Markus Hoffmann (10.05.2013)

Menschenbilder - Die reale Gewalt eines Mythos

Der Psychiatrische Diagnosekatalog, der soeben mit der Version DSM-5 in 20 Sprachen herausgegeben wird (vergl. http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/psychiatrie-das-buch-des-wahnsinns-1.1118134), stellt dar, was als psychisch gesund und was als psychisch krank verstanden werden soll. Dies hat sich allerdings seit seinem Ersterscheinen im Jahr 1952 mit den jeweils vorherrschenden kulturellen Vorstellungen zum menschlichen Leben mit jeder Ausgabe stark verändert, wiewohl es jedesmal als absolut wissenschaftliches Kriterium Geltung hatte und besonders zur Einschulung von Kindern, zur Schuldfähigkeit von Kriminellen, zur Einweisung von Menschen in die Psychiatrie, zur Entwicklung und Anwendung von Pharmazie, Rechtsmittel und Fixierung und zum Finanzierungsgebahren der Krankenkassen maßgeblich war.

Mit der Rigidität der sozialen Alltagsprobleme, dem Funktionalitätsanspruch der politischen Ökonomie an die Menschen und dem wirtschaftlichen Einfluss der Pharmaindustrie ist das Bedürfnis nach einer breiten Pathologisierung von alltäglichen Leidenszuständen sowie von natürlichen Anpassungs- und Alterungsprozessen verstärkt worden. Zum Beispiel werden jetzt schon Depressionen bei Trauerreaktionen nach über 3 Wochen über einen Todesfall hinaus diagnostiziert. Jede Störung kann praktisch unbegründet ausgeschaltet werden. Mit der Diagnose ADHS und entsprechender Medikation können auch nur kurzzeitig unruhige Schulkinder still gemacht und für ihr Leben gelabelt werden.

Wo sich Leben nicht mehr von selbst verstehen lässt, weil es vor allem den Bedingungen der Marktwirtschaft gehorchen und dem Wertwachstums nutzbar sein muss, werden die Definitionen für das, was es sein soll, in immer totaleren Menschenbildern verfestigt, die dafür stehen, was als normal und was als krank gelten soll.

Wir fragen uns heute: Wie krank ist dieses Definieren selbst? Wie krank die Gesellschaft, in der es durchgesetzt wird? Wie krank die Medizin, die Pädagogik, die Psychologie, die danach Menschen an diese Definitionen anzupassen, zu medikamentieren, zu erziehen oder auch einzusperren hat? Welches Menschenbild hat hier die Funktion welcher Heilungsvorstellung eingenommen, um als gesellschaftliche Heilsvorstellung auch durchgesetzt zu werden?

Markus Hofmann hat sich die Mühe gemacht, den Legitimationsprozess der Macht dieser Menschenbilder in den Sozialwissenschaften nachzuzeichnen und besonders ihre erkenntnistheoretischen Implikate zu sezieren.

Wolfram Pfreundschuh

1 Kombinierte Gewalt

Sobald sich Menschen selbst beschreiben oder Entscheidungen begründen müssen, taucht im täglichen Sprachgebrauch ein Begriff für das Selbst auf. Insbesondere dann, wenn Menschen anhand bestimmter Eigenschaften in Gruppen zusammen gefasst werden sollen oder gar eine Gruppenzugehörigkeit in einen metaphysisch-emotionalen Bereich verlagert wird, ist er in den Medien häufig zu lesen oder zu hören. Es handelt sich um das unscheinbare Wort "Identität". So harmlos es wirkt, steckt in ihm nicht nur eine Zuordnung durch Glaubenssätze, sondern auch pure Gewalt. Sichtbar wird dies an den unzähligen Kombinationsmöglichkeiten des Wörtchens. So findet man die Nationale Identität, die Kulturelle Identität, die Geschlechtsidentität oder die Sexuelle Identität, wenn es um solch schwerwiegende Prozesse wie Exklusion und Inklusion, um Ausgrenzung und Anerkennung oder der Durchsetzung verschiedener Interessen geht. In den Sozialwissenschaften befassen sich Unmengen an Arbeiten mit der Identität. So werden identitätsstiftende Effekte der Arbeit oder des Privateigentums erforscht und die Mobilität der Menschen erfasst, um deren raumbezogene Identität zu erkunden.

2 Das Gleiche und dasselbe

Der Identitätsbegriff entstammt eigentlich einem Bereich, der fernab gesellschaftlicher Diskurse liegt: der Logik und der Mathematik. Identität wird in der Mathematik mit dem allseits bekannten Symbol "=" dargestellt. Doch das Gleiche ist nicht dasselbe. In der Mathematik können es beispielsweise Zahlenwerte sein, die identisch sind. Die Zahlenwertdarstellung erfolgt mit verschiedenen Ziffern und Operatoren: 23 = 7 + 16. So einfach dies aussieht, stecken doch Gedankenprozesse dahinter, die es in sich haben und für die die Verwendung des Identitätsbegriffes folgenreich sind. Die Identität liegt in einer doppelten Abstraktion verborgen, der symbolischen Darstellung von Zahlenwerten durch Ziffern im Dezimalsystem und in der Kalkulation von Summen. Um die Gleichung als Ausdruck der Identität zu verstehen, muss die doppelte Abstraktion sowohl für die rechte, als auch für die linke Seite nachvollzogen werden. Dass die Ziffer 2 neben der Ziffer 3 den Wert 23 ergibt erfolgt nämlich ebenfalls durch eine gedanklichen Kalkulation von qualitativ unterschiedlich definierten Mengendarstellungen, bei der der Stellenwert der Einer und Zehner erkannt und dann addiert werden muss. Die Abstraktion der qualitativen Eigenschaften zu Gunsten einer quantitativen Zuschreibung schafft nicht nur Schulprobleme. Der Wert einer Ware wird durch den erzielten Kaufpreis ebenfalls vom qualitativen Nutzen für den Käufer abstrahiert. Was sie ihm bringt, kann man im Vergleich mit anderer Ware errechnen. Was sie ihm bedeutet kann zwischen unbezahlbar bis nutzlos liegen. Die quantitative Zuschreibung hat gänzlich andere Gründe wie die qualitative Beziehung.

