Rezension von Wolfram Pfreundschuh (2003)

Christoph Türcke: Der tolle Mensch

Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft

(zu Klampen Verlag Lüneburg 1989)

 

Christoph Türcke ist ganz offensichtlich ein hervorragender Kenner von Nietzsches Werk. Und er ist ein ebenso guter Kenner des Marxismus. Ihm gelten beide als bedeutende Kritiker des Bürgertums und seiner philosophischen Selbstbeschränkung. Türcke meint, dass jeder von ihnen nur eine Seite von dieser aufgreift und dass sie sich deshalb teilweise ergänzen könnten. Nietzsche würde die Diskussion um eine große Psychologie bereichern, die Denkanstöße für den Marxismus sein könnte. Das Dilemma von beiden Positionen für sich sei einfach noch nicht richtig erkannt.

In der Tat hatten viele Marxisten mit einer strukturellen Widerspiegelungstheorie ihren Geist aufgegeben. Wo Philosophie sich nicht mehr formulieren darf, wird ihr Geist getötet, nicht verwirklicht, wie es Marx formuliert hatte. Und das Tote musste dem Untoten die Geschichte der Selbstverständigung überlassen. Nietzsches Übermensch hatte als Herrenmensch einen grauenhaften Schnitt in der Geschichte hinterlassen, dessen Wunden nicht zu heilen sind. Und er und Heideggers Existentialismus wirkt bis in jüngste Zeit in den Theorien der "schöpferischen Zerstörung" (Sloterdijk) fort.

Ganz gleich, ob die strukturalistischen Marxisten je wirklich mit Marxismus zu tun hatten, und ob Nietzsche wirklich ein Urvater des Nationalsozialismus war, so ist es doch bei der gegenwärtigen Diskussion um den Dekonstruktivismus ganz offensichtlich gut, sich die Gedanken dieser zwei völlig entgegengesetzten Denker in ihrem Geburtsschmerz noch mal zu vergegenwärtigen. Schließlich streitet sich Philosophie nicht um ihrer selbst willen, sondern um die Verständigung über die Lebensformen des Menschseins.

Es waren noch nicht die Lebensformen, sondern die geleugneten Wunden des Lebens, die in der Zeit der Aufklärung das Nachdenken über den bürgerlichen Menschen nötig hatten, bevor seine Lebensform begreifbar werden konnte. Marx hat hier weit mehr Vorarbeit geleistet, als von modernen Marxisten aufgenommen ist. Zudem scheint eine Diskussion über Marx hinaus geboten, weil auch die Geschichte nach ihm neue Vermengungen erbracht hat, namentlich Faschismus und Globalisierung. Aber kann Nietzsche, dieser heftige Gegner von Marx, Hegel und der sozialistischen Bewegung, der sich schon so überhoben sah, dass er sie nicht mal mehr nachvollziehen wollte, – dazu etwas beitragen?

Nietzsches philosophischer Ursprung ist die Kritik der Aufklärung, jener Vernunft, die sich gegen Gott und Metaphysik dadurch emanzipiert haben will, dass sie sich hiervon abwendet. Seine Kritik an dieser leeren Abwendung betreibt er nicht als Antivernunft theoretisch, sondern zugleich als Dichter, der philosophiert, als Philosoph, der dichtet, als Psychologe, der Theologie betreibt und als Mensch, der wahnsinnig wird. Seine Kritik ist total:

Das aufgeklärte Bürgertum, das sind nicht nur falsch denkende Menschen, das sind Charaktere, Typen, philisterhafte Seelen mit jener pastoralen Begabung, mit der sie ihre Selbstzufriedenheit als Verstandesmenschen zum Starrsinn treiben.

Nietzsches Kritik verarbeitet die Potenz des rein Antigöttlichen, welche die Vernunft darin erreicht haben will, dass sie Gott für tot erklärt. Nietzsche war von Kindheit an durch seinen Vater, einem Pastor, in die evangelisch-pastorale Gestik der Gotteskindschaft - wie auch ihrem Aufbegehren - verstrickt. Und da hat er auch die Kraft des theologischen Gedankens erfahren, der sich in Gott darstellt und nicht dadurch aufgehoben sein kann, dass Gott für tot erklärt gilt. Gott ist ein Geist und Geister können nicht sterben. Aber allein der Verlust des Gottesbildes ist schon außerordentlich schmerzhaft. Nietzsche zeigt daran ein elementares Problem des denkenden Menschen.

"Gott ist tot!" - das scheint richtig, um ihm jedes Sein abzusprechen, aber zu einfach, um das Streben der Menschen nach Erlösung von ihrem Erdenleben zu beantworten. Denn in diesem Ausruf bleibt der ohnmächtige Mensch zurück, der sich selbst als ein unaufgelöstes Rätsel ansehen muss. Gegen diese Ohnmacht empört sich Nietzsche: Was macht er ohne Gott, ohne Religion, die seit zweitausend Jahren sein Leben und seine Kultur ausgefüllt hat? Er kann darob doch nicht einfach sachlich werden und zu einer Tagesordnung übergehen, die er noch nie selbst in der Hand hatte. In der Zweifelhaftigkeit, in welcher die Sachwelt dem Menschen erscheint, verbleibt letztendlich immer noch die Frage nach Gott als Frage nach der Auflösbarkeit der wesentlichen Probleme der Menschheit. Es ist die Frage, die gestellt wird, wo der Mensch sich als ein von Gott verlassenes Wesen fühlt, das in seiner Barbarei zu verkommen droht.

Im Gleichnis vom Irren auf dem Marktplatz stellt Nietzsche den Zwiespalt von Vernunft und Wahnsinn als ein identisches Streben im toll gewordenen Menschen dar. Darin offenbart sich die Absurdität der Moderne. Wenn dieser tolle Mensch mitten am Tag mit seiner Laterne umherrennt und in die Menge schreit: "Ich suche Gott! Ich suche Gott!”, so drückt er die Verrücktheit seiner Gegenwart aus. Nur der Irre kann vermeinen, etwas verloren zu haben, was es gar nicht gibt! Er fixiert die Menge und ruft:

"Wohin ist Gott? ... Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? ... Gibt es noch ein Oben und Unten?” (Nietzsche, "Die fröhliche Wissenschaft” WW III, S. 216ff.)

Hier zeigt sich Nietzsche selbst als Irrer, der die Krankheit seiner Welt erfassen will und eine ungeheuere Kraft aufwendet, um an die Unaufgelöstheit einfachster Fragen zu erinnern.

Was hat Denken überhaupt für einen Sinn, wenn es von seinem Gedanken keine Ahnung hat? Was ist, wenn Gott wesentlich weiser und klüger war? Ist Denken nur ein faustischer Kraftakt gegen seine notwendige Krankheit, gegen die Leidenschaften des Lebens, um der Tollheit zu entgehen? Verharrt es in seinem düsteren Begriffsgebälk als Erklärungswelt für sich, so macht es keinen Sinn, dass es sich von Gott abgestoßen hat und nun von allen guten Geistern verlassen ist. Wie kann dies vernünftig sein, wenn es nur seine eigene Vernunft im Zirkelschluss der Erklärung bestätigt? Die Vernunft müsste über ihren eigenen Schatten springen, um ihre Wahrheit als ihre Verfinsterung erkennen zu müssen. Sie müsste sich selbst als bloßer Widerschein eines Prinzips des Vernünftig seins verstehen und verantwortlich fühlen für alles, was nicht ist, wie es sein sollte. Und, würde sie sich in diesem Schatten reflektieren, so könnte sie sich selbst auch nur als der Wahn erkennen, über den sie sich stellen wollte, indem sie den Menschen mit Vernunft läutert, um ihn als Mensch zu entlassen. Es wäre reine Tollheit - eine Wahrheit die teuflisch ist. Doch mit Gott ist doch auch der Teufel zugrunde gegangen.

So bedeutet die Vernunft des Antigottes bloß noch die Beschränkung des Erkenntnisvermögens. Darin liegt die Unmöglichkeit des Menschen vernünftig zu sein und zugleich ist es wiederum die Vernunft, die ihn zur Erkenntnis zwingt, dass er unmöglich wahr sein kann. Indem der Mensch "Gott abgeschafft” hat, hat er zugleich seine unendliche Widersinnigkeit bloßgelegt, die nur der Tolle, der Irre auf dem Marktplatz zu formulieren vermag. Nur ein Irrer kann die Frage stellen: "Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?” Und gerade dies ist die Frage, welche alle Metaphysik in ihrem Untergang stellen muss, wenn sie keine wirkliche Menschwerdung erkennen kann. Sie heißt eigentlich: Wo ist die Achse, um die sich alles dreht, wo das Wesen, aus dem alles geworden? Was müssen wir erkennen, um nicht verrückt zu werden? Bleibt nur die Verrücktheit als die einzige lebende Wahrheit des verlassenen Gotteskindes, so wird sie uns überdauern, weil wir uns darin nur zerfleischen können wie eine Meute, die im Streit zerfetzt, was ihnen zur Selbstachtung geboten ist: Sie selbst.

