetquelle) Das Marx-Engels-Problem: Warum Engels das Marxsche Kapital nicht verfälscht hat: http://www.das-kapital-lesen.de/wp-content/uploads/2008/04/kraetke_meproblem.pdf

Marx, Karl (MEGA II 4.2) „Ökonomische Manuskripte 1863 – 1867“, Teil 2, Berlin

Marx, Karl (MEW 23) „Das Kapital“ Band 1, Berlin

Marx, Karl (MEW 25) „Das Kapital“ Band 3, Berlin

Marx, Karl (MEW 42) „Grundrisse der politischen Ökonomie“, Berlin

1 http://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Marx-Lektüre Dieser Eintrag enthält keinerlei Hinweis, dass diese neue Lektüre durchaus umstritten ist. Ebenso wird kein einziger kritischer Literaturhinweis anführt.

2 Leider konnte als Platzgründen der ausgezeichnete und hoch informative Text von Michael Krätke Das Marx-Engels-Problem: Warum Engels das Marxsche Kapital nicht verfälscht hat nicht aufgenommen werden. Zum Glück ist der Text leicht im Internet zu finden: http://www.das-kapital-lesen.de/wp-content/uploads/2008/04/kraetke_meproblem.pdf

3 Diese von ihm selbst begründete Position hinderte Heinrich jedoch nicht Einführung in das Kapital zu verfassen, als ob es sich um ein im Wesentlichen geglücktes Werk mir ein paar kleinen Schwachstellen handeln würde.

4 Dieses Theorem wurde von Nobuo Okishio, einem Vertreter der Neoricardianischen Schule, formuliert und widerlegt vorgeblich das Marxsche Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Heinrich übernimmt es in seinem Buch Die Wissenschaft vom Wert. (Heinrich 1999)

5 W.F. Haug zeigt überzeugend auf, dass Marx den Begriff des idealen Durchschnitts aus den geologischen Schriften seiner Zeit übernahm, die er ebenso wie viele andere Wissensgebiete ausführlich rezipierte. (Haug 2013, 37 – 68) Es ist überdies bezeichnend, dass sich die Neue Marx-Lektüre an einem Ausdruck orientiert, den Marx gerade ein einziges Mal (!) verwendet, auch der Begriff des „automatischen“ bzw. „übergreifenden“ Subjekts findet sich im Kapital gerade je einmal. Soweit zur Breite der Textbasis der Neuen Marx-Lektüre.

6 Die MEGA, die Marx-Engels-Gesamtausgabe, hat sich das Ziel gesetzt, alle Texte von Marx und Engels in der Originalsprache und in der ursprünglichen Schreibweise zu publizieren. Bis dato sind nur ein Teil der geplanten Bände erschienen, es wird laufend an der Herausgabe gearbeitet.

7 Kapital erscheint aus der Perspektive der Neuen Marx-Lektüre primär als sich selbst verwertender Wert, insofern ist das „beziehungsweise“ gerechtfertigt.

8 Bei der Rede vom automatischen Subjekt lassen sich die ProtagonistInnen von Marxschen Aussagen wie den folgenden keineswegs beirren: „Erstens muß der Lohnarbeiter, wie der Sklave, einen master haben, um ihn arbeiten zu machen und ihn zu governieren.“ (MEGA II 4.2, 457) „Nun muss auch der Lohnarbeiter wieder Sklave einen Herrn haben, um ihn arbeiten zu machen und ihn zu regieren.“ (MEW 25, 399) Soweit zur philologischen Sorgsamkeit der Neuen Marx-Lektüre.