Der nachstehende Aufsatz wurde entnommen aus:

Moderne- Nietzsche - Postmoderne, Hrg.v. Manfred Buhr, Berlin (DDR) 1990 (1)

Aspekte einer marxistischen Nietzsche-Kritik

von Hans Heinz Holz

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Nietzsche scheint geeignet zu sein, immer wieder Verwirrung zu stiften. Verwirrung ist es, wenn Marxisten heute so streiten, als gälte es, pro oder contra Nietzsche Partei zu ergreifen. Nietzsches Weltanschauung hat mit dem historischen Materialismus nichts gemein - auch nicht in einzelnen Aspekten, die man ohnehin nicht aus dem Kontext einer Weltanschauung, die per definitionem ein Ganzes ist, herauslösen dürfte. Gerade angesichts der von Lars Lambrecht dargestellten Nietzsche-Rezeption in der Arbeiterbewegung muß das mit Nachdruck betont werden. Eine Analyse der Wirkung Nietzsches in der Arbeiterbewegung würde auf die von anarchistischen über revisionistische bis zu nationalsozialistischen Tendenzen reichende Rolle einer Zersetzung des revolutionären Klassenbewußtseins durch die Übernahme von nietzscheanischen Gedanken führen. Um so wichtiger ist die Frage, aus welchen Gründen und Konstellationen auch theoretisch und politisch bewußte Sozialisten, ganz zu schweigen von den vielen »linken« Bürgerlichen, zeitweilig oder überhaupt der Verführungskraft Nietzsches erlagen. Und es ist weiter die Frage zu stellen, warum Nietzsche seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis heute als Katalysator spätbürgerlicher irrationalistischer Ideologeme wirken konnte - wobei diese katalysatorische Funktion meist gerade mit einer willkürlichen, historisch-philologische Genauigkeit ignorierenden Ausschlachtung seines Werks verbunden ist.

Nietzsche steht am Anfang einer Epoche, in der die bürgerliche Weltanschauung explizit mit sich selbst in Widerspruch geraten ist; die Normen der Aufklärung, der Humanität, des commune bonum und des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl waren nicht nur durch die Praxis des Kapitalismus nicht eingelöst worden, sondern denunzierten diese Praxis als das genaue Gegenteil ihres weltanschaulichen Anspruchs. Nietzsches Denken ist der gesteigerte Ausdruck dieses Selbstwiderspruchs, und als solcher hat es eine immense Wirkung gehabt - auf den Faschismus, aber eben auch auf eine unruhige kritische Linke. Gerade diese Ambiguität der Wirkung ist es, die Nietzsche für Marxisten zum Gegenstand ideologiekritischer, das heißt begreifender und nicht nur polemischer Untersuchung werden lassen muß. Was fasziniert 1900 und 1920 und wieder 1980 eine rebellische Jugend an Nietzsches Denken? Wie wird es, dank dieser Attraktivität, zum Medium politisch-weltanschaulicher Desorientierung? In welchen Verwandlungen und Verkleidungen versteckt sich diese Wirkung? Marxistische Analyse ist gefordert, damit der reaktionäre Charakter von Nietzsches Philosophie und ihre Instrumentalisierung als konterrevolutionäre Alternative zum Marxismus nicht nur entlarvt, sondern in ihrem Wirkungsmechanismus begriffen werden! (2)

Ist also im Prinzip der kompromißlosen Ablehnung von Nietzsches Philosophie durch Wolfgang Harich (3) beizupflichten, so keineswegs der sektiererisch-eifernden Form, in der er sie vorträgt. Kritische Auseinandersetzung, gerade auch mit den Gründen für die Faszination, die von Nietzsche ausgeht (und die Harichs Verdammungsspruch überhaupt nicht erkennen läßt und begreifbar macht), ist geboten - und deren Voraussetzung, wie die jeder Kritik, ist auch eine philologisch genaue Edition und Untersuchung der Quellenlage. Ob Nietzsche eine so immense Arbeit, wie sie das Lebenswerk Mazzino Montinaris darstellt, verdient, mag man persönlich in Frage stellen; die editorische Leistung selbst ist bewunderungswürdig und setzt Maßstäbe. Wir wissen heute dank Montinari und seiner Mitarbeiter von Nietzsches Gedankenabläufen und Produktionsmethoden mehr als von den meisten anderen Philosophen der Neuzeit. Diese Kenntnis zeigt uns, daß Harich gewiß fehlgeht, Nietzsche nicht ernst zu nehmen; dieser vermittelt, auch als Leidenstyp, durchaus den Eindruck subjektiver Redlichkeit, und darauf beruht in nicht geringem Maße seine Wirkung. Ihn ernst nehmen, heiße, »inständig für ihn werbend« zum »Enkelschüler der Elisabeth Förster-Nietzsche« zu werden - dieser Vorwurf, den Harich mir in seiner seit jeher maßlosen Neigung zur Polemik macht, ist zu absurd, als daß ich mich darauf einlassen müßte. Nietzsche und vor allem seiner Wirkung gegenüber bleibt man hilflos, wenn man ihn als hypochondrischen Simulanten, aufgeblasenen Kleinbürger, halbgebildeten Talmi-Philosophen abtut. An dieser Charakterisierung ist zwar sogar ein Stück Wahrheit - aber eben nur ein Stück, und es gibt andere Seiten an Nietzsche, ohne die sein Werk und seine Wirkung nicht zu verstehen sind. Das Ineinanderspiegeln dieser Facetten, die dennoch keine konsistente theoretische Einsicht ergeben und darum eben auch auf mannigfache Weise ausschlachtbar sind, muß Gegenstand einer systematischen Analyse, nicht einer polternden Polemik sein - damit die Polemik dann auf der Grundlage der Analyse wieder ihr gutes Recht bekomme.