Für Nietzsche kann es keine vernünftige Wahrheit geben. Wahrheit muss wesentlich ursprünglicher sein, als Denken überhaupt sein kann. Wahrheit ist bei ihm eine Ursprungssehnsucht, die nicht wirklich sein kann, die Traum und Wirklichkeit in einem ist, und in ihrer beständigen Rückführung auf das Ursprüngliche ihre Zukunft hat. Nietzsche kann die Verlassenheit des Menschen nicht in der Erinnerung an seine Gegenwart, an die Widersinnigkeiten seines Werkeltages, auflösen. Er ist im Widerstreit der Vernunft mit sich selbst gefangen. So kann er nicht einfach das gegenwärtig Menschliche schon für die Wahrheit ausgeben, die lediglich aufzuklären wäre, noch darin einen Sinn zu sehen, dass er die Geschichte aufnimmt, welche die Potenzen der Zukunft in sich trägt. Das reine Denken steht vor seiner Implosion, wenn es sein Ziel in Gott verliert und seinen Ursprung nicht im Menschen erkennen kann: Wahrheit kann nicht wirklich sein, also kann auch Geschichte nicht wahr sein. Für Nietzsche gibt es daher keine Menschwerdung, keine schon menschlich gewordene Geschichte, welche in der Tat Gott nicht mehr (an)erkennen muss. Er bricht mit jeder bisherigen Geschichte und verweist auf eine phantastische Ursprünglichkeit des Menschen, die es nur in einer bis zur Unkenntlichkeit vertieften Lebensvorstellung geben kann: Ein Paradies, das zugleich Zukunft sei, in der es die wilden Horden der Leidenschaft ebenso gibt, wie Herrenmenschen, die sie bezwingen. Für Nietzsche gibt es nur dieses brennende Wesen, das seinen Lebensursprung zugleich bezwingen muss, um sich als lebendes Menschenwesen leiden zu können. Nietzsches Mensch besteht in der Nachempfindung der Urtümlichkeiten des Lebens, in denen es Lust, Leidenschaft und Unterwerfung, Herrschaft, Sklave, Gewalt und Macht in einem gibt. So bricht sich alles im Menschen, was aus ihm hervortritt. Er wird in seinem Streben nach außen sich zugleich verwerfen müssen, seinen Trieb verstellen, seine Lust meistern, kurz: seinen Schmerz als sein Grauen vor sich selbst zu leben haben. Das Leben besteht für Nietzsche aus der Kunst, sich selbst zu verstellen. Das Leben stellt seine Fragen nur in der Tiefe dieses Schmerzes:

"Erst der große Schmerz, jener lange langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philosophen, in unsre Tiefe zu steigen ... Sei es nun, daß wir ihm unsren Stolz, unsren Hohn, unsre Willenskraft entgegenstellen lernen, ... sei es, daß wir uns vor dem Schmerz in jenes orientalische Nichts zurückziehen _ man heißt es Nirwana -, in das stumme, taube Sich-Ergeben, Sich-Vergessen, Sich-Auslöschen" (Nietzsche "Die fröhliche Wissenschaft" WW III, S. 12f.).<

Die Tollheit des Denkens

Türcke liest Nietzsche offensichtlich gerne. Nichts ist theologischer, als am Tod Gottes wahnsinnig zu werden. Er ist fasziniert von der philosophischen Weisheit jener Tollheit, über die nur Philosophen in der vollen Dimension einer "Geistesgeschichte" berichten können. Aber Türcke vergisst darüber, an der bedeutungsvollsten Stelle von Nietzsches Kritik der Metaphysik einzuhalten. Die schier unendliche "Tiefe des Denkens" ist Nietzsches Verführungskunst. Wer erschaudert nicht ob der Frage: "Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?" Warum haben wir Gott getötet? Das große Mea Culpa schleicht sich ein, wird angesprochen und mit unendlicher Konsequenz gefüllt. Wir taten das! - Taten wir das? Haben wir jetzt nicht nur vom Baume der Erkenntnis gegessen, sondern ihn auch noch gleich gefällt? Haben wir wirklich unsere eigene Wahrheit verloren und zum Gespött unserer Naivität gemacht?

Türcke bietet uns mit Nietzsche einen Ausweg: Die Wahrheit, die uns bleibt, ist die Verstellung. Die Wahrheit ist die Lüge. Wer Wahrheit sucht, macht sich zum Kleriker, wer sie sagt, zum Pastor. Es gibt für Nietzsche eine große Sünde (und da ist sogar Adorno mit ihm einig): die Verfestigung von Erkenntnis. Das ist, weil Erkenntnis für ihn nur unmittelbares Leben sein kann, Widerstreit des Lebens selbst, Verstand, der sich in Kunst auflöst, entstellt, nur im Moment wahr und nur in der Flüchtigkeit von Geschichte geschichtlich. Nietzsche zeigt es Dir: In Wahrheit fliehst Du mit der Gottesfrage vor dir selbst. Wo du wahr sein willst, da bist du falsch! Werde endlich, der du sein willst! Hier und jetzt. Dein Verstand ist deine Ödnis, deine Reflexionen sind deine Selbstverneinung, deine Wahrheit ist deine Nichtigkeit. Indem du denkst, verlässt du dich selbst. Weil du aber denken musst um zu leben, lebst du nur, wenn du dabei Künstler bist! Ergreife das Wilde in dir und greife nach dem Gott in dir, dem Herrn deiner selbstbewussten Wildheit: Deine Freiheit, die du niemals ganz haben kannst, um die du aber immer ringen wirst!

So klingt es wie das Versprechen einer gigantischen, wenn auch schon in sich beschränkten Emanzipation. Die Atemlosigkeit seines Denkens reist mit. Leicht ist der Einwand vergessen: Haben wir wirklich Gott getötet? Suchen wir ihn wirklich in uns selbst? Müssen wir ihn dort überhaupt suchen? Müssen wir Gott überwinden, indem wir ihn als unseren Ursprung leben? Hiermit aber wird die Frage, welche Religion verfolgt, auf sublime Weise selbst umgekehrt: Müssen wir den Widerspruch nicht wirklich leben, den die Wirklichkeit unseres Lebens hat? Sind wir uns nicht diese eine Wahrheit schuldig, dass es keine Wahrheit gibt? Es ist ungeheuerlich, sich seiner Frage so intelligent zu entheben. Das ist wirklicher Wahnsinn. "Taten brauchen Zeit", sagt der Irre. Es ist die unendliche innere Bewegung, welche ihre Kraft ausmacht, die in der Tat selbst bloße Verausgabung wäre. Nietzsche ist in seiner philosophischen Antinomie überaus konsequent: Der Tatenmensch ist eine Chimäre seiner selbst. Allerdings: Wem das Tatsächliche nur Fakt ist, der findet keinen Sinn in ihm. Der Intellekt verharre, auf dass er seine Bedeutung finde und er kann sie nur durch sich finden, indem er jede Tat verleugnet. Nietzsche schaut ins Innere, weil es ihm das einzig Ursprüngliche ist. Für ihn ist es die innere Bewegung, wenn der Verstand in Kunst übergeht, der Lebensmensch in den paradiesischen Menschen, die Natur in Kultur.

Aber die Verleugnung menschlicher Tätigkeit ist auch unendlich mühsam. Der ewige Träumer erwacht zwangsläufig im permanenten Erschrecken. Und doch kann nur geträumt sein, was zugleich wahr ist: Der Zwang zum Überleben des Menschlichen, das seinen Gott verlassen hat, hatte in der Aufklärung eine bloß dilettantische Selbstgewissheit. Natürlich konnte sie in dem, was ist, nicht klären, warum es ist. Es war aber zugleich nichtig, darüber zu sinnieren, solange kein Mensch selbstbewusst diese Existenz befragt. Das zweifelhafte Selbstbewusstsein Nietzsches gerät leicht zur Verzweiflung, wenn er um das Überleben des Menschen ohne Gott eifert. Der Irrsinn riecht nach Absolutem. Es kann doch nicht die Verneinung seiner bisherigen Geschichte sein, auf der eine neue zu gründen ist! Es ist doch nicht das Erwachen aus einem unendlichen Traum, in welchem der Mensch Jahrtausende verbrachte und aus dem er hervorschreckt, als ob ihm schon "Deutschland erwache!" auf der Zunge liegen müsse.

Nein. Wir haben Gott nicht getötet! Die Überwindung der Religion ist keine Anmaßung an den großen Geist. Die wirkliche und einfache Auflösung Gottes ist, den "Menschen als höchstes Wesen für den Menschen” (Marx) zu begreifen. Es kann doch kein Erschrecken sein, wenn der Mensch erkennt, dass er noch nicht wirklich wach ist, wenn er erkennt, dass er nur ist, was er sein soll, also bestenfalls werdender Mensch ist. Es ist wesentlicher und einfacher und umfassender, was Marx geschrieben hatte: Religion ist der mystische Schein, den die Menschen über ihr Elend ausgebreitet haben, der "Seufzer der bedrängten Kreatur", der nicht wagt, den Schleier zu lüften und das herrschende Bewusstsein als das Bewusstsein der Herrschenden anzugreifen! Da kann es doch nicht sein, dass wir Gott hätten töten müssen! Er war uns nur nötig, weil und solange wir uns unseres Lebens nicht bewusst waren, weil wir es bisher selbst nicht erkannt, weil wir unser eigenes Elend nicht in unsere eigenen Hände genommen haben. Das ist keine Schuld, keine Tötung: Das ist der Triumph der Selbsterkenntnis des Menschen, der weiß, dass er seiner Sache bedarf, um Menschen zu sein und der die Sache menschlich machen muss, um endlich sachlich zu werden. Mit der Erkenntnis, dass die bürgerliche Gesellschaft eine Gesellschaft ist, in welcher der Mensch sich nur als Sache erscheint, die noch nicht menschlich ist, ist der Grund aller Selbstverstümmelungen des Menschen bloßgelegt. Die Erkenntnis des Kapitalismus als eine Systematik menschlicher Barbarei ist menschliche Selbstverständigung, welche mit der Kritik der poltischen Ökonomie in die Welt tritt. Diese Barbarei ist Gegenstand marxistischen Denkens. Was will da ein Marxist mit Nietzsche?

Hiergegen steht Nietzsches Seelenwesen Mensch, das sich als lebenden Urgrund in der Wildheit seiner Sinnlichkeit und zugleich im Zwiespalt zu seiner Vernunft letztlich nur als Seele kennt. Es ist ein Wesen, das sich fortwährend im Kampf mit seinem Gegner aufreibt, und sich immer wieder neu auf die Welt bringen muss, weil es beständig seine Welt wieder verliert. Ist solch schlichte Notwendigkeit nicht auch bloß eine Vernunft, die nicht besser ist, wie die aufgeklärte. Oder ist sie vielleicht sogar auch noch übergöttlich, ein Ratschluss Gottes, der über die Vernunft hinausgeht, indem sie in den Menschen als absoluter Widerspruch zurückkommt? Es ist grausam, das weiß Nietzsche. Aber er sagt es eben: Das Leben ist das Grauen selbst. Ist er nicht der absolute Wahrheitsfanatiker, der Wahrheitsapostel, der er nicht sein will und den er nur in der Verstellung wirklich sein kann, der seine Logik für das Irdische des Gottesgedanken hält?

