Siehe hierzu auch die Themenabende der Kulturkritik München

Dieses Papier will die "Thesen zur Militarisierung der deutschen Sebstverständigung" unterlegen.

 

Wolfram Pfreundschuh (5.2. 2005)

 

Die Militarisierung der deutschen Selbstverständigung

 

Der Umgang mit Andersdenkenden hat sich in der Zeit, in der sich das Kapital zur Bestimmung des Weltmarkts verselbständigt hat, also in der Zeit der Globalisierung (siehe hierzu: "Die Globalisierung und das Ende der bürgerlichen Gesellschaft"), merklich verändert. International haben sich die Gegensätze radikalisiert zu einer Doktrin der Kapitalinteressen gegen die Chancen der Autarkie der Völker und Nationen, die sich im Konzept der "Weltordnungskriege" bereits zynisch formuliert hat. Und auch national entstehen zunehmend kulturelle Interpretationsmuster, die eine Selbstermächtigung von Kulturhoheit gegen wirkliche Probleme und Konflikte, wie sie in gegensinnigen Lebensverhältnissen entstanden waren und entstehen, darstellen. Die Schlagworte (z.B. Leitkultur, Integrationsbedarf, Leistungskultur) zeigen selbst schon, dass eine wirkliche kulturelle Beziehung von höherer Warte aus ausgeschlossen werden soll, und stattdessen eine Art Kulturmanagement eingeführt wird, das sich gegen fremde Kulturen und auch gegen Randgruppen der eigenen Kultur wendet. Die Mittel hierzu sind kämpferisch und zielen auf Unterordnung des Andersdenkenden, des Fremden oder des Unangepassten unter einen allgemeinen Kulturanspruch ab, der sich als selbstverständlich, als allgemein gültges Selbstverständnis über die bestehende Wirklichkeit stellen soll. Ich will diese Entwicklung mit der Formulierung einer Militarisierung der Selbstverständigung zusammenfassen.

Militarisierung setzt voraus, dass ein Gegenüber zum Gegner geworden war und dass die Mittel und Maßnahmen, die ihn bezwingen sollen, beigeschafft und ausgerichtet werden, und auf die Herstellung seiner Wehrlosigkeit gerichtet sind. Sie ist zum einen die Ausstattung mit Beherrschungsmitteln (z.B. Züchtigungsmittel, Gesetze), also im Grunde Bewaffnung, und zum anderen Interpretation seines Tuns unter dem Gesichtspunkt der strategisch optimalen Handhabung einer Reaktion hierauf, also die Ausrichtung eigenen Tuns zum Zweck der Beherrschung eines fremden. Es versteht sich von selbst, dass ein entsprechendes Selbstverständnis hierzu nötig ist. Dieses wird aus dem genommen, was sich im Lebensalltag der Menschen als hierfür wirksam erwiesen hat.

Eine militarisierte Selbstverständigung kommt nicht aus der Entwicklung einer Auseinandersetzung, sondern besteht aus einer notwendigen Abhebung hiervon, die zugleich eine Ablösung der Beziehung zu denen ist, die als Gegner behandelt werden sollen, weil eine Auseinandersetzung mit ihnen zu ihrem Ende gekommen war. Sie ist also ein verselbständigtes Verhältnis, aus dem ein Verhalten entsteht, das zur Ausschaltung der Handlungsfähigkeit eines Gegners treiben will. Es ist ein geistiger Krieg gegen ihn.

Natürlich wird Krieg nicht mit Kriegsnotwendigkeit erklärt. Das würde die wirklichen Verhältnisse ziemlich krass als feindliche Verhältnisse eröffnen und die Frage aufkommen lassen, um welche Auseinandersetzung es hierbei eigentlich wirklich geht. Man rüstet auch nicht zum Krieg, weil man Krieg will. Er entsteht ganz allmählich in den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Staaten, bis er schließlich schlagartig ihrer oft verwunderten Bevölkerung eröffnet wird. Kriegsvorbereitungen sind meist weder bewusst auf Krieg bezogen und auch für sich alles andere als kriegerisch. Es sind Lebensbedingungen, die sich in voller Pracht entwickelt hatten, bevor sie an ihre historischen Grenzen gelangt sind. In den Köpfen erscheinen sie noch ideal, während in der Wirklichkeit ihre Widersprüchlichkeiten üble Auswirkungen haben. In den Köpfen sind es noch die Ideale, das Gute und Schöne, das Selbstverständis beflügelt, auch wenn es mit der Realität nicht mehr mitkommt. Die Ideale, welche das Bürgertum entwickelt hatte, als es Zeit für seine Entstehung war, kehren sich dann um zur Ideologie einer Kriegsführung. Wir sehen das an Begriffen wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität, wie sie z.B. noch in den USA benutzt werden. Freiheit ist für George W. Bush die Begründung seines Militärhaushalts, Demokratie die Begründung amerikanischer Expansionsinteressen und Solidarität ist längst schon allein durch die Realität des amerikanischen Staatshaushalts und seiner Sozialentwicklung überlebt und soll ein völlig abstrakt gewordenes Gemeinwesen per Ideal noch irgendwie zusammenhalten. Und seine Außenministerin Rice ergänzt, dass es den USA vor allem um die "Macht der Ideen, des Mitgefühls und der Hoffnung" ginge und wer das nicht akzeptiere, der bestreite die Fundamente der Vereinigten Staaten.

In Deutschland ist man etwas zurückhaltender, zumindest in der Einfältigkeit solcher Begriffsverwendung. Aber auch hier ist der Begriff der Freiheit politisch elementar für die "Verteidigung der Freiheit", womit behauptet ist, dass Angriffe unfreier Völker zu erwarten seien. Schon die Thematisierung der Rolle der deutschen Wehrmacht erzeugte eine Reihe Probleme, die sich zur Behauptung auftaten, es würde damit in deutschen Wunden gewühlt und eine Schande für das deutschen Volkes und die Bundeswehr aufgebaut. Etwas komplizierter wurde es mit dem deutschen Friedensverständnis und dem psychologisch entwickelten Versöhnungsbegriff, der sich als Verteidigungsbegriff für die Wesenssache des Menschen, für die Humanität schlechthin hervortat. Der sehr sublime Chauvinismus, den solcher Verstand impliziert, ist schon schwerer zu erkennen. Und schließlich haben die Deutschen schon seit langem ein sehr detailliertes Faible für die Fragen der Menschenführung, der Menschenerziehung und der Menschenzucht, letztres immer noch als eine Fata Morgana zeitgenössischer Philosophie, die nicht von ungefähr kommt. Sie entspringt dem Zweifel am Verständnis des Humanismus. Die bisherige Ethik (Indexup2a1a1b2) reicht der Philosophie für die Entscheidungsprobleme der Wissenschaften nicht mehr aus. Sofern Wissenschafter über das Leben der Menschen entscheiden, wollen sie neue Kriterien hierfür haben. "Der Mensch" soll neu definiert, seine Entwicklung neu verstanden werden. In dieser Gigantomanie des Wissenschaftsverständnisses sollen nun auf höherer Stufenleiter, als es im letzten Jahrhundert bereits schon mal versucht war, von der Seite der Helfer und Heiler die "Probleme der Menschen" neu verstanden, neu begriffen und in eine wissenschaftlich zu vertretende Zukunft geleitet werden.

Nicht mehr nur der "Untergang des Abendlandes" (Spengler) wird heute hierzu beschworen, es geht jetzt um die ganze Welt. Der "Kampf der Kulturen" ist vor allem ein Kampf der Wissenschaften um ihre Rolle für die sogenannte Zivilisation, die selbst schon ein Begriff der anwartenden Führungskultur ist. Die Funktion ihres Kulturverständnisses ist sehr sublim. Der "Kampf der Kulturen" ist die Ideologie der Westmächte, mit der sie in "Weltordnungskriege" eingestiegen sind. Westliche Ideologie tritt heute an, um diese Kultur als notwendige Weltkultur zu "verteidigen", also zu behaupten, und fremde Kulturen zu unterordnen, damit sie unterworfen werden können. Damit wird jede Kultur unmöglich. Denn Kultur kann nur das geschichtliche Sinnlichsein der Menschen betreffen, ihre Lebensweise, wie sie unter bestimmten Lebensbedingungen möglich und nötig ist. Eine Kultur, die sich als Notwendigkeit für andere Menschen ausgibt, kann keine Kultur sein. Und ein Kampf um Lebensweisen ist notwendig selbstzerstörerisch, wenn er von beiden Seiten konsequent betrieben wird.

Eigentlich weiß man das und es ist unglaublich, dass der amerikanische Regierungsberater und Soziologie-Professor Samuel Huntington mit seinem Buch "Kampf der Kulturen" auf die Bestsellerliste der USA und auch in Europa gelangen konnte, worin er eine Führungsmacht der Westkultur beanspruchte. Wie konnte es dazu kommen, dass eine solche Auffassung bei den Menschen mit ihrer sehr beschränkten und sachlich und fachlich falschen, aber äußerst populär aufbereiteten Kultursoziologie überhaupt ankommen konnte? Was war schon bis dahin mit ihrem Bewusstsein und Zeitverständnis geschehen, dass sie der darin formulierten "Sorge um die Entwicklung der Welt" zustimmen konnten, die doch letztlich das als Notwendigkeit verhieß, was die Auflösung der Kulturen betrieb? War es, weil der Krieg inzwischen in fast jedem Wohnzimmer stattfand? Dass die Existenzanfordernungen selbst schon den Charakter einer Unterwerfung haben, mit der die Menschen nicht zurechtkommen und ein Wendung gegen andere sich hieraus ergibt? Jedenfalls wäre dann nicht nötig, die Wissenschaften zu bemühen. Es bleibt die Mutmaßung, dass es hier um eine Frage nach der weiteren Entwicklung der Gesellschaften und der Welt geht, die zunehmend in die Richtung der Reaktion gelenkt wird.

Um dieser Frage nachzugehen, sollen hier die Momente einer Geschichtsverarbeitung nachgezeichnet werden, wie sie in der jüngsten Geschichte aufkamen und noch bestehen. Nach meiner Auffassung geht es hierbei um eine eklatante Wende in der Selbstverständigung der Menschen seit dem letzten Weltkrieg. Zugleich ist die darin beschworene Geisteshaltung auch eine Rückkehr zu sehr alten reaktionären Denkweisen und Verarbeitungsinteressen. Die Gründe für diese Veränderung liegen zwar wesentlich im Wandel der Lebensverhältnisse, haben sich aber auch in den geistigen Auseinandersetzungen zugetragen und verselbständigt. Im Zirkelschluss von den Notwendigkeiten dieser Lebensverhältnisse und der reaktionären Affirmation des Verstandes hierzu entwickelt sich Vernichtungswut, die sich schließllich ihre Vermittlungen und Mittel, ihre militärischen Werkzeuge suchen muss.

Es geht hier darum, solches Verständnis in seiner Entwicklung aus den Anschauungen und Zwecken der deutschen Lebenspraxis heraus bis hin zu seinen militärischen Implikaten zu entwickeln. Es ist dabei unterstellt, dass dem Leser klar ist, dass diese Begriffe nicht selbst militärisch begründet sind und also nicht durch sich militärisches Handeln bestimmen können, sondern dass sie lediglich implizit für militärischen Bedürfnisse taugen und verwendbar sind. In erster Linie geht es hier um das, was in den Menschen geschieht, die solche Begriffe zur Blüte bringen, also um eine Kritik bestimmter Entwicklungen des Selbstverständnisses. Dessen Militarisierung geschieht in mehreren Beziehungen zugleich: In einer politischen, worin Ideologie entsteht und als Idealeinforderung in Lebensansprüchen wirksam wird, in einer psychologischen, worin die Erfahrungen von Isolation und Selbstentwertung zum Potenzial eines allgemeinen Selbstgefühls ermächtigt werden, und in einer philosophischen, worin sich die Selbstermächtigungsinteressen der Wissenschaften durch Endzeitszenarien formulieren, in welcher feindliche Prinzipien als Bedrohung der Menschheit ausgelotet werden. Diese Bezüge und ihre Einheit sollen im Folgenden herausgearbeitet werden.

 

Freiheit, die ich meine

Seit dem 1. Januar 2005 sind wir im "Schiller-Jahr". Das passt ganz gut. Wenn Antworten fehlen, wirkliche Ziele einer Geschichte nicht erkennbar sind, dann ist Idealismus gefragt, dann muss Geschlossenheit herrschen, zumindest in der Vorstellung, in einer Idee von Einheit. Denn Einheit gibt es selten wirklich, am ehesten dann, wenn man gemeinsame Feinde hat. Manchmal muss man den Feind deshalb auch erst erfinden. Am besten einen, der gegen die Einheit verstößt, auch wenn diese wiederum nur eine Vorstellung davon ist, wogegen man ist.

Die "freie Welt" ist sich in ihrer Freiheit einig. Es gibt eben Ideale, die einfach und kräftig sind. Hierfür steht Friedrich Schiller: Einigkeit und Freiheit, das ist eine tolle Mischung. Aber die Frage muss erlaubt sein, wie dies zusammengehen soll: Eint Freiheit? Macht Einigkeit frei? Sind Menschen sich einig, wenn sie frei sind? Wozu eigentlich? Und wo sie sich einig sind, werden sie sich da auch frei sein lassen? Wozu eigentlich?

Einigkeit ist für die Freiheit notwendig, gerade weil man sich in der Freiheit nicht einig sein kann. Für sich ist sie nichts, weil auch Einigkeit für sich nichts ist – gähnende Leere der Beliebigkeiten. Der Widerspruch ist notwendig und nur im Besitz (Indexup2a1a1b2a) gelöst: Freiheit muss die Meine sein, ganz so wie ich sie meine. Und das muss für alle gelten, allgemein richtig sein, damit auch Einigkeit herrscht! Im allgemeinen Rechtsverhältnis bewegt sich das widersprüchliche Verhalten von Einigkeit und Freiheit als allgemeines Besitzverhältnis. Daher sind Einigkeit und Recht und Freiheit die Parolen des Besitzstandes, - für sich genommen also seine idealisierten Verallgemeinerungen.