Zu dieser Analyse gehört auch die Anerkennung und kritische Beurteilung von Nietzsches »ungewöhnlichen persönlichen Gaben«, die Georg Lukács als sein »besonderes antizipatorisches Feingefühl, eine Probleinempfindlichkeit dafür, was die parasitäre Intelligenz in der imperialistischen Periode braucht, was sie innerlich bewegt und beunruhigt«, herausgearbeitet hat. (4) Wir können mit allem Nachdruck festhalten, was Lukäcs als den »Doppelcharakter« Nietzsches bezeichnete, und daran ändert sich auch nichts, wenn wir die Darstellung, die er von Nietzsches Auffassungen gibt, für vergröbert, ja teilweise für falsch halten. An seiner Gesamtwertung, daß Nietzsche nicht zum Erbe gehört, das Marxisten anzutreten haben und aus dem sie etwas gewinnen könnten, läßt sich nicht rütteln.

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Aber immerhin gibt es Nietzsche, und wenn wir ein Werk, das faktisch in die geistige Wirklichkeit unserer nationalen Kultur gehört - wenn auch als Abschnitt jenes »Irrwegs«, den Alexander Abusch (5) einst aufgezeigt hat -, als Erbe ausschlagen, so haben wir das zu begründen, und sei es auch nur, um Desorientierungen entgegenzuwirken. Für Marxisten, die in der kapitalistischen Umwelt leben, ist die Frage, warum die philosophisch i n jeder Hinsicht unsinnige Alternative »Nietzsche oder/statt Marx« Anhänger finden kann (6), ein wichtiger Teil des ideologischen Klassenkampfes. Auch für Marxisten in sozialistischen Ländern sollte dies angesichts einer geteilten Erde nicht unerheblich sein. Daß ein Großteil der antimarxistischen Literatur - in der BRD im Augenblick noch weniger als in Frankreich - sich um Nietzsche als Referenzpunkt bewegt und sich dabei einen scheinrevolutionären Gestus anmaßt, fordert unsere Kritik der kritischen Kritik heraus. Wenn aber neuerdings marxistische Intellektuelle die Vermählung von Marx und Nietzsche betreiben, so gibt das zu denken (7), dagegen müssen Argumentationslinien kenntnisreich aufgebaut werden - ist doch der Kampf um theoretische Positionen ein Stück marxistische Philosophietradition.

Hierzu gehört die Erkenntnis, daß Nietzsches Impuls zu philosophieren von seiner kritischen Einstellung zur bürgerlichen Kultur ausging, die ihr Programm der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, der Bildung und Humanität (8), das die ideelle Aufhebung der Klassenunterschiede zum Ziel hatte, nicht einzulösen vermochte. Nietzsche sah den illusionären Charakter des Bildungsidealismus, deckte die Hypokrisie der bürgerlichen Weltanschauung auf und führte mit radikaler Schärfe, aber völlig einseitiger Zuspitzung auf das Wert-Problem, den von den Junghegelianern methodisch entwickelten Entlarvungsgestus philosophischer Kritik fort. Lambrechts Hinweise auf die Beschäftigung des jungen Nietzsche mit Feuerbach lassen den Kontext sehen, in dem Nietzsche - vor allem in seiner ersten Phase (9) - als ein radikalbürgerlicher Kritiker des »juste milieu« erscheinen kann; von daher ist die positive Rezeption bei der unruhigen bürgerlichen Linken zu erklären, mit der ihn auch die hektisch-aufgeregte Diktion, die Sprachgebärden des Jugendstils und Frühexpressionismus verbinden. Auch hat Nietzsche den Zusammenhang von Kulturniveau und Gesellschaftsordnung (mit ihrer praktischen Form des Austragens von Widersprüchen) am Beispiel der Antike artikuliert und ging damit weit über das entpolitisierte neuhumanistische Kulturideal hinaus. (10)

Von Anfang an aber mangelte Nietzsche die Einsicht in das Fundierungsverhältnis von materiellen gesellschaftlichen Reproduktionsprozessen und ideologischen Überbauten, insbesondere Wertsystemen, denen er bevorzugt seine Aufmerksamkeit zuwandte, weil in ihnen sich die gesellschaftlichen Strukturen ideell organisieren. In der Verabsolutierung von Überbauphänomenen liegt der philosophische Grund, warum der antibürgerliche Affekt des Kulturkritikers Nietzsche nicht zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft weiterentwickelt werden konnte, sondern sich zu alternativen Wertvorstellungen mit Rückgriff auf vorbürgerliche Gesellschaftsmuster verstieg, die dann Elemente der faktischen Vorbereitung faschistischer Ideologie zu liefern vermochten. Nietzsche hat die Orientierung am ästhetischen Programm der Vollendung eines höheren Menschentums nie aufgegeben - und gerade weil er die Illusionen dieses Programms der bürgerlichen Klassik nicht durchschaute, sondern nur seine betrügerische Deformation im Neuhumanismus nach 1848 kritisierte, lief diese seine Kritik wieder nur auf eine ästhetische Alternative, eben die der dionysisch-tragischen Kultur der griechischen Sklavenhaltergesellschaft hinaus". Die Ästhetisierung des Politischen ist dann eine kulturpolitische Strategie des Faschismus geworden (12), die sich bei Nietzsche immer wieder und bis heute ihre Denkmuster geholt hat.

