Norbert Trenkle

Gebrochene Negativität

Anmerkungen zu Adornos und Horkheimers Aufklärungskritik

 

Radikaler als in der Dialektik der Aufklärung ist die Aufklärung vor ihr nie und auch nach ihr kaum je kritisiert worden. Das macht ihre andauernde Aktualität aus und die zwischen begeisterter Identifikation und wütender Abwehr schwankende Faszination, die sie bis heute ausübt. Offenbar markiert die DdA eine Grenze der Kritik, vor der das bürgerliche Bewusstsein zurückschreckt, weil es sich sonst selbst ganz grundsätzlich in Frage stellen müsste. Sogar den beiden Autoren des Buches waren die Konsequenzen ihres eigenen Denkens nie ganz geheuer. Während Horkheimer schließlich sogar wieder in den Schoß von Aufklärung und westlicher Demokratie zurückkehrte, hat Adorno die Kritik zwar nie zurückgenommen, dennoch finden sich auch bei ihm, in seinem späteren Werk, deutliche Bremsspuren. Im Grunde genommen ist aber die DdA selbst schon das Dokument einer Kritik, die sich immer wieder partiell zurücknimmt, weil sie vor sich selbst erschrickt. Ihre argumentative Bewegung ist wenigstens teilweise eine, die nicht in der Dialektik der Sache liegt, sondern sich dieser sogar entgegenstemmt. Ich möchte versuchen, dies hier nachzuweisen und die Gründe dafür aufzudecken – als notwendige Vorbedingung dafür, die Kritik der Aufklärung in voller Konsequenz zu Ende zu denken

 

1.

Im Kern zielt Horkheimers und Adornos Kritik der Aufklärung auf den Formalismus der Vernunft wie er am reinsten bei Kant entwickelt ist, also auf die Gleichgültigkeit der Vernunft gegenüber jeglichem bestimmten Inhalt und der damit gesetzten Unterwerfung des Stoffs unter die Form. In diesem Formalismus liegt die Hybris des Subjekts gegenüber dem Objekt begründet, die zugleich sein eigenes Gefängnis ist. Solange das Objekt, das im wesentlichen identisch mit der äußeren und (vor allem) der inneren Natur gesetzt wird, nur als zu Unterwerfendes erscheint, kann sich auch das Subjekt nicht vom blinden Zwang der zweiten Natur, der Herrschaft, befreien. Die formalistische Vernunft enthüllt sich also als herrschaftliches Prinzip, als das Gegenteil von Emanzipation. Und genau darin ist sie ihrem scheinbaren Kontrahenten, der Gegenaufklärung oder dem Irrationalismus, aufs Engste verwandt. Diese sind keinesfalls das "ganz Andere", schon gar nicht ein Überbleibsel vor-aufklärerischen Denkens, sondern stellen die dunkle Rückseite der Vernunft dar, sind untrennbar mit ihr verbunden.

Die "dunklen Schriftsteller" der bürgerlichen Epoche haben insofern, wie Horkheimer und Adorno zu Recht hervorheben, letztlich nur ausgesprochen, was in der Aufklärung als Konsequenz enthalten ist. Deshalb hat das Bürgertum sie stets tabuisiert, verleugnet und gehasst:

"Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben, hat den Hass entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen. Anders als der logische Positivismus nahmen beide die Wissenschaft beim Wort" (DdA, S. 107). Und etwas weiter vorne heißt es: "Die dunklen Schriftsteller des Bürgertums haben nicht wie seine Apologeten die Aufklärung durch harmonistische Doktrinen abzubiegen getrachtet. Sie haben nicht vorgegeben, dass die formalistische Vernunft in einem engeren Zusammenhang mit der Moral als mit der Unmoral stünde. Während die hellen das unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat, von bürgerlicher Gesellschaft und Herrschaft schützten, sprachen jene rücksichtslos die schockierende Wahrheit aus." (DdA, S. 106).

Diese Einsicht ist natürlich ein glatter Affront für alle Bannerträger der Aufklärung, die uns bis heute weismachen wollen, dass die moderne Vernunft den Gipfel der menschlichen Entwicklung, des "Fortschritts" und der Humanität darstellt. Das Urteil fällt vernichtend aus. Oder was sollte noch an der Aufklärung zu retten sein, wenn sich aus ihrer Vernunft kein grundsätzliches Argument gegen Mord vorbringen lässt und sie in einem unlöslichen Bündnis mit der Untat steht? Es ist häufig angemerkt worden, dass diese Sätze unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen geschrieben worden sind. Daher der Pessimismus. Das ist zwar richtig, doch erklärt es gerade nicht das, was es vorgibt: Denn gerade angesichts des historischen Glücksfalls einer starken militärisch-politischen Allianz, die im Namen der Aufklärung (interpretiert als Freiheit und Demokratie auf der einen und als Sozialismus auf der anderen Seite) die nationalsozialistische Barbarei bekämpfte, hätte es durchaus nahegelegen, auch philosophisch die Vernunft von der Kritik auszunehmen. Dass Horkheimer und Adorno dennoch konsequent in ihrem Denken blieben, kann gar nicht genug gewürdigt werden (1).

Schauen wir uns ihre Argumentation etwas genauer an. Der enge Zusammenhang der formalistischen Vernunft mit ihrer dunklen Rückseite erscheint darin, dass die Gleichgültigkeit gegenüber dem bestimmten Inhalt mit einer konsequenten Rationalisierung der Handlungsvollzüge gepaart ist. Paradigmatisch zeigen Horkheimer und Adorno dies am Beispiel de Sade:

"Vernunft ist das Organ der Kalkulation, des Plans, gegen Ziele ist sie neutral, ihr Element ist die Koordination. Was Kant transzendental begründet hat, die Affinität von Erkenntnis und Plan, die der noch in den Atempausen durchrationalisierten bürgerlichen Existenz in allen Einzelheiten den Charakter unentrinnbarere Zweckmäßigkeit aufprägt, hat mehr als ein Jahrhundert vor dem Sport Sade schon empirisch ausgeführt" (DdA, S. 80).

Vom Standpunkt der formalistischen Vernunft aus ist es prinzipiell gleichgültig, ob eine Fabrik organisiert, Fahrrad gefahren oder ein Mensch systematisch gefoltert und gequält wird. Kants Versuche, das eine vom anderen zu unterscheiden, scheitern, wie Horkheimer und Adorno völlig zu Recht zeigen, an der inneren Logik seines eigenen Systems:

"Das Werk Sades, wie dasjenige Nietzsches bildet dagegen die intransingente Kritik der praktischen Vernunft, der gegenüber die des Alleszermalmers selbst als Revokation des eigenen Denkens erscheint. Sie steigert das szientifische Prinzip ins Vernichtende. Kant hatte freilich das moralische Gesetz in mir schon so lang von jedem heteronomen Glauben gereinigt, bis der Respekt entgegen Kants Versicherungen bloß noch eine psychologische Naturtatsache war, wie der gestirnte Himmel über mir eine physikalische. ... Tatsachen aber gelten dort nichts, wo sie nicht vorhanden sind" (DdA, S. 85).

Besonders deutlich wird dies am Kantschen Gebot der Apathie, wonach der Mensch sich auf keinen Fall von seinen Gefühlen, Neigungen und Empfindungen leiten lassen dürfe, sondern einzig und allein dem "Sittengesetz" zu folgen habe, also dem abstrakten, transzendentalen, von jeder Sinnlichkeit gereinigten Formprinzip, der obersten Maxime der praktischen Vernunft: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (KdpV S. 140). Bei der Befolgung dieses Prinzips können Gefühle und Neigungen nur störend sein, denn sie richten sich aufs Einzelne, Besondere und nicht aufs Abstrakte, Allgemeine; weil sie schwankend und unsicher sind müssen sie gnadenlos ausgemerzt werden. Die Art des Gefühls spielt dabei keine Rolle. Ob Hass oder Liebe, Lust am Quälen oder Mitleid, alles verfällt gleichermaßen dem Verdikt des "Unreinen" und "Pathologischen" (KdpV, S. 125) (2). So bemerkt Kant ausdrücklich:

"Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Teilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegten Maximen in Verwirrung, und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein" (KdpV, S. 248). Und an anderer Stelle heißt es: "Die Tugend also, sofern sie auf innere Freiheit begründet ist, enthält für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich ... von seinen Gefühlen und Neigungen sich nicht beherrschen zu lassen, (der Pflicht der Apathie) hinzukommt: weil ohne dass die Vernunft die Zügel der Regierung in die Hände nimmt, jene über den Menschen den Meister spielen" (Metaphysische Anfänge der Tugendlehre, zit. nach DdA, S. 86).

In der "Pflicht der Apathie" trifft sich Kant mit de Sade ebenso wie mit Nietzsche, die sich in dieser Hinsicht fast identisch äußern. Für letzteren ist das Mitleid "schädlicher als irgendein Laster" (Umwertung aller Werte, zit. nach DdA, S. 88); es gilt ihm als perfide Erfindung des Christentums um die "Starken" davon abzuhalten, das zu tun, was ihnen qua "Natur" zusteht, nämlich die "Schwachen" zu unterwerfen und mit ihnen nach Belieben zu verfahren.

"Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äußere, dass sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feind und Widerstand und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig, als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äußere" (Genealogie der Moral, zit. nach DdA, S. 89).