Allgemein ist Freiheit nicht Befreiung, nichts Bestimmtes, Auseinandersetzung mit Sache und Mensch, Emanzipation aus einem Unterdrückungsverhältnis. Allgemein ist sie ein großes Ideal. Und das ist immer auch weit weg. Das kannst du nicht geschenkt kriegen. Freiheit hat man nicht so einfach. Dafür muss man etwas tun; was man nicht kriegt, dafür muss man eben kämpfen. Freiheit ist einfach alles und nichts zugleich. Aber als Ideal eignet sie sich auf jeden Fall für jede Form der Militarisierung, sei es in der Ideologie, der Politik, der Psychologie oder der Philosophie. Um Freiheit geht es irgendwie in jedem Krieg. Sie ist dessen Ideologie, Selbstgefühl und Schlachtruf in einem:

Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd!
von Friedrich von Schiller, 1797  

Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd,
Ins Feld in die Freiheit gezogen!
Im Felde da ist der Mann noch was wert,
Da wird ihm das Herz noch gewogen;

|: Da tritt kein anderer für ihn ein,
Auf sich selber steht er da ganz allein. :| 

Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist,
Man sieht nur Herren und Knechte;
Die Falschheit herrschet, die Hinterlist,
Bei dem feigen Menschengeschlechte:

|: Der dem Tod ins Angesicht schauen kann,
Der Soldat allein ist der freie Mann! :| 

Des Lebens Ängste, er wirft sie weg,
Hat nichts mehr zu fürchten, zu sorgen;
Er reitet dem Schicksal entgegen keck,
Trifft's heut nicht, so trifft es doch morgen.

|: Und trifft es morgen so lasset uns heut
Noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit. :| 

Warum weinet die Dirn und zergrämet sich schier?
Laß fahren dahin, laß fahren!
Er hat auf Erden kein bleibend Quartier,
Kann treue Lieb nicht bewahren.

|: Das rasche Schicksal, es treibt ihn fort,
Seine Ruh läßt er an keinem Ort! :| 

Auf des Degens Spitze die Welt jetzt liegt,
Drum froh, wer den Degen jetzt führet,
Und bleibt ihr nur wacker zusammengefügt,
Ihr zwingt das Glück und regieret.

|: Es sitzt keine Krone so fest, so hoch,
Der mutige Springer erreicht sie doch. :| 

Drum frisch, Kameraden, den Rappen gezäumt,
Die Brust im Gefechte gelüftet!
Die Jugend brauset, das Leben schäumt,
Frischauf! eh der Geist noch verdüftet!

|: Und setzet ihr nicht das Leben ein,
Nie wird euch das Leben gewonnen sein! :| 

Wohlan, zur Freiheit. So klingt es auch heute noch, wenn Kriege angekündigt werden. Die dürfen ja auch nicht zeigen, worum es wirklich geht. Auf der hohen Abstraktionsstufe allgemeiner Ideen vermittelt sich der Hinterhalt, vor allem der des Kriegers. Die Inbrunst abstrakter Allgemeinheit lässt die konkrete Lüge darin verblassen.

Und also sprach George W. Bush bei seiner Vereidigung im Januar 2005: "Die Hoffnung auf Frieden in der Welt wächst mit der Ausdehnung der Freiheit auf der ganzen Welt." Und dann: "In einer Welt, die sich auf Freiheit zubewegt, haben wir uns dazu entschlossen, die Bedeutung und das Versprechen der Freiheit unter Beweis zu stellen." (SPIEGEL 4/05, S. 104). Gemeint war das, was längst vorbereitet ist: Sein nächster Krieg gegen die "Achse des Bösen", jetzt: gegen den Iran. Und wer nicht "auf der richtigen Seite der Freiheit ... geboren wurde" (Condoleza Rice), hat dann eben Pech gehabt. Somit ist Freiheit auch zu einer geografischen Tatsache der US-Kriegspolitik geworden.

Soweit Bushs Wähler aus dem Besitzstand kommen, kommt das bei ihnen auch tatsächlich an. Es besorgt ihnen den Schutz vor Eindringlingen, vor den Räubern ihres Hab und Guts, Sicherheit gegen jede Veränderung ihrer Lage. Und deshalb befördert es auch ihren Stolz, wenn sie die Ausschließlichkeit ihres Vermögens in der Ausgeschlossenheit von allem anderen verallgemeinern, den Glanz ihrer Existenz für sich behalten und die Enge ihrer Eigenwelten auch mal neu beseelen können. Der persönliche Reiz solcher Phrasen steckt in der Vorstellung, sich der Bezwungenheit des eigenen Lebens dadurch zu entledigen, dass mensch - wenn er schon nicht mehr um seine wirkliche Befreiung kämpft - so doch für die Freiheit.

Krieg muss Befreiungskrieg sein, um als legitim zu gelten. Freiheit wird in Argumente gekleidet, die ihre Notwendigkeit aus der Schädlichkeit von Unfreiheit beziehen. Und das sind die Gefahren für eine Bevölkerung als Ganzes, ihre Verunsicherung, der Feind von außen, der vielleicht auch der Feind von innen ist. Das Schwein ist allzu oft der innere Schweinehund. Und so sind die Gefahren von außen auch geradezu notwendig, wenn den Gefahren im eigenen Land nicht mehr begegnet werden kann, wenn sich dort Prozesse überstürzen, welche die Gefährlichkeit eines gesellschaftlichen Verhältnisses, einen gesellschaftlichen Zerstörungsprozess zeigen.

Nur Gefahren, die sich erkennbar machen lassen, bringen den Freiheitskämpfer an die Front. Leichter erkennbar als das Eigene ist immer das Fremde. Und ist es vielleicht auch nicht wirklich bedrohlich, so muss es eben bedrohlich gemacht werden. Man muss es zu einer bedrohlichen Figur bringen, es herausfordern. Manchmal genügt ein kleiner Stoß, ein Rempler, manchmal braucht es einen Schlag von hinten. So bekommt man einen Feind. Und der ist dann auch das sogenannte Böse.

Das Böse ist überall und nirgends. Das macht es eben auch aus: Es steckt in den Löchern und Nischen, wo man es nicht sieht und bedroht alles, was sich frei bewegt. Es ist der Feind der Freiheit, Gefahr für die "freie Welt". Und dieser geht es umso mehr um ihre ganz besondere Freiheit: Nicht um die des Andersdenkenden, sondern um die eigene Willkür. Das Böse ist ganz einfach zu bestimmen: Es ist das Andere der "freien Welt", also die "unfreie Welt". Das waren mal die Kommunisten, die "Parteiterroristen". Jetzt sind es die Moslems, die "religiösen Fanatiker", die den "größten Feind der Menschheit" stellen. Früher, da war man mit ihnen noch ganz gut zurechtgekommen, früher, als es um den Kommunismus als "größten Feind der Menschheit" ging. An ihrer Religion hat sich seitdem aber nichts geändert. Das Märchen von der "freien Welt" ist in Wirklichkeit ein Militarismus, der sich seine Feinde eben so bestimmt, wie es opportun erscheint.

 

Die Achse des Guten oder das politische Vorherrschaftsinteresse

Das Böse liegt uns ja so fern und das Gute allzu nah. Und wer das dann auch noch zu begründen versteht, der ist schon Gesetz, Richter und Polizist in einem. Mit der Wirklichkeit kann es da allerdings Probleme geben, besonders mit den dunklen Stellen der eigenen Vergangenheit. Um sich in das Gute zu integrieren, mussten in Deutschland einige Aufwände betrieben, das deutsche Gedächtnis bearbeitet werden. Da war doch was: Mit Freiheit haben die schon mal ziemlich Mist gebaut – und mit vielem anderen auch.

Da muss man drüber weg. Als erster bot sich der bekannte und bis dahin unbescholtene Historiker Erich Nolte an. Der wollte das ganze Thema mit seiner 1980 aufgestellten Behauptung auslöschen, dass Auschwitz "in erster Linie" nicht ein Völkermord gewesen und also nicht aus deutschem Rassismus und Antisemitismus entstanden, sondern eine "aus Angst geborene Reaktion auf die Venichtungsvorgänge der Russischen Revolution". Es sei eine introjizierte "asiatische Tat" hierauf. Die Schuldfrage sollte an einen mächtigen Feind weitergegeben werden, an das, was weit schlimmer als der hitlersche Faschismus gewesen sei: Die russische Revolution. Das war damals eindeutig zu krass und der daran anknüpfende "Historikerstreit", an dem sich auch Politiker (z.B. Kohl, Weizäcker) und Journalisten beteiligten, stellte diese Behauptung schnell ins fachliche Abseits. Aber es war die erste große Chance, mit der "Schuldfrage" fertig zu werden – eigentlich mit der Frage, warum und wozu sich Staaten zu einer derartigen Barbarei entwickeln können, dass die Bestialität ihres Handelns in "Friedenszeiten" unfassbar ist. Aber als dies wurde die "Schuldfrage" nie behandelt. Man nutzte die Chance vor allem für eine rein subjektive Geschichtsposition für das wiedererwachende deutsche Selbstbewusstsein. Ein deutscher Patriotismus sei alleine schon deshalb nötig, um mit der Geschichte umgehen zu können. Alfred Dregger zeigte sich plötzlich der geschichte verpflichtet, allerdings nur, um sie aus der Welt zu schaffen: "Besorgt machen uns Geschichtslosigkeit und Rücksichtslosigkeit der eigenen Nation gegenüber: Ohne einen elementaren Patriotismus, der anderen Völkern selbstverständlich ist, wird unser Volk nicht überleben können. Wer die sogenannte (!) 'Vergangenheitsbewältigung', die gewiß notwendig war (!), mißbraucht, um unser Volk zukunftsunfähig zu machen, muß auf unseren Widerspruch stoßen." ("Historikerstreit", Piper 1987, S. 194)

Die Geschichtslosigkeit hätte wunderbar in der Goldhagen-Debatte überwunden werden können. Goldhagen beschrieb die verheerende Zwangsläufigkeit des deutschen Rassismus und Antisemitismus ausdrücklich als ein aus dem völkischen Bewusstsein geborenes und vom Großteil der Deutschen übernommenes Unterwerfungsprinzip, das Bestandteil der Kriegsvorbereitung und Kriegsführung in der deutschen Politik und auch in der Deutschen Wehrmacht war. Aber seine Behauptung, dass der Holocaust ein "deutsches Projekt" gewesen sei, eine Unternehmung des völkischen, den ethnischen Patriotismus der Deutschen, wurde weitgehend abgelehnt und beförderte eine "Volksgemeinschaft der Beleidigten" (R. Kühn), die dieses Ärgernis nicht gelten lassen wollte. Man wollte sich neu bestimmen, die Geschichte neubeginnen mit einem "Weg zu einer neuen, durch lästige Erinnerungen nicht gestörten, sozusagen unbefangenen deutschen Machtpolitik." (Simone Dinah Hartmann und Karin Lederer auf: http://www.univie.ac.at/staatswissenschaft/staatswissenschaft/ForschungsprojekteWM/Goldhagen.html#GoldhagensThesen).

Ähnlich erging es der Wehrmachtsausstellung von Jan Philip Reemtsma. Sie fand zwar zunächst viel Zuspruch von der Seite der Leute, die sich mit den Realitäten des Nazi-Regimes befassen wollten, wurde aber bald in einem Streit um die detaillierte Stichhaltigkeit einzelner Dokumente dahin gebracht, ihren objektiven Anspruch aufzugeben und sich auf die Frage zu beschränken, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen bereit waren, sich am Völkermord der Nazis und seinen Grausamkeiten zu beteiligen ("Brandstiftung", S.38f). Das stellt die Frage nach dem Unterwerfungsprinzip des Nazismus allerdings auf den Kopf: Nicht die Menschen seien schon darin befangen gewesen, bevor Hitler demokratisch gewählt werden konnte, sondern er selbst habe erst als intronisierter Machthaber eine Kriegs- und Vernichtungspolitik vollzogen, die von den deutschen Bürgern im Nachhinein subjektiv mehr oder weniger übernommen worden sei. Nicht die Lebensverhältnisse der Menschen und deren Ideologien hätten Hitler hervorgebracht, sondern Hitler habe die Menschen dahingebracht, zu werden, wie sie für ihn sein mussten. Dass der Kapitalismus in Deutschland zusammengebrochen war und die deutsche Heilserwartung aus der deutschen Philosophie hereinbrechen konnte, sollte nichts mit dem Bewusstsein der Deutschen zu tun haben: Niemand hatte einen Grund, aber alle machten mit, weil sie von einer bösen Macht dahin getrieben wurden. Die bedeutende Frage, wie und warum ein bürgerlicher Staat auf demokratische Weise zu einem völkischen Kulturstaat mit einer lange entwickelten Gesinnungshoheit werden konnte, wie er dazu kommen konnte, einen Teil seiner Bevölkerung gezielt zu vernichten und die Welt mit einem Vernichtungskrieg zu überziehen, blieb damit außen vor.

Vor allem bleibt hierdurch vorenthalten, wie nahe Faschismus dem Kapitalinteresse steht. Dessen Krise ist die Bedingung dafür, dass Menschen eine absolute Chancenlositkeit in ihrer gesellschaftlichen Lage verspüren, aus der heraus sich die Träume einer absolut versöhnten Volksgemeinsschaft als Heilserwartung und Endlösung bilden. Die Antwort auf die Probleme des Kapitalismus überhaupt wäre für die weitere Geschichte von höchster Bedeutung, hätte vielleicht die Geschichtswissenschaft geradezu revolutionieren können. Man wäre schnell darauf gestoßen, dass das Zusammenfließen von gesellschaftlichen Zerstörungsprozessen und ideologischen Versöhnungsansprüchen in den Menschen zu einer Sehnsucht nach einer Einheit in übermenschlicher Güte, nach einem Prinzip des Übermenschen werden müssen, wenn sie ihr Leben noch nicht anders begriffen hatten. Und dass die Erwartung des übermenschlich Guten, ob nun theologisch, philosophisch oder psychologisch formuliert, schon immer der Grund dafür war, dass die Menschen sich einem Führungsprinzip unterworfen haben. Die Entwirklichung der Lebensverhältnisse und ihrer Geschichte ist hierfür voraussgesetzt.

