Wolfram Pfreundschuh (11.9.2003)

Hundert Jahre Wiesengrund

Zu Theodor W. Adorno's 100. Geburtstag

 

Theodor W. Adorno war ein herausragender Kulturkritiker des 20. Jahrhunderts, Mitgründer der Kritischen Theorie, Soziologe, Kunsttheoretiker und Philosoph. Sein Gesamtwerk war vor allem der Versuch, das Unheil der Moderne begrifflich darzustellen und die Möglichkeiten menschlicher Emanzipation gegen die Übermacht bürgerlicher Kultur und Ökonomie herauszuarbeiten.

Durch seine Beschäftigung mit Kunst war es ihm möglich, Kultur nicht nur als "Überbau" der ökonomischen Verhältnisse anzusehen, sondern auch als einen Lebensbereich, worin diese nicht vollständig aufgehen. Er verstand den "asozialen" Rest der Kultur als Potential des subversiven Geistes gegen die Verdinglichung, die Fetischisierung des Lebensalltags. In diesem Sinne formulierte er Ansätze zu einer Dialektik der Neuzeit, die am Standort einer unverzerrten Gesellschaftlichkeit der Empfindung ansetzen wollte. "Das Asoziale der Kunst ist bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft" (Adorno, "Ästhetische Theorie", Suhrkamp, S. 335), der die "Emanzipation des Subjekts" ihren Ursprung verdanke, um sich in anderer Gesellschaft mit ihr zu versöhnen. Diese Dialektik wich von aller bisherigen Dialektik vor allem darin ab, dass sie den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft als Negation des Subjekts, also als das Begriffene einer falschen Objektivität (Welt) auffasste (siehe negative Dialektik), der die Menschen aus ihrer Verblendung durch die Reize des Konsums und dem Sonntagsfrieden ihrer Wohngemächer folgen, ihre Empfindungen und Bedürfnisse verfälschen, um mit der Falschheit ihrer Existenz auszukommen.

Diese Auffassung hatte weitreichende Folgen für das Verständnis der Postmodernen. In seinem ganzen Werk war diese "Negative Dialektik" für den Fortgang der Erkenntnis durch eine Subjektkritik wesentlich. Besonders in seiner Ästhetik gelang es ihm damit, die Not der Empfindung als Negation des Schönen zu beschreiben, dessen Kunstform als "Form von unten" einzige Wahrheit habe. Er setzte sich mit bildhafter Kunst und mit Musik konkret auseinander und verfasste in seiner negativen und dennoch transzendenten Kulturtheorie die "Verzweiflung der Kunst". Darin stellte er sich gegen die Kunstbeherrschung der Moderne, gegen die Rationalität der Aufklärung und gegen die Gesamtheit bürgerlicher Hochkultur überhaupt. Ihm ging es um die Erweckung von "wahren" Empfindungen und Bedürfnisse, die sich den Glücksverheißungen der Rationalität dinghaftier Lebensverhältnisse widersetzen und die Selbsttäuschung als Verfälschungen des Lebens durch die normative Gewalt des Rationalismus als Unheil einer verfestigten Scheinwelt begreifen. Im Gebrauch der rational vermessenen Kulturgüter war die Kultur der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts verödet zu einem sublimen Herrschaftsmittel, dem alle Möglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung, besonders die der Kunst, als Verkaufsschlager der Selbstverdinglichung überschrieben worden war oder sich ihr selbst andienten.

Sein und Schein

Die Grundlagen seines Denkens liegen bei Karl Marx, Sigmund Freud und dem Musiktheoretiker Schönberg. Die damit verbundenen Erkenntnisgrundlagen nahm er widerspruchfrei in sich auf, wenngleich er auch einzelne kritische Anmerkungen einbrachte. Als Jude hat Adorno die Ungeheuerlichkeit der Judenverfolung und -vernichtung tief empfunden und seine wissenschaftliche Bemühung darauf konzentriert und den berühmten Imperativ formuliert, dass alles "Handeln darauf zu richten ist, dass Ausschwitz nicht sich wiederhole". Als Soziologe hat Adorno Studien betrieben über die soziologisch und psychologisch fassbaren Ursachen von Rigidität und Faschismus. Als Kunsttheoretiker wurde er schließlich auch zum Philosophen, der sich gegen "das herrschende Ganze" der bürgerlichen Kultur und Politik, gegen die fatale Selbstgenügsamkeit mit den Gegebenheiten auflehnte (siehe Positivismusstreit). "Es ist die Fatalität einer jeglichen Kunst im gegenwärtigen Zeitalter, daß sie von der Unwahrheit des herrschenden Ganzen angesteckt wird." (Adorno, "Ästhetische Theorie", Suhrkamp, S. 91).