Der Verwendung des Identitätsbegriffes geht immer ein Vergleich von Entitäten, also Objekten oder Phänomenen, bezüglich einer Eigenschaft oder gar allen Eigenschaften voraus. Zeigt der Vergleich, dass die Entitäten in der betrachteten Eigenschaft übereinstimmen, sind sie bezogen auf die Eigenschaft identisch. Jeder Gegenstand besteht eben aus Teilen, deren Anordnung zur Identität beitragen. Spätestens auf der atomaren Ebene zeigt sich, dass die Identität eines Gegenstandes nur durch seine Struktur, der räumlichen Anordnung der Atome, nicht aber durch die Identität der einzelnen Atome selbst bestimmt wird. Die Struktur ist jedoch immer in die zeitliche Dimension eingebettet und unterliegt deshalb einer beständigen Veränderung. Der Identitätsbegriff erfasst somit weder die Materie selbst noch ihre Struktur, sobald zeitliche Veränderungen berücksichtigt werden.

Bei Lebewesen wird dies deutlicher. Durch den Stoffwechsel werden jene Moleküle, aus denen sich der Körper zusammensetzt kontinuierlich ausgetauscht. Die Form wird durch die Struktur bestimmt, nicht durch die Identität der Bausteine. Doch ein Lebewesen wächst und verändert sich. Die Struktur ist nur teilweise genetisch festgelegt. Nicht nur das Altern, auch viele andere Details sind von den Umwelteinflüssen abhängig.

Identität kann es nämlich nur dort geben, wo zeitliche Veränderungen einer Entität unberücksichtigt bleiben. Da jedoch alles irgendwann korrodiert und an Substanz verliert, ist die Identität materieller Objekte immer eine zeitliche Momentaufnahme der Gegenwart. Dies ist für die Zuordnung der Gegenstände unerheblich und deshalb brauchen wir bei ihrer Bezeichnung die Abnutzungen oder Korrosion glücklicherweise nicht berücksichtigen. Das geht so weit, dass bereits vernichtete Gegenstände in unserer Erinnerung ihre Identität weiterhin besitzen. "Mein erstes Auto war ein Käfer!" Der Eigentümer des Fahrzeuges erinnert sich möglicherweise an viele kleine Details, die sein Auto von anderen des gleichen Typs unterschieden haben. Obwohl das Auto materiell nicht mehr existiert, lebt es im Herzen des ehemaligen Eigentümers weiter. Die materielle Struktur des Objektes ist zwar vergänglich, doch das gedankliche Konstrukt sorgt für dessen Auferstehung. Die Identität scheint also ein metaphysisches Konstrukt zu sein, das gewisse Funktionen übernimmt, indem es einer Entität eine zeitlose und unveränderliche Form und Funktion zuweist, die sie in der materiellen Welt nicht besitzen kann. Die österliche Eigenschaft einer Wiederauferstehung der Identitätskonstruktion erklärt die hohe Affinität des Konstruktivismus und des Kapitalismus mit diesem Begriff.

Der Identitätsbegriff ist in unserer Gesellschaft für die Durchsetzung der Eigentumsverhältnisse notwendig um jedem Gegenstand einen Eigentümer und jedem Menschen sein Eigentum zuordnen zu können. Sowohl der Gegenstand als auch der Eigentümer muss eine Identität besitzen.

3 Was wir sind, ist was wir haben

Privateigentum ist also ohne die Konstruktion einer Identität nicht möglich. Die Identität des Objektes übersteht etwaige Abnutzungen unbeschadet, nicht jedoch der Gegenstand selbst. Aus diesem Grund muss die Abnutzung abgeschrieben oder einem Nutzer als Gebühr in Rechnung gestellt werden. In welchem Sinn wird aber der Begriff der Identität verwendet, wenn nicht Autos, Socken, Messer oder Zahlenwerte sondern Menschen oder Gruppen damit beschrieben werden? Inwiefern ist die metaphysische Identität materieller Objekte für die Identität eines Menschen notwendig? Kleider machen Leute und Zahnbürsten sollten schon aus hygienischen Gründen nicht gemeinsam genutzt werden. Schmuck, Parfum und gefärbte Haare sind nicht nur Ornamente für Balzfunktionen sondern werden zu einem Teil des Selbst. Doch so ein Selbst muss geschützt werden, da es seiner identitätsstiftenden materiellen Ausstattung beraubt werden kann. Aus diesem Grund ist das Privateigentum ein schützenswertes Gut und zu Recht von Rechts wegen schon ein Grundrecht der bürgerlichen Gesellschaft, das im Artikel 17 der Menschenrechtskonvention zu finden ist. Hat aber Privateigentum wirklich eine identitätsstiftende Eigenschaft?

Die Präsentation einer Identität durch einen bestimmten Kleidungsstil oder Schmuck wäre auch durch die temporäre Wahl entsprechender Objekte aus einer größeren Auswahl möglich. Die Darstellung der konstruierten Identität erfolgt meist durch den Kauf eines Gegenstandes. Der Kauf ist jedoch nichts anderes als eine Auswahl bestimmter Objekte aus einer größeren Menge bereits vorgegebener Waren. Selbst das maßgeschneiderte Hemd ist in seiner Ausgestaltung von der Vorauswahl erhältlicher Stoffe abhängig. Der Wahlprozess ist jedoch keineswegs an Privateigentum gekoppelt. Gerade jene Objekte, die sich nicht jeder leisten kann, dienen der Ausschmückung einer potenten Identität. Die doppelt heraushebende Funktion solcher Luxusgüter als Potenzindikatoren lässt viele Konsumenten zugreifen, obwohl sie sich die Waren nicht leisten können. Und so kommt es, dass sowohl die Bereitschaft einen Kredit aufzunehmen Teil der Identität ist, als auch das Zeigen der erworbenen Luxusgüter in der Öffentlichkeit. Dem jungen als auch dem wohlbetagten Herrn im Sportwagen sieht man eben nicht an, ob das Gefährt auf Pump gekauft wurde und die Identität des Eigentümers eher in einer juristischen Person zu finden ist.

Doch auch Abseits der Angeberei und Distinktion muss die identitätsstiftende Funktion des Eigentums auf den temporären Besitz von Gegenständen zurückgeschraubt werden. Ein Kernstück der Identitätskonstruktion ist die eigene Kindheit, die längst vergangenen Spielsachen, das Kinderzimmer im elterlichen Haus... -sofern diese eines besaßen. Doch Besitz ist nicht gleich Eigentum. Das Eigentum des elterlichen Hauses mit dem biederen Vorgarten kann durchaus zu einem guten Teil bei der Bank liegen, die dessen "Kauf" finanziert hatte. Doch der nette Herr aus der Finanzabteilung kümmert sich nicht um die Ausgestaltung des Vorgartens, hingegen interessiert ihn durchaus die Lage des Anwesens. Beide Aspekte fließen in das Identitätskonstrukt mit ein. Ob die Nachbarskinder üble Gangsta aus der nahen Brennpunktschule oder langweilige Konfirmanden und Firmlinge waren, wirkt sich unabhängig vom Eigentum, aber nicht unabhängig von den Eigentumsverhältnissen auf die Identität aus. Ob sich jemand ein iPad oder ein Smartphone von Samsung zulegt, einen Vollbart wachsen lässt, der täglich zurückstutzt werden muss oder sich lieber abends in die Highheels zwängt, ist eine Wahl die täglich neu am Konstrukt der Identität herumbastelt. Ob jedoch die Kindheit und das Erwachsenenleben in Armut oder Reichtum stattfindet, kann nicht gewählt werden. Dennoch trägt dieser Aspekt wesentlich stärker zu unserer Vorstellung des Selbst bei.