 

Das Geschichtsbewusstsein des Sonntagsfriedens

Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden die Erfordernisse der deutschen "Handlungsfähigkeit" und die geschichtliche Entlastung der deutschen Politik dringlich. Altes Misstrauen erneuerte sich ob der wiedergewonnen Größe Deutschlands und nur dessen vollständige Einbindung in das Weltgeschehen konnte dies mindern. Zudem waren die deutschen Interessen längst mitten in der Welt – wie eben die Interessen des Kapitals mit dem "Niedergang des Ostblocks" auch weltweit allgemeine geworden waren. Die Spannung des zweigeteilten Landes an der Frontlinie zwischen Ost und Weest war aufgelöst. Was die Vernunft staatlichen Handelns bis dahin angeblich blockiet hatte, war befreit von den Zwängen der politischen Bündnisse. Die Vernunft der Aufklärung war doch eigentlich sehr deutsch und man hätte nun meinen können, dass die Zeiten der Konfrontation der Staaten und damit auch jegliche Form des Nationalismus hätte überwunden oder zumindest überwindbar gewesen sein können. Auch wenn die deutsche Wiedervereinigung als völkische Integration skandiert wurde, sah es doch insgesamt wirklich so aus, als ob Nationalismus überholt und spätestens jetzt die deutsche Vergangenheit auch mit einem Bewusstsein zur deutschen Geschichte zu bewältigen sei und zum intergralen Bestandteil deutschen Selbstverständnisses werden könnte. Das aber hätte vor allem heißen müssen, dass "die deutsche Vergangenheit" wirklich begriffen war und dass es wirklich keinen Krieg mehr geben konnte und dass sich die deutsche Geschichte tatsächlich mit allen anderen Staaten in die Konsequenzen der Aufklärung hineinbegeben hätte, in den "ewigen Frieden" Immanuel Kants, in die praktische Vernunft der Koexistenzen, - dass eben die bürgerliche Gesellschaft auch das, was sie sich von sich, von ihrer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vorstellte, auch wirklich hätte sein können, dass Aufklärung ihr Ziel in der Weltgeschichte wirklich erreichen, bürgerliche Gesellschaft auch wirkliche Gesellschaft werden könnte.

Aber es kam ziemlich anders. Nur die Ideale waren verblieben, der Krieg nur verloren, die Waffen nicht vernichtet, sondern wurden besonders gut und massig in Deutschland produziert und verkauft. Das und anderes förderte die Wirtschaft und den Export und bewirkte, dass wirtschaftliche Krisen sich in Grenzen hielten. Der letzte Weltkrieg sollte unbegreiflich bleiben, solange die Weltwirtschaftskrise nicht begriffen war, - und der Welthandel musste weitergehen. Und da sollte jetzt Deutschland auch militärisch wieder dabei sein. Es war ja schließlich längst wieder in einer Führungsposition auf dem kapitalistischen Weltmarkt und schon von daher überall präsent. Und der Markt war weiterhin alles andere als friedlich. Man konnte nicht sicher sein, dass die Armut der Länder, die darauf unterlagen, sich nicht jederzeit zu einer Bedrohung der Länder entwickeln konnte, die darauf reüsierten. Die deutsche "Sonderrolle" nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches mit ihrem defensiven Militär, das nur auf die Bedrohung durch angrenzende Länder bedacht war, erschien anachronistisch und zudem als klammheimliche "Pflichtverweigerung" für "den Weltfrieden". Sie gemahnte überdies an eine Zeit, in der die Vernunft der Aufklärung versagt hatte – zumindest was ihren Anspruch als Friedensstifter betraf. Die deutsche Geschichte war natürlich ein Problem – nicht nur für Deutschland, sondern für das aufgeklärte kriegerische Potenzial überhaupt. Schließlich war nirgendwo so deutlich geworden, dass die Friedensforderung "Nie wieder Krieg!" absolut zu verstehen ist. Und wenn man sich weiterhin vom Krieg her bestimmt, so setzt Frieden eben die militärische Beherrschung aller Kriegsursachen voraus, Herrschaft schlechthin, Militarismus. Die einen waren reich und groß geworden, und die anderen arm und klein. Das ist gefährlich. Auch von daher musste man sich der Zeit anpassen. Das Gedächtnis einer bösen Zeit musste von der guten überdeckt werden. Erinnerung ist dafür nicht gut. Die deutsche Rolle in der Vergangenheit musste jetzt für die Gegenwart ausgelöscht, eine neue "Erinnerungskultur" geschaffen werden, die dieses Unding möglich machen sollte.

Deutsche Politiker und Journalisten, allen voran Schröder, Augstein und Donahnyi, stimmten in den öffentlich einsetzenden Verdrängungsprozess ein. Deutschland müsse wieder "handlungsfähig" werden und "nur" wegen der Deutschen Geschichte könne man sich nicht mehr "raushalten" und sich "mit dem schlechten Gewissen traktieren" (Schröder in "Die Zeit" vom 4.2.99). Mit der Berliner Republik sollte eine neue Geschichtsbewältigung einsetzen, eine "handlunsfähige". Schon für die Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien stand das bisherige deutsche Selbstverständis auf dem Kopf: "Nie wieder Krieg" bedeute auch Wegschauen, passiv sein. Deutschland müsse die "Lehre aus Auschwitz" ziehen (Fischer) und sich für "die Freiheit" einsetzen. Wie die USA eben einst für Deutschland. Ja, ihnen sei es wirklich nur um unsere Freiheit gegangen. Und so war das amerikanische Selbstverständnis jetzt auch flugs ein deutsches.

Der inzwischen weltberühmt gewordene deutsche Schriftsteller Martin Walser bekam 1998 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels zugesprochen. Man erwartete eine klärende Rede von ihm zu diesem Thema, schließlich waren seine jüngeren Erzählungen von einer eindeutigen Sprache. Und er war dazu bereit und er machte gut, wozu er ausersehen war. Im Grunde sollte die Scham für die Entblößung menschlicher Bestialität, mit der die deutsche Geschichte verbunden war, aus der Welt sein, ohne dass die Barbarei, in der die Menschen auf der Welt auch heute noch leben, zur Sprache kommen durfte. Die Rede war so tückisch, wie man es nur aus der Politik kennt. Walser sprach politisch für eine Allgemeinheit, die wie ein ganz persönlicher Herzenswunsch eines allgemein geachteten Schriftstellers zu nehmen sei. Er sprach für die Gemütslage eines ganzen Volkes und trat doch ganz privat und einzeln auf als zunächst verschämtes Bedürfnis nach Seelenfrieden, das dann aber immer größere Ansprüche für Seele, Volk und Vaterland stellte.

Er führte sein Anliegen als ein Sonntagsredner ein, der auch mal über sich reden darf, wenn ihm tagtäglich zugemutet wird, sich mit einer Moralkeule gegen "die deutsche Schande" immer befassen und zur Wehr setzen zu müssen. Als Sonntagsredner konnte er natürlich alles sagen und auch jammern über allerlei, besonders über die linksintellektuellen Anmaßungen, seine Gemütslage beherrschen zu wollen. Von solchem bösen Willen verfolgt stellt er unvermittelt die erstaunliche Behauptung auf, dass es hierfür einen allgemeinen Grund gebe: Man fühle sich eben überhaupt schlecht dabei, ein Deutscher zu sein, wenn man dabei "ständig" mit deutscher Vergangenheit konfrontiert werde. Und er will sich nicht mehr einfach nur schlecht fühlen. Viele haben solche Gefühlsprobleme nicht, wenn sie sich aus ihrer Geschichte geworden begreifen. Aber es geht ja wohl um was anderes.

Unter der Hand war eine schlichte allgemeine Befindlichkeit zur maßgeblichen Bedeutung seiner Rede geworden, welche den Sachverhalt, um den es eigentlich ging, schnell umkehrte. Und dann kam es so richtig raus, was seine Seele schon die ganze Zeit bedrängte: Nicht die Nazisoldaten machen ihr das Problem, sondern die "linken Meinungssoldaten" des Holocaust-Bewusstseins, welche die Sonntagsruhe, "die Gewissensfreiheit für die Deutschen" nicht zulassen. Und ebenso seicht wie entschlossen restaurierte Walser mit seiner Sonntagsrevision und der darin bezweckten Rehabilitation der Deutschen die altbekannte Metaphorik gegen Juden, die sich durch das Rühren in deutschen Wunden wieder ungeziemlich geltend machen würden. In Walsers Diskussion mit Ignaz Bubis forderte deutscher Antisemitismus das Recht auf seinen Seelenfrieden. Bubis‘ Antwort auf Walser sei eine Einmischung und sei eine Zurechtweisung, welche das Selbstbewusstsein der Nation beschädige. Und schließlich: Die Juden hätten kein Recht, sich in deutsche Angelegenheiten einzumischen ("Brandstiftung" S. 66f), so deutsch dürfen sie sich niemals fühlen! Da hatte jener jüdische Psychoanalytiker wohl recht, als er nach 1945 feststellte, dass die Deutschen es den Juden nie verzeihen würden, dass sie "Ausschwitz nötig gemacht" hätten.

Die Begriffswandlung von Scham zu Schande diente nur dazu, eine notwendige Entwicklung aus einer Scham zu einem neuen Verhältnis zu Leben und Wirklichkeit zu gelangen, abzuwehren. Indem von einer Schande gesprochen wird, weiß man sich von einer unredlichen Selbstherrlichkeit verfolgt. Dem wurde einfach die Redlichkeit des Sonntagsbürgers entgegengehalten, die ja schon oft dem deutschen Selbstverständnis äußerst dienlich war. Der redliche Deutsche war ja schließlich auch der ideologische Kern, der dem Antisemitismus inne ist. An den Juden, denen das Zinsgeschäft angelastet wird, sollte die Redlichkeit des arbeitenden Deutschen entgegengehalten werden, die Tugend der Selbstfindung durch "eigener Hände Arbeit", durch die Arbeit, die den Menschen frei mache. Damit war Kapitalismus, Kapital wie Arbeit, zu einem Kulturphänomen herausgeputzt, das durch die Abweisung einer besonderen Kultur, die mit den Juden irgendwie zu verbinden war, indem sie ihm die Rolle eines wuchernden Kapitalisten zuwies, erledigt ist. Die "Endlösung" sollte dem Volk suggerieren, dass das wirtschaftliche Elend, das ihnen die Geschichte des Kapitalismus gebracht hatte, mit der Judenvernichtung "aus der Welt" sei, während sie in großem Maßstab der Vervollkommnung einer Staatsmacht dient, die für die deutsche Kapitalwirtschaft die Welt erobern wollte.

Aber wer die Walser-Rede für ein unmittelbar bewusstes politisches Interesse gehalten hatte, wer wie z.B. die "Antideutschen" glaubte, Walser wolle einem wiedererwachenden deutschen Nationalismus das Wort reden, verkennt dennoch die wirkliche Lage. Walser trat nicht für rechte Politik ein, sondern für die Verschleierung von Politik überhaupt. Politik macht man heute nicht mehr mit politischem Interesse, sondern mit dem Seelenfrieden, durch den sie unwahrnehmbar wird. Die Sonntagsruhe, die Martin Walser beansprucht, ist eher eine Reminiszenz an das selbstgefällige Siechtum bürgerlicher Behäbigkeit mit all den darin einbegriffenen Dummheiten, als dass auf diese Weise Politik als ein auf eine Gesellschaft bezogener Wille aufkommen könnte. Dies dient vor allem der Entpolitisierung sowohl nationaler, wie internationaler Auseinandersetzungen. Seine Rede war aber darin politisch, dass sie ablenkt, dass sie nationalistische Interessen anreißt, um sie auch sogleich zu beschwichtigen. Es ging ihm scheinbar um den Rückzug in die traute Kammer, aber eben doch eigentlich nicht, sondern um den Ausgleich aller gegen alle, um die Erzeugung von Wirklungslosigkeit im nationalen Streit der Positionen, um ihre Entwirklichung, damit Deutschland im Großen und Ganzen auf die Matte kommt, auf der es stehen muss, um in der Welt zu sein. In der Kammer, worin sich das unbefleckte Bewusstsein gleichermaßen tröstet wie empört, sich von rechts wie von links beschimpft, will sich keine Öffentlichkeit auf Dauer so recht einstellen. Darin hat alles eher den Charakter von nostalgischer Beschäftigung mit sich selbst. Es geht in der neueren Befassung mit der deutschen Geschichte um eine "Psycho-Ökonomie des Wegsehens" ("Brandstiftung", S. 109), aber nicht, um rechte Politik zu bestärken, sondern um eine Politik durchzusetzen, die von allem absehen muss, was die Geschichte der Deutschen betrifft.

Was die "deutsche Schande" für Martin Walser bedeutet, wird ein Rätsel bleiben, behauptet dies doch, dass deutsche Kultur durch eine Vergegenwärtigung des Holocaust entwertet sei. Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Und ansonsten sind die kulturellen Werte der Deutschen damit überhaupt nicht betroffen, ja geradezu abgetrennt. Weder deutscher Geist noch deutsches Kapital wurden so richtig begriffen. Die Entstehungsgeschichte des deutschen Nationalismus aus dem Patriotismus von Schiller, der Humanismuskritik von Nietzsche, dem Willen von Schopenhauer und der Daseinsanalyse von Heidegger ist genauso wenig erforscht, wie die deutsche Wirtschaftskrise inmitten der Weltwirtschaftkrise, die Ausschaltung der Konkurrenz des deutschen Kapitals durch den europäischen Kapitalismus. Die Wirkung von wirtschaftlicher Zerstörung zu einer geistigen Verabsolutierung, die sich in einem faschistischen Kulturstaat vereint hatte, wäre gut begreifbar geworden.

Aber solche Nationalgeschichte interessierte die Politik eigentlich nicht mehr wirklich. Politik hat heute in erster Linie einen internationalen Grund. Rechte und linke nationale Wertungen sind für die Politik in Deutschland dazu da, Selbstbewusstsein zu gaukeln, und nicht, um eine deutsche Geschichte voranzubringen. Die Bewegungsräume sind ausgelotet und im Hochhalten von kulturellen Werten kann man höchstens etwas leichter und doch stärker auftreten, als ohne. Rot-Grün hat uns da ideologisch ja erst richtig drauf gebracht: Es sind ausgesprochene Antinationalisten und Antifaschisten, die sich für die Globalisierung des Kapitals engagieren. Nationalismus ist für diese Entwicklung hinderlich, dumm. In der Welt zählt nur noch, was wirklich auf der Welt ist, gleichgültig, was kulturelle Werte hierfür bedeuten. Deutschland ist in der Welt angekommen - als gleichwertiger Geschäftspartner und als "Partner im NATO-Verband".