Mit seiner negativen Dialektik ist Adorno - und das macht seinen spezifischen Ansatz im Unterschied zu anderen Wissenschaftlern aus - dieser "Unwahrheit des Ganzen" entgegengetreten, indem er den Widerspruch der bürgerlichen Welt selbst zum Ganzen ihrer Unwahrheit, zu einer Verfälschung der Subjektivität erklärte, zu einem Fetisch, dem alleine durch die Erkenntnis seiner Negativität zu entkommen sei. "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" ist die saloppe Formulierung einer Wahrheitsbehauptung über das Leben an sich, welche Leben in seinem Eindruck wie Ausdruck als Kunstform fasste, als unmittelbares Sein von Wahrheit und Unwahrheit (Täuschung). Der "totale gesellschaftliche Bann" (Adorno, "Ästhetische Theorie", Suhrkamp, S. 342) trifft das Wahre, das sich "als Eigenes in sich kristallisiert, anstatt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren" (ebd. S. 335).

Adornos Theorie ist im Grunde eine Theorie der empfindsamen Erkenntnis, welche die "Ruhe der Erkenntnis" nicht finden kann, eine Theorie der wahren Empfindung, die in Wirklichkeit nicht sein kann, die aber ihren kritischen Geist auch formuliert haben will, um sich gegen die falsche Empfindung zu wenden. Er kehrt dies um zu einer Theorie unmittelbarer Wahrheit des Ästhetischen, einer Kunst welche in der Empfindung verstrickt sei und darin ihre "Wunde" habe, Auflehnung und Affirmation in einem zu sein.

Nur das macht Theorie auch wirklich nötig und darum kann Theorie nicht Empfindung bleiben. Adorno verharrt dennoch selbst im Theoretischen in dem Widersinn, den Empfindung hat und spielt damit wie ein Jude mit einem Christen: Erlösung kennt nur die Sünde, die noch ist. Wahrheit und Täuschung haben keinen wirklichen Begriff. Diese Position schafft ihm seinen Platz, das macht ihn, den sensiblen Kulturtheoretiker zugleich zu einem Theoretiker einer Subkultur, welche die "Wahrheit von unten" zu leben hat und sich der Gesellschaft gleichermaßen widersetzt wie sie ihr innewohnt. Ihre Begründung nahm Adorno aus der Denkform seiner Ästhetik, aus der Negativität des Geistes, der sich aus der Notwendigkeit des faktischen Nominalismus heraussetzt und "die Nötigung, die Form aus jenen Erfahrungen von unten her, zu konstituieren" (ebd. S. 334), umkehrt gegen die Welt, worin der Nutzen die Ausnutzung vollstreckt.