Die Altemativformel »Nietzsche oder Marx« - und das heißt in der bürgerlichen Frontstellung: »Nietzsche statt Marx« - kann daher immer nur im Sinne einer politischen Philosophie gemeint sein. In der Konsequenz bedeutet das, aus einem ästhetischen Gedankenmodell weltanschauliche Legitimationen für politisches Handeln zu finden, indem Unterdrückung, Ausbeutung, Krieg ... zu metaphysischen Determinanten des Seins oder Menschseins stilisiert werden. Eine Philosophie, die argumentative durch appellative Rede ersetzt, die statt eines systematischen Entwurfs die subjektivistische Form von isolierten Gedankensplittern annimmt, bietet sich hermeneutischen Kunstgriffen dar, unter denen sich ihre wahre Gestalt als die einer subjektiven Manifestation eines Denkerschicksals in den Schein objektiv geltender Aussagen verwandelt. Diese Zweideutigkeit liegt im Typus Nietzscheschen Philosophierens selbst und ist ein Strukturmoment und Ausdruck der Hypertrophie des Subjektiven im spätbürgerlichen Denken und der Begründung der »Wahrheit« im Subjekt. Indem sie Nietzsche gegen Marx setzen, kämpfen bürgerliche Ideologen für die Anarchie der subjektiven Willen, gegen die Erkenntnis der allgemeinen Gesetze geschichtlicher Prozesse und Strukturen. Insofern gibt es vielerlei, auch unterschiedlich akzentuierte Nietzsche-Moden, aber Nietzsche selbst ist, ihnen vorgeordnet, ein dauerhaftes Paradigma der spätbürgerlichen Subjekthypertrophie.

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Geht man nicht von den vielen, einander oft widersprechenden Inhalten der Philosophie Nietzsches aus, sondern von dem prinzipiellen philosophischen Kern der Verabsolutierung der Subjektivität und den daraus folgenden Formbestimmtheiten (Voluntarismus, Irrationalismus, Agnostizismus, Ahistorismus, Immoralismus, Ästhetizismus), so wird nicht mehr das Herausklauben faschistoider und/oder entgegenstehender Bruchstücke zum Mittel, um Nietzsches innere Beziehung zum Faschismus zu erweisen (oder zu widerlegen). Diese Beziehung ist auch unabhängig davon ob man meint, »daß die Gesamtpersönlichkeit eines Nietzsche faschistische Konsequenzen nicht zuläßt«. (13) Es geht um die Struktur seines Denkansatzes und nicht um Ganzheitspsychologie. Es läßt sich zeigen, daß der Grundriß von Nietzsches Denken, einschließlich seines Verzichts auf theoretische Kohärenz im einzelnen, zu eben jenen weltanschaulichen Konsequenzen führt, die dann die Weltanschauungslieferanten des Faschismus gezogen haben. Mit Recht schreibt Georg Lukács: »Von Mereschkowski und Gide bis Spengler, Bäumler und Rosenberg gibt es keine reaktionäre Strömung in der imperialistischen Periode, die nicht einiges Wichtige aus der Lehre Nietzsches aufgenommen hätte.« (14) Er hätte Carl Schmitt und Martin Heidegger, Amold Gehlen und Ernst Jünger und noch viele andere Namen nennen können.

Lukács hat Nietzsche als eine Schlüsselfigur der spätbürgerlichen Ideologie im Zeitalter des Imperialismus erkannt und ihm vier unterschiedlich akzentuierte, aber in der Grundtendenz übereinstimmende Analysen gewidmet. (15) Immer ist seine zentrale Frage: Was bedeutet Nietzsche für die Ausbildung einer bürgerlichen Weltanschauung in der aggressivsten Phase des Kapitalismus, im Imperialismus? Diese Frage ist berechtigt, ist Nietzsche doch in der Tat eine der wenigen weltanschaulichen Integrationsfiguren der spätbürgerlichen Epoche, also im 20. Jahrhunden. Natürlich muß diese zugespitzte Frage auch zu Einseitigkeiten und Vergröberungen führen (16), die seine Analysen oft als unzulänglich erscheinen lassen, wie richtig sie auch im Prinzip sind. Stärker noch wird jedoch sein Nietzsche-Bild durch eine methodologische Schranke beeinträchtigt: Er fragt von 1933 aus zurück und kann dann nur feststellen, daß gleichsam der Weltgeist »den herrschenden Klassen des Imperialismus ... ein >einsames Genie< ... zur Verfügung« stellte (17), daß Nietzsche »eine Vorahnung« des Imperialismus gehabt habe, dessen »Prophet« er gewesen sei. Damit aber versperrt sich Lukács den Weg zu einer Erklärung, warum Nietzsche gerade auch auf wichtige Angehörige der linken Intelligenz wirken, ja sie auf falsche Wege führen konnte, und muß dafür dessen »geistvolle Kritik«, seine schriftstellerische Qualität (18) u. ä. in Anspruch nehmen. Eine marxistische Analyse hätte indessen den Selbstwiderspruch in der bürgerlichen Ideologie aufzuzeigen, den Nietzsche in sich austrägt, ohne ihn begreifen oder gar überwinden zu können, so daß er in der Tat zur Identifikationsfigur und also selbst zu einem Mythos für alle werden konnte, die diesen Widerspruch empfinden und aus ihm den Antrieb zu kritischem Denken empfangen. Gerade ihnen konnte Nietzsche den Weg zu einer rationalen historisch-materialistischen Analyse blockieren Nietzsche und der Faschismus bleibt also ein Thema - nicht nur im Hinblick auf die Ideologen Mussolinis und Hitlers, sondern auch im Bewußtsein, daß faschistoide Denkweisen in der spätbürgerlichen Weltanschauung strukturell angelegt sind. Hans-Martin Gerlach betonte zu Recht, »daß eine Auseinandersetzung mit Nietzsches Denken (bzw. mit dem, was eine >schlimme Gemeinde< für ihre vordergründigen Ziele daraus machte) nach der faschistischen Perversion nicht allein eine rein theoretische Angelegenheit unter akademischen Fachleuten sein kann. Es war immer und ist auch heute zugleich eine politisch-ideologische, praktische Auseinandersetzung mit reaktionärem faschistischem Ungeist ... Vertiefte Sachkenntnis und klare Parteilichkeit ist seitens der marxistisch-leninistischen Philosophie in diesen ideologischen Auseinandersetzungen vonnöten.« Auch möchte ich seiner generellen Beschreibung und Einschätzung zustimmen, die er in dem Satz zusammenfaßte: »Es gilt, sich Nietzsche in seiner bürgerlich-anarchischen Antibürgerlichkeit als einem bürgerlichen Intellektuellen zu nahem, der sich die Widersprüche der imperialistischen Gesellschaft vornehmlich ästhetisch und theoretisch-kritisch aneignete, gegen Vermassungstendenzen in der großbürgerlichimperialistischen Kultur- und Lebenswelt einen extremen Individualismus als Rettung vor dem >Pöbel< predigte und sozio-kulturelle Zukunftsvisionen entwickelte, die, gemessen an der Skala des wirklichen historischen Fortschritts, freilich keine waren, sondern deren Gegenteil darstellten, weil ihrem prophetischen Verkünder der Zugang zu der wirklichen revolutionären Praxis und ihrer treibenden Kraft, dem Proletariat, versperrt war und er gerade diese Klasse in ideologischer Verblendung zum eigentlichen Antipoden von Zukunft deklarierte.« (19) Allerdings würde ich mindestens ein Wort verändern: Ich meine, Nietzsche eignet sich die Widersprüche der imperialistischen Gesellschaft nicht an, sondern er drückt sie aus, das heißt, er läßt sie in ihrer kruden Widersprüchlichkeit, sogar zugespitzt, nebeneinander stehen - während Aneignung doch eine theoretische Verarbeitung einschlösse.