Jede Art von nationalem Bewusstsein hat sich erübrigt, weder als Vorwurf, noch als Verteidigung. Es geht nicht mehr um Nationen und nicht um Land und Leute: Es geht ausschließlich um Bereicherung, um das Prinzip in seiner höchsten Sachlichkeit - um die Sache der Sachen, die hierzu dienlich ist und darum, wie man dazu kommt: Geld. Es geht um die Ordnung, durch die man es errreicht und für sich nutzen kann. Hierfür benötigt man nicht mehr unbedingt Feinde, sondern Bestimmungsmacht - möglichst als "Freund und Befreier". Das ist heute der eigentliche Prozess, der die Militarisierung ausmacht. Aber der Seelenfrieden als solcher und die Politik mit der Kultur ist hierfür von großer Bedeutung.

 

Die Macht der Versöhnung und der deutsche Kulturchauvinismus

Geschichte interessiert in der Öffentlichkeit nicht wirklich als Nachdenken über die Epochen und ihre Unterschiede, über die Abfolge von Wirklichkeiten und deren Gründe. Wenn sie nicht an den Akteuren demonstriert wird, ist Geschichte uninteressant. Aus den Entscheidungen der Geschichtspersonen wird Geschichte zum Beispiel von persönlichem Handeln, an dem sie sich klipp und klar aufbereiten lässt. So muss sie sich auch nicht mehr aus den Lebensverhältnissen der Menschen erklären lassen. Sie sind belanglos, wenn die Welt als Plan und Entwurf, als eine Konstruktion von einzelnen mächtiger Menschen begriffen wird. Macht scheint ihrer Persönlichkeit inne zu liegen wie eine stille Seele im Weltgeschehen. Beispiele persönlicher Entscheidungen und Verfügungen sind für das heutige Lebensverständnis die vorwiegende Substanz dessen, was Geschichte heißen kann. Der Nachvollzug vom "Menschen Hitler" und seinen Zeitgenossen scheint bedeutsamer, als die Geschichte der Verhältnisse, woraus er und sie entstanden waren. Wir müssen es nicht mehr begreifen, nicht wirklich erinnern, nicht wirklich zu Ende bringen, was die Nazis taten und wollten. Wenn wir verstehen, was sie als Mensch darin gefühlt, gelitten oder zerstört haben, dann haben wir es begriffen, abgeschlossen für uns und die Welt. Was wir jetzt tun, das hat dann nichts mehr damit zu tun, das ist ja sowieso klar. Das ist die wahre und einfache Konsequenz dessen, was auch Martin Walser zeigen wollte. Es ist die Bewältigung der Vergangenheit, welche schon durch den Tod der darin handelnden Menschen entschwindet. Es ist die finale Versenkung von Geschichte und Lebensverhältnisse in Lebensweisen, in subjektive Lebenskonstruktionen, in Genealogie. Das Verstehen und Begreifen hat sich hierdurch umgekehrt: Nicht das wirkliche Leben erklärt die Erlebensweise, sondern die Erlebensweise soll das wirkliche Leben erklären. Das ist das Phänomen schlechthin, Phänomenologie, wie sie für sich leibt und lebt, ohne ein wesentliches Leben außer sich zu haben. Und da spielt denn alles herbei, was nicht mehr Beispiel oder bloßes Phänomen ist und uns seinen Grund befragen lässt. Es ist die Begründung selbst. Alles erscheint als Grund für sich, durch sich selbst begründet, wenn auch mit welchselnden Verursachern.

Der Nationalsozialismus lässt sich ebenso durch Hitler erklären, wie auch Hitler sich durch den Nationalsozialismus erklären lässt. Der Grund für jede Beziehung ist nur noch eine Frage der Allgemeinheit, ein Zirkelschluss der Verallgemeinerung. Die besondere Geschichte erklärt die allgemeine, der besondere Wahn, den allgemeinen: Hitler als Waisenkind, Hitler als gescheiterter Künstler, Hitler und die Frauen, Hitler und das Geld, Hitler und der Untergang. Eigentlich könnte fast jeder Mensch Hitler sein. Es lässt sich nur umgekehrt immer weniger erklären, warum er es eigentlich nicht ist. Es gibt so viele Waisenkinder, Frauengeschichten, Geldsachen etc. Aber wir interessieren uns inzwischen eben für Lebensverhältnisse nur noch vom Standpunkt des Zuschauers, den das Besondere zur Unterhaltung geworden, das Wahrnehmbare nicht mehr wahrgehabt werden muss. Wir haben uns längst abgewöhnt, selbst Akteuere unserer Geschichte zu sein. Es ist zu riskant, und solange es gut geht, bleiben wir lieber drauf als drunter. Hitler könnte heute locker bei J.B. Kerner in der Talkshow auftreten und als herausgesetzter Sonderling einer ansonsten ganz gewöhnlichen Geschichte brillieren, als dass klar werden müsste, warum die Geschichte einer Weltkrise den Sonderling zum Besonderen, zum Erlöser gemacht hatte. Mensch Hitler! "Wie gut, dass du so böse bist!" (Leitspruch des Hellinger-Instituts, der auffordern will, das Böse in sich selbst zu entdecken).

Aber auch wenn alles so hübsch nachvollziehbar ist, wird doch nicht nur darüber berichtet. Im Nachvollzug muss das Allgemeine eben auch besondert werden, um sich wirklich umsetzen zu können. Dass Geschichte eine Geschichte der Lebens- und Produktionsverhältnisse ist, die in unterschiedlichen Bedingungen der menschlichen Entwicklung bestimmt sind, das soll ja nicht mehr wahr sein. Die Besonderung, die von den einzeln handelnden Menschen selbst ausgeht, sei daher auch unmittelbar ihre Allgemeinheit: Der Geist ihrer Zeit. Schließlich war ja auch Hitler ein "Kind seiner Zeit". Die Zeit selbst wird somit zum maßgeblichen Argument für das, was die Identität von Geschichte und ihrem Wesen tatsächlich allgemein machen soll. Und schon sind wir wieder bei Heidegger’s Sein und Zeit, die Zeit als Wesensbestimmung des Seins, die Endlichkeit des Einzelnen als Wesen des Allgemeinen, der Tod als Bestimmung des Lebens. Wir alle sind Kinder unserer Zeit, in die Welt geworfen, mit der wir dann einfach zurecht kommen müssen. Also müssen wir uns mit ihr versöhnen, ob wir wollen oder nicht. Das sei unsere Wahrheit, unser Sein, das in unserem Dasein sich hier und dort lichtet, lebendig wird durch die Ereignisse des Lebens. Auf solchen Lichtungen erfahren wir unsere Zeit als unsere Bestimmung und diese letztlich wie ein "höheres Wesen", einen höheren Grund, der keinen Sinn für uns hat, aber uns aus einem dunklen Hintergrund, aus einer Art Kosmos des Zeitgeistes in uns fährt. So haben wir Geschichte eben als das, was in die Menschen fährt, wenn sie entscheiden und handeln. Hitler ist nicht nur bloßes Beispiel der Geschichte von Persönlichkeiten, als Geschichtsperson ist er auch ein Beispiel für die Art und Weise einer Geschichtsinterpretation und interessiert auch hierfür: Er ist gerade durch seine Persönlichkeit als Allgemeinheit eines Zeitgeistes ein besonderer Mensch seiner Zeit, die zugleich durch seine Persönlichkeit wesentlich bestimmt sein soll. Als diese Persönlichkeit muss er uns für die Überwindung der deutschen Geschichte also auch ungeheuer wichtig sein. Eigentlich müssen wir ihn nach dieser Logik menschlich in uns aufnehmen, um ihn historisch zu überwinden, um einen neuen Zeitgeist für uns zu schaffen. Das macht den psychologischen Sinn von Heideggers (Indexup2a1a1b2d) Philosophie.

Der Heidegger-Schüler Hellinger (Indexup2a1a1b2c) hat dies außerordentlich konsequent in den Irrsinn getrieben, der auch wirklich in diesem Zirkelschluss solcher abstrakten Allgemeinheit herauskommt, indem er in der Versöhnung mit Hitler die Notwendigkeit unserer Zeit sieht:

"Hitler. Manche betrachten dich als einen Unmenschen, als ob es je jemanden gegeben hätte, den man so nennen darf. (...) Wenn ich dich achte, achte ich auch mich. Wenn ich dich verabscheue, verabscheue ich auch mich. Darf ich dich dann lieben? Muss ich dich vielleicht lieben, weil ich sonst auch mich nicht lieben darf? Wenn ich bekenne, dass du ein Mensch warst, wie ich es bin, dann schaue ich auf etwas, das über uns beide in gleicher Weise verfügt, auf etwas, das sowohl deine wie meine Ursache ist - und unser Ende. Wie dürfte ich mich von dieser Ursache ausschließen, indem ich dich ausschließe? Wie dürfte ich diese Ursache anklagen und mich so über sie erheben, indem ich dich anklage? Doch ich darf auch kein Mitleid mit dir haben. Du stehst und fällst der gleichen Ursache wie ich. Ich verehre sie in dir wie in mir und unterwerfe mich ihr in allem, was sie in dir bewirkt hat und was sie sowohl in mir und als auch in jedem anderen Menschen bewirkt". (Bert Hellinger 2004 in "Gottesgedanken" S. 247). 

Die Logik ist irre und hat alle irritiert, die bis dahin fleißig in die Helllingerschen Familienaufstellungen gegangen waren. Man soll sich nur lieben können, wenn man Hitler liebt? Wer Hitler verachtet, der würde sich verachten? Wer dessen Taten unmenschlich findet, ist selbst ein Unmensch? Ist Hellinger verrückt geworden?

Es mag erst mal so erscheinen. Aber die Einheit des Allgemeinen, die gleiche Ursache, ist eben nur durch die Entgegensetzung der Besonderheiten. Das Gute ist nur durch das Böse. Das klingt dialektisch. Dieser Widerspruch muss zum tragen kommen. Denn aus dessen Aufhebung soll sich ergeben, was die Identität des Widersinns zur menschlichen Identität macht. Hier geht es eben nicht mehr nur um kosmische Abstraktionen, sondern um deren Rückvermittlung ins konkrete Leben. Natürlich ist die Behauptung, dass eine Identifizierung mit Hitler einen Menschen erst wirklich zu sich bringt, ungeheuerlich. Aber das Gute im Bösen zu sehen, ist raffiniert: Moralische Begriffe werden wahrnehmbar gemacht. Was für sich als gut oder bös gilt, scheint somit bezogen, vermenschlicht ohne menschlich zu sein.

Immerhin wird der konkrete Schein solcher Abstraktion zum Ereignis, zum Gefühlssturm gegensinniger Empfindungen. Die Raffinesse steckt in der Erzeugung einer Notwendigkeit, mit sich in dem Eins zu werden, was im Widerspruch hervorgekehrt wird, was im Erleiden gegensinniger Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gefühlen und Ahnungen zum schlichten Menschlich-Sein gebracht wird. Das Teuflische an Hellingers "Therapie" ist die Rückführung des Zerstreuten auf abstrakte Einheiten, die als konkrete Gefühle auftreten und darin als eigene Wahrheit erscheinen. Durch deren Reduktion wird deren Einheit durch scheinbar eigene Aktivität erst wirklich erzeugt, produziert als Unterwerfung, als Demutshandlung für einen Sinn, der vergangen ist und für die Zukunft Verwendung bekommt: Die "Ordnung der Liebe" (Hellinger). Die Herstellung dieser Ordnung soll ein Zurückfinden in die "Gesundheit" sein, ein Nachfühlen des Gesunden im Kranken, des Positiven im Negativen, und so entsteht immer und überall positives Selbstgefühl, wo es vonnöten ist, gleich was ihm widerspricht. Die sublime Selbstentfremdung wird als Massenereignis zu einem vollständig überhobenen Gefühl, mit dem Menschen natürlich leichter in ihrer fortbestehenden Isolation leben können, als im unmittelbaren Leiden hieran. Das Heil ist nahe und es ereignet sich über die Rekonstruktion dessen, was niemals Wirklichkeit werden konnte, im Selbstgefühl einer Nachempfindung aber jetzt vollständige Wirkung erfährt (siehe hierzu auch: "Ein Heiland der herrschenden Ordung").

Durch das Ineinsnehmen von Gutem und Bösem wird Menschsein eingeübt. Und es erscheint nahe am Menschen, festigt das Menschsein zumindest für das Einzelwesen Mensch, wie es in Hellingers Erleuchtungsszenarium massenhaft vorkommt und so in den Menschen bestätigt wird, was außerhalb von ihnen pure Not wäre. Sie wird wieder positiv lebbar, erträglich im Verein des Zwischenmenschlichen, dem sie entspringt. Das ist das Gute am Bösen, dass wir jetzt vollkommen drüber stehen und es dennoch leiden können. So werden die Konsequenzen einer Abstraktion von Moral erst wirklich zutiefst moralisch empfunden, ohne dass deren wirkliche Geschichte interessiert. Denn durch sie ist sowieso evident, dass wir nicht Hitler sind.

Doch der Rekurs auf ihn hat eine psychomilitärische Funktion: Die Selbstwahrnehmung wird für sich selbst moralisch, indem sie sich dem Bösen antimoralisch zuwendet. Und die moralische Selbstwahrnehmung wird in dem Maße wirklich, wie die Wahrnehmung von Wirklichkeit darin untergeht. Was geschichtlich wahrgehabt wird, wird unwahrnehmbar, weil Selbstwahrnehmung schon alles enthält, was für sich selbstverständlich sein muss: Die Liebe, die Familie, die Familiengeschichte und die Ahnen. Das ist das ganze Geheimnis der Hellingerschen Familienaufstellungen. Die Versöhnung mit einer natürlich gemachten Geschichte macht sie zur Naturgeschichte eigener Zeit, zum Wesen eigener Abstraktion, zu einer Archetypie eigenen Werdens, gefestigt durch dessen Ursprung quasi im Nachhinein. Und die Demut vor den Notwendigkeiten des Versöhnens macht es auf eine esoterischen Art und Weise übersinnlich, eigentlich übermenschlich. Das klappt vorzüglich und damit verdient Hellinger viel Geld.