Was Nietzsche hier halluziniert, ist selbstverständlich alles andere als ein archaischer Herrschaftswille, sondern ein höchst moderne Ausdruck der inneren Disposition des entfesselten kapitalistischen Konkurrenzsubjekts. Etwas weniger pathetisch aber keinesfalls weniger kriegerisch findet sich Ähnliches in unzähligen Managementhandbüchern und sozialdarwinistischen Propagandapamphleten des Liberalismus und Neoliberalismus. Die Anrufung der Natur ist, wie immer im bürgerlichen Denken (selbstverständlich auch bei Kant (3)), tatsächlich nur die mystifizierte und unbewusste Affirmation der herrschenden Ordnung und ihrer Gesetze des sekundären Dschungels. (4) Es ist die "zweite Natur" des Werts, die selbstzweckhafte Verwertungsbewegung, die den Menschen die "Pflicht zur Apathie" auferlegt, nämlich die absolute Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Inhalt und den weiterreichenden Folgen ihres Handelns und vor allem gegenüber den nur noch als Konkurrenten wahrgenommenen anderen Menschen. Der damit entfesselten Dynamik von Gewalt, Destruktivität und Inhumanität hat die formale Vernunft nichts entgegenzusetzen, denn sie ist ihr inhärent. Jeder Versuch, dies zu tun, etwa Kants Ansinnen, das Mitleid durch den Grundsatz der "allgemeinen Wohlerzogenheit gegen das menschliche Geschlecht" zu ersetzen, bleibt selbst der Logik verhaftet, die Wirklichkeit unter abstrakt-allgemeine Prinzipien zu subsumieren und muss daher fehlschlagen:

"Aufklärung lässt sich nicht täuschen, in ihr hat das allgemeine vor dem begrenzten Faktum, die umspannende Liebe vor der begrenzten, keinen Vorzug. Mitleid ist anrüchig" (DdA, S. 92).

Es ist diese Logik, die Aufklärung und Gegenaufklärung im Innersten verbindet. Deutlich wird dies, wo Nietzsche sich scheinbar am schroffsten von Kant abgrenzt, nämlich in der Ablehnung des allgemeingültigen, transzendentalen Gesetzes der Vernunft. Gerade hier trifft er sich mit ihm unwillkürlich auf innigste Weise:

"Er leugnet freilich das Gesetz, aber er will dem ‚höheren Selbst' angehören, nicht dem natürlichen, sondern dem mehr-als-natürlichen. Er will Gott durch den Übermenschen ersetzen, weil der Monotheismus, vollends seine gebrochene christliche Form, als Mythologie durchschaubar geworden sei. Wie aber im Dienste dieses höheren Selbsts die alten asketischen Ideale als Selbstüberwindung‚ zur Ausbildung der herrschenden Kraft' von Nietzsche gepriesen werden, so erweist sich das höhere Selbst als verzweifelter Versuch zur Rettung Gottes, der gestorben sei, als die Erneuerung von Kants Unternehmen, das göttliche Gesetz in Autonomie zu transformieren, um die europäische Zivilisation zu retten, die in der englischen Skepsis den Geist aufgab. Kants Prinzip‚ alles aus der Maxime seines Willens als eines solchen zu tun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebenden zum Gegenstand haben könnte', ist auch das Geheimnis des Übermenschen. Sein Wille ist nicht weniger despotisch, als der kategorische Imperativ" (DdA, S. 103).

Dass diese Einsichten Horkheimers und Adornos im Pessimismus und in der Resignation enden müssen, scheint unausweichlich. Denn wenn die Aufklärung selbst durch und durch von Herrschaft durchdrungen und von ihrem anti-aufklärerischen Gegenpol nicht zu trennen ist: Wie soll da gesellschaftliche Emanzipation noch möglich sein? Streng genommen wäre diese nicht einmal mehr denkbar, und es bliebe sogar unerklärlich, wieso eine Kritik des irrationalen Bestehenden überhaupt möglich sein soll, wenn alles vernunftgeleitete Denken notwendig selber in Irrationalität umschlagen muss. Dieser radikale Pessimismus resultiert jedoch nicht, wie häufig unterstellt, aus einer zu weitgehenden Kritik der Aufklärung, sondern im Gegenteil daraus, dass Horkheimer und Adorno einige der wesentlichen Denkvoraussetzungen und Basisannahmen der Aufklärung teilen, dass sie diese nicht thematisieren und in Frage stellen, sondern teils explizit, teils implizit selbst zugrunde legen. Insofern gehen sie in ihrer Kritik eben nicht weit genug; und das ist dann auch der wesentliche Grund dafür, weshalb sie sie immer wieder zurücknehmen müssen, um sich selbst vor den pessimistischen Konsequenzen ihres Denkens zu schützen. Erst das Aufzeigen dieser blinden Flecken könnte einen möglichen Ausweg aus den Aporien der DdA eröffnen, ohne das dort begonnene Projekt im Geringsten zu relativieren.

 

2.

Das Grundproblem besteht darin, dass Horkheimer und Adorno mit einem historisch sehr unspezifischen Begriff von Aufklärung und Vernunft operieren. Aufklärung setzen sie im Grunde identisch mit vernünftigem Denken schlechthin, mit dem, was die Befreiung des Menschen von der Mythologie ermöglicht habe. Sie wird in unverkennbarer Anlehnung an Max Weber als "Entzauberung der Welt" gefasst, wie es schon im ersten Satz der DdA heißt: "Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.... Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stützen" (DdA, S. 7; Hervorheb. N.T.). Wie immer jedoch, wenn transhistorisch oder historisch unspezifisch (und damit zumindest implizit anthropologisch) argumentiert wird, handelt es sich dabei um eine Projektion – um eine Rückprojektion bürgerlicher Verhältnisse in die gesamte vorangegangene Geschichte. In diesem Fall ist es der spezifisch moderne Begriff von Vernunft und Aufklärung, der wie selbstverständlich transhistorisch gefasst und rückwirkend universalisiert wird.

"Man kann sich oft schlecht des Eindrucks erwehren, bei Adorno verschwänden die spezifischen Züge der einzelnen historischen Zeitalter vor dem Wirken einiger immergleicher und seit dem Beginn der Geschichte existierenden Prinzipien, wie der Herrschaft und des Tauschs. Die Dialektik der Aufklärung verlegt die Entstehung der Identifikationsbegriffe in eine sehr entfernte Vergangenheit. ... Die Logik geht aus den ersten Beziehungen hierarchischer Unterordnung hervor (DdA, S. 23), und zusammen mit dem in der Zeit identischen ‚Ich' entsteht die Identifikation der Dinge mittels ihrer Einordnung in eine Gattung. Die Behauptung: ‚Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis Russell. Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten' (DdA, S. 11) bedeutet, dass in vorsokratischer Zeit wie heute dieselbe ‚Aufklärung' waltet. Die Verdinglichung zu überwinden müsste Adorno deshalb eigentlich für unmöglich halten, da er diese in den tiefliegendsten Strukturen der Gesellschaft verwurzelt sieht" (Jappe 1995, S. 164 f.).

In der Konkretisierung ihrer Kritik nehmen Horkheimer und Adorno (in der DdA aber auch in den meisten späteren Schriften) freilich immer die klassische Aufklärungsphilosophie des bürgerlichen Zeitalters oder ihre Nachfolger und gegenaufklärerischen Kritiker aufs Korn, haben also eine ganz bestimmte historische Epoche vor Augen. Deutlich wird dies insbesondere in der Zuspitzung der Kritik auf den Formalismus der Vernunft bei Kant. Zugleich soll diese Kritik aber auch die vorangegangenen Epochen und deren Denken treffen. Doch dieser umfassende, transhistorische Anspruch bleibt uneingelöstes Programm – und dies nicht zufällig, denn der Versuch ihn einzulösen, würde seinen projektiven Charakter sichtbar machen, wie schon der berühmte Abschnitt über Odysseus, in dem dieser als (wenn auch noch teilweise im Mythos befangener) Prototyp des bürgerlichen Charakters beschrieben wird (5).

Natürlich leugnen Horkheimer und Adorno nicht, daß Vernunft und Aufklärung sich im Laufe eines historischen Prozesses erst zu dem entwickelt haben, was sie in der bürgerlichen Epoche wurden und sind. Aber dieser Prozeß, so wie sie ihn beschreiben oder vielmehr andeuten, trägt selbst ganz unübersehbar die Züge der aufklärerisch-bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Er wird im Grunde als teleologische Entwicklung beschrieben, als das Zu-Sich-Kommen von etwas, das bereits im ersten Aufblitzen der Vernunft oder eigentlich schon im ersten Schritt der Ablösung von der Natur angelegt war (denn auch in Magie und Mythos soll Aufklärung in nuce schon enthalten gewesen sein, weshalb jene auch ihrerseits in dieser fortleben).

Der zentrale Punkt ist überhaupt die misslungene Ablösung von der Natur, die in Herrschaft umgeschlagen sei, ein Gedanke der der gesamten DdA zugrunde liegt (vgl. auch Wiggershaus 1988, S. 372 – 376). Um nur eine von vielen Stellen zu zitieren:

"Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen" (DdA, S. 15)

Dabei geht es Horkheimer und Adorno ausdrücklich nicht einfach um einen Versuch, den Übergang vom Tier zum Menschen und das vor- und frühgeschichtliche Verhältnis der Menschen zur Natur nachzuvollziehen – was letztlich nicht viel mehr als Spekulation sein kann, da die Anfänge der Menschheit nun einmal im vorgeschichtlichen Dunkel liegen. Vielmehr meinen sie, hier den alles entscheidenden Ausgangspunkt, das Fundament der bisherigen Menschheitsgeschichte und damit auch der bisherigen geistesgeschichtlichen Entwicklung gefunden zu haben.

