Ausführungen hierzu in: "Zur Militarisierung der deutschen Selbstverständigung"

Stand: 8.2.05

Thesen zur Militarisierung der deutschen Selbstverständigung

Die bürgerliche Gesellschaft hatte sich mit den Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität gegründet und sich geistig auf die allgemeine Grundlage eines humanistischen Weltbildes gestellt, worin die Entwicklung und Entfaltung des Menschen als höchste Selbstverständlichkeit gelten sollte. Dies ist der ideelle Hintergrund der bürgerlichen Demokratie und dieser gerät zunehmend außer Kraft. Die deutsche Geisteslage hat sich im Gleichschritt mit der Disfunktionalisierung des bürgerlichen Staates durch die für das Wertwachstum des internationalen Kapitals nötig gewordene Deregulation von dem eher reflektierenden Selbstverständnis des Humanismus zu einem vorrangigen Verständis für die Notwendigkeiten der Sachzwänge entwickelt. Das Diktat der Sachwelt ist inzwischen selbstverständlicher als jedes menschliche Selbstverständnis inmitten der Mächte des Faktischen. Die Besinnung der Menschen auf ihr Leben relativiert sich an dem, was sachlich nötig erscheint. Wer dies nicht durchdringen und auf die Lebensfragen der Menschen nicht zurückführen will, steht ausschließlich und alles andere ausschließend vor platten Notwendigkeiten.

Was nötig ist, das fügt sich, und so sind die Menschen dann auch geistigen Kräften gebeugt, die sie nicht mehr überwinden können, Kräften, die alleine dadurch, dass man sie gelten lässt, nicht nur das materielle Leben bestimmen, sondern zunehmend auch das geistige. Alle Institutionen geistiger Auseinandersetzung und Befassung sind von den neuerlichen objektiven Entwicklungen, den notwendigen Fügsamkeiten unter die Sachgewalten befangen. Politik, Geschichte, Psychologie und Philosophie vermengen sich zum Gewirke einer praktischen Vernunft, die nurmehr Handeln und ein Verhalten bedenken und nahelegen, welches Konfrontationen ausweicht und sich eher abstrakten Gemeinsinnigkeiten überantwortet, als dass es eine wirklich konkrete Beziehung sucht. Der Sinn solchen Verhaltens bleibt lediglich individuell und oft substitutionell, sein Grund nicht mehr wirklich erkennbar, und seine Wirkung ist eine vollständige Unterwerfung an den Lauf der Welt. Eigene Handlungsperspektiven reduzieren sich weitgehend auf die bloße Regeneration des Lebens, weil darüber hinaus ein sinnvoll bezogenes Handeln kaum mehr denkbar ist. So wollen Politik und Wirtschaft es auch haben und in diesem Sinn sind die theoretischen und praktischen Allgemeinheiten der neuen Selbstverständigung der Deutschen entstanden. Selbstverständlich ist die Menschlichkeit, was immer auch damit gemeint sei. In dieser Abstraktion werden dann die Menschen in ihrem eigenen Namen behandelt und eingeregelt in eine Welt, die nur noch durch Definition und Moral zu formulieren vermag, was ihr offensichtlich gänzlich fremd geworden ist. Alles wird inzwischen darauf hin interpretiert, was für solche "Menschlichkeit" nötig erscheint. und weltweites militärisches Engagement der Deutschen wird so ganz nebenbei zu einem finalen "Menschenrechtsinterverntionismus" (Joschka Fischer).

Das Papier "Die Militarisierung der deutschen Selbstverständigung" will eine Entwicklung des deutschen Selbstverständnisses darstellen, durch welches Menschen ohne eigene Handlungsmöglichkeiten zunehmend

1. wehrlos gegen politische Zumutungen gemacht werden (z.B. Ideologie als Anpassungsstrategie der politischen Argumentation, "Macht der Freiheit und des Mitgefühls"),

2. ökonomischen oder politischen Interessen folgen müssen, die ihnen nicht entsprechen können (z.B. Hartz IV, Kriegspolitik als politisches Machtbündnis der "freien Welt"),