Und nicht nur er. Auch sein Anhänger, der allseitig moderate Pfarrer Fliege, zeigt im ARD-Programm fast jeden Nachmittag, wie sehr wir doch bestimmt sind durch die Verstrickungen der Vergangenheit, die immer mitläuft, als sei sie ein Drehbuch des Lebens. Da zählt am wenigsten die Gegenwart, wirkliche Not und wirkliche Lebensbedingung. Was in früheren Jahren geschehen war, wird gemessen an dem, wie das Leben eigentlich sein sollte, wie es natürlich wäre, vertraut usw. wenn, ja wenn alles so wäre wie es sein sollte. Die Versöhnungsideologie bekommt hier ihre Institution, die sich als Helfershelfer hautnaher Verständigung über das eigentliche Sein und Sollen hergibt, um Glück durch Vereinigung und Wiedervereinigung zu stiften, gleich, was immer die Trennung und das Unglück hervorgerufen hatte. Die praktizierte Aufhebung von vielleicht auch wirklich Unversöhnlichem macht jede Wirklichkeit zum Gleichnis eines Seelen-Events, das hohe Einschaltquoten hat.

Tatsächlich macht die Versöhnung – ob mit Hitler oder allen anderen - auch versöhnlich mit allem anderen, mit der ganzen Welt. Es ist die Initiation der Gleichgültigkeit gegen wirkliche Geschichte, die Erzwingung einer Entwirklichung durch das Vergessenmachen dessen, was wirklich war. Alles, was in einer Geschichte böse verlief, wird von seiner Begründung freigemacht und einer höheren Ursache des "Menschenschicksals" unterstellt, letztlich einem Vater des Lebens. Indem das Schicksal als unbezwingbare Gegebenheit und zugleich der Schutz des Allerhöchsten versichert ist, muss auch jede Bosheit versöhnt werden – schließlich kann man sie nur dann ertragen. Das ist die konkrete Pastorale, zwar hoch gegriffen, aber es funktioniert fast immer, weil damit die Unterwerfung der Lebensimpulse in einem Menschen unter die Macht einer im Grunde unabänderlichen Bestimmung einer höheren Lebensschuld, eine Art seelisches Militärprinzip, erzeugt wird: Das Leben sei so gewaltig wie ein Kosmos, der selbst unbegreiflich ist wie die ganze Welt und dem wir letztlich nur folgen könnten, um in unserem Leben zu gesunden. Der Schluss wird umgekehrt: Dass es Probleme gibt, liegt an einem Verstoß gegen dieses Prinzip. Jeder Mensch ist auch das Böse. Hast Du dich dem Bösen erst mal genähert, bist du auch mit ihm wie mit dir vertraut. Du verlierst jede Scheu, weil Du damit alles bist, was Du sein kannst und das kann nur gut sein. Dem Prinzip nach ist jeder Mensch mit allem versöhnt, wenn er zu allem versöhnlich ist – und das ist er, sobald er seine Unterwerfung in das "Schicksal" vollzogen hat. Denn in dieser Allgemeinheit ist er dann schlicht und einfach mit seiner "Natur" versöhnt, was immer dies sei, hat keinerlei Scheu, weil er mit allem vertraut ist, kann sich beherrschen, weil er von allem beherrscht ist und kann mit bestimmen, was alle bestimmen soll. Aber wehe ihm, er nimmt an dieser Versöhnung nicht teil! Dann widerspricht er seiner eigenen Natur, wie sie in dieser Allgemeinheit eben bestimmt ist, dann ist er widernatürlich! Jedes Anderssein wird damit unterworfen und herabgesetzt zu einem Sein von anderer Art, die unversöhnlich ist, abartig, vielleicht auch hinterhältig, terroristisch ... Nein, natürlich geht es nicht um Hitler und die deutsche Geschichte. Es geht ausschließlich um eine Gemeinschaft von Menschen, die sich dadurch definiert, dass sie Böses zu beherrschen versteht.

Es geht hierbei um Politik mit den Lebensgefühlen, mit denen praktisch alle wirklichen Zusammenhänge in die Gefühligkeit des Zeitgeistes eingewickelt werden. Und die wird nicht nur von Hellinger betrieben. Die Militarisierung der Psyche findet in vielen Anwendungen der Psychologie statt, wenn Lebensgefühle eingesetzt werden, um individualisierte Lebenszustände von ihrem Grund abzuheben, alles ertragbar zu machen, indem alles versöhnt leben kann, ohne Sinn füreinander zu haben, um die "Macht des Mitgefühls" (Condoleza Rice). Das ist letztlich, was solche Theorie einer ursprünglichen Gesundheit des Fühlens gegen die Unversöhnlichkeit wirklicher Auseinandersetzungen und Kämpfe auch vermitteln will. Es geht nicht um deren wirkliche Aufhebung, sondern um die große Demut vor den Gegebenheiten des Lebens, denen alles Lebendige unterworfen werden muss, um sich gut fühlen zu können. Die Rituale der Psychologie, die Verbeugungen und Demutsbezeugungen, finden nicht nur bei Hellinger statt. Erwachsene werden durch die Unterwerfung unter eine seelische Allmacht, durch die Ermächtigung einer seelischen Abstraktion, zu Kindern ihrer Geschichte, und Kinder müssen ihre Geschichte lieben, - ihre Väter, auch wenn sie von denen missbraucht worden sind, ihre Mütter, auch wenn sie von denen aufgehetzt worden waren. Die Seele wird betreten mit der Macht ihrer persönlichen Geschichte, die in der Gewalt von Psychokraten steht (vergl. hierzu "Gehirn-Wäsche" von Elisabeth Reuter, Antipsychiatrieverlag 2005). Sie wird zuerst entwirklicht, von ihrem Gedächtnis abgehoben, und dann militarisiert, um sich auch seelisch durchzusetzen, gehärtet, um sich gegen alles behaupten zu können. Sie ist für alles gerüstet, was das Schicksal bringt, allem nah, ohne sich bedrängen zu lassen, weil in Wirklichkeit allem fern ohne fern zu sein, abstrakt und doch konkret. Solche Nähe beherrscht alles, was sich von ihr nicht entfernen kann.

In der Versöhnung entsteht die Nähe zu allem und mit allem, ohne Wirkung oder Wirklichkeit außer der, dass alles darin auf seine Unwirklichkeit reduziert wird, auf ein Substrat von Beziehungen, die keinerlei Ausdruck haben können, auf die bloße Anwesenheit von Sinn, der ohne sinnliche Existenz, für sich vollständig unsinnlich, rein seelisch ist. Versöhnende Kultur ist beseelt und bestrebt, Ausgleich zu finden und zu schaffen, sich zu ereignen, wie es in den Sinn kommt und sich zugleich darin zu enteignen, wie es Sinn hat. In der Konsequenz hat in solcher Kultur nichts einen Sinn, weil alles nur dadurch Sinn macht, dass es sich ereignet und als Ereignis selbst schon besticht. Es macht die Politik unserer Kultur aus, eine Allgemeinheit über allem zu erzeugen, Anführung eines jeden zu stiften, der darin befangen ist und dafür sein Bestes gibt, um auf der "Bühne des Lebens" zu stehen. Dort muss er sein, was von ihm erwartet wird, was eben für alle Sinn macht. Und ist er das, so erzeugt dies in ihm ein allgemeines und abstraktes Selbstbewusstsein guten Einvernehmens, die Gemeinschaft des Guten im Gutsein der Gemeinschaft.

Solche Güte ist besitzergreifend, indem sie natürlich scheint. Gerade indem ihre Natur durch die Kultur von Persönlichkeiten bestimmt ist, wird sie zur persönlichen Kultur der Menschen, die sich darin versöhnen. Darin sind sie sich ohne Auseinandersetzung einig, eine Gemeinschaft, ohne Zusammentragen oder Herausnehmen, ohne Fortschreiten oder Zurücknahme. Weil darin alles nur durch seine Zeit bestimmt ist, in der es sich ereignet, gibt es hierfür keinen bestimmten gesellschaftlichen Ort, keine wirkliche Begegnung und keinen Sinn, der hierin für etwas gebildet wird, das gesellschaftliche Gegenständlichkeit hätte. Durch den schlichten Beitrag ihrer Anwesenheit ereignet sich ihr Zusammenhang als Prozess permanenter Versöhnlichkeiten, durch die sie sich zwangsläufig und gezwungenermaßen näher kommen, sobald sie sich nicht mehr aus dem Weg gehen können. Unsere Kultur ist voll solcher zwischenmenschlichen Begebenheiten und von daher in ihrer versöhnlichen Gestik überhaupt "dem Menschen näher" als jede andere. Und es wundert nicht, wenn darin jeder sich als Beispiel für ein allgemein friedliches Menschsein versteht, als Moment eines ewigen Friedens, an denen wir nur noch durch fremde Kulturen scheitern können, die schon durch ihr Anderssein unfriedlich sein müssen.

So stand es schon bei Huntington und so steht es in fast allen öffentlichen Verlautbarungen. Die Egozentrik unserer Weltwahrnehmung wird übertönt von unseren "Angeboten" an den Rest der Welt. Unser Kriegsgeschrei ist die ohrenbetäubende Versöhnung, die wir tagtäglich mit allem betreiben, was uns über den Weg läuft. Und es ist die Entwirklichung, die wir jedem zumuten, der mit uns zu tun hat, auch und gerade, wenn er um sein Leben fürchtet. Im Verhältnis zu anderen Kulturen sehen wir uns als Weltmeister, weil wir Weltmeister der Exportwirtschaft sind. Unser Kulturchauvinismus ist eigentlich ein ökonomischer, indem wir die Erzeugung von Kulturabhängigkeiten durch ökonomische Beziehungen nicht mehr nachvollziehen müssen, weil wir das haben, was andere nur bekommen, wenn sie uns ihre Lebensmittel und Ressourcen zu Schleuderpreisen geben. Die Vielfalt unserer Kultur gründet auf vielfältigen Monokulturen und auf der Vereinseitigung der Produktion und der Landwirtschaft der abhängigen Länder. Es herrscht unerbittlicher Wirtschaftskrieg, der immer wieder auch militärischer Krieg ist. Und zumindest an der ökonomischen Ausbeutung und Vereinseitigung sind wir beteiligt, ob die nun konventionell oder im direkten Zwang zur Genfoodproduktion verläuft.

Wir fühlen uns im Grunde als Kultursubjekte, die es gut mit der Welt meinen, während sich diese Welt permanent rüstet, um unserer Entrüstung über die Armut der Welt Rechnung zu tragen. Die Rüstung ist das Militär der Entrüstung, die Angst im Bezug auf eine Welt voller Armut, wie sie ein von den Menschen entfremdeter Reichtum hervorruft. Armut ist das Argument der Reichen, gegen sie vorzugehen, wie Reichtum das Argument der Armen ist, sich diesen anzueignen. Solange dies so ist, geht es nicht um die Aufhebung der Verhältnisse, welche Armut erzeugen, sondern nur darum, ihr Elend zu beherrschen. Solange dies so ist, ist militärische Rüstung das Werkzeug unserer Kultur, die einzig wirkliche Versöhnungsmacht. Im Mitleid mit ihren Opfern sind wir zugleich mächtig, das Leiden der Geschichte zu bestimmen, indem alle anderen in der Leidensform verharren müssen. Die Geschichte wird dadurch selbst schmerzhaft und ohne ihre Wirklichkeit zu einer Geschichte seelischer Bezogenheiten.

Die Weltgeschichte erscheint so als Geschichte des Leidens, als Seelengeschichte der Kulturen, die entweder gefördert oder bedroht werden müssen, um sich auf dieser Welt in unserem Sinne zusammenzufinden. Wir wissen, dass es so nicht geht und erschrecken über das Auseinandertriften der Welten, die zwischen kultureller Macht und Ohnmacht die Entwirklichung ihrer Lebensbedingungen erfahren, die Armut und Reichtum als ein Verhältnis sublimer Klasssenkämpfe enthalten. Angesichts der Seele, die wir dem Zeitgeist zuweilen verleihen, ist das nur noch "traurig aber wahr". Wir haben es schon immer so kommen sehen, aber durch unsere Versöhnungsgestik ermächtigen wir unsere Kultur zum Maßstab für alles andere.

"Traurig aber wahr" ist zynisch. Aber Zynismus kann auch gelebt werden, wenn man sich damit zu kultivieren versteht. Man muss die Lüge des darin behaupteten Humanismus entkleiden und sich aus der Geborgenheit solcher Burgherrlichkeiten hervortun. Der Heidegger-Schüler Peter Sloterdijk (Indexup2a1a1b2b) zeigt den Weg einer Kritik des Zynismus, die vor allem eine Rückbesinnung auf ihren geistigen Ursprung, dem Kynismus ist. Der universelle Patriotismus der Humanitas wird erst richtig allgemein, wenn sie sich erübrigt, wenn sie sich als Notwendigkeit ausgeben kann, dass der Mensch erst noch zum Menschen gemacht werden muss. Das ist nun zu gütig, als dass es durch Versöhnung zu erreichen wäre. Es ist die Güte eines neuen Helfers der Menschheit, der sich immer wieder mal aus der Philosophie herausschält. Die Wissenschaft der Wissenschaften gibt sich allerdings jetzt anekdotisch, wenn Sloterdijk deren Konsequenz aufführt: Es muss ein Machtwort für das Menschliche gesprochen werden, das Menschentier bedarf der Zähmung. Natürlich "meint" er das nicht so, aber er gibt dies als eine Frage heraus, die sich nur Philosophen in dieser Form stellen können, um in ihrer abgetrennten interpretativen Welt "wissenschaftliche Denknotwendigkeiten" unter die Leute zu bringen, deren Probleme sie nicht wirklich wissenschaftlich analysieren und erklären will.

Dies ist wohl die hinterhältigste Militarisierung eines Selbstverständnisses, das sich selbst als die Subjektivierung von "Humankultur" dazu aufmacht, den Philsophen mal im Vorbeigehen zum Zuchtberater zu machen. Mal "sehen, was dabei herauskommt"? Nein. Man soll sich angesichts der "Ungeheurlichkeiten der Welt" eben auch mal an ungeheuerliche Konsequenzen gewöhnen, um sich dann dem zu zuwenden, der das geringst mögliche Übel verspricht. Um eine Universalkultur durch die Erzeugung einer Einheitskultur gezähmter Menschen zu vermeiden, muss man erreichen, dass sie sich durch philosophische Vernunft selbst zähmen. Sloderdijk fordert ja nichts, er beobachte ja nur, eben als Zuschauer, was in der Welt geschieht, und er zeige der Welt eigentlich nur, was ihr selbst nötig sei. Und natürlich soll man das auch als Widerstand gegen diese Welt verstehen. Es ist nämlich ganz einfach, wenn wir unseren Kulturgenuss als deren Kritik begreifen. So sind sie eben, die "Fortschritte" in der Philosophie. Jetzt allerdings mit mehr Selbstbewusstsein denn je: Wer heute noch glaubt, wirklich etwas ändern zu können, der ist einfach nur ein armer Irrer. Mit solchem Verstand weiß die Wirtschaft umzugehen und jeder Politiker wird hierdurch auf seine Bemühung um ihr Wohl relativiert, weil alleine sie auch das Wohl der Menschen bedeute. Und es vermittelt sich ihnen so als Hintergrund ihres Lebensverständnisses das, was der kluge Danton als Inschrift der Höllenpforte begriffen hatte: "Lasst alle Hoffnung fahren!"