Dies festzuhalten wäre zweifellos Adornos theoretisches Verdienst, hätte er sich nicht wieder dadurch aufgehoben, dass er die sublime Affirmation bürgerlicher Ontologie in seinem Denken fraglos aufnahm. So geriet er in einen Kulturantagonismus zwischen Natur und Gesellschaft, die in ihm den Freudschen Triebkonflikt ebenso fortsetzen ließ, wie Nietzsches Grauen vor der Welt. Als einzig wirklich kritische Unterlagen blieben ihm lediglich die von Marx verwendeten ökonomischen Kategorien des Tauschverhältnisses, mit denen er seine Grundaussage von der Fetischisierung der Kultur erklären wollte. Dabei beging er nicht nur entscheidende Fehler in der Rezeption, sondern machte vor allem aus der Bemühung von Marx, die Fetische des theoretischen Bewusstseins aus dem Dasein der Warenproduktion zu erklären (siehe Warenfetischismus) eine Theorie der Lebensverfälschung, die seinen Begriffen einen allgemeinen ontologischen Charakter von Verdinglichung unterschob. Arbeit und Lebenserzeugung wurden selbst schon dinghaft, da sie ja auch nur als Bildner verdinglichten Seins aufzufassen waren. Für Adorno gab es keine gegenständliche Welt, in der die Menschen dem gesellschaftlichen Stoffwechsel unterworfen sind und sich in der Erzeugung von Reichtum darüber erheben. Ihm verblieb die Wirklichkeit selbst als der Fetisch, dessen Widersinn die Kultur lediglich vollstrecke. Natürlich ist dann auch keine wirkliche gesellschaftliche Gegenständlichkeit (s.a. Objektivität) mehr zu begreifen; ihre Widersprüchlichkeit ist nicht der Hebel zur Veränderung, sie erscheint nur subjektiv als "Verblendungszusammenhang" und muss demzufolge in einer Position, die negativ zur Affirmation der Verblendung besteht, angegangen werden. Dialektik war für Adorno keine Denkform der Entfremdung in ihrem Aufhebungsprozess, sondern eine Entgegensetzung im Widersinn selbst, in einem Sinn, der die Wahrheit selbst als Frage zu leben hat und sich zugleich gegen das Falsche zu wenden vermag wie eine hiervon geläuterte Erscheinung, die keine Ruhe findet, die aber von Erlösung weiß - eigentlich selbst eine widersinnige Unterstellung: Wie kann ein Sinn geläutert sein, der selbst widersinnig ist, wie kann ein Widersinn zu einem Sinn werden, ohne sich aufzuheben?

Die ökonomischen Ausführungen von Marx interessierten demnach natürlich nicht weiter, aber er verwunderte sich auch nicht ob des theoretischen Aufwands, den das Begreifen wirklicher Verhältnisse mit sich bringt. Ihm ging es um eine Theorie des falschen Bewusstseins. Aber dieses ist ohne Welt notwendig ein Widersinn in sich. Bewusst sein kann nur, was bewusst ist und falsch kann nur sein, was Täuschung ist. Eine Theorie, die nicht dieses Sein, und wenn auch als das Dasein von Empfindungen, Gefühlen, Ästhetik, Kultur usw. als dies Seiende zum Gegenstand hat, als Wirklichkeit und Wirkungsverhältnis, das sich aus der Entfremdung des Menschen von sich, seinem Werden und Gewordensein und von seiner allgemeinen Gegenständlichkeit erklärt, kann nur eine Form von Selbstreflektiertheit sein und bestätigen.

Seine Einlassungen in die Grundlagen der Kritik der politischen Ökonomie zerstörten sowohl seinen eigenen Ansatz, wie auch wirklich kritisches politisches Denken. Die Begriffe "Fetischisierung" und "Verdinglichung" durchziehen sein Werk wie eine Mandra dessen, was einfach klar zu sein hätte und letzendliche Begründung seiner Kritik sei. Dabei ist ihm der Marxistische Entfremdungsbegriff zu einer Metaphysik der Antiästhetik verkommen, zum ontologischen Begriff negativer Empfindung, der sich geschichtlich gebärdet: Für Adorno resultiert aus dem Wissen, dass die Verhältnisse einer Waren produzierenden Gesellschaft, welche ihr menschliches Verhältnis zu einem Verhältnis der Sachen verkehrt, nicht die Notwendigkleit, dass die Verkehrung selbst als eine Hinterfragung ihrer Form bis hin zum Begriff ihrer Formbestimmung Gegenstand von Theorie sein muss, sondern dass die Empfindung des Begriffenen selbst die Wahrheitsfrage aufwirft, die im Begriff gelöst sein müsste. Von der Empfindung gegenständlicher Wirklichkeit kommt er über das Wissen ökonomischer Vekehrung auf sich zurück als Wissen vom Widersinn der Empfindung. Hierdurch hat der Begriff für ihn auch keine bestimmte Wirklichkeit und Existenz, sondern gerät zu einer Empfindungstatsache der Entfremdung, mit der Menschen prinzipiell nur in intellektueller Moral sich zu sich und anderen verhalten können: Was sind wahre Empfindungen, wahre Bedürfnisse, was ist Fetisch? Solches Denken ist Grundlage jeder Esoterik.