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Daß Nietzsche nur dann angemessen rezipiert wird, wenn wir ihn nicht einfach als Autor lesen, der diesen oder jenen Gedanken geäußert, diese oder jene weltanschauliche Position aufgebaut hat, ist meine feste Überzeugung. Nietzsches Werk ist mehr als ein Warenhaus von ideologischen Varietäten; wenn es auch keine logische Konsistenz hat, so bildet es doch eine ideologische Einheit. Das heißt aber schon gar nicht, daß wir ihn richtig lesen, wenn wir seinem Werk einen systematischen Zusammenhang unterlegen. Ist wirkliche Philosophie - wie ich meine - durch die systematische Verknüpfung ihrer Weltanschauungsgehalte in einer wissenschaftlich methodischen Konstruktion und Darstellung charakterisiert, so ist Nietzsche kein Philosoph im strengen Sinne des Wortes, sondern ein Weltanschauungsliterat, was ihn um so mehr für eine variable Rezeption in der Periode spätbürgerlicher Bildungszersplitterung geeignet machte. Insofern ist die Ursünde der Nachlaß-Manipulationen der Schwester, daß sie Nietzsches Gedanken zu einem systematischen Lehrgebäude zu verfestigen suchte und damit jedem, der sich an die einen oder anderen »Titel«-Worte (Wille zur Macht, Umwertung aller Werte, Unschuld des Werdens, Immoralismus, ewige Wiederkehr) hielt, die Illusion einer theoretisch fundierten Weltanschauung vermittelte. Statt dessen manifestiert Nietzsche in vielfacher und widerspruchsvoller Weise die geistige Situation der bürgerlichen Welt, deren gesellschaftliche Praxis zum Gegenteil dessen geworden war, was ihre kulturellen Ideale als Selbstverständnis proklamierten. Nietzsches Werk ist ein hervorragendes Indiz für den Verfall der weltanschaulichen Hegemonie des Bürgertums - und weil es ein Indiz ist, liefen es nicht etwa die analytische Erhellung dieses Verfalls. Die Erfahrung seines Zeitalters, sagt Friedrich Tomberg, »wird von Nietzsche schlicht als decadence bezeichnet. Gemeint ist damit nicht nur der Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft in Europa, sondern die daran geknüpfte Auffassung eines Verfalls der gesamten europäischen Kultur.« (20) Aber Nietzsche kann den Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft theoretisch nicht begreifen, er hat nicht einmal eine wirkliche Theorie der decadence. Vielmehr lebt er die Widersprüche der bürgerlichen Welt als Widersprüche seines eigenen Denkens, das ihm zugleich als Verhaltensnorm erscheint. Erich Podach (21) hat einleuchtend die zunehmende Hektik in Nietzsches letzter Schaffensphase als Konsequenz der Einsicht gedeutet, daß er die systematische Zusammenfassung seiner widersprüchlichen Gedanken nicht leisten konnte. Hans Barth (22) bemerkte dazu richtig: »Es blieb bei Titelentwürfen und einem riesigen Stoff, den Fragmente - Einfälle und Andeutungen, Aphorismen und ausgeführte Gedanken - bildeten. Die Resignation war unvermeidlich. Der Grund dafür, daß es nicht zu einer systematischen Darstellung der Philosophie Nietzsches kam und kommen konnte, lag aber nicht im Zustand der Vorarbeiten, sondern darin, daß Nietzsche innerlich schlechterdings unvereinbare Absichten und Gedanken hätte zusammenfügen müssen.« Nur wer Nietzsche nicht als Autor einer - sich unter den philosophischen Wahrheitsanspruch stellenden - Lehrmeinung, sondern gleichsam als gelobtes Literatursubjekt, sein Werk als persönliche Reflexion eines Subjektschicksals rezipiert, kann an ihm etwas lernen: nämlich die Anmaßung und das Scheitern des neuzeitlichen (bürgerlichen) Ich, das von sich sagt: »Ich hab mein Sach' auf Mich gestellt.« Wie auch immer die medizinische Krankengeschichte Nietzsches zu schreiben ist, sie hat in seinem Werk ein literarisches Äquivalent, das ihr Symbolwert gibt: Wer diese Welt so, wie sie ist, ernst nimmt, zerbricht daran. Sensible Zeitgenossen haben etwas davon gespürt - so Elisabeth von Österreich, die (nach Schlechtas Bericht) zu Christomanos sagte, Nietzsche habe sich als ein Opfer in den Abgrund der Zeit geworfen; der Abgrund habe sich geschlossen, nunmehr könnten wir hinübergehen.