Eigentum kann also nicht die Identität konstruieren, der temporäre Besitz gewisser Dinge hingegen schon. Doch die Möglichkeit des Besitzes ist abhängig von äußeren Zwängen, wie beispielsweise den Eigentumsverhältnissen. Wo die Zwänge aufhören, sind es tatsächlich Entscheidungen, die die Identität gestalten. Doch die Gestaltungsspielräume schwinden, je stärker die Menschen von Zwängen bestimmt sind.

4 Was wir sind, ist wie wir heißen

Jeder Mensch hat seine eigene Lebensgeschichte, die sich in seiner Wahrnehmung, seinen Gedanken und seinen Bedürfnissen niederschlägt. Insofern ist der Zeitaspekt im menschlichen Dasein von zentraler Bedeutung. Der Identitätsbegriff scheint damit fehl am Platz, da dieser die Geschichtlichkeit jedes Individuums als statische Summe von Eigenschaften darstellt. Dennoch benötigt jede soziale Gruppe zur Kommunikation Kriterien, anhand derer einzelne Mitglieder beschrieben werden können.

Ein wesentlicher Teil der Identität ist daher der Name, doch der wurde zumeist von den Eltern im Voraus gegeben. In der Namensgebung verbergen sich deren Wünsche oder gesellschaftliche Moden die der elterlichen Identitätskonstruktion dienlich waren. Wie sich der junge Mensch jedoch weiter entwickelt, bleibt den Namensgebern zunächst verborgen. Die elterlichen Zuschreibungen beeinflussen aber den künftigen Lebensweg des Säuglings. Namen lassen Rückschlüsse auf das Elternhaus zu, doch welche Rückschlüsse gezogen werden, hängt wiederum vom eigenen Selbstverständnis ab. Nach einer - allerdings umstrittenen- Untersuchung hat die Namensgebung einen starken Einfluss darauf, wie die Kinder in der Schule behandelt werden. Kevin und Jaqueline dürfen eben nicht so intelligent sein wie Herrmann und Agathe (1).

Die Zuordnung zu einer Vermögensschicht ist dabei nur ein Aspekt. Immerhin gibt es auch den Özgür und die Gökce in der Schulklasse. Dass diese beiden Kinder Probleme im Fach Deutsch haben werden, ist abzusehen. Der Sprachwortschatz ist schließlich Teil der Bewertungskriterien und wenn sie zum Wortstamm "finden" nicht auf die Substantive "Abfindung" und "Erfindung" kommen, sind sie eben nicht gymnasial geeignet. Substantive können für sich selbst bestehen, Kinder hingegen nicht und deshalb ist die Namensgebung eine gefährliche Angelegenheit. Der Name scheint die Herkunft und das Geschlecht zu bestimmen. Doch was bedeutet denn eigentlich "Herkunft"? Ob ein Kind in der Türkei geboren wurde, ob dessen Eltern mit der türkischen Kultur groß geworden sind, ob sie überhaupt die türkische Sprache beherrschen, all das kann nicht aus dem Namen geschlossen werden und dennoch wird dies getan.

Sogar die Geschlechtszuordnung durch den Namen ist ein Akt brachialer Gewalt, sobald man den Anteil an Neugeborenen mit uneindeutiger Geschlechtlichkeit berücksichtigt. Doch was nicht passt, wird in der Geburtsklinik schnell passend gemacht. Die Zuweisung der Identität kann durchaus mit einer Programmierung verglichen werden. In der Informatik wird mit dem Identitätssymbol "=" eine Zuweisung dargestellt. Identität wird hingegen durch ein "==" symbolisiert und das heißt in Worte übersetzt nichts anderes, als dass das was sein soll auch sein wird. Geschlechtsidentität wird zugewiesen, bevor der ahnungslose Säugling über eine Selbstwahrnehmung verfügt. Doch schon bald reicht die Selbstwahrnehung nicht mehr aus, um in der Gesellschaft zu bestehen. Spätestens im Alter von Dreizehn wird von den Heranwachsenden die Pubertät erwartet, denn ohne sie ist die gesellschaftlich notwendige Geschlechtsidentität nicht zu finden, da die erforderlichen Kulturtechniken wie beispielsweise eine geschlechtsspezifische Gestik nicht genügend eingeübt wurde.

5 Was wir sind, ist was wir sprechen

Grundlage des Identitätsbegriffes ist eine Beschreibung und diese erfolgt überwiegend aufgrund von sprachlichen Einteilungen einer Entität in Kategorien mit Begriffen. Kategorien typisieren ausgewählte Entitäten aus einer Menge anhand der ihnen zugewiesenen Eigenschaften. Durch die Belegung der Kategorie mit einem Begriff wird jedoch die Zuweisung als reale Tatsache dargestellt, da die Struktur der Sprache diese Verdrehung vorgibt. So heißt es nicht: "Jene Tiere, die Strukturen besitzen, die wir als Federn bezeichnen, benennen wir als Vogel", sondern "Ein Kennzeichen aller Vögel sind ihre Federn". Diese Vorgehensweise vereinfacht die Kommunikation, birgt aber die Gefahr, dass Kategorien, die aufgrund einer konstruierten Zuweisung entstanden sind, als reale Tatsache anerkannt werden und umgekehrt reale Tatsachen für die es keinen Begriff gibt in der Wahrnehmung nicht existieren.

Das Problem wird besonders deutlich, wo Kategorien angewandt werden. Wenn ich für verrückt gehalten werde, kann das heftige negative Folgen für meine soziale Akzeptanz haben. Wenn ich aber selbst etwas Verrücktes mache, kann das durchaus positiv sein, je nach dem, was damit angesprochen wird.