3. der Wirklichkeit ihrer gesellschaftlichen Konflikte beraubt werden (z.B. die Einbettung Nachkriegsdeutschlands in die Strategie und das Weltbild der USA, das Geschichtsverständnis der deutschen Politik als Spannungsverhältnis von politischen Persönlichkeiten),

4. seelische Nöte und Ausweglosigkeiten zur Unterwerfung an herrschende Ordnungen benutzen lassen müssen (z.B. durch das Weltverständnis von "Therapeuten" wie Hellinger & Co.),

5. ihre geistigen und menschlichen Perspektiven im gesellschaftlichen Diskurs entwendet werden (z.B. Heideggers Humanismuskritik, Sloterdijks provokative Vorstellungen von Menschenzüchtung), und schließlich

6. ihre Kultur zu einem Medium internationaler Auseinandersetzungen verwendet wird (z.B. "Kampf der Kulturen").

Ad 1.

Die Ideologie der "freien Welt" macht ein beliebiges Freiheitsverständnis zur Grundlage aggressiver Weltpolitik, die mit einer Kulturgrenze zwischen freier und unfreier Welt argumentiert und an die "Macht der Freiheit und des Mitgefühls und der Hoffnung" (Condoleza Rice) appelliert. Die "freie Welt" impliziert zwangsläufig eine "unfreie Welt", die als Negation der Freiheit, also als ihre Bedrohung behandelt werden muss.

Die ursprüngliche Bedeutung von Freiheit als Emanzipationsbegriff des Bürgertums hat sich somit nicht nur verkehrt zu einem Begriff der Notwendigkeit, sich in dessen Besitzverhältnissen durchzusetzen, sondern wurde jetzt zu einem militärischen Begriff für Angriffskriege, die vor aller wirklichen Geschichte schon als Verteidigungskriege deklariert sind. Freiheit wird so zum Begriff ihres Gegenteils: Der Ausschluss von freien Beziehungen durch die Vorwegnahme ihrer Negation, die Fixierung des Andersdenkenden zur Unfreiheit. Es ist die Grundlage eines jeden Fremdenhasses.

Ad 2.

Das globale Kapital dereguliert nicht nur die Nationalstaaten, es vermittelt kraft seiner Funktion als ihr Gläubiger auch viele Zwänge an sie – sowohl was ihre "Sparsamkeit" betrifft, wie auch ihre "Verteidigungsbereitschaft". Die westlichen Machtbündnisse haben die deutsche Beteiligung an den sogenannten Weltordnungskriegen nötig. Die geschichtliche Aufarbeitung der deutschen Geschichte ist entsprechend wirkungslos gemacht worden. Hierbei wurde deutsche Täterschaft so sublim zu einer Opferrolle verkehrt, dass neuer Antisemitismus und die Bestätigung nationalistischer Interessen darin wieder möglich geworden sind.

Die Wendung des Begriffs der Scham zum Begriff einer "deutschen Schande", die es abzuwehren gelte (Martin Walser), appelliert an die Rechte und macht aus den Tätern Opfer eines unredlichen Progroms. Die deutsche Redlichkeit wird darin wieder zum politischen Argument eines notwendigen Selbstschutzes, das auch schon früher dem Antisemitismus zur Grundlage gedient hatte und sich entsprechende innere und äußeren Feinde zur Begründung nationaler Selbstbehauptung aufbaut.

Ad 3.

Das deutsche Geschichtsverständnis wurde zunehmend anekdotenhaft und vom Standpunkt eines Bürgerfriedens im Ermessen des Betrachters bestimmt. Die Ausgrenzung geschichtsentscheidender Prozesse wie der Völkermord an den Juden bewirkt eine geschichtliche Substanzlosigkeit, die jedes politische Verhalten wieder zulässt (vergl. Walser-Rede, Diskussion mit Bubis). Es wird praktisch nurmehr das Verhalten von Personen der Geschichte unter den psychischen, politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Einwirkungen untersucht, nicht mehr die Geschichte als Werdegang menschlicher Lebensverhältnisse und des ihnen entsprechenden Verhaltens. Geschichtliche Aufarbeitung wird somit nicht nur unnötig, sondern unmöglich, da sich alte Geschichte als neue ereignet, als Farce einer Unkenntlichkeit.