Bei Nietzsche ist der Mensch tatsächlich umgekehrt: Hier ist er nicht werdend, sondern bedrängt, - bedrängt von der Notwendigkeit des Lebens, nicht sein zu können, was es ist und zu werden, was nicht ist. Für Nietzsche ist das eine schlimme Krankheit, die sich nur auflösen kann, wenn auch ihr eine Art Menschwerdung gelingt, und sei es im Ritual des Kults, der sich fortwährend seiner Auflösung zu besinnen hat, der Ästhetik seines Werdens und Vergehens. Menschwerdung ist für Nietzsche die ungeheuere Versuchung, den Widersinn sinnlicher Wahrheit in den Seelenkräften zu lösen und zur Herrschaft wilder Schönheit zu erheben. Doch dies ist schiere Verzweiflung des Feinsinns und wiederum gleichsinnig mit der Menschwerdung eines Gottes, dessen Vernunft nur darin bestehen kann, dass sie den Menschen schwächt, wo sie ihn sein lassen muss. Sicherheit gibt es nach dieser Logik nur im Leiden der Abgründigkeiten und dem sich Festhalten im "Gebälk der Begriffe", im Schmerz als Wahrheit aller Widersinnigkeiten. Das macht Nietzsches wesentliche Aussage und auch seine Bedeutung aus - nicht als Philosoph, aber als Psycholog, der sich als Philosoph ausgibt, der um die Abgründe von Seele und Geist weiß und Triebe in ihrem Antagonismus zum Verstand sieht. Von daher erscheint seine Erkenntnis vielleicht tief, vielleicht platt, je nachdem, worauf man sie bezieht. Jedenfalls füllt sie eine Lücke in der Kulturkritik, die Marxisten bisher geleugnet haben - und deshalb immer wieder mit dem Nietzsche-Derivat Sigmund Freud "ergänzten". Die Seele blieb ihr blinder Fleck.

Wo Marxisten mit ihrer Hinwendung zur Ökonomie die lebende Frage nach dem Sinn menschlicher Arbeit, nach ihrem Inhalt und ihrem Reichtum beiseite tun, verfüllt sich ihr Bewußtsein mit Formalitäten. Die Versuche, in der Kritik der Ökonomie sich auch von der Ökonomie abstoßen zu können, sie zum "Fehler des Kapitalismus" zu erklären, hat sich als obsolet erwiesen. Das war auch nie gewollt, wo es Marx um die Kritik der politischen Ökonomie gegangen war. Kritik ist Abgrenzung. Kritik der politischen Ökonomie ist eine Entgegnung zur Politik mit der Ökonomie. Damit ist gesagt: Ökonomie ist ein Wissen um eine Wirtschaft, um das die Menschen durch Politik betrogen werden! Es war ein furchtbarer Fehler, dass im Namen von Marx ein sozialistisches Staatswesen geschaffen worden war, das sich ausdrücklich als Politik mit Ökonomie verstand. Sozialisten haben sich an dem Betrug beteiligt. Stalin hat gezeigt, was mächtige Ökonomie für den "guten Zweck" des Sozialismus ist. Politik als gesellschaftliches Wissen konnte nicht entstehen, weil sie als Wissen gegen die Gesellschaft missbraucht wurde – sei es gegen die Menschen als Forderung an sie, sei es gegen den Staat als Anspruch an ihn. Die "wirkliche Bewegung des Kommunismus" hat noch nicht stattgefunden. Schlimm ist, dass dieser Fehler der Marxrezeption nicht wirklich behoben wurde. Sie wurde ausgelöscht und mit ihr der Marxismus aus dem Bewusstsein der Menschen verstoßen.

Das Versagen ohne Schlussfolgerungen hat Folgen. So kommt immer wieder Nietzsche, der eigentlich einzige wirklich kräftige Gegenspieler zu Marx, ins Spiel, sei es durch Heidegger, Freud oder Foucault. Er bietet die Tiefe der radikalen Selbsterkenntnis, das Gespür für psychologische Antinomie, den Irrsinn des Identischen. In der Psyche lassen sich die Strukturen des Verstandes erkunden und auflösen. Er wird leicht zu einem geistigen Lebensberater, der dem Marxismus vor allem vorraus hat, dass er eigentlich weder Sprache noch Wissen, noch Bewusstsein benötigt. Die Hingabe in der Kunst wäre wesentlich wahrer. Nietzsche ist Dichter und Denker in einem. Er hat seine "Denkansätze" nirgendwo richtig ausgeführt, beklagt sich Christoph Türcke. Das macht Sinn: Das wesentliche von ihm wird so auch leicht zur Gesinnung und also in einer Form wirklich, in der Wirklichkeit nicht mehr bedacht werden muss.

Schmerz im Gebälk der Begriffe

Nietzsche kritisiert den strukturellen Verstand, jenes "Gebälk der Begriffe” , das so nichtssagend wie vielsagend ist. Aber er findet einen seltsamen Weg aus diesem Widersinn: Indem Verstand in sich verweilt, verstellt er sich selbst. Er tut so, als ob er etwas weiß, weil er weiß, dass er nichts tut. Das Gebälk für sich wäre marode, wenn es nicht diese Kunst der Verstellung gebe, das Spiel mit dem Nichts, die "Herrschaft der Kunst über das Leben” (Nietzsche "Über Wahrheit und Lüge”, WW V, S. 321f). Der Begriffspanzer ist zwar zur physischen Selbsterhaltung nötig, wird aber gerade darin Kunstwerk, dass er das nicht nötig hat. Für Nietzsche ist das eben die Kunst, die sich in der Verstellung beherrscht; es ist die Kunst der Verstellung. Wahrheit kann so nicht sein und deshalb existiert sie eben auch nirgendwo, und das ist die Wahrheit, die einzige Wahrheit der Kunst. Wer hierauf einen Aufstand der Künstler erwartet, der irrt. Die großen von ihnen haben applaudiert.

Es ist dies eine Theorie der Hochkultur, die das Spiel mit dem Ausdruck reflektiert. So wird Kunst ultimative Ästhetik, die den einzigen Sinn hat, den Verstand zu "befreien", wo er sich um Wahrheit zu bemühen versucht. In Wahrheit gilt hier Kunst als das Lebensspiel _ und daher spielt sie auch mit der Wahrheit des Lebens. Das ungeheure Verdikt, dass Wahrheit nichts ist außer dass nur Kunst wahr ist, ist ein Verbot aller Selbsterkenntnis durch die Behauptung eines unendlichen Prozesses des Selbsterkennens und Selbstwerdens in der Kunst und durch sie. Das ist so begrifflos wie göttlich. In dieser Unendlichkeit von Wahrheit, in dem unendlichen Zirkelschluss um die Ästhetik steckt eben wiederum dieses Große, der Gott, den es nicht gibt - eben wieder ein Geist ohne Sinn, der nur darin sinnlich ist, dass er Sinn sucht! Gäbe es nicht die Kunst dieses freien Geistes, Nietzsches Denken wäre eine fürchterliche Qual der unendlichen Gottesfurcht, die fortwährend vermeiden müsste, was allein sie finden will. Sein Widersinn ist jener altbekannte Widersinn der Versuchung des Menschen, sich nur deshalb gegen Gott zu richten, um Gott zu sein. Die hierauf folgende Vertreibung aus dem Paradies findet auch bei Nietzsche statt, aber eben doch auch nicht. Er verharrt in der bloßen Versuchung, die sich unterschiedliche Gestalten verschafft. Nach innen gewendet bleibt die Versuchung reiner Geist, freier Geist, Geist ohne Sinn. Der Intellekt wird zur Gier des Intellektuellen, der sich in der Kunst über sein Leben erhebt. In ihr verinnerlicht er zugleich sich selbst und wendet sich als dergestalt erhobene Seele gegen den Schmerz seines Daseins, gegen "das Grauen der Welt". Ästhetik wird zur Lust und Qual des Geistes, der sich von den niederen Bestrebungen des Begreifenwollens gelöst hat. Sie ist unsäglich unmittelbar und sagenhaft vermittelt. Vielleicht ist dies der Kern der Nietzeanischen Weisheit: Die Weissagung, dass nichts begreifbar ist, weil alles nur durch sich lebt, wie es ist, wenn es nicht begriffen wird. Die Ergriffenheit, mit der Nietzsche den Wahnsinnigen belauscht, ist das Wesen der Begriffslosigkeit und das verlangt sprichwörtlich den Ausweg ins Ästhetische.

Aber gerade von dieser Seite, wo Nietzsche außerordentlich konsequent ist, meint Christoph Türcke, kritisch zu Nietzsche stehen zu müssen. Er wäre ja sonst eine wirkliche Kritik an Theologie und es wäre zu durchsichtig, dass Theologie sich in Hochkultur verlieren muss:

"Dieses Umspringen von der Erkenntnistheorie ins Ästhetisch-Psychologische taucht die Abgründe der menschlichen Seele, die es so ungeheuer erhellt, derart ins Zwielicht, zieht dadurch ein ständig neues Umstellen der Perspektiven nach sich, daß sich schließlich genau der Schwindel einstellt, um dessen Vermeidung es ging ... Wenn Kunst heißt, ein Lügengespinst zu zerreißen, das Gespinst aber selbst Kunst ist, denn Verstellung ist Kunst - wie soll man da kein toller Mensch werden?” (Türcke S.58).

"Wer tief in die Welt gesehen hat, errät wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltener Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein” (Nietzsche "Jenseits von Gut und Böse”, WW IV, S. 620).