Auch der biologische Artbegriff ist ein gutes Beispiel der Kategorisierung. Zu einer Art gehören demnach alle Lebewesen, die sich untereinander fortpflanzen und auch fortpflanzungsfähige Nachkommen zeugen. Abgesehen davon, dass sämtliche asexuelle Lebewesen, beispielsweise Bakterien oder viele Hefepilze nicht erfasst werden, lassen sich Lebewesen nicht in Kategorien pressen. Der Nebensatz schließt zwar das Maultier und den Maulesel aus, nicht aber Coyote und Wolf, die sich der sexuellen Beschränkung nicht unterordnen wollen. Schlimmer treiben es noch die Kohlmeisen. Benachbarte Populationen in Europa und Asien können sich trotz kleiner Unterschiede verpaaren, doch gibt es bei weiteren Entfernungen Populationen, die sich mit dem ersten Nachbarn sexuell nicht mehr vertragen. Die graduelle Abnahme sexueller Kompatibilität zeigt die Widerspenstigkeit der sich ständig verändernden Realität gegenüber dem statischen menschlichen Ordnungssinn. Jedes Lebewesen, jede Materie hat nun mal seine Geschichte und seine Zukunft. Dass auch Begriffe wie Tiere oder Vögel sprachliche Kategorien sind, wird an der Evolution der Lebewesen deutlich. Sobald diese Lebewesen als Nachkommen einer sich verändernden Ahnenreihe betrachtet werden, verlieren die kategorialen Grenzziehungen ihren Nutzen. Die Vorfahren aller Vögel gehören in der biologischen Systematik schließlich zur Kategorie der Reptilien, obgleich auch diese Federn ausgebildet hatten. Auch die Frage nach dem Huhn oder dem Ei verdeutlicht die Kraft der Kategorien im Denken. Statische Begriffe sind einfacher zu erfassen und zu kommunizieren als dynamische Prozesse. Die entfernten Ahnen jedes Huhnes können schließlich nicht als Vögel bezeichnet werden und deren Ahnen haben wiederum keine Eier gelegt. Zeitliche Veränderungen lassen sich nicht auf einen Begriff reduzieren. Und genau deshalb müsste der Begriff der Identität als Grundlage für Beschreibungen von sich kontinuierlich verändernden Individuen eigentlich verwirren. Weshalb dennoch die Identität eines Menschen gemeinhin als Tatsache anerkannt ist, bedarf einer genaueren Analyse über dessen Herkunft und Verwendung.

Sobald Kategorisierungen durch Zuweisungen gebildet werden, zeigt sich die Asymmetrie der Sprache. Ein Mensch kann seine Wahrnehmung und Gefühlslage noch so eindrücklich beschreiben, seine Äußerungen werden von den anderen über den Filter der zugeschriebenen Kategorie wahrgenommen und so kommt es dass das weinende Mädchen anders wirkt als der weinende Junge. Deshalb wird Sprache zu einem Werkzeug für den Einsatz von Macht und spiegelt umgekehrt die Herrschaftsverhältnisse wider. Der Konstruktivismus nutzt diese Eigenschaften der Sprache. Die materielle Realität wird negiert, indem alles gleichermaßen als Konstrukt dargestellt wird. Die kritischen Theorien der bürgerlicher Sozial- und Geisteswissenschaftlen wie jene von Michel Foucault und Judith Butler differenzieren nicht zwischen der materiellen Umwelt, ihrer sprachlichen Beschreibung durch Begriffe und der darauf aufbauenden Kategorisierung durch Zuweisungen. In ihrem Denken ist alles gleichermaßen ein soziales Konstrukt, das sich durch das Sprechen erst materialisiert.

6 Was wir sind, ist was wir glauben

Identität wird oft mit dem "Ich" gleich gesetzt. Das "Ich" ist eine praktische Angelegenheit um soziale Relationen abbilden und seine Absichten kommunizieren zu können. Doch Aussagen wie "Ich mag Dich" oder "Ich helfe Dir" haben nichts mit der Identität zu tun. Immerhin haben die Menschen aber ein Selbsterleben und insofern ist das "Ich" ein Teil der eigenen Wahrnehmung. Allerdings bezieht sich diese Wahrnehmung auf die Gegenwart und diese ist wie das Selbst auch ein neurologisches Konstrukt. Alle Wahrnehmungskanäle werden vom Individuum zeitlich synchronisiert. Wir hören, sehen und schmecken schließlich unterschiedlich schnell, wenn auch im Millisekundenbereich. Ein wesentlicher Anteil des Selbsterlebens ist aber auch die eigene Vergangenheit. Doch niemand schleppt sie als Ganzes im Denken mit sich herum. Vom kleinen Anteil der nicht vergessen wurde, kann nur ein Bruchteil im gegenwärtigen Selbst verarbeitet werden. Die dem Denken und der Erinnerung zu Grunde liegenden materiellen neurologischen Verschaltungen sind zudem nicht statisch und so verändert sich das Selbst mit jeder Minute. Jede Erfahrung, jede Wahrnehmung verändert das Selbst und seine Geschichte. Aber auch anhand neurologischer Erkrankungen wie Demenz zeigt sich die Flüchtigkeit des Selbst und seiner Zuschreibungen.

Die Vorstellung des eigenen Selbst ist mit der eigenen Lebensgeschichte verbunden und findet durch den Begriff der Persönlichkeit eine Entsprechung, wenn diese beschrieben werden muss. Der Identitätsbegriff ist hingegen kein Synonym für die Persönlichkeit, da er das gegenwärtige Ich und seine Wirkung auf die soziale Umwelt von der individuellen Lebensgeschichte entkoppelt. Hier stellt sich nun die Frage, wozu der Identitätsbegriff eigentlich benötigt wird.

Der Sprachwissenschaftler Ludger Hoffmann versucht diesen Begriff zu fassen:

"Identität ist ein schwieriges Wort, der Begriff dahinter schwer zu fassen. Sicher gibt es viele verschiedene Verständnisse davon. Grundlegend scheint, zwischen der selbst wahrgenommenen Eigen-Identität und der von außen wahrgenommenen (und kommunizierten) Fremd-Identität zu unterscheiden. Die Eigen-Identität enthält offenbar einen extern unzugänglichen, nicht komplett bewussten Kern. Sie ist durch das Aufwachsen, durch Äußerungen Anderer, durch Interaktionen in großem Maße mit bestimmt; allerdings wird die Außenreaktion wiederum interpretiert und verarbeitet. Die Eigen-Identität ist durch die Aufnahme zugeschriebener Identitätsmerkmale immer eine multiple. Ich habe einen Kern von Selbst-Bewusstsein, weiß aber, dass ich in der Familie die Eigenschaften E, bei Freunden die Eigenschaften F, im Sportverein die Eigenschaften G ... habe, die sich partiell überschneiden, im Kern aber sehe ich eine Kontinuität meines Selbst in der sozialen Horizontale von Gruppen-Mitgliedschaften) und in der zeitlichen Vertikale meiner Lebensgeschichte, die ich im Gedächtnis konstruieren kann. Ich reagiere in vergleichbarer Weise auf Begegnungen und Ereignisse, hege langfristig bestimmte Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, behalte Gewohnheiten und Einstellungen bei." (http://home.edo.uni-dortmund.de/~hoffmann/ABC/Identitaet.html (04/2013))

Hoffmann begreift trotz aller Schwierigkeiten in der Begriffsbestimmung die Identität nicht als Konstrukt, für dessen Verwendung eine Zielsetzung zu Grunde liegt. Für ihn ist die Identität genau so real wie die Existenz von Kohlmeisen. Doch im Gegensatz zur Konstruktion sind Letztere sichtbar und lassen sich einfangen.