Der Streit um die Wehrmachtaussstellung und die sogenannte Goldhagen-Debatte stand in der Perspektive eines faktischen Beweises für die Entwicklung und Teilnahme geistiger Kapazitäten in Deutschland am Holocaust und den von Deutschland geplanten Vernichtungskriegen. Deren Umsetzung hätte tiefgreifende Folgen auf das Verständnis der deutschen Geistesgeschichte gehabt. Durch Zweifel an Details und der Heftigkeit der vorgebrachten Einwände bis hin zum Beschämungsvorwurf für die Bundeswehr, wurde der hohe Anspruch aufgegeben und das Anliegen auf eine Darstellung der allgemeinen menschlichen Bereitschaft zur Tat reduziert. Dass Faschismus wesentlich ökonomische Voraussetzungen hat, nämlich die kapitalistische Krise und die Erfahrung absoluter Chancenlosigkeit der Menschen in einer zerstörten Gesellschaft, wird damit aus der Welt geschafft. Dies könnte ja die Erkenntnis gegenwärtiger Verhältnisse und Interessen beleben.

Ad 4.

Viele Psychologinnen und Psychologen beziehen sich heute wieder auf den Reichs-Philosophen Heidegger, der sich von einer wirklichen Begründung menschlicher Probleme abgewendet hatte und sie zu bloßen Ereignissen machte, in denen sich das Sein eines jenseitigen Ganzen, das heile Leben, das eigentliche Heil, zum persönlichen Schicksal als "Seins-Geschick" "lichten" würde. Die Konflikte der Menschen in ihren zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen wie auch internationalen Beziehungen werden auf diesem Hintergrund entgegen jeder wirklichen Praxis nur noch als Gegebenheiten eines Weltganzen begriffen, als Ausfluss einer höheren Dynamik, einer kosmischen Ordnung. Die unterstellte und unter isolierten Lebensbedingungen einfühlbare Fiktion einer Ganzheit aus dem Jenseits aller Beziehungen vermittelt naturhafte, esoterische Ordnung, die "gesunde Vernunft des Ganzen", die durch Wirklichkeit gestört ist. Solche gestörten Verhältnisse sind auf ihre "gesunde Vernunft" zurückzuführen und durch Versöhnung mit ihrer wesentlichen Natur wieder anzugleichen. Für Psychologie und Philosophie werden Versöhnungsbedarf und Ausgleich zum Regelprinzip ihrer Interventionen, weil die Suche nach wirklichen Konfliktlösungen immer weniger erfolgreich zu sein scheint, bzw. weil die Individualgeschichte zu einer sich selbst erklärenden und klärenden Geschlossenheit gebracht wird.

Die psychologische Identitätsbildung des psychopopulistischen Mainstreames verläuft heute über ein Subjekt der Versöhnlichkeit. Es ist dadurch wirksam, dass es

- sich auf höhere Ursache, auf ein Grundprinzip des menschlichen Lebens als Grundordnung natürlicher Gesundheit beruft,

- Identität erzeugt, indem es an sie appelliert und wirkliche Konfliktursachen als fremde Beeinflussung natürlicher Identität (Ordnung) absondert,

- ein allgemeines Subjekt der Seele ausmacht (Archetypus), das zur Grundlage seelischer Selbstbehauptung als eine Art Volksseele allgemein bestimmend wird.

Ad 5.