 

Der "wilde Mensch" im Menschenpark oder die "Hütung des Menschen"

Peter Sloterdijk wäre philosophisch bedeutungslos und vielleicht ein netter Essayist für philosophische Momentaufnahmen geblieben, hätte er die allgemein gewordene Haltlosigkeit der Philosophie nicht genutzt und das besondere Gespür für Theorien gehabt, die dort fällig sind, die also in die Zeit fallen, gleich, wer sie ausspricht. Ruhm erfährt der, der sie zuerst ausspricht – natürlich nicht als Gedanke oder gar als eine konkret denkende Ausführung eines Weltverständnisses, sondern als eine Provokation, die nicht nur Provokation ist, als Essay, das nicht nur Essay ist und als Perspektive, die keine sein soll. Sein Essay über die Menschenzähmung und Züchtung, über Bio-Technologie und Menschenparks sollte ja nur ein wenig aufrühren, eigentlich eher scherzhaft, wie er sich später dazu erklärte. Aber auch darin liegt die Ungeheuerlichkeit des medial erfahrenen Endzeittheoretikers. Er sucht Wirkung um jeden Preis für eine preisgünstige Theorie, die doch unverblümt ausspricht, was "auf der Hand liegt", wenn man die Welt nur sieht, wie sie ohne Menschen erscheint. Und dann bezieht man sich auf die Menschen, um sich selbst in dieser Erscheinung auszubreiten. Man muss eben schon mal auch agieren, um aufzufallen und reinzukommen in den Dunstkreis zerfledderter Philosophie. Klarheit entsteht eben nur durch Vorstoß. Da ist Sloterdijk ganz wie George W. Bush.

Er tritt als Philosoph auf - und das ist heute nicht schwer, wenn man sein Denken aus dem Wahrheitsgeraune des Martin Heideggers bezogen hat. Schwer ist nur zu begreifen, was Heidegger mit seinen Begriffen alles anstellt. Ohne es begriffen zu haben, macht Sloterdijk schlicht dasselbe. Natürlich nicht mehr als Gedanke, sondern als Betrachtung. Die fängt mit Allerweltswahrnehmungen an, die einen Namen bekommen, der einfach klingt, aber folgenschwere Implikatite hat: "Durch die mediale Etablierung der Massenkultur in der Ersten Welt 1918 (Rundfunk) und nach 1945 (Fernsehen) und mehr noch durch die aktuellen Vernetzungsrevolutionen ist die Koexistenz der Menschen in den aktuellen Gesellschaften auf neue Grundlagen gestellt worden. Diese sind, wie sich ohne Aufwand zeigen lässt, entschieden post-literarisch, post-epistolographisch und folglich post-humanistisch." (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark"). Da sieht man doch gleich mal wieder, was Internet und Fernsehen so alles anrichten können: Die Leute reden nicht mehr miteinander, es gibt keine guten "Erzählungen" über das Menschsein – und ergo ist das Humane jetzt am Arsch! Aber auch ohne dies sei der Humanismus ein Problem und gehört deshalb auch kritisiert. Vielleicht kommt von da her, dass Sloterdijk im Fernsehen ja auch mächtig mitwirkt und dort viel erzählt? Er ist ja nicht von gestern und hat seinen Lehrer Baghwan und die Frankfurter Schule eingeatment und hinter sich gelassen. Immerhin konnte er von dem alten Inder lernen, wie man die Menschen im Widersinn ihrer Zeit begreifen muss: Sie machen sich einfach zuviel vor mit ihrem "Menschlich-Sein". Sie sind eigentlich nur verklemmt und stehen sich selbst im Weg. Schau sie dir doch an: Alles was sie anfassen machen sie kaputt.

Große Notwendigkeit fordert großes Denken heraus! In epochalen Überblicken durchstreift Sloterdijk in seiner Elmauer Rede über den Menschenpark vor dem bildungsbürgerlichen Publikum, wie es in evangelischen Akademien öfter anzutreffen ist, Jahrtausende der menschlichen Bildungsgeschichte. Aber der Gedanke, der darin aufgelesen und eingesammelt wird, ist einfach und alt.

Wie Heidegger gemahnt auch Sloterdijk der Seinsvergessenheit angesichts einer Welt, die durch Trechnik und Bewaffnung den Menschen zu entgleiten droht. Allerdings sieht er darin weniger die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf ein gestaltendes Prinzip besserer Wahrheit, wie sie Heidegger vermitteln wollte, sondern schlichten Handlungsbedarf. Und hierfür entdeckt er eine neue Epoche der Wissenschafts-Aristokratie, die es auch schon mal vor 2400 Jahren gab. Der soeben festgestellte Untergang "der Humanitas" soll mit einer Bildungsaristrokratie à la Platon überwunden werden. Das ist echter Journalismus! Als Essay nicht schlecht!

Schlicht und unbefangen müssen wir ihm folgen, wollen wir das Ende dieser Story kennenlernen. Denn man bedenke ohne dabei viel zu denken: Die Lage ist ernst, das Leben ist hart, aber wir lassen uns nicht kleinkriegen und schon gar nicht einsülzen von dem humanitären Geschwätz. Also: Es geht erst mal um eine Kritik der Humanitas. Diese beginnt mit der inzwischen modisch gewordenen Kritik am Anthropozentrismus, denn der ist (natürlich) jedem Humanismus vorzuwerfen. Schließlich leben wir ja selbst in der Natur und müssen also uns mit ihr auch gut stellen. Als ob der Mensch nun kein natürliches Wesen ist, das natürlich mit seiner Natur klar kommen muss, wird ihm mit diesem Vorwurf eine Natur außer ihm als höhere Macht angewiesen, die er zu befolgen habe. Schließlich gibt es ja auch wichtigeres als die Ausbreitung des Menschen auf dem Planeten. Und da muss man natürlich nicht viel drüber zu verlieren, das versteht sich von selbst. Dass "der Mensch das höchste Wesen für den Menschen" (Marx) sei, sei schlicht humanistische Überheblichkeit über das Weltganze. Was wesentlich ist und was Mensch meint, das interessiert doch heute sowieso nicht mehr. Es geht inzwischen ja um nichts Geringeres als die Zukunft des Planeten. Dem gegenüber benehmen sich die Menschen "schlimmer als Tiere". Darum nämlich ginge es "dem Humanismus": "Wer heute nach der Zukunft von Humanität und Humanisierungsmedien fragt, will im Grunde wissen, ob Hoffnung besteht, der aktuellen Verwilderungstendenzen beim Menschen Herr zu werden. Dabei fällt beunruhigend ins Gewicht, dass Verwilderungen, heute wie immer, gerade bei hoher Machtentfaltung aufzubrechen pflegen, sei es als unmittelbare kriegerische und imperiale Roheit, sei es als alltägliche Bestialisierung der Menschen in den Medien enthemmender Unterhaltung."

Ergo ist Humanismus ein "Phänomen" unserer Zeit, und nur als solches interessant. Hier gibt es nicht viel nachzudenken über Lebensverhältnisse, wenn der Mensch in seiner Wildheit das Problem ist und auch noch Macht entfaltet, bei alle dem. "Das Phänomen Humanismus verdient Aufmerksamkeit heute vor allem, weil es - wie auch immer verschleiert und befangen - daran erinnert, dass Menschen in der Hochkultur ständig von zwei Bildungsmächten zugleich in Anspruch genommen werden - wir wollen sie hier der Vereinfachung zuliebe schlicht die hemmenden und die enthemmenden Einflüsse nennen." (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark").

Eigentlich finden wir solche Prinzipien in allen Theorien, die sich mit Widersprüchen nicht befassen wollen. Darüber haben sich alte Griechen genauso ausgebreitet und auch neuzeitliche Weltbetrachter wie z.B. Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud. In solcher Anschauung gibt es anfangs immer einen Dualismus zwischen Begierde und Hemmung, Lebenstrieb und Todestrieb, Lust und Schmerz, Wille und Stachel, ES und Über-Ich, und schließlich die Versöhnungsmacht. Und um die geht es bei den gehemmten Enthemmungen. Eigentlich so abstrakt wie einfach und einfältig. Aber es geht weiter mit der Dualontologie des Peter Sloterdijk, der zu dem Schluss kommt, dass die Sache des Menschen die Beherrschung des Menschen sei, denn er hat begriffen, "dass Menschlichkeit darin besteht, zur Entwicklung der eigenen Natur die zähmenden Medien zu wählen und auf die enthemmenden zu verzichten." (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark"). Daran zieht er die Humanisfrage, wie Heidegger sie einst aufgeworfen hatte, auf die Matte der modernen Antropozentrik-Kritik: "Das Wort Humanismus muss aufgegeben werden, wenn die wirkliche Denkaufgabe, die in der humanistischen oder metaphysischen Tradition bereits als gelöste erscheinen wollte, in ihrer anfänglichen Einfachheit und Unausweichlichkeit wiedererfahren werden soll. Zuspitzend gesprochen: Wozu erneut den Menschen und seine massgebliche philosophische Selbstdarstellung im Humanismus als die Lösung anpreisen, wenn sich gerade in der Katastrophe der Gegenwart gezeigt hat, dass der Mensch selbst mitsamt seinen Systemen metaphysischer Selbstüberhöhung und Selbsterklärung das Problem ist?" (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark").

Der Mensch ist das Problem. Das ist nicht nur das Resultat, das war eigentlich schon der Ursprung der ganzen Denke. Jetzt muss eigentlich nur noch aufgezählt werden, was mit ihm angestellt werden muss, damit er dennoch weltgeschichtlich wieder "richtig funktioniert". Diese Frage hatte einst Nietzsche auch und Heidegger auch, und Hitler auch. Und die Amis haben sie sowieso. Aber nicht um den Menschen geht es hierbei, sondern um seinen Hüter. Und da wird Sloterdijk ganz ernst, denn jetzt spricht Heidegger direkt aus ihm: "Unter Verwendung von Bildern aus dem Motivkreis der Pastorale und der Idylle spricht Heidegger von der Aufgabe des Menschen, die sein Wesen ist, und von dem Menschenwesen, aus dem seine Aufgabe entspringt: nämlich das Sein zu hüten und dem Sein zu entsprechen." (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark").

Jetzt sind wir endlich beim Thema angelangt: Wie kann das Menschentier dahin gebracht werden, sich an die Gegebenheiten des Seins anzupassen? Nein, natürlich geht es nicht um Anpassung, nein, natürlich haben wir ihn da missverstanden, dem es ja nur um die Bewohnbarkeit des Menschenhauses geht, eigentlich um einen noch radikaleren Humanismus. Aber doch: Jetzt beantwortet Sloterdijk die Frage endlich selbst, "Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? Was zähmt den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung in der Hauptsache doch nur zu seiner Machtergreifung über alles Seiende geführt haben? Was zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen Experimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben ist, wer oder was die Erzieher wozu erzieht? Oder lässt sich die Frage nach der Hegung und Formung des Menschen im Rahmen blosser Zähmungs- und Erziehungstheorien gar nicht mehr auf kompetente Weise stellen?"

 

Die "Anthropotechnik" zur Züchtung eines Übermenschen

Die humanistische "Sozialgeschichte der Zähmung" sei gescheitert, weil dabei etwas übersehen worden sei: Der Mensch ist so etwas ähnliches wie ein Halbwesen, etwas, das zwischen Tiersein und Menschsein schwankt. Und das nicht nur, weil er Natur ist und Natur hat und die vermenschlichte Natur in den menschlichen Lebensverhältnissen sich noch nicht verwirklicht, sondern weil er einen Fehler hat. Jedes Tier kommt ja auf die Welt so, sie es ausgetragen worden ist, immer rechtzeitig. Nur der Mensch kommt immer zu früh auf die Welt und könne ihr deshalb auch nicht gewachsen sein. Der Mensch, diese "Gattung von frühgeburtlichen Wesen" habe einen Geburtsfehler: Die "chronische animalische Unreife des Menschen" (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark"). Man könnte so weit gehen, den Menschen zu bezeichnen als das Wesen, das in seinem Tiersein und Tierbleiben gescheitert ist. Durch sein Scheitern als Tier stürzt das unbestimmte Wesen aus einem Schattenreich in eine Umwelt, die ihm zu schwer vorkommt und erwirbt sich die Welt im ontologischen Sinn nur "mit halber Kraft". Da ist man dann auch schon wieder bei Heideggers reaktionärem Existenzialismus, der zwangsläufig eine gewaltige Ladung Sophistik braucht: Das Existieren in dieser Welt muss erst noch in langer Menschheitsgeschichte erworben werden; der Mensch ist nicht voll und ganz in sie geworfen, sondern in widersprüchlicher Ekstatik. Dieses ekstatische Zur-Welt-Kommen und diese "Übereignung" an das Sein ist dem Menschen aus gattungsgeschichtlichem Erbe als wesentlicher Widerspruch in die Wiege gelegt, als Prinzip seiner Enthemmung und Hemmung. Wenn der Mensch in-der-Welt ist, dann, weil er einer Bewegung folgen und gehorchen muss, die ihn zur Welt gebracht hat und ihn der Welt aussetzt. Er ist das "Produkt einer Hyper-Geburt, die aus dem Säugling einen Weltling macht" (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark"). Von daher ist er nirgendwo richtig zu Hause und muss domestiziert werden.