Sicher ist die Schlußfolgerung der Kaiserin naiv gewesen; historische Abgründe schließen sich nicht durch individuelle Opfer und schon gar nicht durch das bloße Denken des Infernos. Auch blieb Nietzsches Antwort auf die Zeit ja nicht nur ein Opfer im Untergang an deren Widersprüchen, sondern enthielt auch Prospekte, die, wie Schlechta mit großer Betroffenheit sagte, den Weg von Weimar nach Buchenwald einschlössen. So wird heute wohl niemand mehr behaupten wollen, daß Nietzsche den Abgrund geschlossen habe; eher hat er jenen die Staffage geliefen, die sich im »Grandhotel Abgrund« kommod einrichteten. Wohl aber hat er die Erscheinungsformen des Zerfalls an sich selbst sichtbar gemacht. In diesem Sinne hat Schlechta zu deuten versucht, was Elisabeth von Österreich gemeint haben könnte: »Das A und 0 von Nietzsches kritischem Philosophieren - hundertfach aus seinem Werke zu belegen - ist die Überzeugung, daß nichts fest sei, daß es keine >Realität< gebe. Real ist nur, was der Mensch aus der rücksichtslosen Einsicht in die komplette Irrealität jedes objektiven Sinnes und Wertes in absoluter Freiheit schafft und schaffen muß, weil er sonst nicht zu leben vermöchte. Nietzsche erweist dies mit Methoden, welche unsere obligaten Methoden des Weltverständnisses sind - nur daß wir weder Ehrlichkeit noch Konsequenz genug aulbringen, uns klar zu machen, daß es Methoden sind, die uns von jeder lebendigen, unberührten Wirklichkeit, Realität trennen. Dieses Trennende ist der Abgrund, den ich meine; es ist ein Abgrund, den wir aufgerissen haben und immer wieder aufreißen - welchen Akt als einen Wahnsinnsakt der spirituelle Radikalismus Nietzsches uns längst hätte deutlich machen müssen. Wenn wir endlich begreifen und lernen wollten, dann könnte uns seine denkerische Leistung zur Warnung und Rettung werden - so war das Bild vom Opfer gemeint.« (23) Warnung und Rettung, gerade weil und nur wenn wir Nietzsche nicht akzeptieren, sondern als das Indiz jenes Realitätsverlustes verstehen, der uns an die Grenze der nuklearen Selbstzerstörung der Menschheit, der genetischen Manipulation des Humanen, der Behandlung von Mensch und Natur als Objekte der Ausbeutung bis zur Selbstvernichtung der Gattung geführt hat.

Aus den Erwägungen Schlechtas gilt es, denke ich, drei Hinweise aufzunehmen: Erstens jenen, der darauf zielt, daß Nietzsches extremer Voluntarismus, der mit einer Negation jedes objektiven Realitäts- und Wahrheitsbegriffs verknüpft ist, den obligaten Methoden unseres Weltverständnisses entspricht - nämlich jenen Methoden unserer wissenschaftlich-technischen Verfahrensweisen, die die Welt positivistisch in isolierte Objektbereiche unserer Beobachtung und Verfahren und partikularen Zwecksetzungen zerteilen und den Systemcharakter einer subjektunabhängigen Wirklichkeit außer acht lassen.

Zweitens jenen, der den Zusammenhang eines hypertrophen Subjektivismus mit nihilistischen, menschenverachtenden Konsequenzen im praktischen gesellschaftlichen Verhalten hervorhebt.

Und drittens jenen, der auf das sowohl theoretische wie persönliche Scheitern dieser Haltung in Werk und Leben Nietzsches abhebt; die Welteinstellung Nietzsches endete in einer persönlichen Katastrophe, und diese gewinnt einen Symbolwert für die historischen Folgen, die sich aus der Realisierung einer solchen Einstellung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ergeben.