Am Anfang steht ein säkularisierter Sündenfall, ein Sündenfall, der als Preis der Menschwerdung wohl unvermeidlich war, der aber alles Spätere in seinen Bann zieht. Die Geschichte wird interpretiert als fortschreitende Unterwerfung der äußeren und (vor allem) inneren Natur, ein Prozess, aus dem sich auch die sich beständig verlängernde und verdichtende Herrschaft des Menschen über den Menschen ableiten lässt. So heißt es in einem Fragment im letzten Teil der DdA:

"Eine philosophische Konstruktion der Weltgeschichte hätte zu zeigen, wie sich trotz aller Umwege und Widerstände die konsequente Naturherrschaft immer entschiedener durchsetzt und alles Innermenschliche integriert. Aus diesem Gesichtspunkt wären auch Formen der Wirtschaft, der Herrschaft, der Kultur abzuleiten" (DdA, S. 200; Hervorheb. N.T.).

Das Fragment trägt den Titel "Zur Kritik der Geschichtsphilosophie", aber es trägt ihn nicht ganz zu Recht. Denn was hier explizit vorgelegt wird (implizit liegt es der ganzen DdA und prinzipiell auch dem späteren Denken von Horkheimer und Adorno zugrunde) ist nichts anderes als ein geschichtsphilosophischer Entwurf, der ganz in der Tradition der Aufklärung steht. Der Unterschied besteht nur in ihrer resignativen Wendung. Nicht mehr der glorreiche Siegesmarsch des Fortschritts wird beschrieben, sondern der düstere Gang des Verhängnisses. Befreiung von Herrschaft ist allenfalls noch eine aufblitzende Möglichkeit, die nicht mehr begründet werden kann, auf jeden Fall aber nicht mehr notwendiger Endpunkt der Geschichte. So richtig und wichtig die Kritik des Fortschrittsdenkens auch ist, sie bleibt doch in ihm befangen; indem sie bloß seinen Optimismus (die angebliche Notwendigkeit der Befreiung) verwirft, reproduziert sie negativ das ihm zugrunde liegende geschichtsphilosophische Konstrukt:

"Weil Geschichte als Korrelat einheitlicher Theorie, als Konstruierbares nicht das Gute, sondern eben das Grauen ist, so ist Denken in Wahrheit ein negatives Element" (DdA, S. 201).

Schon die teleologische Geschichtsinterpretation als solche ist eine urbürgerliche Projektion. Ob sie positiv oder negativ gewendet wird, ist demgegenüber sekundär. (6) Die Vorstellung, dass die Menschheitsgeschichte auf einen bestimmten Endzustand hin voranschreitet, beherrscht und angetrieben von einem unwiderstehlichen in ihrem Inneren angelegten Zwang, ist nur allzu deutlich geprägt von der Rastlosigkeit, dem Expansionsdrang und der Konkurrenzdynamik der modernen kapitalistischen Gesellschaft.

Die Rückprojektion dieses Verhältnisses auf die gesamte Geschichte ist selbst (unbewusster) Ausdruck der Hybris und des universalistischen, herrschaftlichen Anspruchs der warenproduzierenden Moderne, der nicht einmal die vorbürgerliche Geschichte verschont. Wenn diese schon rückwirkend nicht mehr real unterworfen werden kann, so muss sie wenigstens ideologisch vereinnahmt werden. Denn der Wert, ganz wie der monotheistische Gott, duldet nichts anderes neben sich. (7) Bei Horkheimer und Adorno trägt dieses Vereinnahmung ein negatives Vorzeichen. Die formalistische Vernunft und die mit ihr einhergehende spezifisch moderne Form der Zurichtung von (äußerer und innerer) Natur begreifen sie nicht als wesentliches Moment eines ganz bestimmten, von Ware und Wert konstituierten gesellschaftlichen Verhältnisses, sondern umgekehrt als konsequente Fortsetzung und Zuspitzung einer Tendenz, deren Ursprung eben jene misslungene Ablösung von der Natur sein soll.

"Denken entstand im Zuge der Befreiung aus der furchtbaren Natur, die am Schluss ganz unterjocht wird" (DdA, S. 95). Und: "Um der abergläubischen Furcht vor der Natur zu entgehen, hat sie (die Vernunft; N.T.) die objektiven Wirkungseinheiten und Gestalten ohne Rest als Verhüllungen eines chaotischen Materials bloßgestellt und dessen Einfluss auf die menschliche Instanz als Sklaverei verflucht, bis das Subjekt der Idee nach zur einzigen unbeschränkten, leeren Autorität geworden war" (DdA, S. 81). (8)

Was Horkheimer und Adorno hier verkennen, ist, dass sie damit wiederum eine der Legitimationsideologien der warenproduzierenden Gesellschaft bloß invers reproduzieren, wonach nämlich die moderne Form des Naturverhältnisses in gerader Linie aus dem vom ersten Augenblick der Geschichte an geführten Kampf des Menschen gegen die Natur direkt abgeleitet werden könne. Demzufolge stellen die modernen Naturwissenschaften und die darüber vermittelte Naturbeherrschung die logische Konsequenz einer Entwicklung dar, die mit der Erfindung des Faustkeils begonnen und mit der Gentechnologie ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Was offiziell der Rechtfertigung aller Schandtaten dient, die im Namen der Wissenschaft und des "Fortschritts" vollbracht werden, wenden Horkheimer und Adorno zwar kritisch, der projektive Charakter der Argumentation wird aber nicht durchbrochen, sondern auf diese Weise sogar noch einmal bestätigt und verfestigt. Die argumentative Schleife besteht auch hier wieder darin, dass hinter der allgemeinsten Voraussetzung von Kultur und Gesellschaft, der Abgrenzung des Menschen von der Natur, die spezifisch-historischen und qualitativ durchaus verschiedenen Formen verschwimmen, in denen sich dies in der bisherigen Geschichte vollzogen hat. Die neuzeitliche Form des Naturverständnisses und -verhältnisses ist jedoch keineswegs bloß die Verlängerung und Zuspitzung einer mehr oder weniger kontinuierlichen und selbst-identischen Entwicklung seit die Menschen aufhörten Affen zu sein, sondern stellt im Gegenteil einen radikalen Bruch mit allem Bisherigen dar. Das können wir freilich nur verstehen, wenn wir sie als Reflex der gesellschaftlichen Form und Produktionsweise begreifen, die sich seit Beginn der europäischen Neuzeit durchgesetzt hat und nicht umgekehrt, wie Horkheimer und Adorno behaupten. (9)

Wie Böhme und Böhme (1985) gezeigt haben ist deshalb auch die ungeheure Angst die das bürgerliche Individuums vor der inneren und äußeren Natur empfindet keinesfalls einfach das verdrängte Erbe einer urzeitlichen "abergläubischen Furcht vor der Natur" (wie es Horkheimer und Adorno ausmalen) und der Urgrund für die Herausbildung der modernen Naturbeherrschung, sondern vielmehr gleichursprünglich mit dieser; sie ist zugleich das Produkt und die inner-subjektive Triebkraft eines ganz spezifischen historischen Prozesses.

"Zwischen (neuzeitlicher; N.T.) Vernunft und der von ihr beherrschten inneren und äußeren Natur besteht eine Angstspannung. Diese wird im vernunftorientierten Selbstbewusstsein und erst recht im philosophischen Diskurs verleugnet. Die reale Angst, die den vorrationalen Menschen in seinem Verhalten zu Naturmächten, zu überwältigenden eigenleiblichen Regungen und zu potentiell bedrohlichen Gegenübern erfüllt, weicht einer irrationalen inneren Angst vor dem Verdrängten, die nur aufhebbar scheint um den Preis des Untergangs des Selbst, in welchem der Mensch sich in Besitz genommen zu haben vermeint" (Böhme/Böhme 1985, S. 18) (10)

Nicht nur die moderne Vernunft ist also historisch-spezifisch, auch ihr "Anderes", ihre abgespaltene "Rückseite", die ebenso begehrt wie gefürchtet wird, ist es. Sie bildet sich in dem Maße, wie neuzeitliche Vernunft ihr Terrain absteckt und alles ausschließt, was sie (vorerst) nicht subsumieren kann und daher zum "Natürlichen" und "Irrationalen" erklärt, ein Prozess, der konstitutiv mit der inneren und äußeren Kolonisierung und mit der Herausbildung des modernen, bürgerlichen Geschlechterverhältnisses verbunden ist. (11) Die "Frau" und der "Wilde" verdichten sich zu den zentralen Projektionsfiguren dessen, was in der Vernunft keinen Platz findet:

"Neuzeitliche Vernunft setzt ihre Grenzen selbst, ihr Territorium reicht so weit, wie sie sich ihr Anderes aneignen kann. Die Ausbildung der neuzeitlichen Vernunft ist deshalb ein Prozess der Demarkation, Selektion und Umschichtung. Wir nennen ihn Aufklärung, als handelte es sich bloß um einen Klärung darüber, was ist. In Wahrheit geht es um die Definition von Wirklichkeit ... Die (vorneuzeitliche; N.T.) Vernunft respektierte ihr Anderes wie der Kaiser den Papst. Erst mit der Aufklärung lässt Vernunft alles, was aus ihr herausfällt, zum Irrationalen werden" (Böhme/Böhme 1985, S. 13 f.).