Interessanterweise gehören aber für Hoffmann die Ansichten eines Menschen nicht zur Identität. Die gegenwärtigen Ansichten eines Menschen sind aber das Ergebnis der Lebensgeschichte und seiner darin getroffenen Entscheidungen. Nur die Geschichte des Individuums, seine bisher verfügbaren Informationen und dessen Verarbeitung kann seine Ansichten erklären. Deshalb zeigt sich gerade darin seine Ausgangslage und sein Werdegang. Die Abgrenzung des Identitätsbegriffes von den Ansichten führt dazu, dass nicht nur die Geschichtlichkeit des Menschen sondern auch der rationale Anteil seiner gegenwärtigen Persönlichkeit unberücksichtigt bleiben. Doch gerade in der ausgeprägten Fähigkeit zu Reflexion, zu Abwägungen und bewussten Veränderungen bisheriger sozialer Strategien liegt die Besonderheit menschlichen Daseins.

Der Identitätsbegriff umfasst somit weder die Geschichte eines Menschen, noch seine Persönlichkeit oder seine Ansichten. Worauf zielt er dann ab? Hoffmann differenziert zunächst in Fremd und Eigen-Identität, wobei die Eigenidentität nach seiner Definition durch die Interaktion mit der Außenwelt entsteht.

Die Eigen-Identität enthält offenbar einen extern unzugänglichen, nicht komplett bewussten Kern. Sie ist durch das Aufwachsen, durch Äußerungen Anderer, durch Interaktionen in großem Maße mit bestimmt; allerdings wird die Außenreaktion wiederum interpretiert und verarbeitet.

Die Äußerungen Anderer bestimmen die Eigenidentität mit, wenn auch gefiltert durch die Interpretation und Verarbeitung des Individuums. Hoffmann beschreibt somit, wie Eigen-Identität entsteht. Er erklärt aber nicht, was sie ist. Der Kern der Eigenidentität sei etwas, das außerhalb des Bewusstsein liege. Er kann also nicht in der Selbsterkenntnis zu finden sein, da diese per Definition zum Bewusstsein gehört. Emotionen werden ebenfalls nicht der Identität zugerechnet, da sie eines Auslösers bedürfen. Wenn also weder das Selbstbild, noch die Persönlichkeit, noch die Ansichten oder gar die Emotionen den Kern der Identität ausmachen, wo ist dieser dann zu finden? Für Hoffmann sind anscheinend die Anderen und ihre Zuschreibungen der Schlüssel zur Identität:

"Die Fremd-Identität enthält Merkmale die nur zugeschrieben und vom Selbst nicht integriert sind, aber auch solche, die das Ich sich zu Eigen gemacht hat. Die Eigenwahrnehmung der Fremd-Identität schließt meist auch Merkmale ein, die das Individuum sich zugeschrieben wünscht, die es aber nicht zugeschrieben bekommt (illusorische Fremd-Identität). Die Fremd-Identität als Wissensstruktur wird auch als "Image" bezeichnet. Eigen- und Fremdidentität divergieren systematisch. Ist die Differenz zu groß, sind meist soziale Probleme die Folge." (http://home.edo.uni-dortmund.de/~hoffmann/ABC/Identitaet.html (04/2013))

Mit seiner Analyse übernimmt Hoffmann Festschreibungen aus der Psychologie und der Soziologie, die auf den Gedanken des Sozialpsychologen George Herbert Mead und den psychoanalytischen Theorien Erik Eriksons aufbauen.

7 Was wir sind, ist was uns gesagt wird

Der Sozialpsychologe George Herbert Mead unternahm Anfang des 20. Jahrhunderts den Versuch die Identität in Bezug zum Selbst zu setzen. Für Mead ist das Selbst (self) kein statisches Konstrukt sondern beschreibt ein im Bewusstsein liegender kontinuierlicher Prozess der kommunikativen Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld. Die Identität entwickle sich hingegen durch Handlungen und Reaktionen der Anderen, da es nur die Anderen sein können, die uns sagen wer wir sind. Die hierfür nötige Kommunikation bildet den Ausgangspunkt seines Theorie-Entwurfes. Ausgehend von Zeichen wie beispielsweise Gestiken oder Lautäußerungen postulierte Mead zunächst die Einheitlichkeit in der Codierung zwischen Individuum und Gesellschaft, die das Verstehen erst ermöglicht. Die Aufforderung eines Individuums richtet sich jedoch nicht nur an den Empfänger der Botschaft, sondern auch an das Individuum selbst. Dadurch, dass sich das Individuum selbst anspreche, werde ein Selbsterkennen durch soziale Aktion möglich. Über dieses Postulat eines beständig zirkulierenden Erkennens zwischen Individuum und Gesellschaft versuchte Mead die Entstehung menschlicher Kommunikation und ihrer kulturellen Unterschiede in seinen Entwurf einzubeziehen. Die Spannungen und Widersprüche, die sich ergeben, wenn Kulturen aufeinander prallen, konnte er jedoch nur durch einen relativistischen Ansatz lösen. Nur die Wahrscheinlichkeit des Erfolges einer Handlung lasse demnach die eingenommene Perspektive zur jeweiligen Realität werden. Deshalb zeige sich auch erst nach der Vollendung einer Handlung, ob die verschiedenen Perspektiven der Beteiligten kompatibel gewesen seien. Aus dieser Haltung heraus degradiert Mead sowohl das erfolglose Betteln nach Essbarem als auch den Widerstand gegenüber den Mächtigen zu einer unverstandenen Geste. Die Identität entwickelt sich nach Mead ebenfalls über die Kommunikation sowohl im Spiel als auch im Konkurrenzkampf. Im Spiel werden Rollen eingenommen und dadurch Identitätsfragmente ausprobiert.