Das Dilemma einer solchen Welt könne, so Türcke, nur in der Tiefe aufgelöst werden, welche Menschen unbewusst in sich selbst haben, um sich als Einzelwesen und versammelte Einzelwesen zu begründen und zu erhalten: In der Seele, die ihre Geschichte suche. Nur ihr leidenschaftliches Leiden mache sie geschichtsfähig. Eine Seele, welche nur das Ästhetische suche, bleibe eben wirklich nur eine Tautologie, wenn sie nicht ihre schuldhafte Verstrickung in diese Welt verspüren und nicht ihre Schuld und ihr "schlechtes Gewissen" an dieser Welt auflösen wollen würde

Aber darin steckt auch gleich das Dilemma jeder Psychologie, die in der Seele das Wesen des individuellen Menschen als Wesen des menschlichen Individuums begreifen will: Wäre die Seele so willig, sich als schlechtes Gewissen an der Welt zu verstehen, so müsste es ihr genügen, die Dinge des Lebens zu bewerten und dafür sich verantwortlich zu zeichnen oder sie gar zu ändern. Dies wäre das schlichte Ende der Ästhetik wie auch jeglicher Eigenwelt. Aber an dieser Stelle, wo sich sein Denken auflösen müsste, gewinnt sich Nietzsche - von Türcke unbemerkt - als elitärer Denker, der den Stachel des Intellekts gegen das Leben der Menschen nötig hat: Die Menschen verlassen ihre Trägheit nicht freiwillig. Für sich finden sie keinen Halt, wenn sie in die Tiefe sehen; der Schwindel bleibt, was er war. Es ist der Strudel ihrer Lebensangst, ihre Todesfurcht. Was ihnen Leiden oder Tod bringt, kann kein Halt sein:

"Und an diesem Punkt erst beginnt Nietzsches psychologisches Hauptstück. Halt geben können Begriffe, Gedanken, Abstraktionen nur, sofern sie selbst etwas relativ Festes sind, worin die Vielzahl flüchtiger Eindrücke und Affekte aufbewahrt bleibt: Gedächtnis” (S.78).

Jetzt kehrt sich Nietzsches Denken zur Welt, und dies in einer ungemein offen reaktionären Psychologie, denn sein Mensch ist kein Mensch durch sich selbst. Es ist die Antitheologie, welche es Nietzsche möglich macht, dem Menschen eigenen Sinn fürs Allgemeine abzusprechen:

"Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergeßlichkeit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt? ... Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis - das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. ... Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen” (Nietzsche: Genealogie, WW IV, S. 802f).

Was sich so wie eine Kritik an der Menschheitsgeschichte lesen ließe, wird zu ihrer Affirmation durch das Bekenntnis zur Disziplinierung des "Tiermenschen”, zur Kulturnotwendigkeit von Schuld und Strafe als Tatsache des allgemeinen Menschseins, als zwangsläufiges und zugleich wohlgefälliges Verhältnis der Seele zu sich selbst:

"Ohne Grausamkeit kein Fest: So lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen - und auch an der Strafe ist soviel Festliches, ... eine Art Wohlgefühl, (das) als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird - das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, ... der Genuß in der Vergewaltigung” (a.a.O. S. 806).

Schmerz als Strafe und Lust der Seele, die sich damit nach innen und nach außen zugleich wendet, scheint auch für Christoph Türcke in seinem Buch eine notwendige Basis für das Psychische zu sein, wodurch sich der Intellekt, dieser angebliche "Grundwille des Geistes” gegen seine Tierhaftigkeit, seine Triebe wendet und sie mit sich versöhnt. Solche "Philosophie” ist ja auch die Grundlage der klassischen Psychoanalyse:

"Die intellektuelle Tätigkeit ragt tief ins Triebleben der Menschen hinein. Das, was herkömmliche Erkenntnistheorie Denkvermögen nennt, ist nur die nach außen gekehrte Firnisschicht eines inneren Vorgangs, von dem der Erkennende unmittelbar kein Bewußtsein hat und ohne den er nie zu Bewußtsein käme. Solange Geist nur in physischen Wesen vorkommt, gibt es begriffliche Synthesis nicht ohne physischen Impuls, daher nicht ohne den Willen, etwas zu bündeln, zusammenzufassen, in den Griff zu bekommen - nicht ohne Machtwillen.” (Türcke, S. 84).

Dies ist der Springpunkt des bürgerlichen Denkens zwischen Macht und Ohnmacht, Natur und Kultur, Bedingtheit und Wille, Freiheit und Notwendigkeit, was Türcke bei Nietzsche als seine besondere Wahrheit ortet:

"Der Impuls des Sich-Gehen- und Treibenlassens und der Impuls zur Bündelung und Synthesis: beide wirken einander entgegen - und dabei zusammen. Der Wille, umgängelt umherzuschweifen, ist Machtwille; der Wille, Herr über alle schwadronierenden Regungen zu sein, ist Machtwille.” (S. 86).

So entsteht quasi ein Spiel der Kräfte, wie es in der Psychoanalyse auch im Triebkonflikt gefasst ist: Machtwille will auch gebrochen sein,

"denn auch sein Wille geschieht, wenn er überwältigt wird, während umgekehrt der Machtwille, der ihn überwältigt, einen Widerstand bricht, der sein eigener ist - sich selbst brechender Machtwille.” (S. 87)

So empfiehlt Türcke auch nebenbei der Psychologie eine "zukunftsträchtige Perspektive, die Nietzsche hier aufreißt. ... Für die seelischen Mechanismen und Regungen unterhalb des wachen Bewußtseins, denen später die systematische Aufmerksamkeit der Psychoanalyse gilt, hat er noch sehr vorläufige und sporadische Bezeichnungen - aber größte Klarsicht für ihren Zusammenhang mit den höchsten Erkenntnisleistungen. Den langwierigen Prozeß der Disziplinierung und Selbstdisziplinierung, ohne den es zu vernünftigem, systematischem Denken nie hätte kommen können, selbst noch aus der Funktionsweise des Erkennens erraten, noch an der abstraktesten geistigen Synthesis das physische Substrat: - das ist psychologischer Zugriff, wie ihn die Psychoanalyse gerade nicht fortgesetzt hat.” (S. 87).

Das Verdienst TürckeS ist, Nietzsche eine Dialektik in seinem Denken nachzuweisen, was Nietzsche immer heftig abgewiesen hat, nicht nur, um sich selbst nicht "als den Dialektiker zu erkennen, den er in Sokrates, Platon und Hegel bekämpft” (S. 87), sondern, wie ich meine, um durch sein Denken sich zu dem zu verallgemeinern, was er zu bekämpfen vorgibt: zum Theoretiker der Lebenshärte als Philosophie der Selbstunterdrückung, zum intelligenten Faschisten, der den Widersinn der Menschheitsgeschichte in einer konkreten Heilserwartung auflöst und eine Einigung des Urmenschlichen (das "Rudel blonder Raubtiere, eine Eroberer- und Herrenrasse”) mit dem Kulturmenschlichen verspricht, dem "Verlangen nach Aufhören allen Widerstreits in der Natur, das sich einzig in Form einer Selbst-Dementierung außert.” Der Priestertypus, der hierfür nötig ist, ist ein notwendiger Führer, der eine Revolutionierung zu einer neuen Welt versprechen kann, die den Widerspruch zwischen ihm und dem Animalischen, das er zu einer "Wohlgeratenheit der Eroberer- und Herrenrasse” bringen will, auflöste. Das Versprechen zielt auf das Ende des priesterlich-gehemmten Wütens durch die Befreiung aus seiner Selbstverneinung, welche nur seine höchste Steigerung sein kann: "ein herrisch-hemmungslos-offenherziges Wüten” (S. 93).

Es ist dies wohl die absoluteste Phantasie, die totale Religion des Erdenmenschen, zu welcher es der "freie Intellekt” zu bringt, wenn er sich sich zu einer radikalen Selbstdisziplin brutalisiert, wie er sich auch darin vollständig hervorkehren kann, dass er diese ihn heroisiert. Natürlich hebt Nietzsche diesen Faschismus auch sogleich wieder auf _ er wäre nicht Nietzsche, wenn er das nicht könnte: Ihm geht es um eine Geschichte, welche ihre eigene Bewegung aushält, die nicht nur den Menschen, sondern auch sich permanent ändert. Nietzsches Gott ist die Geschichte des Herrenmenschen, der immer wieder neu entsteht, der sich dadurch erneuert, dass er Schwäche zeigt, dekadent wird und von den Schwachen abgelöst wird, die nachtreten und dies können, weil ihre Schwäche sie klug gemacht hat:

Die "Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr - das macht, sie sind die große Zahl, sie sind auch klüger ... die Schwachen haben mehr Geist" Nietzsche "Götzen-Dämmerung", WW IV S.999).

Das Grauen und der Wille zur Macht

So kann Nietzsche denn auch die Geschichte unabhängig von der Wirklichkeit, von ihren Epochen und den Kämpfen der Menschen darin, in Jahrtausenden fassen, in welchen sich alleine die Umwertung der Werte vollzogen hat. Das ist seine Genealogie, von der Intellektuelle bis heute schwärmen und sich an der Archäologie der Bewertungsgeschichte begeistern können (Foucault). Es sind die Werte, welche ihre Verstellung abstreifen und ihre Grausamkeit als eine geschichtliche Tatsache offenbaren und umkehren. Allein das unverstellte Grauen des menschlichen Lebens kann sich in der Selbstbejahung mit "der Firnis der Schönheit" (S. 117) gebärden, in der sich auch der Mensch selbst verherrlicht, wie er als Herrenmensch auch grausam ist.

"Nur das unverstellte Grauen ist das verklärte, und nur 'als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt' (Nietzsche, "Die Geburt der Tragödie", WW I, S. 40)" (S.117).

"Nietzsche ist Exorzist des Grauens" (S. 117) indem er konkretes Leiden "in die geistige Form und Ferne" (Nietzsche, "Die fröhliche Wissenschaft, WW III, S12) umsetzt, um "jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher Geschichte hieß, ein Ende zu machen" (Nietzsche, "Jenseits von Gut und Böse", WW IV, S. 661).

Das macht Nietzsches Verlangen nach Stärke aus. Er sucht den Typus Mensch, der die Geschichte in den Griff bekommt. Es verlangt den Intellektuellen, der zugleich "stark und ursprünglich genug" ist, "um die Anstöße zu entgegengesetzten Wertschätzungen zu geben" (Nietzsche, "Jenseits von Gut und Böse", WW IV, S. 661).

Endlich löst sich Nietzsches Werk konsequent auf:

"Dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nötig sein, an deren Bilde sich alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blaß und verzwergt ausnehmen möchte." (Nietzsche, "Jenseits von Gut und Böse", WW IV, S. 661).

Genau dies hatten wir im Dritten Reich dann auch bekommen. Nietzsches Logik erscheint hier ganz klar als Logik des Faschismus, der an der Sehnsucht der individuellen Seele ansetzt und sie als Volksseele, als Verlangen nach einem Führer denkt. Er hält Führung für ebenso nötig wie das Einbrennen des Nötigen in das Gedächtnis der Menschen.