Wird diese historische Spezifik der neuzeitlichen Vernunft, der radikale Bruch, den sie gegenüber anderen Formen der menschlichen Reflexion im allgemeinen und des Naturverhältnisses im besonderen darstellt, nicht gesehen, dann kann, wie bei Horkheimer und Adorno das Grauen des 20. Jahrhunderts tatsächlich nur als die Kulmination eines von Anbeginn in der Menschheitsgeschichte angelegten – was nicht unbedingt heißen muss: im strengen Sinne notwendigen und unausweichlichen – Verhängnisses erscheinen. Da gesellschaftliche Herrschaft sich angeblich aus der Herrschaft des Menschen über die Natur ableiten lässt, gerinnt der entwickelte Kapitalismus zur historisch fortgeschrittensten Erscheinungsform einer transhistorischen Wesenhaftigkeit: als Höhepunkt rationalisierter Herrschaft ist er zugleich Ausdruck äußerster Naturverfallenheit, wobei Faschismus und Nationalsozialismus ihrerseits die extremste Zuspitzung dieser Tendenz darstellen. Freilich verhält es sich auch hier wieder so, dass de facto das moderne Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnis – oder vielmehr eine bestimmte Interpretation desselben – in die Geschichte zurückprojiziert und ihm darüber eine negative überzeitliche Dignität verliehen wird. Zugleich verschwimmen seine Konturen im grauen Nebel einer dunklen Vorgeschichte.

Gerade diese im Kern transhistorische und letztlich anthropologisierende Sichtweise teilen Horkheimer und Adorno mit dem Aufklärungsdenken, das ja bekanntlich die bürgerliche Gesellschaft zu "Gesellschaft überhaupt" hypostasiert und einem imaginierten Naturzustand entgegenstellt. Nicht-kapitalistische Kulturen und Gesellschaften erscheinen demgegenüber bestenfalls als logische Vorläufer der Moderne, als Zwischenschritte auf dem Weg zur höchsten Stufe der Menschheitsentwicklung und als mehr oder weniger "zurückgeblieben" (wie es etwa die zwischen Rassismus und Exotismus schwankende Bezeichnung "Naturvolk" ausdrückt).

Alle negativen Momente und Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft gelten demnach als Erbe des Naturzustandes, der in unverkennbarer Projektion der gnadenlosen kapitalistischen Konkurrenz als grausamer Kampf Aller gegen Alle phantasiert wird. Und da die Zivilisation angeblich immer nur ein dünner Firnis ist, der über diesem gewalttätigen Naturzustand liegt, bedarf es beständiger Anstrengung den "alten Adam" im Zaum zu halten. Jeder Ausbruch von Gewalt und Irrationalismus kann auf diese Weise ideologisch externalisiert werden, als Einbruch der "Barbarei", einer angeblich vorzivilisatorischen Natur oder prämodernen Halbkultur, und rechtfertig jede nur denkbare "zivilisatorische Anstrengung" – notfalls auch mit Bomben und Raketen.

Nun greifen Horkheimer und Adorno zwar diese plump-dreiste Selbstrechtfertigung der Moderne vehement an, indem sie zeigen, dass der Irrationalismus nur die Rückseite der Aufklärungsvernunft und diese also ohne jenen nicht zu haben ist. Da sie jedoch selbst bürgerliche Vernunft und Herrschaft in die Geschichte zurückprojizieren, reproduzieren auch sie letztlich das abendländische Zerrbild der "Barbarei" – wenn auch in reflektierterer Gestalt:

"Die verhasste übermächtige Lockung, in die Natur zurückzufallen, ganz auszurotten, das ist die Grausamkeit, die der misslungenen Zivilisation entspringt, Barbarei, die andere Seite der Kultur" (DdA, S. 101).

"Barbarei", in welche Zivilisation beständig umzukippen droht, ist bei Horkheimer und Adorno zwar nicht unmittelbar erste Natur, gründet aber, wie die Vernunft selbst, in der misslungenen Ablösung von ihr. Über Kant und die Aufklärung gehen sie insofern hinaus, als sie im Rückgriff auf die Freudsche Kulturtheorie das Verhältnis zwischen Kultur und Natur als ein dialektisches entwickeln. Die "innere Natur" wird im Prozess der Verdrängung durch "Kultur" selbst verwandelt, bleibt also nicht das was sie mal war oder gewesen sein könnte; sie ist also keinesfalls "ursprünglich":

"Die urgeschichtlichen Verhaltensweisen, auf welche Zivilisation ein Tabu gelegt, hatten unter dem Stigma der Bestialität in destruktive transformiert, ein unterirdisches Dasein geführt. Juliette (de Sades "Juliette"; N.T.) betätigt sie nicht mehr als natürliche, sondern als die tabuierten... Wenn sie so die primitiven Reaktionen wiederholt, sind es darum nicht mehr die primitiven sondern die bestialischen" (DdA, S. 85 f.).

So richtig diese Einsicht einerseits ist, weil sie das von der Vernunft Verdrängte ins Blickfeld rückt, in ihrem enthistorisierten Kultur- und Zivilisationsbegriff, bleibt sie letztlich doch im Kosmos des Aufklärungsdenkens befangen. (12) Und das

hat erhebliche Konsequenzen. Bricht man mit dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, behält aber ihr Geschichtskonstrukt negativ gewendet bei, ergibt sich daraus zwangsläufig ein totaler Pessimismus, wie wir ihn ja bei vielen Gegenaufklärern oder etwa auch beim späten Freud finden; die Möglichkeit der Befreiung von Herrschaft und Fetischverhältnis muss dann endgültig ad acta gelegt werden. Um dem zu entkommen, dürfen Horkheimer und Adorno die Verschränkung von Vernunft und Irrationalismus nicht konsequent zu Ende denken. In der Dialektik der Aufklärung soll trotz allem und fast schon ihre eigene Kritik dementierend ein emanzipatorisches Potential enthalten sein, dass immer noch seiner Verwirklichung harrt. In diesem Sinne heißt es schon in der Vorrede zur DdA:

"... die Aufklärung muss sich auf sich selbst besinnen, wenn die Menschen nicht vollends verraten werden sollen. Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnungen ist es zu tun" (DdA, S. 4).

Liest man diese Sätze bloß in dem allgemeinen Sinne, dass kritisch-reflexives Denken die Bedingung der Möglichkeit von gesellschaftlicher Emanzipation sei, wäre wenig dagegen einzuwenden. Doch da Horkheimer und Adorno die Aufklärung, das heißt die neuzeitliche Vernunft, implizit mit reflexivem Denken schlechthin gleichsetzen, ist damit auch deren Rehabilitierung vorgezeichnet, wie sie in der weiteren theoretischen Entwicklung der beiden Autoren auf unterschiedliche Weise stattfinden sollte.

 

3.

Hatte schon Horkheimer in der Kritik der instrumentellen Vernunft die Aufklärung im Grunde gegen die eigene Kritik in der DdA in Schutz genommen, so ist auch Adornos Negative Dialektik dieses Bemühen anzusehen. Ihr berühmter erster Satz kann in diesem Sinne als Programm gelesen werden: "Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward". Zwar nimmt Adorno die Kritik an der formalen Vernunft und der ihr immanenten Herrschaftslogik keinesfalls zurück, doch zugleich versucht er beständig, emanzipatorische Potentiale darin ausfindig zu machen, um die Aufklärung auf diese Weise doch noch zu retten. Die Aporien, in die er sich dabei verwickelt, lassen sich anhand der Auseinandersetzung mit dem Kantschen Freiheitsbegriff im dritten Teil der ND sehr gut verdeutlichen.

Sehr zu Recht hebt Adorno zunächst die ungeheure Repressivität des Kantschen Freiheitsbegriffs hervor, der alle Züge der bürgerlichen Herrschaft trägt: "Freiheit heißt bei Kant soviel wie die reine praktische Vernunft, die ihre Gegenstände sich selber produziert; diese habe zu tun ‚nicht mit Gegenständen, sie zu erkennen, sondern mit ihrem eigenen Vermögen, jene (der Erkenntnis derselben gemäß) wirklich zu machen'. Die darin implizierte absolute Autonomie des Willens wäre soviel wie absolute Herrschaft über die innere Natur. Kant rühmt: ‚Consequent zu sein, ist die größte Obliegenheit eines Philosophen und wird doch am seltensten angetroffen.' Das unterschiebt nicht nur die formale Logik der reinen Konsequenz als höchste moralische Instanz, sondern zugleich die Unterordnung jeglicher Regung unter die logische Einheit, ihren Primat über das Diffuse der Natur, ja über alle Vielfalt des Nichtidentischen; jene erscheint im geschlossenen Kreis der Logik stets als inkonsequent. Trotz der Auflösung der dritten Antinomie bleibt die Kantische Moralphilosophie antinomisch: sie vermag, gemäß der Gesamtkonzeption, den Begriff der Freiheit einzig als Unterdrückung vorzustellen.