Von Heidegger wurde durch die Kritik des Humanismus dessen Ende als eine Widersinnigkeit seiner Begrifflichkeit festgestellt, und damit die widersinnigen Verhaftung der Philosophie in ihren Sophismus zum absoluten Sophismus gebracht, zum Vorwurf an die Menschen, der Wahrheit des Seins nicht Folge zu leisten ("Seinsvergessenheit"). So wird philosophisches Selbstverständnis zu einer unendlichen und unendlich beliebigen und geistig mächtigen Beziehung auf das weltliche Geschehen. Philsophie bestimmt die gegebene Lebenspraxis, indem sie diese als menschliches Versagen interpretiert. Ohne einen wirklichen Bezug zu ihr wird sie im Wahrheitsanspruch einer Lösung derer Probleme zum allgemeinen Bezugspunkt. Die Folgen sind katastrophal für das philosophische Denken selbst. Es wird zum Instrumentarium einer Weltbewältigung, deren Sinn unter aller Wirklichkeit und diese in ihrer Kritik dadurch affirmiert, dass sie sie totalisiert (Heilserwartung als Aufhebung von Wirklichkeit für wirkliche Aufhebungsprozesse).

Aus der Kritik des Humanismus folgerte Peter Sloterdijk (wie auch schon Heidegger) eine Rückbesinnung auf Platon und Diogenes, deren Weltverständnis "ungestört" von humanen Grundprinzipien (z.B. Unverletztlichkeit der Person und des Körpers) waren und von daher den Anforderungen der kommenden Zeit gerechter werden könnten (z.B. Züchtung des vollkomenen Menschen). Der heutige Mensch nämlich sei eine Art Unglück der Natur, eine Frühgeburt, die noch biotechnisch behandelt werden müsse.

Ad 6.

Die Selbstreflektion der westlichen Welt hat für sich aus einer Vereinigung von ideologischen, psychologischen und philosophischen Strömungen das Selbstverständnis der "reiferen Kultur" (Huntington) entwickelt, das auch weitgehend in Deutschland geteilt wird. Hier wurden wieder mal besonders markante Formulierungen für militärische Eingriffe geschaffen (vergl. den "Menschenrechtsintervenismus" von Fischer), und niemand fühlt sich der "Sache näher", als ein Deutscher, der weiß was "das Leiden an der Tyrannei" ausmacht: - und auch der Dank an die "Befreier" aus dem Westen. Das Ineinssetzen vom deutschen Niedergang und der amerikanischen Intervention im Freiheitsverständnis des Westens verlangt enorme Kraftanstrengung (siehe z.B. Dresden) und Miskreditierung der wirklichen Opfer (z.B. auch der Russen), gehört aber inzwischen zu den Selbstverständlichkeiten (so, als ob die Zerstörung des Dritten Reichs nicht der ganze Prozess des 2. Weltkriegs gewesen war).

Die Folge solcher Heroisierung sind Kulturchauvinismus, Abschottung, Fremdenhass und letztlich Beteiligung am "Kampf der Kulturen", wenn auch mit anderem Interesse als die USA und vielleicht auch "nur" in den kulturellen Hilfetrupps (Sanitätsdienste, Befriedungsdienste, Polizeibereitschaft). Doch gerade dies bringt ja europäische Kultur in alle Welt und macht mit fremder Kultur, was ihr zufolge sein muss: Versöhnung mit dem großen Geist des Westens, des Geldes. Es schafft hierfür Märkte und löst mit dem Waffensturm gegen das sogenannte Böse dieser Kulturen nicht nur deren Vernichtung aus, sondern bewirkt zugleich mit der Vernichtung von Waffen einen erneuten Produktionsschub von Waffen, welche die Staatskasse zum Produktivitätsfaktor gegen die kapitalistische Krise bestimmt.

Die Menschen werden sowohl weltweit, wie auch in Deutschland zunehmend nur innerhalb der Alternative angesehen, sich entweder im Glück eines objektiv oder kosmisch definierten Lebensplans einzufinden – oder solchen Ordnungen unterworfen zu werden. Dieses Selbstverständnis funktioniert letztlich nur militärisch. Und von daher ist die deutsche Selbstverständigung analog zur derzeitigen Entwicklung eines Weltverständisses der Westkulturen. Um sich dem entgegenzustellen, muss als erstes das Selbstverständnis zu einem menschlichen Verstand, zur Notwendigkeit menschlicher Selbstreflektion gebracht werden. Dies geschieht praktisch in der Kritik der geistigen und politischen Mächte, die sie sich unterwerfen. Kulturkritik ist hierbei an erster Stelle notwendig.

 

Wolfram Pfreundschuh