Nietzsches Traum ist die phantasierte Welt der Herrenmenschen, die sich als Avantgarde des Menschseins dünken dürfen und sich dabei der seelischen Regungen ihrer Untertanen aufs Genaueste versichern müssen, um deren Klugheit richtig aufzugreifen, zu erfassen und zu verbrennen. Was Nietzsche allerdings nicht zu kennen schien, war die Kraft der Form, die hierin gewonnen wurde, die Macht des Besitzes an Wissen und an den Mitteln des Lebens. Darin teilt sich auch die Naivität seines Intellekts der Welt mit. Nietzsche ist nicht so einsam, wie er sich fühlt. Sein Traum ist zwangsläufig der Traum des freien Intellektuellen und des Intellektualismus schlechthin, wie er uns heute unbemerkt über fast jede Psychologie vermittelt wird, wenn sie die Auflösbarkeit seelischer Probleme in der Seele selbst, in der Umwertung ihrer Werte _ und sei es durch den freien Diskurs _ suggeriert. Zwangsläufig ist die Bekämpfung jeder Macht ein Streit um die Macht, um die Macht der Bewertungshoheit, die sich wissenschaftlich geben kann oder politisch. Ja, gerade darin ist Wissenschaft politisch und Politik wissenschaftlich! Es ist letztlich ein ideologischer Streit um die rechte Ideologie.

An Türckes Buch lässt sich leicht aufzeigen, wie reaktionär Psychologie sein kann, und wie fortschrittlich sich Faschisten durch sie begründen können. Die Dialektik der Selbstentfremdung des Menschen mündet hier in eine konkrete Allgemeinheit, die nur eine starke Staatsmacht praktizieren kann: der Wille der Stärke gegen das Schwache, und das "Einbrennen” der kultivierten Vernunft in das "Menschen-Tier”.

Die Menschheitsgeschichte wird somit vorgestellt als die Entwicklung des Schwachen zum Starken, der seine Wildheit als seine Freiheit verallgemeinert und zur Kultur des Herrenmenschen bringt, die Geschichte des menschlichen Erstarkens. Was so als fortschrittliches und radikales Geschichtsverständnis erscheinen will, ist zutiefst konservativ und nur auf die Erscheinungsweisen des bürgerlichen Individuums bezogen, das seine Entwicklung aus dem Gegensatz zwischen seinem "durchtriebenen Trieb” und seiner Askese begründet, seiner Habgier und seiner allgemeinen Bezogenheit durch Selbstdisziplin. Was als Beziehungsform des Geldverhältnisses begreifbar ist, wird in der Psychologie zum Grundkonflikt des Seelischen. Immerhin: Bei Nietzsche ist es die Krankheit, welche diese Seele ausmacht. Es handele sich dabei nicht um eine "Krankheit an der Seele; die menschliche Seele selbst ist diese selbstquälerische Wendung nach innen” (S. 82), diese "größte und unheimlichste Erkrankung, ... von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist” (Nietzsche: "Über Wahrheit und Lüge”, WW V, S. 319). Um sich bei seiner Gesundung als Bürgermensch allgemein ausbreiten zu können, muss sich jedes Individuum in einen Kulturstaat einfinden, der letztlich die Gesellschaftsform und Stärke des Übermenschlichen sei, wie er auch seine Bedrohung enthält, insofern er immer auf dem Schwachen, dem Untermenschen gründen muss. Denn nur das Schwache hat die Kenntnis der Lebenskräfte, die das Starke, einer Drohne gleich, in sich aufsaugt und für das Geistige und Schöne vertut.

Und das Schöne ist dann wohl auch das, was so ungeheuer faszinierend ist - für den, der ihren Preis nicht bezahlen muss. Kurzum: Das Leben ist grausam. Nach Christoph Türcke ist Nietzsches Anliegen das Bekenntnis zur Grausamkeit der Sklaverei ein notwendiges Lebensbekenntnis für Nietzsche. Tatsächlich ist es ein Bekenntnis zum Ästhetischen, zur Kunst als Macht der Unendlichkeit, zur Lithurgie einer Lebensmesse ohne Gott. Dafür ist alles nötig, was die größere Menge der Menschen ihr zu unterwerfen vermag. Der intelligente Faschismus kommt ohne Ästhetik nicht aus. Nietzsche hat ihm zugeflüstert, dass solches Selbstverständnis als eine ästhetische Forderung bestehen und sein muss, die "mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt" (Nietzsche "Fünf Vorreden", WW V, S.275), um eine Basis für eine Höherentwicklung der Menschheit in einer Elite von Herrenmenschen zu erzielen, also "als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu höherem Sein emporzuheben vermag" (ebenda). Das Grauen einer solchen Gesellschaft müsse nach Nietzsche als Lebenswahrheit entgegen der "verlogenen Kollektivsklaverei" des Sozialismus hingenommen werden, die sich hinter der "Würde des Menschen" und der "Würde der Arbeit" verberge (Türcke S. 116).

Nietzsche hat auch damit die finale Begründung für den ungeheueren Zynismus gegeben, wie er im deutschen Faschismus praktiziert wurde. Er hat selbst auf ihn gehofft und spricht von einem Führertypus, von einem

"Menschen, der den Menschen rechtfertigt" (Nietzsche, Genealogie, WW IV, S. 788). Er erwartet "einen komplementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um deswillen man den Glauben an den Menschen festhalten darf" (ebenda)

quasi als

"Theodizee nach dem Tode Gottes" (Türcke, S. 117).

Es ist wahr: Der Nietzscheanismus ist eine Religion, die nicht an Gott glaubt und deshalb göttliche Menschen sucht und versucht _ und sei es auch nur als der der verschwiegene Intellekt, der seiner Selbstbestätigung im Ästhetischen harrt. Es steckt schon im Anbeginn des Denkens von Nietzsche, in der behaupteten Tragödie, die der Irre auf dem Marktplatz formuliert hat. Es ist die Selbsterregung des religiösen Gefühls, das sich bekennt: Ich habe Gott getötet. Es ist der gute Mensch, der immer davon lebt, dass er sich selbst etwas schuldig bleibt. Selbstverständlich ist für ihn die Bestreitung von Macht _ nicht, weil er sich selbst im Kampf gegen Macht verteidigt, sondern weil er um die Macht seiner Güte kämpft _ und hierfür ist er auch grausam. Es ist die Vorsehung, die ihn ins Feld schickt, um die Welt aufzuräumen. Das kann in der Tat nur ein Herrenmensch vollbringen.

Indes besorgt Nietzsche eine ungeheuere Rationalität für diesen Menschen. Auf dem Gipfel seiner Theorie, dem "Wille(n) zur Macht" wird er vernünftig, wie Christoph Türcke etwas konsterniert feststellt. Dabei formuliert Nietzsche lediglich das, was in seiner ganzen Theorie von Anfang an impliziert war: Macht gilt ihm als Prinzip des Natürlichen schlechthin, letzter Ursprung des Lebens, Trieb.

"Gesetzt endlich, daß es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären _ nämlich des Willens zur Macht...; gesetzt, daß man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung _ es ist ein Problem _ fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet _ sie wäre eben Wille zur Macht' und nichts außerdem" (WW IV, S. 601).

Das Schöne und das Gute

In der Tat ist "der Wille zur Macht" die letzte Konsequenz einer radikalen Ideologie des bürgerlichen Individuums. Seine unendliche Selbstdisziplin muss unendlich belohnt werden. Diese natürliche Lebenstatsache hat Nietzsche schon lange vor Freud ausgesprochen. Auch dieser hatte ein Meer, ein "ozeanische Streben" als Prinzip des Lebens gefasst, sich allseitig und unendlich auszudehnen. Das Leben überhaupt wie einzeln, oder besser: Das individuelle Leben allgemein gedacht, muss seine Natur in sich und durch sich haben. Wer Natur in individuellen Naturen erforscht und also Natur als Individuum denkt, findet die unmittelbare Sicht einer natürlich scheinenden Metaphysik allemal bestätigt: Man kann das Leben nicht aus seinem Reproduktionsinteresse erklären _ nichts wäre entstanden. Für einen Verstand, der keinen anderen Gegenstand als sich selbst hat, erklärt sich das Leben nur aus einem unbedingten Streben, aus einem Prinzip _ also aus einer Naturvariante der Metaphysik. Dieses Prinzip soll bringen, was der Verstand in seinem widersinnigen Gebälk nicht bringen konnte. Es ist nicht alleine Geschlecht, nicht alleine Hunger, nicht alleine Schutz. Ergo: Nennen wir es Wille. Alles, was lebt, lebt durch den Willen.

Aber Wille wozu? Auch dies könne die Natur beantworten, Darwin habe es bewiesen: Nur das Starke setze sich durch! Das ist Konkurrenz "natürlich" zu Ende gedacht und zur Naturtatsache gemacht: Macht natürlich, natürlich: Macht

Türcke konstatiert:

"Das ist, es läßt sich nicht leugnen, eine metaphysische These" (S. 125).

Es ist das psychologische Prinzip des Individuums, das Freud so präzise nicht zu formulieren vermochte, jedoch dasselbe meinte:

"Der Mensch sucht nicht Lust und vermeidet nicht Unlust (...) Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße Begleiterscheinung _ was der Mensch will, was jeder kleinste Teil eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus von Macht. ... Die Unlust, als Hemmung seines Willens zur Macht, ist also ein normales Faktum, das normale Ingrediens jedes organischen Geschehens; der Mensch weicht ihr nicht aus, er hat sie vielmehr fortwährend nötig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus". (WW VI, Nachlass, S. 712).

Damit ist dann auch Christoph Türcke zufrieden und weiß anzumerken, wo Nietzsche selbst auf den Kitzel dieser Denke hinweist

"Dies ist der Fall z.B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des Koitus"(Nietzsche a.a.O., S 714), diese "aufregenden, psychoanalytisch übrigens noch längst nicht ausgeleuchtete triebtheoretische Details" (Türcke S 126).