Sämtliche Konkretisierungen der Moral tragen bei Kant repressive Züge. Ihre Abstraktheit ist inhaltlich, weil sie vom Subjekt ausscheidet, was seinem reinen Begriff nicht entspricht. Daher der Kantische Rigorismus" (ND, S. 253) Wurde jedoch in der DdA noch Kants innere Verwandtschaft mit den "dunklen Schriftstellern" der Gegenaufklärung hervorgehoben, so fällt das Urteil nun deutlich milder aus. Die an sich vernichtende Kritik, dass Kant "Freiheit einzig als Unterdrückung" und Zwang fassen kann, wird insofern zurückgenommen, als dies nicht den eigentlichen Kern seines Denkens ausmachen, sondern bloß auf einen Widerspruch darin verweisen soll: "die Paradoxie von Kants Freiheitslehre" (ND, S. 231). Demnach steht Kant im besonderen, wie die Aufklärung im allgemeinen für die Idee der Freiheit ein, doch sei er letztlich davor zurückgeschreckt, sie im Sinne einer wirklichen Befreiung von Herrschaft zu Ende zu denken. Dennoch lebe diese Idee als gebrochene und verratene, als übriggebliebenes widersprüchliches Moment, als "Residuum" in seinem Denken fort. Adornos Bestreben geht deshalb dahin, diesen Rest zu enthüllen und gegen die herrschaftliche Logik des Rationalismus selbst zu verteidigen. Die (angebliche) innere Widersprüchlichkeit des Kantschen Freiheitsbegriffs versucht er dabei aus einer historischen Logik heraus zu begründen:

"Seit dem siebzehnten Jahrhundert hatte die große Philosophie Freiheit als ihr eigentümlichstes Interesse bestimmt; unterm unausdrücklichen Mandat der bürgerlichen Klasse, sie durchsichtig zu begründen. Jenes Interesse jedoch ist in sich antagonistisch. Es geht gegen die alte Unterdrückung und befördert die neue, welche im rationalen Prinzip selbst steckt. Gesucht wird eine gemeinsame Formel für Freiheit und Unterdrückung: jene wird an die Rationalität zediert, die sie einschränkt, und von der Empirie entfernt, in der man sie gar nicht verwirklicht sehen will. Die Dichotomie bezieht sich auch auf fortschreitende Verwissenschaftlichung. Mit ihr ist die Klasse verbündet, soweit sie die Produktion fördert, und muss sie fürchten, sobald sie den Glauben, ihre bereits zur Innerlichkeit resignierte Freiheit sei existent, antastet. Das steht real hinter der Antinomienlehre" (ND, S. 213 f.).

Auffällig ist zunächst, dass auch diese Historisierung wieder ganz unübersehbar die Züge der aufklärerischen Geschichtsphilosophie beziehungsweise von dessen Erbe, dem "Historischen Materialismus" trägt. Die bisherige Geschichte wird als eine Abfolge verschiedener Gestalten von Klassenherrschaft gefasst; das allgemeine Movens ist dabei die Produktivkraftentwicklung, die hier bei Adorno für die Ablösung von der Natur steht. Im Hinblick auf diese unterstellte, transhistorische Entwicklungslogik erscheint die bürgerliche Klasse als relativ progressiv, doch soll sie letztlich, um ihre eigene Herrschaft zu sichern, die Freiheit durch Verbannung in eine idealisierte Sphäre der Innerlichkeit unschädlich gemacht und im realen gesellschaftlichen Leben liquidiert haben. Kant hat als Repräsentant dieser Klasse demnach in seinem Denken schon vorweg genommen was später auch real gesellschaftlich begangen wurde:

"Kant, wie die Idealisten nach ihm, kann Freiheit ohne Zwang nicht ertragen; ihm schon bereitet ihre unverbogene Konzeption jene Angst vor der Anarchie, die später dem bürgerlichen Bewusstsein die Liquidation seiner eigenen Freiheit empfahl" (ND, S. 231).

Was diese Perspektive von der des traditionellen Marxismus unterscheidet ist zunächst vor allem der "kritische Pessimismus" (Postone 1993, S. 84 ff.) – auch wenn die Töne hier etwas weniger düster als in der DdA klingen. Prinzipiell jedenfalls liegt die Inversion der bürgerlichen Geschichtsmetaphysik auch Adornos Spätwerk zugrunde. Es ist der immergleiche, in verschiedenen Variationen wiederkehrende Grundgedanke, dass bereits im ersten Schritt der Ablösung des Menschen von der Natur eine Dialektik von Rationalität und Irrationalität, von Freiheit und Herrschaft angelegt gewesen sei, die die gesamte weitere Entwicklung bestimmte. Unterfüttert Adorno andernorts diese Sichtweise durch die (selbst schon resignative) Freudsche Kulturtheorie, so bezieht er sich hier konsequenterweise auf jene Seite der Marxschen Theorie, die noch ganz dem aufklärerischen Fortschrittsmythos verpflichtet blieb, gibt ihr jedoch eine pessimistische Wendung. (13) Prinzipiell erscheint demnach die bürgerliche Gesellschaft als historisch notwendige Stufe auf dem Weg der Befreiung von (Klassen-)Herrschaft und Unterdrückung. Aber der Glaube an eine Klasse, die das Erbe des Bürgertums antritt und den nächsten, entscheidenden Schritt hin zum Sozialismus oder Kommunismus tut, dieser Glaube, den der traditionelle Marxismus säkular-religiös zelebrierte, ist ad acta gelegt. Weil das emanzipatorische Potential einer Befreiung von Naturzwang und Herrschaft, das in der modernen Produktivkraftentwicklung enthalten gewesen und für das die bürgerliche Klasse als deren sozialer Träger eingestanden sei, nicht realisiert wurde, habe statt dessen eine Abdichtung von Herrschaft stattgefunden. Das deute sich bei Kant bereits an, wenn er Freiheit nur als Gesetz im Sinne des kategorischen Imperativs denken können:

"Dass Kant Freiheit eilends als Gesetz denkt, verrät, dass er es so wenig streng mit ihr nimmt wie je seine Klasse. Schon ehe sie das industrielle Proletariat fürchtete, verband sie, etwa in der Smith'schen Ökonomie, den Preis des emanzipierten Individuums mit der Apologie einer Ordnung, in der einerseits die invisible hand für den Bettler sorge wie für den König, während andererseits in ihr noch der freie Konkurrent des – feudalen – fair play sich zu befleißigen habe" (ND, S. 248).

Diese Interpretation des Kantschen Freiheitsbegriffs, als zumindest potentiell emanzipatorisch oder als Durchgangsstadium eines möglichen, aber nie realisierten historischen Fortschritts menschlicher Emanzipation, wird dem Wortlaut bei Kant jedoch keinesfalls gerecht. Wenn dieser ausdrücklich von der Freiheit als einer "strengen Kausalität", als einem Gesetz und einer "Nötigung" spricht, dann ist dies durchaus konsequent gedacht. Konsequent freilich nicht im Hinblick auf eine bestimmte Klassenlage oder transhistorische Entwicklungslogik, sondern auf die allen bürgerlichen Sozialkategorien vorausgesetzte – weil konstitutive – Form der kapitalistischen Gesellschaft: die Waren- oder Wertform. Sie ist es ja, die den Menschen ihre Gesetze aufzwingt, als handle es sich dabei um ewig gültige Naturgesetze, obwohl es doch in Wahrheit ihre eigenen gesellschaftlichen Beziehungen sind, die ihnen in der Form scheinbar unverrückbarer "Sachgesetzlichkeit" als vermeintlich fremde Macht gegenübertreten und sie beherrschen. An diesen von Marx entschlüsselten Fetischismus der Warenform kommt Kant (ebenso wie später Hegel) mit seinen idealistischen Kategorien sehr viel näher heran – wenn auch keinesfalls in kritischer Absicht – als die späteren marxistischen Versuche sie materialistisch zu deuten. Was letzteren regelmäßig entging, ist, dass der Idealismus dem Wesen der bürgerlichen Gesellschaft durchaus zu Recht metaphysischen Charakter zuschreibt; nur handelt es sich dabei nicht um eine Transzendenz im idealistischen Sinne, sondern um die Real-Metaphysik der Wert- und Warenform. Dass Kant die oberste Maxime der praktischen Vernunft, den kategorischen Imperativ, als reine, unempirische, von jedem Inhalt entleerte und jedem bestimmten Inhalt vorausgesetzte Form fasst, muss als idealistischer Reflex dieses Fetischverhältnisses verstanden werden. Freiheit, so wie er sie versteht, ist dabei die notwendige Bedingung der Möglichkeit dieses objektivierten und unerbittlichen Gesetzes der Vernunft; nur wenn sie gegeben ist, kann ein Wille, der per se freier Wille sein muss, angenommen werden. Und dieser Wille ist bei Kant daher auch selbst aufs Strengste bestimmt:

"Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; ... Da der Begriff einer Kausalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muss: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muss vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. ... was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als die Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei" (GzMdS, S. 81 f.)

Freiheit ist bei Kant ihrem Wesen nach also Selbstbeherrschung; und das heißt nichts anderes, als Herrschaft der bürgerlichen Subjekte über sich selbst unter dem vorausgesetzten Diktat der Waren- und Wertform. Daher verleiht er ihr völlig zu Recht strengen Gesetzescharakter; das steht durchaus nicht im Widerspruch zur inneren Logik seiner Theorie. Denn die Kantsche Freiheit ist eben nicht Freiheit von Herrschaft überhaupt, sondern notwendiges Strukturmoment einer ganz spezifischen Form von Herrschaft: einer abstrakten Herrschaft, in der alle Menschen in der ein oder anderen Weise zu Funktionskategorien und Charaktermasken (Marx) des Werts geworden und insofern immer schon unselbständig und unfrei gegenüber diesem gesellschaftlichen Prinzip sind. Ihre "Autonomie", die Kant so sehr betont, ist nichts anderes als der Zwang, sich permanent selbst den allgemeinen Funktionsgesetzen der Warenform zu unterwerfen. Das "Gesetz der Freiheit", das sie erst als solche bürgerlichen Subjekte konstituiert hat, befiehlt nichts anderes, als die Gleichgültigkeit (die "Apathie") gegenüber Gefühlen, sinnlichen Bedürfnissen, persönlichen Beziehungen und partikularen Regungen, soweit sie nicht mit der Logik von Verwertung und Konkurrenz übereinstimmen. Das hat Adorno in ähnlicher Weise selbst durchaus festgestellt. Ganz ausdrücklich schreibt er sogar in einer seiner letzten Aufsätze mit dem Titel "Dialektische Epilegomena zu Subjekt und Objekt": "In gewissem Sinn ist, was freilich der Idealismus am letzten zugestünde, das transzendentale Subjekt wirklicher, nämlich für das reale Verhalten der Menschen und die Gesellschaft, die daraus sich bildete, bestimmender als jene psychologischen Individuen, von denen das transzendentale abstrahiert ward und die in der Welt wenig zu sagen haben; die ihrerseits zu Anhängseln der sozialen Maschinerie, am Ende zur Ideologie geworden sind. Der lebendige Einzelmensch, so wie er zu agieren gezwungen ist und wozu er auch in sich geprägt wurde, ist als verkörperter homo oeconomicus eher das transzendentale Subjekt denn der lebendige Einzelne, für den er sich doch unmittelbar halten muss. Insofern war die idealistische Theorie realistisch und brauchte sich vor Gegnern, welche ihr Idealismus vorwarfen, nicht zu genieren. In der Lehre vom transzendentalen Subjekt erscheint getreu die Vorgängigkeit der von den einzelnen Menschen und ihrem Verhältnis abgelösten, abstrakt rationalen Beziehungen, die am Tausch ihr Modell haben. Ist die maßgebende Struktur der Gesellschaft die Tauschform, so konstituiert deren Rationalität die Menschen; was sie für sich sind, was sie sich dünken, ist sekundär" (Adorno 1969, S. 745).