"Das Kind sagt etwas als ein Charakter und antwortet als ein anderer Charakter, und diese Antwort als anderer Charakter wird wieder zum Stimulus, als der vorherige Charakter zu antworten, und so nimmt die Konversation ihren Fortgang. Eine bestimmte organisierte Struktur taucht in ihm auf, wie auch in seinem antwortenden Anderen, und dies hält die Gestenkonversation zwischen beiden aufrecht." (Mead 1934, S. 151 zitiert nach "George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Perspektive des Sozialbehaviorismus" von BenjaminJörissen in "Schlüsselwerke der Identitätsforschung" (2010))

Allerdings sei diese Spiel nicht frei. Das Kind lerne durch die gespielte Sicht eines Anderen sich selbst zu betrachten und entwickle somit ein Bewusstsein für die eigene soziale Position. Teile dieses Modells finden sich heute in jenen sozialwissenschaftlichen Theorien wieder, die die Identitätskonstruktion als sich wiederholende Folge performativer Handlungen verstehen. Jedoch mussten diese an das Medienzeitalter angepasst werden, indem die Imitation wahrgenommener Handlungen als wesentlichen Prozess der Identitätskonstruktion dargestellt wurde.

Das Individuum kann aber nur in Gesellschaft denken und handeln. Letzteres wird ihm in der psychologischen und soziologischen Tradition eigentlich nicht zugestanden. Statt Handlungen, denen eine Entscheidung zu Grunde liegt, verhält sich der Mensch aufgrund der in ihm vorherrschenden Diskurse und Rollen.

Um aus die zu einer Handlung führenden Entscheidungen in ein bloßes Verhalten zu transformieren, teilt Mead den Prozess der Identitätskonstruktion in zwei Bereiche auf. Er postulierte eine aktive Komponente, das Ich (I), welches unbewusst Handlungsimpulse gebe und dem Mich (Me), das die bewusste Reflexion der erfolgten Handlung übernimmt. Da das I zunächst unkontrolliert bleibe, könne es zwar Neues und Unvorhersehbares produzieren, welches aber durch den Rahmen der individuellen Perspektive und deren Entwicklungsgeschichte begrenzt bleibe.

Hierzu teilt Mead den Prozess der Identitätskonstruktion in zwei Bereiche auf, dem Ich (I), das die aktive Komponente darstelle, welche unbewusst Handlungsimpulse gebe und dem Mich (Me), das die bewusste Reflexion der erfolgten Handlung übernimmt. Da das I zunächst unkontrolliert bleibe, könne es zwar Neues und Unvorhersehbares produzieren, welches aber durch den Rahmen der individuellen Perspektive und deren Entwicklungsgeschichte begrenzt bleibe. Das Me ist hingegen strikt begrenzt, da es sich aus der Reaktion des sozialen Umfeldes auf die vollzogene Handlung bilde und eben diese Handlung aus der Reflexion heraus für das Individuum und das soziale Umfeld identisch ist. Über diesen wechselseitigen Prozess des Agieren, Reagieren und Reflektieren entsteht aus den spontanen Handlungen nun ein Verhalten, das den Erwartungen entspricht. Verhaltenserwartungen werden über das Me in das Individuum verankert. Für Mead existiert kein Selbst ohne diesen sozialen Prozess, weshalb auch die Identifizierung nicht einfach nur eine Aneignung von Rollen sei, sondern die Rollen das Selbst erst herausbilde. Das Me beinhaltet somit die dem Individuum bekannten Kategorien, Erwartungen und Werte der Gesellschaft, die zugleich die Seinen sind. Eine andere Form menschlicher Existenz ist nach Mead schlichtweg nicht denkbar. Multikulturalität sah er als ein überwindendes Problem, das nicht durch die gegenseitige Beeinflussung durch Austausch und Aushandeln zu überwinden ist, sondern durch die Übernahme einer andere Perspektive durch die Individuen. Integration kann aus dieser Sicht nur in jene Richtung verlaufen, in der die gesellschaftliche Macht zu finden ist. Doch zu dieser Feststellung gelangte nicht Mead, sondern erst die Diskurstheorie der Postmoderne.

Erkison entwickelte ausgehend vom psychoanalytischen Menschenbild Sigmund Freuds ein Stufenmodell der Ich-Entwicklung. Das Heranwachsen des Ichs beginne in frühester Kindheit mit der sog. "Introjektion". Dabei werde vom Kind das Bild der Bezugspersonen einverleibt, woraus es ein gesichertes Selbstgefühl entwickelt. Dieses sei dann für die Bildung von Liebesobjekten nötig. Ausgehend von dieser Stufe erweitere das Kind dann sein Beziehungsumfeld "auf vertrauenswürdige Vertreter einer sinnvollen Rollenhierarchie, wie sie die in irgendeiner Familienform zusammenlebenden Generationen böten". (Noack 2010, S. 46 "Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus" in "Schlüsselwerke der Identitätsforschung" )

Dieser Identifizierungsmechanismus führe alleine aber nicht zu einer funktionierenden Persönlichkeit, da die Identifikationsprozesse nur kindlich bewertet werden und diese noch an die soziale Wirklichkeit angepasst werden müssen. Außerdem könne sich aus der bloßen Aufsummierung an Identifikationen kein einzigartiges zusammenhängendes Ganzes entwickeln. Die wahre Identität entsteht nach Erikson erst nach einer Verinnerlichung und Abänderung der Identifikationen zu einem zusammenhängenden Ganzen. Voraussetzung seien jedoch durchlebte Krisen der ersten vier Entwicklungsstufen in denen Mißtrauen, Scham und Schuld erlernt und durchlebt werden müssen. Das durch die Aktivität des Kindes folgende Minderwertigkeitsgefühl aufgrund mangelnder Kompetenzen leite dann in die wesentliche Stufe der Identitätsentwicklung über, die Pubertät.

Obgleich die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft die Krisen erst hervorbringt, kann zu deren Überwindung nach Erikson nur die Gemeinschaft sorgen.

Durch Exklusions- und Inklusionsprozesse schafft sie den Ihrigen einen identitätsstiftenden Raum. Diese emotionale Heimat düngt sogleich den Nährboden faschistischer Denkweise, die ein Anderssein nicht zulässt:.