Das ist dann auch in der Tat des Pudels Kern einer bürgerlichen Existenz, die finale Logik der Aufklärung, ihr letztlich wirklicher Verstand: Die Entfaltung und ihre Hemmung. Dem ist Nietzsche näher gekommen, als er es wollte. Der Altphilologe findet sich - wie auch Freud - in der Naturbetrachtung bestätigt. Er hatte in seinem Werk das ganze bürgerliche Leben ausgeleuchtet, das er im einzelnen Menschen anschaut und allgemein denkt. So verfällt er der spekulativen Naturlogik, der alle Theoretiker der Psyche verfallen, die das Individuum prinzipiell verallgemeinern. Wenn man den Menschen nicht in erster Linie als gesellschaftliches Wesen denkt, das sich seine Verhältnisse selbst in der Auseinandersetzung mit seiner Natur erzeugt, verfällt man immer dieser "einfachen" Metaphysik der Natur, dem Antagonismus von Trieb und Hemmung (vgl. hierzu auch C.G. Jung, Sigmund Freud, Joseph Breuer, Wilhelm Reich).

Ist Nietzsche nun dort gelandet, wogegen er aufgestanden ist: In der Aufklärung?

Nein. Solche Begriffe wie Entfaltung und Hemmung sind bei ihm keine Begriffe. Er verwischt sie sogleich, wo er sie gerade doch erst geborgen hatte: Es ist es nicht der Antagonismus, sondern das Wechselbad von Trieb und Beherrschung, Instinkt und Rationalität, Willkür und Führung, Unten und Oben, Sklave und Herr, das die Geschichte des Menschen ausmacht, in sich verschlingt und seinem "Dasein Glanz und Aura" verleiht. Die Verschlungenheit der inneren Bewegung macht den aufgeklärten Bürger ja auch erst wirklich erregt. Es "reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen" (Goethe, Faust I). Die Verschlungenheit von Trieb und Hemmung, die ihm keine Abstraktionen werden sollen, werden so zu einer in sich scheinenden Konkretion: zum Glanz einer Schönheit, der nur in der triebhaften Hemmung seinen Sinn hat. Das ist ein kleiner und doch großer Unterschied zu Freuds Sublimationstheorie: Dieser Sinn ist triebhaft herrschend, ist notwendig herrschender Trieb, der aber weder Trieb noch Herrschaft sein kann, noch beides in einem, sondern nur Sinn sein kann, um "die gottverlassene Welt wenigstens als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen" (S.127).

Ästhetik wird hierdurch zum Maßstab des Menschseins, zu dem, worin sich menschliche Vernunft dann doch selbstkritisch entwickeln kann: Jetzt erscheint sie geläutert zu einer Vernunft, die sich aus dem "Instinkt der Freiheit" ergibt. Natürlich hat dies zwei Seiten. Sie ist instinkthaft und muss doch herrschen. Sie ist zweifellos so etwas, wie ein herrschender Instinkt, der sich vernünftig vorstellt. Nietzsche weiß das sehr wohl. Es ist letztlich ja auch die Ausgeburt seines Verständnisses von Kunst als Einheit mit der Vernunft, die ohne Kunst nur "Gebälk" sein kann. Diese Vernunft enthält allerdings eine Wendung in die "Richtung nach rückwärts" (WW IV, S. 828), zielt gegen ihre eigenen Vorraussetzungen. Dies muss für Nietzsche in aller Konsequenz auch nötig sein. Es ist eben die Vernunft dieser Elite, dieses "befehlerisches Etwas, das vom Volke der Geist' genannt wird" (a.a.O. 694). Es ist dies zweifellos ein Geist _ der Geist der Reaktion, könnte man meinen.

Aber nein! Es sei ein Missverständnis, will uns Türcke sogleich zeigen - und zwar ein schlimmes. Jetzt geht es plötzlich nur noch um Nietzsche. Er sei eben der Dialektiker durch und durch, wenn auch ohne Begriff und Substanz. Aber genau dies ist Türcke gleichgültig, weil dies den Intellektuellen zum Arbeiter des Wissens machen würde. Bei Nietzsche sei es die subjektive Dialektik à la carte:

Die "Hemmung, Brechung seiner selbst hinderte" den Menschen daran, "metaphysisches Prinzip, Antigott zu sein. Gerade weil er das Prinzip, als das er erscheint, nicht ist, sind die Menschen so gottbedürftig. Es ist gerade der Wille zur Macht, der sie dazu treibt, sich an Gott, an der Wissenschaft, an der Grammatik festzuhalten" (S. 12).

Es ist eine etwas eigenartige Dialektik: Das Aufgehen des Starken sei immer auch "das Zugrundegehen des Starken" (S. 129) - welch ein ungeheurer Irrtum!

Der Führer sei so das Menschliche schlechthin, das Subjekt, und zwar das lebende, das sich selbst ausgibt und von anderen Führern wieder eingeholt wird - nicht als Machtmensch, nicht als diese primitive Metapher des Neides und der Mißgunst im Streit um die Macht, sondern als Prinzip des Übermenschlichen schlechthin!:

"Sein Dasein ist das Streben nach einer Form, worin er erst er selbst wäre: ungebrochen, sich selbst offenbar, sich verströmend, ohne sich zu entleeren. Diese Form kann nur eine menschenartige sein: Ein Typus, dem nichts menschliches fremd ist und den nichts Menschliches anficht, der sich in den vollen Glanz der Sonne stellen und zu ihr sprechen kann:" (Türcke,S. 129)

"Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel (!) gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken und austeilen" (Nietzsche, WW IV, Götzen-Dämmerung, S.1020).

Schon wieder dieses Erschaudern in Ehrfurcht!

Es wird verrückt: Nietzsche sucht den guten Menschen schlechthin, der einen Geist verkündet, der vielleicht Gottmensch oder auch nur eine Mischung aus Hitler und Kohl sein könnte! Warum der Übermensch eben tatsächlich kein Mensch sein kann und doch einer sein, also werden muss, ist das höchste, was Religiosität in ihrer Selbstkritik zu bieten hat:

"Tot sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe" (WW III, Also sprach Zarathustra, S. 340).

Türcke lässt mit Nietzsche keinen Zweifel daran, um wen es sich hierbei handeln soll:

"In der Tat, wir Philosophen und freien Geister fühlen uns bei der Nachricht, daß der alte Gott tot ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung _ endlich erscheint uns der Horizont wieder frei ... jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so offnes Meer" (WW III, Die fröhliche Wissenschaft, S. 205).

Es ist vollbracht: Das Ästhetische will auch gut sein _ eigentlich grausam für einen echten Nietzscheaner! Das also ist der Hintersinn des übermenschlichen Aufwands, um den Menschen unmittelbar in sich selbst zurückzuführen! Aber das ist ja nichts anderes als das Selbstverständnis der bürgerlichen Elite!:

"Das einzig wahrhaft souveräne Verhältnis zum Dasein ist ein ästhetisches, und nur wo der Mensch mit der Gesamtheit seiner Lebensbedingungen, auch allem Fragwürdigen und Furchtbaren darin zu spielen weiß, erhebt er sich über sie, wird Mensch minus aller menschlichen Bedingtheit: Übermensch" (S. 135).

Dieser Übermensch erscheint hier als der Intellektuelle schlechthin, wie er als Mensch allzumenschlich ist. Ein Mensch, der in seinen "ozeanischen Gefühlen" (Freud) überströmt, ausstrebt "in alle Welt" (Christus) und die Menschheit dadurch erlöst, dass er sie als Übermensch erneuert durch seine Fühlung, seine Ästhetik und sein Lebensspiel.

Ist das die Macht, die Nietzsche meint, die Macht des unbändigen Intellekts, der keinen Gegenstand hat, weil er Gegenständlichkeit verachtet, um sich selbst als radikale und unendliche Freiheit des Willens, als absolute Willkür zu genießen?

Der Wille zur Macht ist so gesehen eben doch nur die Freiheit des Willens, wenn auch als intellektuelle Willkür. Einfach trivial! Ist Nietzsche nun doch kein Faschist? Oder ist das vielleicht einfach unbedeutend? Wurde er vom Faschismus nur mißbraucht, seine mythologischen Begriffe von einer wilden blonden Herrenrasse nicht als Metapher des Schönen verstanden? Der faschistoide Pöbel wäre ihm sicher zu niedrig gewesen und hätte ihn nur angeekelt, wie Thomas MANN mit einigem Recht festgestellt hat (Thomas Mann, Nietzsches Philosophie ... S. 34).

Es ist wahrscheinlich auch richtig, dass sich Nietzsche "aufgebaümt" hat "gegen die spezifische Form der Abstraktion..., die in der modernen Gesellschaft zum Herrschaftsprinzip geworden ist" (Türcke, S. 133). Ihm war es um die Bewegung der Werte, um die Umbewertung gegangen, die über Macht verfügen muss, um sich in der Verfügung auch selbst wieder dekadent werden zu sehen, den Starken schwach, damit Schwaches erstarkt. Da war er ganz Realist, wenn er dies auch nicht als Prinzip einer bürgerlichen Demokratie verstanden haben wollte, wohl aber als Ratio des "menschlich Allzumenschlichen". Nietzsche wollte eben mit der "Vision des Übermenschen" nur den "geistigen Ort" finden, wo "mit Gott auch die Gottbedürftigkeit aufhört", so Türcke (S. 132). ...

Aber so simpel kann das doch nicht sein, und so formell schon gar nicht. Wie kann sich seine Gottestragödie, die den Übermenschen nötig hatte, in einem Gutmenschen mit Einschlag zur Führerpersönlichkeit auflösen?

Ein solcher Verstand ist brüchig und hätte den ganzen "Hinterbau" nicht nötig! Soll es Nietzsche wirklich um den guten und schönen Menschen gegangen sein, der einfach noch nicht ist? Oder ist das nun sein Spiel mit dem Verstand, seine "Kunst", seine allumfassende Innerlichkeit, mit der er in solche Formalitäten verschwindet?

Der Übermensch als Vision ist nichts. Da wird er uns recht geben. Als Prinzip? Nichts ist aus Prinzip. Als Bestimmung? Nein. Es ist doch was anderes:

"Der Übermensch ist Zukunftsmusik und die ewige Wiederkehr der ewige Boden, auf dem sie spielen soll." (S. 142)

Aber was ist nun das?. Das ist nicht mehr Psychologie, keine Kunst und keine Philosophie. Das ist eine Absurdität, vielleicht so was wie theologische Psychologie. Tatsächlich hätte so der Wille zur Macht eine Mythologie mit einem durchaus praktischen Sinn:

"Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen - das ist der höchste Wille zur Macht." (WW VI, Nachlass, S. 895).