Damit dementiert Adorno im Grunde seine eigene Behauptung in der Negativen Dialektik, Kant habe es mit der Freiheit nicht so streng genommen. Denn das unterstellt einen Freiheitsbegriff, den Kant niemals vertreten hat und der sich daher auch in seinem Denken nicht nachweisen lässt, so sehr man sich auch bemühen mag. Unter den Voraussetzungen, die seinem Denken zugrunde liegen hat niemand die bürgerliche Freiheit strenger und konsequenter gedacht, als Kant. Der Widerspruch seines Denkens liegt darin, dass es trotzdem nicht aufgehen will, und nicht darin, dass es seinen emanzipatorischen Anspruch nicht einlöst. Gemessen an einem emphatischen Begriff der Befreiung, als Befreiung von Herrschaft überhaupt, können und müssen die Kantschen Kategorien freilich als repressiv bezeichnet werden. Doch das ist etwas anderes, als zu behaupten, Kant habe seinen Freiheitsbegriff verraten. Wenn Adorno dies dennoch tut, dann liegt es wohl daran, daß vor dem Hintergrund seiner – letztlich aufklärerischen – Geschichtsphilosophie die Aufklärung im allgemeinen und das Kantsche Denken im besonderen als ein wie auch immer verkrüppeltes Durchgangsstadium des emanzipatorischen Fortschritts erscheinen muss, selbst dort noch, wo die eigene kritische Einsicht sich im Grunde dagegen sträubt.

 

4.

Dieser Hemmschuh der Kritik wird gerade dort wirksam, wo Adorno ganz nahe an die Entschlüsselung des Idealismus und der Metaphysik heranreicht. Deutlich zeigt sich das auch in der ND, wo er in Anlehnung an Sohn-Rethel das Kantsche Transzendentalsubjekt als idealistischen Reflex von Arbeit, Herrschaft und Äquivalenzprinzip dechiffriert. So sehr er damit zwar einen ganz entscheidenden Schritt über die Aufklärung und den traditionellen Marxismus mit seinem kruden Materialismus hinaus tut (14), gelingt es ihm trotzdem nicht, sich aus dessen Denkuniversum zu lösen. Das Problem besteht zunächst darin, dass Adorno – wie auch schon Sohn-Rethel (vgl. Kurz 1987) – einen Begriff von Arbeit zu Grunde legt, wonach diese mit dem Stoffwechselprozess mit der Natur identisch sein soll. Das Spezifische der Kategorie der Arbeit, dass sie nämlich eine kapitalistische Realabstraktion darstellt und als solche in der warenproduzierenden Gesellschaft (und nur in dieser) den gesellschaftlichen Zusammenhang konstituiert und vermittelt, entgleitet ihm, weil er sie teils explizit, teils implizit in die Geschichte zurückprojiziert und nicht-kapitalistischen Gesellschaften unterschiebt. Das aber boykottiert letztlich den Versuch das Kantsche Transzendentalprinzip auf den Warenfetisch zurückzuführen: "Alfred Sohn-Rethel hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass in ihm (dem transzendentalen Prinzip; N.T.), der allgemeinen und notwendigen Tätigkeit des Geistes, unabdingbar gesellschaftliche Arbeit sich birgt. Der aporetische Begriff des transzendentalen Subjekts, eines Nichtseienden, das doch tun; eines Allgemeinen, das doch Besonderes erfahren soll, wäre eine Seifenblase, niemals aus dem autarkischen Immanenzzusammenhang von notwendig individuellem Bewusstsein zu schöpfen. Diesem gegenüber stellt er jedoch nicht nur das Abstraktere, sondern vermöge seiner prägenden Kraft auch das Wirklichere vor. Jenseits des identitätsphilosophischen Zauberkreises lässt sich das transzendentale Subjekt als die ihrer selbst unbewusste Gesellschaft dechiffrieren. Ableitbar ist noch solche Unbewusstheit.

Seitdem die geistige Arbeit von der körperlichen sich schied im Zeichen der Herrschaft des Geistes, der Rechtfertigung des Privilegs, musste der abgespaltene Geist mit der Übertreibung schlechten Gewissens eben jenen Herrschaftsanspruch vindizieren, den er aus der These folgert, er sei das Erste und Ursprüngliche, und darum angestrengt vergessen, woher sein Anspruch kommt, wenn er nicht verfallen soll. Zuinnerst ahnt der Geist, dass seine stabile Herrschaft gar keine des Geistes ist, sondern ihre ultima ratio an der physischen Gewalt besitzt, über welche sie verfügt. Sein Geheimnis darf er, um den Preis des Untergangs, nicht Wort haben. Die Abstraktion, die, auch nach dem Zeugnis extremer Idealisten wie Fichte, das Subjekt zum Konstituens überhaupt erst macht, reflektiert die Trennung von der körperlichen Arbeit, durchschaubar durch Konfrontation mit dieser. [...] Was seit der Kritik der reinen Vernunft das Wesen des transzendentalen Subjekts ausmacht, Funktionalität, die reine Tätigkeit, die sich in den Leistungen der Einzelsubjekte vollzieht und diese zugleich übersteigt, projiziert freischwebende Arbeit aufs reine Subjekt als Ursprung. [...] Als äußerster Grenzfall von Ideologie rückt das transzendentale Subjekt dicht an die Wahrheit. Die transzendentale Allgemeinheit ist keine bloße narzisstische Selbsterhöhung des Ichs, nicht die Hybris seiner Autonomie, sondern hat ihre Realität an der durchs Äquivalenzprinzip sich durchsetzenden und verewigenden Herrschaft. Der von der Philosophie verklärte und einzig dem erkennenden Subjekt zugeschriebene Abstraktionsvorgang spielt sich in der tatsächlichen Tauschgesellschaft ab." (ND, 178 – 180)

Die transhistorische Rückprojektion der bürgerlichen Formen von Arbeit, Herrschaft und Vernunft wird hier nicht aufgebrochen, sondern zu einem in sich geschlossenen Ganzen abgerundet. Das Bindemittel hierfür ist das Tausch- oder Äquivalenzprinzip, in dem sowohl identifikatorisches Denken, als auch Herrschaft zusammenschießen, und dessen Begriff deshalb auch notwendigerweise ebenso unscharf und unspezifisch bleibt, wie die Kategorien, auf die er bezogen wird. Allenfalls vage bleibt die Abgrenzung zwischen archaischem Gabentausch, einfachem Warentausch an den Rändern und in den Poren nicht-kapitalistischer Gesellschaften und dem auf allgemeiner Warenproduktion basierenden Äquivalententausch unter dem Diktat der Selbstverwertung des Werts. Die ersteren erscheinen nur als logische Vorstufen der letzteren, ganz so wie die nicht-kapitalistischen Formen von Herrschaft und Vernunft bloß Schritte innerhalb eines vorgezeichneten historischen Prozesses sein sollen.

"Wenn Adorno einmal nur von Arbeitsteilung, dann nur von Tauschgesellschaft spricht, implizit aber immer beide Seiten in einem Zusammenhang mit der Genesis der Form der Identität sieht, dann kann man dies nur damit erklären, dass er das Spezifikum des über den Austausch der Arbeitsprodukte als Waren konstituierten, bewußtlosen Gesellschaftszusammenhangs nicht begriffen hat. Das heißt ..., dass er die im Tauschverhältnis angelegte Entwicklung zum Kapitalverhältnis nicht sieht, worin die ‚Tauschgesellschaft' erst zu ihrem Begriff kommt" (Müller 1976, S. 193; Hervorheb. im Original). (15)

Den spezifischen Bruch, den der moderne Äquivalententausch (und das darin enthaltene Identitätsprinzip) gegenüber verschiedenen anderen historischen Formen des Tauschs darstellt, sieht Adorno nicht. Deshalb zeichnet er ein Zerrbild der Geschichte, das nicht nur außereuropäische Kulturen und Gesellschaften ausblendet, sondern auch die gesamte abendländische Entwicklung unter die bürgerliche Gesellschaft und ihre Kategorien subsummiert. Entscheidend ist hier, dass wiederum die projektive Perspektive den Blick auf das wesentliche verstellt. Wenn Adorno das Kantsche Transzendentalsubjekt auf die Teilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit zurückführt, dann ist das nicht nur philosophiegeschichtlich mehr als fragwürdig (Kant erscheint dann nämlich – zusammen mit Hegel – als zwingende Konsequenz und logischer Höhepunkt der gesamten abendländischen Philosophie seit der griechischen Antike); zugleich unterlegt er eine ganz in der Tradition der Aufklärung und des Marxismus stehende Herrschaftsontologie. Ist der Urgrund der Herrschaft, Adorno zufolge, die misslungene Ablösung von der ersten Natur, so soll ihr wesentliches, historisch übergreifendes gesellschaftliches Merkmal, die Aneignung des Mehrprodukts durch eine herrschende Klasse auf Kosten der großen arbeitenden Bevölkerungsmehrheit sein. Nun hat zwar jede Form der Herrschaft in der Geschichte bestimmte Methoden der Abschöpfung von Reichtum und der Ausbeutung entwickelt (Tribute, Steuern, Abgaben, Sklaverei etc.); aber dies zum entscheidenden Kriterium von Herrschaft zu machen, darauf konnte nur das bürgerliche Denken verfallen. Es ist Projektion seines eigenen abstrakten Herrschaftszusammenhangs der sich über Arbeit und Warenproduktion und den damit gesetzten Zwang der Verwertung konstituiert.