So also kann man Nietzsche auch lesen - als die Formulierung des Paroxysmus der bürgerlichen Kultur. Diese Deutung schließt zweierlei ein: einmal, daß Nietzsche eben als Denker daran zerbrach, den nachcar-tesischen Subjektivismus radikal zu Ende gedacht zu haben, erlebt zu haben; zum zweiten, daß das Erkennen der erschreckenden Spuren uns dahin bringen könnte, den gefahrvollen Weg zu verlassen. Die zweite Konsequenz, die Nietzsche noch als Katalysator der Rettung fruchtbar machen will, wird fraglich, wenn wir die Wellen der Nietzsche-Rezeption betrachten (einschließlich der neuesten, die heute wieder auf uns zurollt): Das Erschreckende erweist sich offenbar als Faszinosum, weit davon entfernt, uns zur Umkehr zu mahnen. Schlechta, dessen wissenschaftliches Lebenswerk ja der Erschließung und Deutung Nietzsches gewidmet war, hat die Gefahr dieser Faszination ausgesprochen: »Produktiv wurde der Nihilismus bis jetzt nur gelegentlich der Erfindung und Herstellung von Konzentrationslagern und Vergasungskammern, - der Mensch war bis jetzt immer nur das Opfer. Nietzsche steht dazu in einer unheimlichen Relation! Keine >blumige Bildersprache< und kein Sektierergeschrei vermag darüber hinwegzutäuschen. Es ist gewiß nicht der ganze Nietzsche; es ist ein Nietzsche - aber kein unwesentlicher... Heute würde ich mit anderen Augen vom >Silberblick< des Nietzsche-Archivs in Weimar hinweg nach Buchenwald hinüberschauen. Diese zwei Dinge stehen schon in Relation zueinander!« (24) Das sei auch ins Stammbuch der »Nationalen Gedenkstätten« geschrieben!

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Der europäische Nihilismus, den Nietzsche beschreibt und dessen Heraufkunft er verkündigt, ist radikaler als der kommod in einer schlechten Welt sich einrichtende Pessimismus Arthur Schopenhauers oder Eduard von Hartmanns. Er zielt auf die Zerstörung der überlieferten Kultur insgesamt als Konsequenz ihrer eigenen neuzeitlichen Entwicklung, die den Menschen technologisch und ideologisch zu äußerster subjektiver Willkür ermächtigte. Nietzsches Philosophie geht von der Erfahrung aus, daß der Nihilismus nicht eine neben anderen möglichen Lebenseinstellungen ist, sonderndas Wesen unserer geschichtlichen Existenz ausmacht und also in uns selbst liegt. »Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt.« (25)

Die subjektive Willkür ist indessen der metaphysische Status der Gesellschaft, deren Bewegungsgesetze Widersprüche hervorbringen, die in den Bewegungsformen der Reproduktion dieser Gesellschaft nicht mehr kompossibel gehalten werden können. Die spätbürgerlichen Ideologien bieten nur noch Scheinlösungen für die Konstruktion eines kohärenten Weltbildes an und dementieren sich selbst in pluralistischer Unverbindlichkeit, die wechselseitige Kritik einschließt und zugleich nicht ernst nimmt. Der Irrationalismus ist die übergreifende Gattung mystifizierender und scheinrationaler (positivistischer, diskurstheoretischer, transzendentalphilosophischer usw.) Weltanschauungsentwürfe, er ist die Erscheinungsform der Krise der Philosophie. (26) Nietzsche hat - ein Jahrhundert vor den epigonalen Schwätzern, die die »post-histoire« und »Postmoderne« verkünden - die Krise radikaler beschrieben als seine späteren Nachbeter. Er hat den Irrationalismus zum Prinzip erhoben, insofern er jede mögliche Wahrheit leugnete' und den Schein zur alleinigen Reflexionsform unseres Weltverhältnisses deklarierte. Spinoza wird auf den Kopf gestellt: Die Wahrheit ist nur eine Art des Irrtums - falsum est Index sui et veri. Wer wollte bestreiten, daß damit die geistige Verfassung der spätbürgerlichen Welt auf eine Formel gebracht ist? Und daß dies eine Formel ist, die nur im Wahn einzulösen ist? Daß Nietzsche die Auflösung des Wahns nicht leistet, ja, nicht einmal den Versuch dazu unternimmt, macht ihn zum Apologeten einer Krankheit, die er richtig diagnostiziert: Wo das Kriterium der Wahrheit entfällt, bleibt der Wille zur Macht (das ist: der reine Wille) als metaphysisches, die Ästhetisierung der Geschichte als politisches Prinzip. Beide Prinzipien sind korrelativ, sie haben ihr Gemeinsames in der Absolutheit der individuellen Subjektivität.

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Absolutheit der individuellen Subjektivität läßt sich in beliebige Negationen von real Existierendem umsetzen und verleiht so die Illusion der Freiheit und den arroganten Gestus der Empörung. Stirner hat für diese ideologische Verfassung die Vorlage geliefert, die Marx schon im »Sankt Max« zerfetzte. Dennoch bleibt die ideologische Fata Morgana der rebellischen Subjektivität attraktiv, weil sie die Halluzination erzeugt, der einzelne könne der Notwendigkeit, den Zwängen des Allgemeinen entgehen. Nietzsches Philosophie wirkt wie eine Droge, nicht wegen ihrer zum Teil widersprüchlichen, zum Teil auch verworrenen Inhalte, sondern wegen der Apotheose des Subjekts. Steht einer erst unter dem Einfluß dieses enthemmenden Erregungsmittels, so ist er leicht bereit, die dazugehörigen Inhalte - oder auch beliebige andere, die sich damit kombinieren lassen -zu akzeptieren; der Subjektrausch ist ein Manipulationskatalysator. Das Antidoton ist kritisch-systematische Rationalität, die auf das Rauschgift selbst angesetzt wird. Dazu einige stichwortartige Thesen:

1. Nietzsches scheinbar rebellische Antibürgerlichkeit ist als Moment der von ihm selbst beschriebenen bürgerlichen Kultur aufzuweisen; die strukturelle Übereinstimmung seiner Kritik mit der Wesensform des von ihm Kritisierten macht deutlich, daß er die Gesellschaft, indem er sie entlarvt, nicht destruiert, sondern in ihre äußerste Konsequenz weitertreibt - weshalb er eben wirklich zum Vorbereiter des Faschismus werden konnte Indem man seine diagnostische Schärfe nicht unterschlägt, ist seine philosophische Hilflosigkeit, die Deskription zur Theorie zu verarbeiten, bloßzulegen.