Also doch! Aber das ist nur verrückt, schlechte Unendlichkeit, geprägte Zukunft auf dem Boden ewiger Wiederkehr, das ewige Werden aus dem Gewordensein - Kurzschluss. Da gibt es schließlich keine Fragen mehr; das ist ewige Antwort. Lacht er sich da nicht ins Fäustchen über unser braves Grübeln? Nein, meint Türcke allen Ernstes: Um

"die Ewigkeit dem Werden aufzuprägen bedarf es des höchsten Willen zur Macht. Der aber bedarf des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr" (S. 142).

Wie soll das noch zu verstehen sein?

Nietzsche ist mit diesem Schönen und Guten eigentlich am Ende und dort angelangt, wo er heftigst dagegen gestritten hatte. Und so ist er aus seinem Widersinn auch nicht erlöst. Bleibt ihm da nur eine Hoffnung auf die Zukunft?

"Irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch" (Genealogie S. 836), "dieser Besieger Gottes und des Nichts - er muß einst kommen" (a.a.O., S. 837).

Diese Vorsehung der Schöpfung, dieser wirkliche Übermensch! Türcke erkennt sehr wohl, dass es der Erlösungsgedanke ad ultimo ist, an dem Nietzsche seine "Vernunftpassion" aufgibt, dass "dieser von aller Abstraktion erlöste Mensch ... freilich selbst ein geistiges Abstraktionsprodukt ersten Ranges" (S. 133) ist. Aber hat er auch erkannt, dass dies die Grundlage des intelligenten Faschismus ist? Faschismus ist die Wirklichkeit des abstrakten Menschen, der von seiner Abstraktion in seiner Gesinnung erlöst ist: Unmittelbar konkrete Ideologie des Guten und Schönen.

Die Barbarei der Gottesliebe

Türcke kommt nun auf sich als Theologen zurück, der zu seinem "liebenden Ja" zu Nietzsche steht. Und tatsächlich kann man Nietzsche so am besten verstehen: Aus ihm spricht auch "eine ohnmächtige Beschwörung, der Ruf der geschundenen Kreatur, die sich als solche nicht mehr erkennt, weil sie sich als solche nicht mehr erträgt" (S. 143). Die letzte Wahrheit über Nietzsche ist vielleicht eine theologische Wahrheit. Es ist die Wahrheit einer Verführung, die zum Wahnsinn treibt: Göttliche Liebe als Gottesliebe, die keine sein will.

Nietzsche hatte sich im Grunde gegen die gigantische Lüge des Christentums gestellt, dass Gott für den Menschen am Kreuz gestorben sei. Der Skandal ist das Zeichen des Kreuzes:

"Hier wird Gott aufs Drastischste mit Elend zusammengeschlossen ... Gott als schwach und Schwäche als göttlich zu symbolisieren: Das einzig macht seine Kraft, Anstößigkeit und Einprägsamkeit aus" (S. 146).

Die Kirche mitsamt der Christenheit wusste das zu nutzen und wusste zugleich, dass "Gott gerade in diesem Zeichen siegen werde" (ebda). Das war der Verrat nicht nur an Christus selbst, sondern an dem Gedanken, der durch ihn in die Welt kam: Das Erbarmen mit der Menschheit überhaupt. Christus

"füllte seine Seele mit jenem wundervollen, phantastischen Erbarmen, das einer Not galt, welche selbst bei seinem Volke, dem Erfinder der Sünde, selten eine große Not war!" (WW III, Die fröhliche Wissenschaft, S.133).

Jesus Christus stand von daher außerhalb der Welt, naiv gegen die Wirklichkeit der Sünde, jener Welt, in der die Menschen gegen das Gesetz die Sünde, gegen das Gute das Böse zu leben verstanden. Er war nichts als ein Mensch voller Liebe.

In der Fabel über ihn kann nur

"das Martyrium des Wissens um die Liebe verborgen" (WW IV, Jenseits von Gut und Böse, S. 734) sein, "das Martyrium des unschuldigsten und begehrtesten Herzens, das an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebt-Werden und nichts außerdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrüchen gegen die, welche ihm Liebe verweigerten; die Geschichte eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die Hölle erfinden mußte, um die dorthin zu schicken, welche ihn nicht lieben wollten ... der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig, so unwissend ist!" (ebenda).

Da spricht nun tatsächlich übermenschliche Liebe, "Liebe, die derart übers menschenübliche Maß hinausschießt, daß sie es unter Menschen nicht aushält" (S. 149). Ist das nicht die Sehnsucht Gottes, göttliche Liebe als Erlösung der Menschheit? Jedenfalls ist es eine Liebe, welche alles in sich auflöst: Gut und Böse, Freund und Feind, Leben und Tod _ die sogar die Umkehr durch sich selbst schon verlangt: Feindesliebe als Überleben des Menschlichen. In der Tat war Christus als "heiliger Anarchist" (Nietzsche) der Mensch der Liebe, der nur sterben kann, um seine Liebe zu verwirklichen. In ihm ist die frohe Botschaft ohne Schuld und Lüge gelebt und nicht verkündet:

"Das wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden, _ es wird nicht verheißen, es ist da, es ist in euch: als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluß, ohne Distanz. Jeder ist ein Kind Gottes" (WW IV, Der Antichrist, S. 1190).

Jesus war in der Tat der Lehrmeister Nietzsches, der leibhaftige Antichrist, "die Liebe als einzige, als letzte Lebens-Möglichkeit" (WW IV, Der Antichrist, S. 1194). Er stellt die Menschenliebe wirklich göttlich vor. Unsere Vorstellungen vom Faschismus und seinem Zusammenhang mit Nietzsche geraten in Verwirrung. Hat sich Nietzsche in seinem Spätwerk derart gewendet? Hätte er solche Sätze niemals zuvor schreiben können? War er vom Saulus zum Paulus gewandelt?

Keineswegs. Es tut vielleicht weh: Der Faschismus ist nicht einfach lieblos. Im Gegenteil: Er gründet auf einer Art Gottesliebe, die konkret menschlich sein will, auf einer Seelenwelt, die unmittelbar leben will, auf einem abstrakten Sinn, der konkret sein soll und daher Gesinnung sein muss. Sein erkenntnistheoretischer Kern ist die unmittelbar allgemeine Beziehung des Menschen und jedes Menschen auf sich im Hier und Jetzt _ "und nichts außerdem" (Nietzsche überhaupt). Der Faschismus ist die Radikalität eines Geistes, der sich als Seele der Welt gibt, als Menschenseele und Volksseele, die sich unmittelbar als Leben gestalten muss und deshalb keine Begründung anerkennt, die etwas Festes wäre, den absoluten Geist des Übermenschen nur stören würde. Nietzsche sieht in Jesus diesen "freien Geist", der über jeder irdischen Begründetheit erhaben ist:

"Er macht sich aus allem Festen nichts: das Wort tötet, alles, was fest ist tötet" (WW IV, Der Antichrist, S. 1194).

Faschismus hat keine wirkliche Menschenliebe, aber er liebt den Gott im Menschen und damit den Menschen als Gott. Er ist die absolute Aufhebung der Religion im absoluten Menschsein, die Übereignung ihrer abstrakten Vorstellungen von Gott in göttliche Vorstellungen des Menschen.

In der Kritik an Hegel hat Marx dies als die Finalität der Philosophie (im Einschluss der Theologie) als Anmaßung des Intellekts gegen die Wirklichkeit der Menschen aufgezeigt: Das Absolute kann nichts Lebendes sein. Es ist der herrschende Tod, der von den Menschen vollzogen werden muss, die ihre Geschichte nicht als ihr eigenes Geschehen begreifen können. Es erscheint so unendlich tief, wie es unendlich flach ist. Es ist die absolute Ausbreitung einer absoluten Tiefe, an der jeder seinen Kopf zertrümmert, wenn er in ein Meer zu springen glaubt, das doch nur eine unendlich ausgebreitete Pfütze ist. Das macht die Nietzsche-Rezeption so schwer:

Nietzsche ist absolut nur dadurch, dass er nicht relativ ist und er relativiert alles, was ihm absolut erscheint. Sein Denken ist konsequente Scharlatanerie. Konsequent, weil in der Abfolge stringent und redlich; Scharlatanerie, weil es sich nicht als Denken erweist, sich ausgibt als Kunst und Ästhetik. Schließlich ist sein Gedanke ein gigantisch gescheiterter Versuch, menschlich liebend Menschenliebe zu verachten, indem er Gottesliebe beweist, wenn er sich in der Empörung über den Tod Gottes gegen Gott stellt.

Lüge und Wahrheiten können darin einig sein, dass es in Wahrheit keine Wahrheit gibt. Dies ist die absolute Psychologie der Erkenntnis selbst, die Aufhebung jeden Erkenntnisinteresses durch die Behauptung, dass dieses Interesse selbst unwahr sein muss. Deshalb ist Nietzsche tatsächlich die Grundlage des Faschismus, den wir alltäglich haben, leben und erkennen müssen: Er ist der Gründer der psychologischen Philosophie, die wissen will, was nötig ist. Dies kann sie nur, indem sie ihre eigene Bewegung seelisch begründet, also dadurch, dass Geist und Seele sich gegenseitig selbst in urtümlicher Mythologie begründen und darin als übermenschliche und wilde Horte eins sind. Von da her ist er ungemein sinnlich in seinen Weisheiten und ungemein abstrakt in seinem Lebensverständnis. Die Versuche nach ihm, den Mythos von Trieb und Macht in geistes- oder naturwissenschaftlicher Ausrichtung aufzulösen (vgl. Jung und Freud), sind daran gescheitert, dass sie ohne Theologie auskommen mussten und Mythologie praktizieren und z.B. als Archetypen oder Ödipuskomplex ausdeuten wollten. Als echte Antireligionen verklebten sie in dem Zirkelschluss von Trieb und Macht in unendlicher Kulturmacht und Kulturunterwerfung. Da blieb Nietzsche konsequent theologisch und konnte deshalb sein Christusbild in ein göttliches Liebesverständnis wandeln. Insofern ist er der radikalste Dialektiker ins Jenseits, der Denker jener Dialektik, die nur durch den Menschen und nur in ihm selbst jenseits seiner Welt und doch weltlich aufgehen soll. Das ist eine Identität, die sich in ihrem irdischen Schmerz unendlich bestätigt. Kein Wunder, wenn er daran wahnsinnig geworden ist - vor allem, wenn man dazunimmt, wie solches Selbstverständnis in seiner sadomasochistischen Beziehung zu Lou Salomé aufgegangen ist (vgl. Yalom "Und Nietzsche weinte").