Der (unbewusste) Sinn dieser Projektion ist zweifelsohne eine Apologie des Kapitalismus. Nicht nur wird sein konstitutives Prinzip zu einem überhistorischen, allgemein-menschlichen oder sogar natürlichen Prinzip geadelt und damit über jeden Zweifel erhoben. Zugleich kann ideologisch (z.B. in der Politischen Ökonomie) die Marktwirtschaft als die Befreiung von Herrschaft dargestellt werden, weil hier ja angeblich keine Ausbeutung mehr stattfinde und jeder einzelne Mensch genau in dem Maße am gesellschaftlichen Reichtum beteiligt werde, wie es seiner persönlichen Leistung entspreche. Der traditionelle Marxismus hat dieses Weltbild bekanntlich nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern bloß immanent als Trugbild kritisiert. Demnach verschleiere der Äquivalententausch an der Marktoberfläche nur die tatsächlich in der Produktionssphäre stattfindende Ausbeutung und Ungleichheit. Die bürgerliche Gesellschaft erscheint so ihrem Wesen nach als eine weitere Variante der Klassengesellschaft, in der die herrschende Klasse sich das Mehrprodukt auf besonders geschickte Weise aneignet: in der Gestalt des Mehrwerts und unter Vorspiegelung allgemeiner Egalität, die in Wirklichkeit nicht existiert. Postone (1993, S. 64 ff.) hat deshalb zu Recht darauf insistiert, dass der traditionelle Marxismus trotz seiner ständigen Orientierung auf den Produktionsprozess im Grunde eine zirkulationsfixierte Kritik des Kapitalismus formuliert hat, die ganz im Kosmos der traditionellen Politischen Ökonomie befangen blieb. Ziel der Revolution war daher auch nicht die Befreiung von der Arbeit, sondern die Befreiung der Arbeit von der Ausbeutung und die Verwirklichung der von der bürgerlichen Gesellschaft versprochenen aber verratenen Werte von Freiheit und Gleichheit. Auch Adorno bleibt durchaus dieser Perspektive verpflichtet. Was ihn entscheidend vom traditionellen Marxismus abhebt, ist, dass er die Reduktion der Kritik auf die Ausbeutung in der Produktion aufbricht und sie auf den kapitalistischen Gesellschaftszusammenhang als ganzen erweitert. Der Begriff der Tauschgesellschaft ist hierfür von entscheidender Bedeutung und doch bleibt auch er im marxistischen Denkuniversum verwurzelt. War die marxistische Produktionsborniertheit paradoxerweise das Produkt einer zirkulativ verkürzten Begrifflichkeit von Arbeit und Herrschaft, so vollzieht Adorno die Wendung hin zu einer auf die Zirkulationssphäre orientierten Kritik, ohne jedoch diese mitgeschleppte Begrifflichkeit zu überwinden. Dadurch gelangt er zwar zu Einsichten, die mit einer simpel gestrickten klassensoziologischen Ausbeutungsperspektive niemals möglich gewesen wären, dennoch machen sich auch bei ihm die Grenzen des traditionellen Marxismus immer wieder geltend (16):

"Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität. Würde indessen das Prinzip abstrakt negiert; würde als Ideal verkündet, es solle, zur höheren Ehre des irreduzibel Qualitativen, nicht mehr nach gleich und gleich zugehen, so schüfe das Ausreden für den Rückfall ins alte Unrecht. Denn der Äquivalententausch bestand von alters her gerade darin, dass in seinem Namen Ungleiches getauscht, der Mehrwert der Arbeit appropriiert wurde.

Annullierte man simpel die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von Monopolen und Cliquen. Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, dass das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch. Hat ihn die kritische Theorie als den von Gleichem und doch Ungleichem enthüllt, so zielt die Kritik der Ungleichheit in der Gleichheit auch auf Gleichheit, bei aller Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das nichts qualitativ Verschiedenes toleriert. Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus." (ND, S. 149 f.; Hervorheb. N.T.)

Auffällig ist hier zunächst die völlig ungebrochene Übernahme des marxistischen Standards, wonach der Äquivalententausch eine Fiktion sei und in Wirklichkeit bloß dazu dient, die Auspressung des Mehrwerts zu verschleiern; eine Interpretation, die Adorno hier sogar noch weit in die Geschichte zurückdatiert ("von alters her") um die projektive Parallelschaltung von Herrschaft und Tausch aufrechterhalten zu können. Damit zusammen hängt der Appell an ein angebliches Versprechen, das im Tausch enthalten und bisher noch nicht eingelöst worden sei. Zwar sieht Adorno die Verwirklichung des "freien und gerechten Tauschs" nicht als Endpunkt der Befreiung, aber doch (ganz im Sinne teleologischer Geschichtsmetaphysik) als historisch notwendiges Durchgangsstadium. Das Ganze läuft auf die paradoxe Forderung hinaus, die Ideale des Kapitalismus, die er selbst nicht einlösen könne, zu verwirklichen, um sie auf diese Weise zugleich aufzuheben. Diese etwas merkwürdige Dialektik ist entgegen Adornos eigenem Anspruch nicht negativ, sondern auf paradoxe Weise positiv und damit nolens volens affirmativ gegenüber der modernen Warengesellschaft. Im Kern läuft sie darauf hinaus, die kapitalistischen Zwänge doch noch mit den Prädikaten "fortschrittlich und zivilisatorisch" zu versehen, obwohl sie schon als Zwänge erkannt und kritisiert worden sind. Es handelt sich also um den etwas verschämt kaschierten Versuch, die Hegelsche Geschichtsteleologie doch noch zu retten, indem ein historisch Vorgefundenes zur historisch-logischen Notwendigkeit verklärt wird. Adorno sagt ja nicht bloß, daß auch in der Perspektive einer möglichen gesellschaftlichen Emanzipation gar nichts anderes übrig bleibt, als mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu rechnen, so wie sie in einer langen kapitalistischen Geschichte geworden und gemacht worden sind. Dagegen wäre natürlich nichts einzuwenden, denn es ist eine Selbstverständlichkeit; nichts zwingt aber dazu, dies auch noch geschichtsmetaphysisch zu erhöhen. Genau das tut Adorno jedoch zumindest implizit, wenn er in das Tauschprinzip und das damit verwandte Identifikationsprinzip ein uneingelöstes Versprechen von Emanzipation und "Rationalität" hineinliest. (17)

Dieses theoretische (oder eigentlich sogar vortheoretische) Apriori kommt Adorno bei seiner Interpretation des Kantschen Freiheitsbegriffs ständig in die Quere. Wenn Kant alles daran setzt, die Freiheit von jeder "empirischen Verunreinigung" zu befreien, dann läßt sich dies, wie schon gesagt, unschwer als idealistischer Reflex der absoluten Gleichgültigkeit der Wert- und Warenform gegenüber jeglichem bestimmten, besonderen Inhalt dechiffrieren; die "Autonomie des freien Willens" ist in Wahrheit die "Autonomie" des Werts, nämlich seine Selbstbezüglichkeit, die seine Gewaltsamkeit der empirisch-sinnlichen Welt gegenüber ausmacht. Adorno führt nun zwar einerseits die der formalen Vernunft inhärente Herrschaft, die "Unterjochung jeglicher Regung unter die logische Einheit" (ND, S. 253), auf das "Tauschprinzip" zurück. Andererseits will er jedoch ausgerechnet in Kants Bemühung, die Freiheit als streng transzendentale zu bestimmen, den Versuch erkennen, diese doch noch irgendwie vor den Zwängen der tauschgesellschaftlichen Realität zu retten:

"Die positive Freiheit ist ein aporetischer Begriff, ersonnen, um gegenüber Nominalismus und Verwissenschaftlichung das Ansichsein eines Geistigen zu konservieren. An zentraler Stelle der Kritik der praktischen Vernunft hat Kant zugestanden, worum es dieser geht, eben um die Rettung eines Residuums" (ND, S. 249 f.; Hervorheb. N.T).