Es hat die selben Grundlagen, die dem Selbstzweifel des gehobenen Bürgers entfährt und sich im Rückzug auf ein gehobenes Selbstgefühl als besondere Wahrheit gegen die Welt errrichtet. Dass die Welt falsch sei, ist auch für ihn eine Trivialität, die keinerlei Gedanken benötigt. Diesen aber hierzu zu entwickeln, brachte Adorno nicht ungewollt dahin, von der Fremde zu einer Dingheit überzuführen, welche nur der wahren Empfindung äußerlich sei und den Menschen, der ihrer nicht fähig sei, selbst als Mensch, als Wesenheit (nicht als Produzent, Klasse usw.) zur Sache macht, ihn "verdinglicht". Was sich so empfindsam anlässt wird zu einem gehobenen Zynismus über den Rest der Welt, der im Banausentum verrottet. Barbarei lässt sich jetzt auch so erklären. Gesellschaftskritische Begrifflichkeit wird so zur Psychologie über "verdinglichte Menschen".

Die wahre Empfindung

Die wahre Empfindung ist Adornos Idee vom Empfinden, das an der Welt wund wird und das sich nicht mehr wirklich und "profan" beherrscht fühlen muss, sondern gerade im Gefühl von Transzendenz aufgehen soll. So notwendig ein Denkansatz auf der Ebene des Empfindens und Fühlens ist, so zersetzend wird er, wenn er zur Wahrheitsbehauptung, zur "Lehre vom richtigen Leben" (Adorno über den Sinn von Philosophie) hergenommen wird. In der Zwangsläufigkeit einer solchen Ideologie liegt, dass sie über das Befindet, was sie zu befreien sucht, dass sie beurteilt, was selbst Ur-Teil bleiben muss, um Erkenntnis zu sein.

Damit hat Adorno kein Problem, da taugt ihm der klassische Kunstbegfriff zur bleibenden Grundlage. Was er sonst noch zu seiner Begründung aufnimmt, das zerstört er auch sogleich. So verwendet er den Fetischbegriff von Marx (siehe Warenfetisch) nicht als Begriff von wirklichen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern verfälscht ihn zu einem psychologischen wie erkenntnistheoretischen Begriff, den er gleichsam für Unterwerfung, Ausbeutung wie Täuschung verwendet, die sich fraglos mit der ökonomischen Bedingung des Kapitalismus irgendwo im Reich der Begrifflichkeit treffen soll. So werden diese Begriffe in doppelter Weise paralytisch, weil sie weder ihren sachlichen und ökonomischen Gehalt wiedergeben können, noch psychologisch oder philosophisch richtig aufzufassen sind. Adorno verwischt das hierzu aufwendige begriffliche Denken und treibt seine Theorie selbst in eine Konfusion ohnegleichen: Alle Gegebenheiten sind nur durch die Wahrheitsfrage der Empfindung zu transzendieren und bleiben doch boßer Widerschein eines Wesens, das wie ein allem vorausgesetztes Übel zitiert wird: Tauschwert. Bleibt das, wovon Adorno eigentlich absehen wollte: Die Nützlichkeit der Dinge, die Gebrauchswerte, die doch gerade die Bindung an die Welt des Warentauschs ausmachen.

Die Empfindung gerät in ihrer Wahrhaftigkeit selbst zur Oberfläche. In seiner Ästhetik kommt Adorno aus dem Dilemma nicht heraus, das Dasein des Schönen als Lust und Schmerz in Einem begreifen zu müssen, um der Wahrheit der Empfindung nachzukommen). Wäre er hierbei auf die verrückte Empfindung als Wirklichkeit gekommen, so hätte es seiner Ästhetik nicht mehr bedurft.