"Nun ein Gefühl der Identität zu haben, heißt, sich mit sich selbst, so wie man wächst und sich entwickelt, eins zu fühlen; und es heißt ferner, mit dem Gefühl einer Gemeinschaft, die mit ihrer Zukunft wie mit ihrer Geschichte im reinen ist, im Einklang zu sein." (Erikson 1975, S. 29 zitiert nach "Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus" von Juliane Noack in "Schlüsselwerke der Identitätsforschung" (2010))

Nach Erikson ist die Identität ein notwendiges Konstrukt, das sich aus der Verinnerlichung von Rollen während der Kindheit und Jugend entwickeln muss. Erkison nennt die Stufen und ihre Krisen deshalb auch Entwicklungsaufgaben. Ohne deren Bewältigung die Identität im Erwachsenenalter nicht erreicht werden kann. Da die Zuschreibungen der Anderen die gewonnene Identität stabilisiert, sind nach ihm Veränderungen durch Reflexion, Entscheidungen und wiederholte Handlungen nicht grundlegend möglich. Umgekehrt stabilisiert im Erwachsenenalter die Identifikation des Individuums auch die Gemeinschaft und bewahrt sie vor grundlegenden Veränderungen. Die Verinnerlichung von Rollen findet über Anerkennung und Sanktionierung durch das soziale Umfeld statt. Die Identität beschreibt somit ein Set von erlernten Rollen, wobei diese je nach Zwang oder Bedürfnislage gespielt werden müssen. Sie bildet sich deshalb aus der individuell abgestimmten Summe an Rollen, die das Individuum auszufüllen hat und zugleich als Bestandteil des subjektiven Selbst wahrgenommen werden.

Er differenziert jedoch nicht zwischen jenen Rollen, die durch Zwang in einer hierarchischen Gesellschaft gespielt werden müssen und jenen, deren Einnahme taktisch eingesetzt wird, um Bedürfnisse befriedigen zu können, die ansonsten unbefriedigt bleiben. Willensäußerungen, die jenseits gesellschaftlicher Zuschreibungen und Rollen liegen, existieren in seiner Denkweise nicht. In allen Gesellschaften gäbe es für die Privilegierten nur eine scheinbare Wahlfreiheit, da gerade jene ihre Identität nach den Zwängen des Systems definieren.

"Und die, die nicht die Wahl haben, anders zu sein, können auch nicht frei entscheiden, zu bleiben, was sie sind." (Erikson 1975, S. 130 zitiert nach "Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus" von Juliane Noack in "Schlüsselwerke der Identitätsforschung" (2010))

Erikson hat die Priviligierten in allen Gesellschaften als männlich-dominant identifiziert. Diese und andere wertkonservative Aussagen wurden u.a. von feministischer Seite kritisiert, nicht jedoch der darin enthaltene Faschismus. Jedes Wollen, das nicht an die Gemeinschaft angepasst wird, ist mit Erikson als Entwicklungsstörung einzustufen und zu therapieren. Doch gerade den linken postmodernen Theorien wie jener von Judith Butler bereitete Erikson einen identitären Pfad durch seine Interpretation der "proteischen Persönlichkeit". Der Mythos des Meersegottes Proteus, der verschiedene Gestalten annehmen kann um Fragen zu entkommen wurde zur Grundlage eines neuen, postmodernen Menschenbildes.

"Was heute als proteische Persönlichkeit gilt, scheint ein Versuch adoleszenter Persönlichkeiten - wie sie Amerika immer hervorgebracht hat - zu sein, durch eine Haltung bewußter Veränderlichkeit mit dem ungeheuren Wandel fertig zu werden, ein Versuch, durch Spielen mit der Veränderung die Initiative zu behalten." (Erikson 1975, S. 121 zitiert nach "Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus" von Juliane Noack in "Schlüsselwerke der Identitätsforschung" (2010))

Erikson stand diesem Spiel skeptisch gegenüber, für Butler ist es jedoch gerade das Spiel mit der Identität, das zu Irritation und Veränderung führen kann. Doch gewisse Zwänge lassen nun einmal kein Spiel und keine Variation zu.

Die fehlende Differenzierung zwischen Zwängen und Entscheidungen offenbart schließlich die perfide Gewalt des Identitätsbegriffes. Gleichgültig wie selbstbewusst oder reflektiert jemand ist, welche Entscheidungen er getroffen oder Handlungen er unternommen hat, an manchen Zuschreibungen kann all dies nichts ändern. Die Konzentration der Melaninpigmente in den Hautzellen oder die Kontrollfähigkeit über den eigenen Bewegungsapparat bleibt bestehen und begrenzt die eigenen Identitätskonstrukte auf Kategorien wie "dunkelhäutig" oder "Spastiker". Die Identität verweist all diese Zuschreibungen in die Verantwortlichkeit des Individuums.

Der Identitätsbegriff vermag aber noch mehr: er weist den Menschen statische Eigenschaften zu, anhand dieser sie jederzeit aus einer Menge herausgegriffen, kateogorisiert und identifiziert werden können. Ohne diese Zuschreibung wäre keine sozialwissenschaftliche Forschung möglich. Sowohl die Mengenlehre der quantitativen Forschung, als auch die metaphysisch durchsetzte qualitative Forschung muss auf einem deterministischten Menschenbild aufbauen, um gesellschaftliche Phänomene erklären zu können. Dennoch wird von den Forschern der Determinismus abgelehnt, da sonst die materielle Basis des Lebens berücksichtigt werden muss, die unausweichlich zu den äußeren Zwängen und schließlich zu den Herrschaftsverhältnissen führen würde. Zudem wäre ein deterministischer Ansatz mit jener Vorstellung von Pluralismus unvereinbar, wie er in den Sozialwissenschaften praktiziert wird, in dem sich widersprechende Theorien nebeneinander existieren dürfen, ohne dass eine Überprüfung gefordert wird.

Der Identitätsbegriff deckt diese sich entgegen stehenden Anforderungen ab. Da er aus der vielfältigen Gewalt aufgezwungener Rollen gespeist wird, ist die Identitätsforschung ein fruchtbares Feld mit hohem Publikationspotential.

In den Personalabteilungen sorgt die kategorisierende Funktion des Identitätsbegriffes dafür, dass die Lohnarbeitenden in Low- Solid- und Highperformer eingeteilt werden können. Wie in einem Computerspiel können die Mitarbeiter zwar Skills dazulernen und Kompetenzen erwerben, allerdings muss deren Bereitschaft zur Unterwerfung genügend hoch sein. Für den Profit zählt eben nicht das Maß an getaner individueller Arbeit sondern das Potential an durchschnittlicher Arbeitszeit, das aus der Belegschaft herausgepresst werden kann. In dieser Reduktion der aufgewendeten Arbeit auf einen Zeitwert zeigt sich erneut die gewalttätige Pracht der Identität. Ob diese Zeit von den Arbeitenden wertschätzend, erzwungen, gelangweilt oder inspirierend wahrgenommen wurde, ist kein Kriterium. Es zählt lediglich die Quantität der abgeleisteten durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit in dieser Sparte und diese ist für alle darin Tätigen identisch.