Betrachten wir jedoch die von Adorno zitierte Referenzstelle etwas näher, kann diese Interpretation nicht standhalten. Kant schreibt dort: "Da dieses Gesetz aber unvermeidlich alle Causalität der Dinge, so fern ihr Dasein in der Zeit bestimmbar ist, betrifft, so würde, wenn dieses die Art wäre, wonach man sich auch das Dasein dieser Dinge an sich selbst vorzustellen hätte, die Freiheit als ein nichtiger und unmöglicher Begriff verworfen werden müssen. Folglich wenn man sie noch retten will, so bleibt kein Weg übrig, als das Dasein eines Dinges, so fern es in der Zeit bestimmbar ist, folglich auch die Causalität nach dem Gesetze der Naturnothwendigkeit blos der Erscheinung, die Freiheit aber eben demselben Wesen als Dinge an sich selbst beizulegen." (KdpV zit. in ND, S. 250)

 

Das Gesetz, auf das Kant sich hier zunächst bezieht, ist das selbst schon von ihm konstruierte Naturgesetz, dem alle sinnlichen Erscheinungen unterworfen sein sollen, worunter ja aus seiner Sicht auch die "innere Natur" des Menschen fällt, also alle seine sinnlichen Bedürfnisse, partikularen Regungen und Empfindungen. Gegenüber diesem unterstellten strengen Determinismus postuliert er nun ein ebenso strenges "Gesetz der Freiheit", das aber unter den vorausgesetzten Bedingungen, nur in einer von jeder Sinnlichkeit und Empirie gereinigten und insofern transzendentalen Sphäre der Vernunft seinen Platz haben kann. Das ist durchaus konsequent gedacht in den Kategorien des Kantschen Systems, das ja auf der strikten Entgegensetzung von "Vernunft" und "Natur" beruht, die daher auch strikt getrennten Sphären angehören müssen. Die Rede von der "Rettung" bezieht sich hier ganz eindeutig auf die Selbstbehauptung der "Autonomie des freien Willens" gegenüber dem "Gesetze der Naturnothwendigkeit" und ist deshalb nichts anderes als die metaphysische Grundlegung des Begriffs der "Freiheit". Es handelt sich also um den innersten Kern der Kantschen Theorie, um den Abschluss einer logischen Argumentationskette, die die Unterwerfung der Welt unter den abstrakten Formalismus des Werts legitimiert und durchzusetzen hilft. Adornos Interpretation zufolge soll die "Rettung" sich jedoch gerade umgekehrt auf die Rettung eines "Ansichseins" der Freiheit vor dem in den Kategorien des Zwangs formulierten und damit verratenen Freiheitsbegriff beziehen. Nichts liegt Kant aber ferner. Es handelt sich hier ganz eindeutig um ein Wunschdenken Adornos. Im Grunde fällt er damit hinter den Kantschen Idealismus zurück, statt ihn warenformkritisch aufzulösen. Anstatt den metaphysischen Charakter des Freiheitskonstrukts wie Kant streng auf die "Form eines Gesetzes überhaupt" zu beziehen und dies als den idealistischen Reflex des "automatischen Subjekts" zu dechiffrieren, legt Adorno an dieser Stelle eine ziemlich landläufige Interpretation des Idealismus vor, wie wir sie aus dem traditionellen Marxismus aber auch aus der links-demokratischen Kritik kennen. Danach habe die bürgerliche Gesellschaft ihre Ideale in ein Reich der Gedanken verbannt ("Die Gedanken sind frei"), weil sie diese nicht tatsächlich verwirklichen könne. Die Metaphysik des Kantschen Idealismus entspricht demnach also nicht einer bewußtlosen Real-Metaphysik des Warenfetischs, sondern ist "Ideologie" nur in dem platten Sinne, dass sie über die schlechte Wirklichkeit hinweglügt: "Freiheit ins Dasein zu zitieren, verhindert Kants Erkenntniskritik; er hilft sich durch Beschwörung einer Daseinssphäre, die zwar von jeder Kritik ausgenommen wäre, aber auch von jeglichem Urteil, was sie sei. Sein Versuch, Freiheitslehre zu konkretisieren, Freiheit lebendigen Subjekten zuzuschreiben, verfängt sich in paradoxalen Behauptungen" (ND, S. 251 f.). (18)

 

Die logische Konsequenz aus diesem konstatierten Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit wäre, jenes beim Wort zu nehmen und endlich die Gesellschaft tatsächlich danach auszurichten. Diese Konsequenz will Adorno zwar nicht einfach ziehen, aber da er sich von der ihr vorausgesetzten Denkfigur nicht ganz lösen kann, spukt sie als eine Art Schatten durch seine Argumentation. Zumindest die Möglichkeit von Befreiung soll sich in der Sphäre des Ideellen noch erhalten haben.

So vermeint er ausgerechnet dort, wo die Repressivität des Kantschen Denkens ihren harten Kern hat, einen Rest emanzipatorischen Potentials zu entdecken. Zum "intelligiblen Charakter", über den der Mensch laut Kant Anteil an der Sphäre der Vernunft hat, und der daher zwischen transzendentalem und empirischem Subjekt vermittelt, schreibt Adorno:

"Am Ende wäre der intelligible Charakter der gelähmte vernünftige Wille. Was dagegen an ihm für das Höhere, Sublimere, vom Niedrigen Unverschandelte gilt, ist wesentlich seine eigene Bedürftigkeit, die Unfähigkeit, das Erniedrigende zu verändern; Versagung, die sich zum Selbstzweck stilisiert. Gleichwohl ist nichts Besseres unter den Menschen als jener Charakter; die Möglichkeit, ein anderer zu sein, als man ist, während doch alle in ihrem Selbst eingesperrt sind und dadurch abgesperrt noch von ihrem Selbst. Der eklatante Mangel der Kantischen Lehre, das sich Entziehende, Abstrakte des intelligiblen Charakters, hat auch etwas von der Wahrheit des Bilderverbots, welches die nach-Kantische Philosophie, Marx inbegriffen, auf alle Begriffe vom Positiven ausdehnte. Als Möglichkeit des Subjekts ist der intelligible Charakter wie die Freiheit ein Werdendes, kein Seiendes. Er wäre verraten, sobald er dem Seienden durch Deskription, auch die vorsichtigste, einverleibt würde" (ND, S. 293 f.; vgl. ähnlich auch S. 292).

Die extreme Abstraktheit der Kantschen Begriffe, "das sich Entziehende" verweist jedoch nicht auf ein emanzipatorisches Potential, sondern ist dem Versuch geschuldet, die bürgerliche Form in ihrer ganzen affirmativen Konsequenz zu denken. Das gesamte Denken Kants ist darauf ausgerichtet, die Logik dieser Form auf die strengst mögliche idealistische Weise zu Ende zu denken. Wenn das nicht ohne Aporien gelingen mag, liegt es an zweierlei: Erstens daran, dass sich diese Logik letztlich nur fetischismuskritisch begreifen lässt, Kant jedoch als ihr Legitimations- und Durchsetzungsideologe auftritt; zweitens liegt es aber auch in der Sache selbst, daran dass die Wirklichkeit im identifizierenden Begriff und damit in der Wertform nicht aufgeht, so sehr diese auch ihren imperialistischen Anspruch geltend machen mag – bekanntlich einer der Grundgedanken von Adorno selbst (wenn auch freilich immer bezogen auf das historisch und begrifflich viel zu unspezifisch gefasste "Tauschprinzip"). Richtig ist zwar, dass dieses Nicht-Aufgehen im Denken Kants insofern enthalten ist, als dieser immerhin in der Ding-an-sich- Problematik noch das Verdrängte und Abgespaltene benennt, während Hegel seinerseits schon die Verdrängung verdrängt, wie Böhme und Böhme (19) zu Recht feststellen.

Enthalten ist es aber nur als rein Negatives, als das, was sich ärgerlicherweise dem Diktat der Form nicht beugen mag; der "unendliche Progressus" (KdpV, S. 206) benennt den Anspruch, die Grenzen immer weiter in Richtung auf totale Unterwerfung der sinnlichen Welt zu verschieben, was Kant bezeichnenderweise als die Annäherung an "ein Ideal der Heiligkeit" (ebd.) beschreibt. Tatsächlich jedoch wird jedoch dem Sachverhalt viel eher gerecht, was Hegel in zynischer Unschuld vermerkte: "Um so schlimmer für die Wirklichkeit".

Negative Dialektik hat diese gleichzeitig gelingende und misslingende Unterwerfung der Welt unter das Diktat des Werts in ihrer destruktiven Logik zu entschlüsseln, wie Adorno zu Recht postuliert. Wenn er jedoch ein "Ansichsein" von Freiheit in der Kantschen Metaphysik zu entdecken glaubt, dann wird er damit im Grunde seinem eigenen Verfahren untreu. Es sind die unaufgelösten Aporien seiner eigenen Begrifflichkeiten und deren Befangenheit in der aufklärerischen Geschichtsphilosophie, die Adorno dazu bringen, die Aufklärung gegen ihre innere destruktive Dialektik noch retten zu wollen. Wird Aufklärung jedoch nicht mit reflexivem Denken schlechthin gleichgesetzt, sondern als eine ganz spezifische, an eine bestimmte historische Fetischformation gebundene Form des Denkens – als neuzeitliche Vernunft – verstanden dann lässt sich diese auch in aller negativen Konsequenz kritisieren, ohne deshalb dem absoluten Pessimismus zu verfallen. Die "Begierde der Rettung", die Adorno Kant unterschiebt, ist in Wirklichkeit seine eigene.

Wenn sie fortlebt, dann nicht wegen Aufklärung und Verallgemeinerung der Warengesellschaft, sondern trotz ihr. Dass es der Aufklärung entgegen aller Anstrengung nicht gelingt, den Gedanken an Befreiung von Herrschaft auszulöschen, ist ihr nicht als Verdienst anzurechnen; es verweist nur auf ihre innere Unhaltbarkeit, darauf, dass sie an ihrem eigenen totalitären Anspruch katastrophisch scheitern muss, keinesfalls aber auf ein uneingelöstes Versprechen.

Norbert Trenkle

 

vergl. zur Adorno-Kritik auch den Aufsatz von Horst Müller in