2. Die Motive, die Nietzsche vom Idealbild der Einheit von Politik und Kultur im »griechischen Staat« zum Zerrbild des »europäischen Nihilismus« führten, sind als Funktion der fortschreitenden Selbstzerstörung der »heroischen Illusionen« des Bürgertums zu verstehen; so ist die Ambiguität Nietzsches, die ihn auf so divergente Weise attraktiv werden ließ, gesellschaftsgeschichtlich zu erklären.

3. Nietzsches Metaphysik-Kritik ist die letzte, in Dekomposition ihres Systemcharakters übergegangene Phase der traditionellen Metaphysik. (27) Der Vergleich mit Hegels Metaphysik-Kritik, aus der das Marxsche Programm - Aufhebung der Philosophie durch ihre Verwirklichung, Verwirklichung der Philosophie durch ihre Aufhebung - hervorging, zeigt deutlich den epochalen Unterschied: Die Linie Hegel - Marx führt zu einem qualitativ neuen Verhältnis von Theorie und Praxis, Nietzsches Philosophie ist hingegen eine neue Theologie ohne Gott.

4. Endlich sollte man einmal auch mit der Legende aufräumen - durch saubere Stilanalyse, versteht sich -, Nietzsche sei ein großer Stilist, ein Sprachkünstler in der deutschen Philosophie gewesen. Spätestens mit dem »Zarathustra« ist diese Einschätzung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die verquollene, gestelzte, marktschreierische Sprachattitüde sagt mehr über den Zustand seines Denkens und dessen ideologischen Gehalt aus als dieses oder jenes Zitat aus seinen Werken. (28)

5. Die Behauptung, Nietzsches Philosophie sei aphoristisch und aus dieser Stilforrn zu interpretieren - der ich schon früher entgegengetreten bin (29) -, besitzt Legitimationscharakter für die anarchisch-chaotische Weise seines Denkens. Nietzsche ist kein Aphoristiker, sondern ein auf tionale Begründungen verzichtender, appellativ-beschwörender Rhetor. Man sieht, worauf ich hinauswill: Es ist unzulänglich, Nietzsche in der Kritik an einzelnen Bestandteilen seines Werkes, einzelnen Motiven seines Denkens fassen zu wollen - eine solche Kritik, wie notwendig auch immer, bleibt sekundär, weil sich das Gesamtwerk in seinen Widersprochen, Inkonsistenzen, Zweideutigkeiten (auf die Thomas Mann nachdrücklich hingewiesen hat) einem solchen systematisch verfahrenden Zugriff entzieht und der Kritiker immer der Genarrte bleibt. Es kommt vielmehr zuerst darauf an, das Gewebe, Webart und Webmuster, dieses Denkens herauszuheben, um die Wirklichkeit sichtbar zu machen, die darin zur Sprache kommt. Weil dies die Wirklichkeit der spätbürgerlichen Gesellschaft und Kultur ist, einschließlich auch ihrer Selbstkritik und Selbstzersetzung, vermag Nietzsche sowohl auf die. die sich dieser Gesellschaft entziehen wollen, als auch auf jene, die sich als ihre Protagonisten fühlen, wie ein Leuchtturm zu wirken, an dem sie sich orientieren.

Die Destruktion dieser Orientierungsrolle muß davon ausgehen und damit rechnen, daß Nietzsche - wenn auch in ideologisch verzerrter Form -die Wirklichkeit seiner (und das ist im großen historischen Zusammenhang auch noch unsere) Epoche ausdrückt. Er erfährt ihre Widersprüche als Inkonsistenz seines eigenen Denkens und Empfindens - und dies macht ihn zu einer Leidensfigur in der Art des Adrian Leverkühn in Thomas Manns »Dr. Faustus«. Als solche Figur kann er zum literarischen Bild der Schrecken und drohenden Katastrophe unserer Zeit werden, deren ideellen Reflex er selbst darstellt. Was Lukäcs die persönliche Begabung und Feinfühligkeit Nietzsches nannte, ist dieser Wirklichkeitsgehalt seines Denkens. Indem er freigelegt wird, als der abstoßende, inhumane, destruktive Gehalt der spätbürgerlichen Gesellschaft, kann auch die Anziehungskraft Nietzsches aufgelöst werden in der nüchternen Erkenntnis dessen, wofür er Zeugnis gibt und wovor uns die Besinnung auf die Vernunft in der Geschichte, die im historischen Materialismus ihre Theorie besitzt, bewahren soll.

G. Hans Heinz Holz (Groningen)

 

Anmerkungen

1) L. Lambrecht, Nietzsche und die deutsche Arbeiterbewegung, in: Bruder Nietzsche?, Düsseldorf 1988. S. 91-118 (Schriften der Marx-Engels-Stiftung).

2) Vgl. H. H. Holz, Die abenteuerliche Rebellion, Darmstadt und Neuwied 1976, Teil II: Friedrich Nietzsche - Von der Kritik bürgerlicher Kultur zum Präfaschismus, S. 31-113. - Zur Kulturkritik des frühen Nietzsche vgl. auch R. Schmidt, Ein Text ohne Ende für den Denkenden, Königstein/Ts. 1982 (Monographien zur philosophischen Forschung, Bd. 219).

3) W. Harich, Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes?, in: Sinn und Form. 5/1987. S. lOlSff.4) G. Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 249 (= Werke, Bd. 9. Darmstadt 1974, S. 274).

5) A. Abusch, Der Irrweg einer Nation, Berlin 1949.