Und jetzt wird es Ernst; jetzt kommt Nietzsche hinzu: "Nietzsches Verdacht gegen alle humanistische Kultur dringt darauf, das Domestikationsgeheimnis der Menschheit zu lüften. Er will die bisherigen Inhaber der Züchtungsmonopole - die Priester und Lehrer, die sich als Menschenfreunde präsentierten - beim Namen und ihrer verschwiegene Funktion nennen und einen weltgeschichtlich neuartigen Streit zwischen verschiedenen Züchtern und verschiedenen Züchtungsprogrammen lancieren. Dies ist der von Nietzsche postulierte Grundkonflikt aller Zukunft: der Kampf zwischen den Kleinzüchtern und den Grosszüchtern des Menschen - man könnte auch sagen zwischen Humanisten und Superhumanisten, Menschenfreunden und Übermenschenfreunden. ... Wenn Nietzsche vom Übermenschen spricht, so denkt er ein Weltalter tief über die Gegenwart hinaus. Er nimmt Mass an den zurückliegenden tausendjährigen Prozessen, in denen bisher dank intimer Verschränkungen von Züchtung, Zähmung und Erziehung Menschenproduktion betrieben wurde - in einem Betrieb freilich, der sich weitgehend unsichtbar zu machen wusste und der unter der Maske der Schule das Projekt Domestikation zum Gegenstand hatte." (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark") Und das ist es! Damit sei das Gelände abgesteckt, "auf dem sich die Bestimmung des Menschen der Zukunft wird vollziehen müssen, gleichgültig ob dabei Rückgriffe auf das Übermensch-Konzept eine Rolle spielen oder nicht." (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark").

Uns also betreten wir damit auch das "Gelände" der Möglichkeiten, die man heute zur Menschenzähmung und -züchtung hat. Wenn man das Humanismus-Problem nicht wieder verharmlosen wolle, so müsse man eben auch dazu stehen: Zähmung verschränke sich mit Züchtung und daran komme man einfach nicht vorbei. Nur mit den "Ausmerzungs- und Verstümmelungstechniken" hätte Nietzsche "den Bogen überspannt". Es ginge nicht um "das vorbedachte Werk eines Züchterverbandes", sondern vielmehr um einen langfristigen Gedanken: "Es ist die Signatur des technischen und anthropotechnischen Zeitalters, dass Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion geraten, auch ohne dass sie sich willentlich in die Rolle des Selektors gedrängt haben müssten. Man darf zudem feststellen: Es gibt ein Unbehagen in der Macht der Wahl, und es wird bald eine Option für Unschuld sein, wenn Menschen sich explizit weigern, die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben. Aber sobald in einem Feld Wissensmächte positiv entwickelt sind, machen Menschen eine schlechte Figur, wenn sie - wie in den Zeiten eines früheren Unvermögens - eine höhere Gewalt, sei es den Gott oder den Zufall oder die Anderen, an ihrer Stelle handeln lassen wollen. Da bloße Weigerungen oder Demissionen an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren. Ein solcher Codex würde rückwirkend auch die Bedeutung des klassischen Humanismus verändern - denn mit ihm würde offengelegt und aufgeschrieben, dass Humanitas nicht nur die Freundschaft des Menschen mit dem Menschen beinhaltet; sie impliziert auch immer - und mit wachsender Explizitheit -, dass der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt." (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark").

Und damit sind wir auf der Höhe der Zeit: Das "gattungspolitische Problem". "Es genügt, sich klar zu machen, dass die nächsten langen Zeitspannen für die Menschheit Perioden der gattungspolitischen Entscheidung sein werden. In ihnen wird sich zeigen, ob es der Menschheit oder ihren kulturellen Hauptfraktionen gelingt, zumindest wirkungsvolle Verfahren der Selbstzähmung auf den Weg zu bringen. Auch in der Gegenwartskultur vollzieht sich der Titanenkampf zwischen den zähmenden und den bestialisierenden Impulsen und ihren jeweiligen Medien. Schon grössere Zähmungserfolge wären Überraschungen angesichts eines Zivilisationsprozesses, in dem eine beispiellose Enthemmungswelle anscheinend unaufhaltsam rollt. Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können - dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt." (Sloterdijk in "Regeln für den Menschenpark").

Und damit hat Sloterdijk den Kern des globalen Zeitgeistes formuliert und auch vertreten: Die "Probleme der Menschheit" seien so gewaltig, dass man zu allen Mitteln greifen müsse, um sie zu beheben. Das ist der Stand des allgemeinen Bewusstseins der Weltelite, besonders der USA, die sich auf dieser Grundlage für eine "einzig mögliche Weltordnung" vorbereitet, bei der sie überleben kann. Wir haben inzwischen kennengelernt, was sie darunter versteht: Die Weltordnungskriege. Die führenden amerikanischen Politiker setzen ihre Politik als Neocons auf dieser Überzeugung auf und haben nicht nur die Werke von Nietzsche und Heidegger, sondern auch des deutschen Politsoziologen Leo Strauß hierzu gelesen und seine grundlegenden Vorlesungen gehört. Er war einst im Nazideutschland der Theoretiker der politischen Umsetzung dieser Anschauung und der offizielle "Jurist des Führers". Von daher hat sich das deutsche Geschichtsbewusstsein jetzt gut in der amerikanischen Elite eingeklinkt und feiert dort Urständ. Auch Sloterdijk ist dort dabei, aber zum Militärberater wird er es dort nicht bringen. Zwar hat das geistige Weichei einen harten Kern, aber das Militär kann keinen Schwätzer brauchen.

 

Fremde Kulturen als Aufstellung einer Bedrohung der Menschheit und die "Vesöhnungsmmacht" des Westens

Zucht muss ja nicht so total und weltgeistig vorgestellt werden, wie bei Sloterdijk; sie kann einfacher auch durch Züchtigung zu einer Unterwerfungsfähigkeit ersetzt werden. Aber auch da bleibt die Frage, wer erzieht wen, wer belohnt und bestraft und bestimmt das Ziel? Hellinger hat es ja bereits vorgeführt: Nur in der Demut gegenüber höherer Ordnung sollen wir unsere eigene finden. Vereint im Kosmos des Lebens sind wir nicht nur mit Hitler versöhnt, sondern mit der ganzen Welt. Und da muss eigentlich nur noch herausgefunden werden, wer ihr durch seine Entwicklung am nächsten, durch seine "Reife" am weitesten ist.

Der einstige US-Regierungsberater Samuel Huntington hat in seinem Buch "Der Kampf der Kulturen" die Bedrohung der Menschheit daran festgemacht, dass es Kulturen gäbe, die nicht reif für diese Welt seien. Von ihnen sei Schlimmes zu befürchten: Der "Clash of Civilisation". Von daher sei Zeitdruck geboten, denn es ginge nicht mehr um Hunanismus, sondern um das Überleben der Menschheit als solches, um einen permanenten Krieg um ihr Fortbestehen. Das nun stellt alle bisherigen Bemühungan der Diplomatie auf den Kopf: Es gilt nicht mehr zu begreifen, wie Menschen sich zu den Problemen der Zeit verhalten können, sondern wie sie sich verhalten müssen, um als Menschen existent zu bleiben. Es geht nicht mehr darum, sich aus den Problemen der Zeit heraus zu entwickeln, sondern den Stand der bisherigen Entwicklung zu bewahren.

Sowas hatten wir schon mal mit Spenglers Theorie vom "Untergang des Abendlandes". Es ist die Umkehr, die Verkehrung des machtpolitischen Verstands: Die Mächtigen sind in Wahrheit ohnmächtig und müssen sich mit aller Macht verteidigen. Aus jedem Don Quichotte des Geistes wird so ein weltmächtiger Kämpfer für die Allgemeinherrschaft des Guten und des Weltenheils im Bestehenden und Bestandhalten. Die Sorge um das Heil der Welt macht den wahren Führer zu einer Zukunft der Vergangenheit aus, auch wenn er nicht als Person, sondern als soziale gesinnte Philosophie, als mächtiges Selbstverständnis für eine bestimmte Gesellschaft auftritt.

Das macht das Selbstverständnis des Westens. Das "Verantwortungsbewusstsein" der westlichen Kulturen sei eben gerade durch den drohenden Untergang gefragt, denn es beinhalte zugleich die Gewähr für ein wirklich "goldenes Zeitalter". Es versetze sie am ehesten in die Lage, die Rolle des Hirten der Welt einzunehmen: "Der Westen ist, mit einem Wort, eine ,reife' Gesellschaft an der Schwelle dessen geworden, was künftige Generationen einmal als ein ,goldenes Zeitalter' betrachten werden, eine Periode des Friedens, die, laut Quigley resultiert aus ,dem Fehlen rivalisierender Einheiten im Inneren der betreffenden Zivilisation und aus der Entferntheit oder dem Fehlen von Kämpfen mit anderen Gesellschaften außerhalb ihrer'." (Samuel Huntington: Buch "Der Kampf der Kulturen", S. 497) Zwar habe auch der Westen Probleme (Kriminalität, Verfall der Familie, schwindendes "Sozialkapital", Nachlassen der "Arbeitsethik", "abnehmendes Interesse für Bildung und geistige Betätigung" usw.), und er wird deshalb auch von manchen Menschen in Frage gestellt. Aber auch dies doch meist nur "von Einwanderern aus anderen Kulturkreisen, die eine Assimilation ablehnen und nicht aufhören, Werte, Gebräuche und Kultur ihrer Herkunftsgesellschaften zu praktizieren und zu propagieren." (ebd. S. 501) Das Übel ist der Gegensatz. Die Kriege auf der Welt sind für den amerikanischen Professor "Bruchlinienkriege" der Kulturen und er malt ganze Karten davon und Demografien der Völker. Die "Achse des Bösen" ist fein säuberlich aufgelistet und aufgezeigt, wovor sich die modernen Staaten des Westens schützen müssen. Zufällig war die "Achse des Bösen" genau das Gebiet, unter dem 95 % der Erdölvorräte der Welt lagern. Aber als kulturelles Psychogramm nimmt es sich einfach völlig anders aus. Es stellen sich darin Beziehungsmuster über die Konfliktträchtigkeit von Glaubenssätzen her (ebd. S. 395 f), die aussehen wie eine Familienaufstellung des Psychomissionars Hellinger. Es geht dem Professor wie dem Psychologen eben hauptsächlich um "grundsätzliche Machtrivalitäten" zwischen den Beteiligten und ihren Machtbedarf in die sonstige "multipolare Welt" hinein" (ebd. S.397) - und damit meint er auch uns.

Huntington spricht nicht für die USA allein. Sein Buch will ein explizites Statement für den gesamten Westen sein: "Wenn Nordamerika und Europa ihre moralischen Grundlagen erneuern, auf ihre kulturelle Gemeinsamkeit bauen und Formen einer engen wirtschaftlichen und politischen Integration entwickeln, die ergänzend neben ihre Sicherheitszusammenarbeit in der NATO treten, könnten sie eine dritte, euroamerikanische Phase des wirtschaftlichen Wohlstands und politischen Einfluß stiften. Eine sinnvolle politische Integration würde in einem gewisssen Umfang ein Gegengewicht zum relativen Rückgang des westlichen Anteils an Bevölkerung (!), Sozialprodukt und militärischem Potential der Welt bilden und in den Augen von Führungspersönlichkeiten anderer Kulturen die Macht des Westens erneuern. ,Das Bündnis aus EU und NAFTA könnte in einer geballten Handelsmacht dem Rest der Welt die Bedingungen diktieren', mahnte Ministerpräsident Mahathir die Asiaten. Ob der Westen politisch und wirtschaftlich zusammenfindet, hängt jedoch überwiegend davon ab, ob die USA ihre Identität als westliche Nation bekräftigen und es als ihre globale Rolle definieren, die Führungsnation der westlichen Kultur zu sein." (Samuel Huntington: Buch "Der Kampf der Kulturen", S. 506f).

Damit war die Aufstellung klar und daraus ergab sich die Rolle der USA und die Rollenverteilung für den Rest der Welt. Wir sollten jetzt schon mal mitdeuten, dann mitsorgen, mitkämpfen und am besten schließlich mitschlachten. Klar, dass der US-Geheimdienst die ersten Schritte machen muss.

Die "vorbeugenden Aktivitäten" des CIA bestanden vor allem daraus, kleine Widerstandsgruppen in den auf der Grundlage des neuerstandenen Kulturinteresses bedrohlich gemachten Regionen (z.B. um Bin Laden) zu bewaffnen und zu finanzieren. Im Glauben, dass Waffengewalt und Geldbesitz sie zu Kumpanen machen, sie an die Westinteressen angleichen und an die Freiheit und an den "Fortschritt des Westens" binden würde, erhoffte er sich durch sie Aufruhr in diesen Regionen. Es sollte nach einem Freiheitskampf aussehen. Doch was ihnen und uns als Befreiung dieser Regionen vorgestellt wurde, war für diese Gruppen ein Bemächtungsversuch ihrer Kulturen.

Doch ihre Beherrschung musste sein, denn es ging jetzt auch um den ganzen "Fortschritt der westlichen Welt". Die "Beweise", die als sachliche "Aufklärung" der Gefährlichkeit des Irak verbreitet wurden, die "Massenvernichtungswaffen", entlarvten sich gleich nach Beginn des Krieges, den sie begründen sollten, als glatte Lügen, als bewusste Irreführung der Öffentlichkeit. Die Gefahren des Terrorismus, die man zu bekämpfen vorgab, waren hierdurch erst richtig geweckt und entwickelten sich aus der Ohnmacht der betroffenen Länder in diesem "Weltordnungskrieg" ins unermessliche. Die Androhung westlicher Kulturmacht durch Krieg und Vernichtung haben sie begriffen. Der Krieg ist da. Wir hatten es ja gewusst! Und jetzt sind wir dran. Jetzt muss das mit der Versöhnung laufen, die humanitäre Unterstützung als Flankierung der Weltordnungskriege. Und damit wird dann endlich auch die gute alte Humanitas wieder gerettet sein ... und die deutsche Kultur auch. Denn "neues Leben blüht aus den Ruinen" (Schiller, Wilhelm Tell).

 

Der Militarismus der Wissenschaften: Die "Demokratie durch Weltordnung"

 

Das Dilemma der humanistischen Selbstbildung mit der Wirklichkeit der Menschen ist so alt wie die Entwicklung des sogenannten demokratischen Staates, der bis heute immer noch eine Art Aristokratie der politischen Klasse ist. Noch niemals konnte auf den Selbstbestimmungsprozess der Menschen vollständig gesetzt werden, weil ihre Lebensverhältnisse noch nie von ihnen wirklich bestimmt waren. Der politischen Elite des Staatswesens entsprach daher auch immer die Elite der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Personifikationen der Geschichtsepochen.