Allerdings lässt sich aus den High-Performern der Firma mehr Lebenszeit pressen und somit nicht nur der Profit maximieren. Wunderlicherweise lässt sich durch den kontinuierlichen Verbesserungsprozess engagierter High-Performer auch die durchschnittliche notwendige Arbeitszeit über Mehrabeit senken. Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man bedenkt, dass die unbezahlten Überstunden den Anteil bezahlter Stunden senken.

Im Gegenzug darf sich der Geschröpfte ganz im Sinne Eriksons mit seiner Corporate-Identity identifizieren. Sie gibt ihm das Gefühl der Heimat, zumindest so lange er den Anforderungen eines High-Performers im firmeninternen Konkurrenzkampf gerecht wird. Ist sein inneres Feuer für die Firma nicht mehr am lodern, darf er sich nicht wundern, wenn burn-out-bedingt die Identitätskrise naht. Schließlich war es seine Identität, die es nicht geschafft hat genug Brennstoff bereit zu halten. Aus der Identitätskrise hilft dann nur mehr eine Therapie, die die Resozialisierung in die Gemeinschaft der Werktätigen ermöglicht, den Selbstwert des Gescheiterten erhöht und dem Arbeitgeber seinen verlorenen Wert wiedergibt.

8 Was wir sind, ist was wir leisten

Fassen wir zusammen: sowohl die biologische Disposition, die eigene Lebensgeschichte mit vergangenen äußeren Zwängen als auch Entscheidungen, die einmal getroffen wurden, werden zur Identität zusammen gebacken und gehen dann in die Verantwortung des Idividuums über. Durch die Verwendung des Identitätsbegriffes wird nicht mehr differenziert zwischen jenen Eigenschaften einer Person, die sie durch eigene Entscheidungen erworben hat und jenen die durch objektive Zwänge, seien sie körperlicher oder gesellschaftlicher Art, subjektiv unveränderbar sind. Der gegenwärtige Zustand eines Menschen wird über die Identität zu seiner Vergangenheit und Zukunft. Egal ob ein bestimmter Lifestyle gelebt wird oder eine körperliche Einschränkung gelebt werden muss, die Verantwortung liegt darüber beim Einzelnen -und das, obwohl ihm die Eigenverantwortlichkeit genommen wurde.

Immerhin gehen gerade die vermeintlich kritischen Theorien in den Sozialwissenschaften von der Vorstellung aus, es gäbe eine wahre Identität, die ständig an die Begrenzungen in der Gesellschaft stoße, weshalb kontinuierlich ein Kampf der Diskurse und um Diskurse ausgefochten werde. Gleichgültig ob es sich nun das richtige Geschlecht im falschen Körper oder die falsche Nationalität in der richtigen Volksgruppe, um intersektional doppelt und dreifach Benachteiligte handelt, werden Menschenbilder konstruiert und typisiert. Doch bei aller Verschiedenheit und Akzeptanz im Pluralismus findet sich eine Gemeinsamkeit in den Identitätskonstruktionen: die Vorstellung eines wahren Lebens, das nicht gelebt werden kann, da es beständig am System scheitert. Das wahre Leben im falschen System sucht naturgemäß nach einem Raum zur gänzlichen Entfaltung. Und so promoviert der vermeintliche Kampf um den eigenen Lebensraum zur Ursache sozialer Spannungen und gesellschaftlicher Konflikte. Die falsche Welt müsse deshalb berichtigt werden, um das echte Leben zu ermöglichen. Doch wo rechterhand die Durchsetzung genormter Werte des Guten, Wahren und Schönen eingefordert werden, werden die gleichen Werte linkerhand im pluralistischen Diskurs versteckt und treten nur dann zum Vorschein, wenn die abweichende Haltung oder Kultur in direkter Nachbarschaft auftaucht.

Doch jedes Leben ist ebenso wahr, wie das Scheitern an der Gesellschaft. Und es ist nicht die echte Identität, die beschränkt wird, sondern die Bedürfnisse sind es, die aufgrund der Entfremdung durch eine Warenproduktion des Wertwachstums nicht befriedigt werden können.

9 Was wir sind, ist egal

Der Identitätsbegriff steht erhaben über all den angepassten Theorien und erzeugt beständig Widersprüche, da er nicht dialektisch als Begriff einer Entfremdung verstanden wird, als Einheit der Gegensätze, die von selbst aufheben, was sie gebildet haben. Deshalb wird durch ihn etwas verdeckt, das im Zusammenleben eigentlich offensichtlich ist: die Gemeinsamkeiten der Menschen und ihre Empathiefähigkeit.

Wo ein Mensch zu verorten ist, welche Identität ihm zugeschrieben wurde oder welche Vergangenheit er zu tragen hat, ist letztlich gleichgültig, sobald Willensäußerungen ernst genommen werden. Auftretende Konflikte können nur in der Beziehung zueinander gelöst werden. Gegenseitige Zuschreibungen oder Glaubenssätze sind dabei nur hinderlich. Die nötige Kommunikation ist zwischen Menschen, die unterschiedlichen Kulturkreisen angehören und über Sprachgrenzen hinweg, möglich. Mimik und Teile der Gestik werden schließlich von allen Menschen mit hoher Trefferquote richtig interpretiert, da sie schon früh in der Evolution angelegt wurden. Zudem sind wir lernfähig und in der Lage unsere Kommunikation ganz bewusst aufeinander abzustimmen. Die richtige Deutung von Willensäußerungen unseres Gegenübers ist somit nur durch die Bereitschaft limitiert, sich auf sein Gegenüber einzulassen. Sobald diese Beziehungsebene betreten wird, ist die Identität nur noch ein Ballast, dessen Abwurf die einzige Möglichkeit ist, sich näher zu kommen.

 

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(1) Die Untersuchung basiert auf nur einer Masterarbeit, in der von 2000 Fragebögen 500 ausgewertet wurden. Die Webseite der Betreuerin (http://astrid-kaiser.de/forschung/projekte/vornamensstudien.php führt) jedoch nicht zur Arbeit von Julia Kuba. Trotz des hohen medialen Echos und mehrfachen Zitierend in wissenschaftlichen Arbeiten scheint eine Überprüfung nicht statt gefunden zu haben.