6) Vgl. A. Gedö, Marx oder Nietzsche? Die Gegenwärtigkeit einer beharrenden Alternative, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 9/1988, S. 787ff.

7) M. Cacciari, Krisis, Milano 1976, S. 56ff.

8) F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen; W. von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: ders., Werke, Bd. I, Dannstadt 1960, S. 234ff.

9) Ich sehe deutliche - sowohl inhaltliche als auch stilistische - Unterschiede zwischen der Zeit der ersten Druckschriften (bis 1876), der Phase einer stark psychologisch orientierten Kritik (»Menschliches-Allzumenschliches« 1878) und dem Spätwerk der achtziger Jahre unter dem Grundthema: Umwertung aller Werte.

10) Nietzsches frühe Arbeiten über den griechischen Staat und die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zeigen durchaus, wenn auch ganz und gar unreflektiert, dialektische Züge. Zum politischen Aspekt des Griechenbildes vgl. H. H. Holz, Die abenteuerliche Rebellion, a. a. 0., S. 57-60.

11) Vgl. F. Tomberg, Der Streit Nietzsches contra Wagner im historischen Vorfeld des Faschismus, in: Beiträge zur Kritik der bürgerlichen Philosophie und Gesellschaftstheorie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 7-8/1987, S. 187ff., hier S. 188: »Sein Hauptgedanke: Wenn die Griechen ihre höchste Einigkeit in der Gemeinsamkeit des Erlebens der Tragödie fanden, in der sich ihnen ihr selbstbestimmtes Leben in der Polis widerspiegelte, so sollte in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zerrissenheit zuerst ein zentraler Ort des Kunsterlebens für das Volk bzw. für die Besten aus ihm - in Entsprechung zum antiken Amphitheater - geschaffen werden, von dem aus die Verwirklichung der im Kunstwerk vorgespiegelten politischen Gemeinsamkeit ihren Anfang nehmen könnte.« Im übrigen stimme ich mit der Einschätzung Wagners durch Tomberg - Stichwort: »Humanität seines Kunstwollens« (S. 192) - nicht überein. Auch würde ich nicht von »der Wahrhaftigkeit und Rationalität, die bis in die Wahnsinnszeit hinein die Grundintention Nietzsches gewesen ist« (S. 193), sprechen.

12) Darauf hat schon Walter Benjamin, Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M. 1974, S. 508, hingewiesen.

13) F. Tomberg, Der Streit Nietzsche contra Wagner.... a. a. 0., S. 193.

14) G. Lukács, Der deutsche Faschismus und Nietzsche, Schicksalswende, Berlin 1948, S. 5.

15) Vgl. G. Lukács, Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden? (1933 - erschienen Budapest 1982 aus dem Nachlaß); hier erscheint die Nietzsche-Kritik unter motivischen Gesichtspunkten: Gegenwartskritik als Apologetik und Mythenbildung; vgl. ders.,Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik (1934 - jetzt in Bd. 10 der Werke, Dannstadt und Neuwied 1969, S. 307 ff.); ders.. Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden? (1941/42 -jetzt erschienen Budapest 1982 aus dem Nachlaß); hier erscheint Nietzsche unter dem Titel »Destruktion des Humanismus« (S. 114ff.); vgl. ders.. Die Zerstörung der Vernunft, 1952 abgeschlossen, wo Nietzsche als Schlüsselfigur des Irrationalismus in der imperialistischen Periode am ausführlichsten behandelt wird.

16) Vgl. H. H. Holz, Die abenteuerliche Rebellion, a. a. 0., S. 38ff.

17) G. Lukács, Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden?, hrsg. von L. Sziklai, Budapest 1982, S. 114.

18) Gerade diese wäre angesichts eines Kitsch-Machwerks wie des »Zarathustra« in Zweifel zu ziehen.

19) H.-M. Gerlach, Friedrich Nietzsche - ein Philosoph für alle und keinen!?, in:

Beiträge zur Kritik der bürgerlichen Philosophie und Gesellschaftstheorie, 7-8/ 1987, a. a. 0.. S. 137, hier S. 139f. u. 141; vgl. die ergänzte Fassung in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 9/1988, S. 777ff., hier 2. Teil des Zitats, S. 780.

20) F. Tomberg, Der Streit Nietzsche contra Wagner ..., a. a. 0., S. 187.

21)E. Podach, Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, Heidelberg 1961.

22) H. Barth, Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, in: Neue Zürcher Zeitung. 3. 12. 1961, Sonntagsbeilage. Bl. 5.

23) K. Schlechta, Der Fall Nietzsche, München 1958, S. 96f.

24)Ebenda, S.113.

25) F. Nietzsche, Werke, hrsg. von K. Schlechta, Bd. II, München 1955, S. 1243 (Dionysos-Dithyramben).

26) Vgl. A. Gedo, Philosophie der Krise, Berlin 1978.

27) Vgl. H. H. Holz, An. »Metaphysik«, in: Enzyklopädie zur bürgerlichen Philosophie im 19. und 20. Jahrhunden, hrsg. von M. Buhr, Leipzig 1988, S. 126fr.:

ders., Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der französischen Revolution, Jenaer Klassik-Seminar 1987, in: Collegium Jenense, Bd. 8, Weimar 1989, S. 41-65.

28) Karl Schlechta hat eine Motiv- und Stil-Analyse an einem zentralen Topos vorgenommen: Nietzsches Großer Mittag, Frankfurt a. M. 1954.

29) H. H. Holz, Die abenteuerliche Rebellion, a. a. 0., S. 72ff.

 

Bibliografische Notiz: Der vorstehende Aufsatz wurde entnommen aus: Moderne- Nietzsche - Postmoderne,