Platon, der bedeutendste Staatstheoretiker des Altertums, hatte das humanistische Dilemma schon klar benannt und im Staat die Notwendigkeit einer Führungselite der Alten und Weisen gesehen: Bildung und Weisheit müssen herrschen, damit die Wirklichkeit so weise werde, wie sie. Hierdurch wird die Kultur einer Elite total und die Menschen als noch nicht wirklich lebend festgestellt. Von Platon kam auch der Begriff des lebensunwerten Lebens und der Menschenzucht: Behinderte und Kinder mit Geburtsfehlern wurden im platonischen Staat ganz selbstverständlich umgebracht und die staatliche Exekutive war zur Hauptsache das Militär. Schon immer war Humanismus ein äußerst widersprüchlicher Begriff, der letztlich ethisch war und den "guten Menschen" zu formulieren hatte. Das war er selbst noch in der Kritik. Der radikalste Kritiker des Humanismus, Friedrich Nietzsche, war zugleich sein äußerster Protagonist, insofern er praktisches Menschsein dem vorgestellten entgegenhielt. Zugleich aber blieb die humanismuskritische Philosophie Vorstellung, kritischer Humanismus, die ihre Windungen auch nur in einer Metapher vom Übermenschen machte. Aus dem Sophismus dieser Humanismuskritik ist der Faschismus ideel ebenso unterlegt worden wie sich damit auch die Neocons in den USA und ihre deutsche Vertretung im philosophischen Quartett durch dessen Moderator Sloterdijk hervortun. Er radikalisiert in einem gedankenlosen Vorbeigehen Nietzsche zu dem, was es an Ungeheuerlichkeit des Undenkbaren zwar im Nationalsozialismus, nicht aber in der Philosophie bisher je gab: Die Behauptung eines quasi ontologischen Geburtsfehlers der Menschheit, der die Notwendigkeit einer Elite von Menschenzüchtern begründe, wenn auch hinter vorgehaltener Hand.

Sloterdijk tut so, als habe er lediglich Nietzsches Denken und Heideggers Humanismuskritik weitergebracht und so quasi als Berichterstatter mal zu bedenken gegeben, was angesichts der massiven "Probleme der Menschheit" nun auch zu denken ist, will man kein Denkverbot akzeptieren. Schließlich leben wir nun mal in einer Welt, worin die bürgerlichen Lebensvorstellungen keinen Sinn mehr machen, ihr Humanismus sich selbst erledigt hat. Die Aufregung über seine Rede war natürlich gewollt, aber er "könne es sich eigentlich garnicht erklären", warum er derart "missverstanden" würde. Warum auch solle man das alles nicht mal so denken können?

Ja, wenn es Denken wäre. Und wenn es überhaupt noch etwas mit Wissen und Bewusstsein zu tun hätte. Was Sloterdijk allerdings darlegt, ist die simple Verkehrung von philosophischem Denken überhaupt. Darin sind nicht mehr Erfahrung und Weisheit der Menschen gedanklich tätig, sondern Tätigkeit als Bedingung der Erfahrung gesetzt. Es bezieht sich nur auf Möglichkeiten des Handlens, als möglichen Einriff in die Voraussetzungen des Menschseins, den unvollkommenen Menschen erst zu ordnen, ihn durch eine vollkommene Technik als Technik der Vollkommenheit erst zu erschaffen. Sloterdijk thematisiert die höchst mögliche Ordnung als Prinzip der Zukunft und der Begriff "Menschenpark" ist nicht nur eine Provokation, sondern auch die Vorstellung einer großen Versöhnung in einer Ordnung friedliebend gemachter Menschen einer zukünftigen Welt, in der sich sein Kynismus auch allgemein aufhebt. Letztlich steckt ein Verständnis höherer Ordnung einer Ganzheit als Ziel oder Ursprung in allen reaktionären Philosophieansätzen, die als Anleitung zur Gesundung dienen wollen, als Heilsvorstellung irgendeiner Art.

Zunächst mal ist dies allerdings ein provokatives Gedankenspiel mit Zucht, Züchtigung und Züchtung, das jederzeit auch blutiger Ernst werden kann, die teuflische Spekulation einer Geltungssucht, die auch praktiziert wird und alles aufs Spiel setzt, was Wissenschaft bisher ausmachte: Der Versuch, wahre Aussagen zum menschlichen Leben und zum Leben überhaupt zu finden, seine Wirklichkeit als menschliche Wirklichkeit zu analysieren und auf die Möglichkeiten ihrer Fortentwicklung zu hinterfragen. Ohne dies ist alles Denken tödlich. Das modische In-der-Welt-sein als Kulturbürger beflügelt zwar vielerlei Fantasien über die Welt und die Notwendigkeit einer Weltordnung, aber es ist zugleich ihr kriegerischer Bestandteil, der von einer wahnsinnigen Selbstüberhebung einer bestimmten Schicht ihrer Bevölkerung getragen wird. Das macht den modernen Intellektuellen aus, der nicht mal einen Sinn für den Stoff seines Tuns haben muss, weil er dafür nicht arbeitet, sondern sich in bloßen Sphären seines Standes mit unendlich viel Informiertheit bewegt, über alles reden kann, was es zu denken gibt, ohne dabei selbst zu denken oder überhaupt etwas anderes zu sagen, als was längst gesagt war.

Humanitas war schon immer auf einem elfenbeinernen Tron, aber sie ist von Karl Marx auf die Straße geführt worden, als er dazu aufforderte, alle Verhältnisse zu verwerfen, worin der Mensch als ein "verächtliches Wesen" bestimmt ist, und der deshalb die Analyse dieser Verhältnisse als die vordringliche Aufgabe und Arbeit der Intelligenz ansah und dies auch in seinen Resultaten bewies. Dies war die geistige Zeitenwende des Humanismus, der sich fortan nur noch praktisch begreifen konnte.

Dem konnte sich tatsächlich nur noch der Nietzscheanische Zynismus entgegenhalten, eigentlich auch nur als Aufschrei eines wahnsinnigen Widerspruchs, der sich nicht aufheben konnte, als antihumaner Humanismus des Übermenschen. Erst Heidegger machte daraus eine Systemantik und kritisierte die Menschen der Zeitgeschichte in ihrer Seinsvergessenheit, in ihrer Unfähigkeit zu eigener Wahrheit. Seine hinterhältige Wahrheitsbehauptung über das Sein in der Zeit sollte die Menschen seiner Zeit unter deren Sein stellen, sie dem Seinsbegriff unterstellen. Sein wurde so zur Sache der Wahrheit ihrer Zeit – und damit war der Sachzwang der Philosophie unterlegt worden, bzw. die Philosophie der Logik ihres Gegenstands unterworfen, indem Erkenntnis zur Erleuchtung werden sollte, zur Lichtung der Wahrheit des Seins im Dasein. Mit viel sophistischem Tamtam wollte sie die Menschen in die Welt einführen, ihnen ein sachgerechtes In-der-Welt-sein vermitteln, ihnen ihre Selbsterkenntnis im Angesicht ihrer Endlichkeit als Individuen, also im Angesicht des Todes beschränken. Es war der Militarismus der Philosophie, der den Tod der Menschen zur notwendigen Aufgabe ihres Lebens machte – im doppelten Sinn des Wortes.

Mit dem Nationalsozialismus war im letzten Jahrhundert solcherlei Gedankengut zur Begründung politischer Macht opportun, die als Basis eine zerstörte Wirtschaft hatte. Für die Herstellung eines kapitalmächtigen Kulturstaats sollten die Menschen zugerichtet werden. Und damit war eine Ungeheuerlichkeit in die Welt getreten, welche die Menschen bis dahin für unmöglich gehalten hatten: Ein Staat bestimmt seine Staatskultur selbst, indem er eine Vernichtungsmaschinerie gegen einen beträchtlichen Teil seiner Bevölkerung, der da nicht hineinpasst, plant, organisiert und durchzieht. Adorno sprach hierüber von "dem Undenkbaren", von etwas, das nicht nur jeden Menschen in seinem Menschsein zu beschämen hat, sondern das auch keinen Gedanken verdient. Es war nicht nur die Perversion des Krieges, sondern die Pervertierung einer ganzen Nation und des Verhältnisses zu anderen Nationen. Aber offenkundig geworden war hierdurch auch, dass das "Undenkbare" sehr wohl mit den Gedanken jener Zeit zu tun hatte: Ohne den deutschen Idealismus und die deutsche Aufklärung hätte sich das Gedankengut des Nationalsozialismus nicht errichten können. Es war nicht nur Resultat der Weltwirtschaftskrise, sondern auch der deutschen Philosophie. Es war die Barbarei schlechthin, wie sie Marx als Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates durch das Kapital vorhergesagt hatte.

Heute steht man vor einem geistigen Scherbenhaufen, wenn diese Entwicklung nur noch in der Art und Weise Sloterdijks konstatiert und noch darin verschärft wird, dass die Behebung einer menschlichen Fehlgeburt anstünde, die Korrektur des Menschen durch den Menschen. Das ist nicht nur wissenschaftlich unterlegte Menschenverachtung, das ist die Menschenverachtung durch Menschenkonstruktion, der Fetisch abgehobener Intellektualität, die nichts, aber auch gar nichts weiß von dem, worüber sie spricht, und sich in ihren Vorstellungswelten mit Scheinwissen, mit Information, so aufgeblasen hat, dass sie nicht mal mehr merkt, dass sie praktisch im Begriff steht, genau das zu erzeugen, was sie zu beheben vorgibt.

Der Humanismusbegriff, mit dem sowohl die Philosophen als auch die Politiker des Bürgertums angetreten waren, Demokratie als politische Form der Auseinandersetzung menschlicher Entwicklung zu unterlegen, ist mit der bürgerlichen Demokratie selbst zu einem Ende gekommen, an welchem es schon mal schick geworden ist, auch die Macht von selbständiger Intellektualität zu propagieren, die sich über die mangelhaft gewordene Humanität der bürgerlichen Demokratie "besserem Wissen" hinwegzusetzen versteht. Dies entspricht zweifellos den ökonomischen Tendenzen der Weltwirtschaft, die auch ökonomische Verhandlungen zunehmend aus den Sphären vollkommen selbständiger Kapitalinteressen als Prinzip einer reinen Wertlogik betreibt. Diese Logik verfolgt das Interesse ein vollständigen Bestimmung des der Menschen, deren Leben für sich hiergegen nur noch mangelhaft, unerfüllt erscheint. Von daher ist der Zuchtgedanke auch tatsächlich in einer Entsprechung zu den Interessen des Weltkapitals. Er ist die implizite Forderung nach totaler Politik durch die Wissenschaften, nach totalitärer Wissensaristokratie, wie sie Platon niemals hätte einfallen können. Er empfand auch als Vertreter einer Bildungsaristokratie Wissenschaft noch als Weisheit. Bei Sloterdijk kann dies nur noch die Dummheit eines totalen Intellektualismus meinen. Sie ist ein Rückfall hinter alle Zivilisation. So locker sie als deren Rettungsversuch daherkommt, so gefährlich ist sie für die Menschen, die wirklich noch subjektiv in dieser Welt stehen und von daher noch ihre wirkliche Veränderung versuchen müssen. Eine Welt der Objekte kennen wir zur Genüge. Auf solche Objektivität kommt es nicht mehr an. Wer aber den Menschen zum Objekt von intellektueller Geltungssucht macht, kann nur eine objektive Subjektivität der Geltungssucht, also die totale Verdummung meinen und wollen: Geld wie es leibt und lebt. Solche "Philosophie" ist die Militanz des Geldes, das sich gerne subjektiv gibt, weil es immer allgemeine Objektivität ist.

Leider ist dies nicht nur das Geschwätz eines Peter Sloterdijks, sondern die schon ziemlich verbreitete Haltung einer intellektuellen Elite, die zu allem Stellung bezieht, wozu sie keine Beziehung hat, weil sie sich nur darin in ihrer Abgehobenheit noch nötig fühlt. Ein Psychologe würde das wohl als Suchtverhalten zur Abwehrt einer gewaltigen Depression beschreiben. Immerhin: Depressionen lassen sich durchaus darin auflösen, dass ihr verfremdeter Schmerz, ihr unendlicher Selbstauflösungsprozess, konfrontiert wird mit dem wirklichen Schmerz, der diese Auflösung begründet: Die Zerstörung gesellschaftlicher Geistestätigkeit durch die geistlosen gesellschaftlichen Verhältnisse des Geldes. Dessen Konsequenzen sind die Ausführungen politischer, psychologischer und philosophischer Machtansprüche. Und daran kann man durchaus auch intellektuell arbeiten. Es sei dabei aber auch immer hinzugedacht, dass "die Waffe der Kritik die Kritik der Waffen nicht ersetzten" kann (Karl Marx).

 

Wolfram Pfreundschuh

 

Quellen:

Johannes Klutz / Gerd Wiegel: "Geistige Brandstiftung - Die neue Sprache der Berliner Republik" (ATV)

Der Historikerstreit: http://historikerstreit.adlexikon.de/Historikerstreit.shtml

Historikerstreit und Ernst Nolte:
http://kulturkritik.net/quellen/Historikerstreit.html

zu Martin Walsers Rede:
http://kulturkritik.net/quellen/walserrede.html

zu Entwirklichung:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/en.html#entwirklichung)

zu Zerstörung:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/z.html#zerstoerung)

zu Heidegger:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/hei.html#heidegger)

zu Sloterdijk:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/s.html#sloterdijk)

zu Hellinger:
Wolfram Pfreundschuh (2004):Ein Heiland der herrschenden Ordnung -
Der Kultur-Chauvinismus des Bert Hellinger
http://www.kulturkritik.net/Psychologie/Leben_Tod/index.html
Dasselbe im Buch: http://www.antipsychiatrieverlag.de/versand/titel/sprecherrat.htm

Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/he.html#hellinger)

zur Philosophiedebatte um Sloterdijks Menschenpark: http://home.t-online.de/home/HelmutWalther/sloterd2.htm

zum Kampf der Kulturen:
Harald Müller: Der Kampf der Kulturen findet nicht statt
http://kulturkritik.net/Kultur/Keinkulturkampf/index.html

Wolfram Pfreundschuh (2004): Gegen die Politisierung der Kulturen im Kampf um die "Weltordnung"
http://www.kulturkritik.net/Kultur/Weltordnung/

Wolfram Pfreundschuh (2002) Gibt es einen "Kampf der Kulturen"?
http://kulturkritik.net/Kultur/Kulturkampf/index.html

Zur Postmodernen und zum Konstruktivismus:
Werner Seppmann: "Das Ende der Gesellschaftskritik? Die Postmoderne als Ideologie und Realität" (PapyRossa-Verlag 2000)