Er hätte vielleicht doch besser Marx lesen sollen, der Dialektik als die Erkenntnisform der Entfremdung des Menschen beschrieben hat: Die Darstellung seiner Selbstentfremdung in der Bewegung des Kapitalverhältnisses. Zu Nietzsches Zeit war dieses in voller Blüte und wurde gerade durch Bismarck zur sogenannten Wohlfahrtgesellschaft geführt. Vielleicht war das die Voraussetzung dafür, dass der Herrenmensch Wirklichkeit werden konnte. Schließlich ist erst im Wohlfahrtsstaat die Möglichkeit entstanden, zu glauben, dass der Staat die Wohlfahrt bringen kann. Die Entwicklung des Guten und Schönen hatte darin zudem die Kultur belebt. Sie wurde zu einem wichtigen Bestandteil staatlicher Autorität, das Kulturleben zum Zuckerbrot wirtschaftlicher Missstände. Das Gute tritt seitdem immer potenter auf, und hat heute längst die Linke erreicht, die sich in dem Maße am Bösen zerreibt, wie sie begrifflos für die Wirklichkeit ist. Die "Achse des Bösen" hat vielleicht ein bisschen erschreckt, wurden doch hier die Gründe und Zwecke bürgerlicher Moral allzu deutlich. Vielleicht und hoffentlich wird dies zur Katharsis eines neuen Begreifens.

Die Wohlfahrt der Welt

In der Güte, Tiefe und Radikalität ihrer Selbstbezogenheit sind sich LinksNietzscheaner mit allen Nietzscheanern einig. Und darin steckt ihr Zusammenhang und Interesse an Nietzsche. Der fasziniert auch die Poststalinisten, die sich im Determinismus sozialpolitischer Machtbegriffe verfangen hatten. "Das Feste tötet" war zu einem Schlachtruf geworden, der nicht nur gegen die Strukturalisten und linken Zertrümmerer kommunistischer und sozialistischer Gedanken gewendet wurde, sondern gegen das Begreifen selbst, dem mit dem Dekonstruktivismus Heideggers (War Heidegger Dekonstruktivust? oder nicht vielmehr phänomenologischer Seins-Mystiker, der den Dekonstruktivisten mit seiner Existentialontologie die Grundlagen für die Dekonstruktion geliefert hat?) die jegliche Wirklichkeit abgesprochen wurde. Foucault hat bewiesen, dass er in diesem Sinne auch die guten Menschen im Aufstand gegen die Institution, diese knöcherne Form der Macht, zu bewegen versteht _ mit dem Tribut, dass das einzig wirklich befreiende Denken dabei diskursiv in das reine politische Selbstverständnis aufgelöst wurde, das sich auch gerne an Strukturen aufreibt. So wurde daraus eben auch nur Antistrukturalismus. Es wird sich nichts ändern, wenn das Begreifen menschlicher Gegenständlichkeit aufgegeben wird und dem Entgegenständlichungsprozess der Menschen und der hieraus potenzierten Barbarei begrifflos zugestimmt wird. Der Kapitalismus existiert wirklich und stellt jede Machtkritik in seinen Dienst, um seine Funktionalität zu steigern und mit neuer Flexibilität im Neoliberalismus auszustatten. Der Dekonstruktivismus hat lediglich dazu geführt, dass die Intellektuellen ein gutes Selbstverständnis und jetzt auch Selbstgefühl haben, während sie das tun, was sie schon immer getan haben: Die existentiellen Probleme der Menschen als Problem ihrer Wildheit zu ordnen, zum Schönen zu leiten, mit Güte zu bedecken und sie insgesamt und in ihrer Wirklichkeit zu ignorieren.

Die Überhebung über die gegenständliche Welt dünkt sich gut. Neu ist, dass der Eigendünkel des Guten keinen Schrecken mehr kennt. Das Grauen ist besiegt. Und es ist bequem: Man bleibt unter sich und dies wenigstens funktioniert. Gegenständliches Denken ist out. Es nimmt ja auch das, was das Leben leicht und schön macht. Das Ästhetische sei das Leben, komme was da wolle! Kultur soll denn auch bloße Ästhetik sein. Das ist die gediegene Rückwendung auf die reine Empfindung, die Reaktion als Selbstgefühl. Alles andere verlangt Arbeit und Durchdringung abstrakter Gegenständlichkeit, also konkretes Wissen des Objektiven, in welchem die meisten Menschen ihr Leben sprichwörtlich fristen müssen. Stattdessen wird intellektuelle Subjektivität, der gute Mensch selbst, zum intellektuellen Subjekt, das überströmt vor Mitgefühl, das sowieso als nicht mehr umsetzbar gilt. Es ist in der Tat die neue Seele des Konservatismus, die hier angedacht ist, die alle Seelen anzieht und in ihrer Güte nicht mehr in der Kirche sondern in der Politik des Guten und Schönen vereinigt, während der Rest der Welt in Gewalt und Terror versinkt!

Nietzsche ist so wenig wie Freud eine Ergänzung des Marxismus, wie Christoph Türckes Buch anmuten will und wie es in der derzeitigen Nietzsche-Rezeption geschieht. Er ist das absolute Gegenteil des Marxismus, die zu Ende gedachte Selbstbeschauung des Menschen, die geistige Finalität des bürgerlichen Lebens, das sich dadurch verewigen will, daß es seine Barbarei als eine geschichtliche Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit betreibt. Das Nietzscheanische Dilemma ist das Dilemma des bürgerlichen Individuums, das von seinen Besitztümern seine Enteignung zu fürchten hat. Der Wille zur Macht, zu dem es sich entschließt, ist zugleich seine Ohnmacht, seine morbide Antinomie, die Widersinnigkeit seiner Ästhetik, deren Durchdenken die Dichter und Denker von rechts bis links so fasziniert hat (z.B. Leo Strauss, Heidegger, Sigmund Freud, Horkheimer, Foucault, Thomas Mann, Hermann Hesse). Die solchermaßen verbliebene Radikalität des Bürgerlichen, welche sich besonders im Zusammenbruch der bürgerlichen Werte, der Umwertung der Werte und der Dekonstruktion seiner Institutionen und Sprache ereignet, sucht _ gewollt oder nicht _ diese menschliche Abstraktion, die Güte einer Endlösung im Subjekt, einer Befreiung von den "zerstörenden Kräften des Lebens". So oder so bricht sie immer wieder durch, wo auch die existentielle Lage, radikales, also finales Handeln erfordert. Solange die bürgerliche Gesellschaft besteht, betreibt sie in ihrer Kultur immer eine Selbstbewegung, die ihrer Existenzweise entspricht, auch wenn sie ihr abstrakt widerspricht und Ausgleiche in Wesensbehauptungen des rein Menschlichen sucht. Die Enthebung aus diesem kulturellen Dilemma kann sich deshalb auch nur im Innenleben von Intellektuellen abwickeln, die in dieser Abstraktion einen Sinn, eine Ästhetik der Güte finden, wenn und weil sie darin bestätigt sind und bestätigt werden: Als Geisteswissenschaftler und Kulturverwalter. In dieser Abhebung wird die Identität in eigener Güte zur Kulturfrage der Menschheit überhaupt: Die Frage nach der besten Kultur. Dies ist der Brennpunkt, in welchem sich das bessere Selbstverständnis geltend machen will und die Frage nach der Zukunft schon durch sich selbst aufgelöst stellt: Es wird die Legitimation aller künftigen Gewaltanwendung sein, die absolute Position des guten Menschen, des wirklichen Übermenschen. Der reaktionäre Verstand dieser übermenschlichen Güte, der nicht nur in Deutschland verbreitet wurde, hat auch in den USA das Seine getan und scheint durch Theorie und Politik des Weisen Hauses hindurch. Darin spielt die Selbstrechtfertigung jeglichen Handelns durch Menschenrecht und Menschenpflicht eine bedeutende Rolle - nicht nur im "Kampf der Kulturen" (Huntington), inzwischen auch im "Krieg gegen der Terror".

Gute Menschen finden allemal in ihrem Staat die Mittel, dem Willen zur Macht zu seiner Wirklichkeit zu verhelfen _ daran wird sie Nietzsche nicht hindern, der das Ganze als nur schicksalhaftes Spiel, aber nicht als Spiel des Schicksals verstehen wollte. So wird denn Nietzsche in der Tat der letzte wirkliche Philosoph des Bürgertums bleiben, - eben jener, der seine Identität auch praktisch und final zu formulieren verstand und dabei dem Fürchterlichsten diente, dem er widersprechen wollte: Dem "menschlich allzu Menschlichen” im Heilsversprechen der Elite. Hätte er dies auch noch in seiner Konsequenz als Vernichtungswillen der Macht begriffen, die nicht nur übermenschlich ist, sondern auch über den Menschen bleiben will und kann, so hätte er begreifen müssen, dass Philosophie hierzu völlig irrelevant ist. Es geht eben längst nicht mehr um sie als irgendeine menschliche Weisheit, um die man streiten kann, sondern nur noch um ihre Funktion als Rechtfertigungs- und Verschleierungsinstrument ungemein praktischer Interessen, die jenseits jedweden Gedankens liegen.

Jeder Politiker weiß schnell, wie man jenen Willen zur Macht mit dem Willen zum guten Menschen gleichsetzt, denn das ist nichts anderes, als das ideelle Mittel jeder Politik überhaupt. Das wurde keine 30 Jahre nach Nietzsches Tod auch wirklich begriffen und hält bis heute an. Intellektuelle sollten endlich begreifen, dass ihr Verstand notwendig nur Ideologie hervorbringen kann, wenn sie sich in ihrem Denken nicht wirklich um das praktische Leben der Menschen kümmern, d.h. seine existentielle Notwendigkeiten als Erscheinungen eines abstrakten, also geistlosen und unwesentlichen Lebenszusammenhangs beweisen und ihnen neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen.

 

Wolfram Pfreundschuh