Adorno bewegt sich gerne zwischen Sein und Schein. Hinter allem, was ästhetisch ist, treibt ihm der Mensch seine natürliche Transzendenz ebenso hervor, wie er am Ästhetischen seine Bestimmtheit erfährt. Adorno kann seine Sache vielleicht deshalb nicht begrifflich fassen, weil er sie gar nicht als Sache sehen will, weil er ihr keine Form lassen will, sondern sie sogleich als "Subjektivität" hat, wie sie objektiv (z.B. als Kunst) ist und doch nicht ist. Damit hat er ein immenses erkenntnistheoretisches Problem in einer Identität der Subjektivität seines Denkens zu Objektivem, im Dazwischensein von Sache und Verdinglichung. Es ist eine "Identität", die sich sträubt, subjektiv oder objektiv zu sein - je nach dem, was sie für ihre Sache hält. Adorno denkt seine eigene Objektivität als Subjekt, nicht als Künstler und nicht als Wissenschaftler, sondern - so will es scheinen - als beides in einem. Seine Theorie handelt von einer Kunst, die es nicht notwendig so kritisch gibt, die aber als notwendig für die Kritik erscheint, die Befreiuung sucht und sich nur in ihrer Unterwerfung wirklich machen kann, die sich mit ihrer Besonderheit, ihrem Anderssein so vereint, wie sich der Baunause mit der Transzendenz vereinen sollte, wäre das selbst nicht einfach nur das Unding solcher Begrifflichkeit. So kritisiert Adorno vor allem die "Momente" an ihr, wie er z.B. einmal das Wohlgefühl im Kunstgenuss kritisch nimmt (ebd. S. 26), und ein andermal das "Lustmoment" der Kunst (S. 28) positiv hervorzuheben versteht. Dergleichen findet sich überall in seinem Werk, das deshalb gerne überlesen wird, weil es sich vor allem durch die Gedanken anderer Theorien, besonders die Psychoanalyse bewegt. Seine Kritik ist zugleich die Affirmation, die sie ihrem Gegenstand entnimmt, in welchem sie sich fortwährend widerrruft. Horkheimer wusste früh zu klagen, dass bei Adorno sich jede Aussage an anderer Stelle wieder aufheben lasse. Diese theoretische Scharlartanerie wird gerne zum dialektischen Präsent von Adorno gekürt. Doch dies macht seine Aussagen nicht glaubwürdiger, lediglich seine Bemühung, Aussagen als solche zu verweigern, weil Kunst nicht Aussage, sondern Bewegung sei. Nun: Geistreich mag dies sein für den, der Adornos Geist nachvollziehen will; wer in seiner Theorie, die er mit Horkheimer zu einer Logik entwicklen wollte, auffassen will, dem bleibt alleine die Moral der Kunst gegen die Unwahrheit der Wirklichkeit; es bleibt letztlich bei einem geistreich bebilderten Apell, dass der Intellekt in der Welt sich begreifen möge. Es bleibt der empfindsame Intellekt, der aus seiner besonderen Bildung heraus in der Lage ist, Schein und Sein, Täuschung und Wahrheit im Ästhetischen zu unterscheiden, und dies auch noch ökonomisch so begründen zu können, als ob er damit schon in der Welt sei und nichts an ihr mehr zu begreifen habe.

Die immanente Transzendenz

Adornos Dialektik übernimmt ziemlich unbenommen alles, was seine Lehrer unter sich heftigst bestritten hatten. Den Materialismus von Marx hat er sich mit einem eigenen Verstand des Tauschwerts und Warenfetischs angeglichen, der ihn zur Empfindung werden ließ. Freuds Hedonismus und Utilitarismus ging lmit geringfügiger Abgrenzung in die Erklärung des "bürgerlichen Subjekts" ein, das eben in dem befangen ist, was Adorno als Kunsttheoretiker abweisen müsste, was aber Freud ihm wieder gibt: Die Illussion seiner Unendlichkeit, die sich nur in der Konflikthaftigkeit seiner ahistorischen Befangenheit (z.B. als Triebkonflikt) zur Welt bringt. Und auch die Kulturtheorie Freuds selbst geht bei Adorno locker in einer Throrie der Nekrophilie auf, weil Freud darin nun mal seine Widersprüche im Lustprinzip zu einer Todestriebtheorie überleitete, die genausogut als Kapitalismuskritik zu goutieren sei. Auch zur Musik gab es für Adorno kein Problem mit der Klassik und der überkommenen musikalischen Konzeption. Seine Vorstellung einer totaten Komposition bezichtigte jede hiervon abweichende Musik einfach der Unreife, gemessen an diesem Maßstab. Was diesem Maß, das ein Maß der Sehnsucht nach einer wahren Welt war, widersprach, sich gar zur "Transdendenz" im Hier und Jetzt herauskehrte (wie z.B. Jazz, Rock usw.), war ihm darob bloße Kinderei: Einfach nicht ernst genug, um "kritisch" zu sein. Seine Ästhetik zeigt sich daher auch als konservative Theorie des reinen Gefühls, das sich seiner Gebrochenheit in den Empfindungen des Lebens nicht mehr bewusst sein muss und als Kunsttheorie sich als Besen der Wahrheitsfindung selbst herauskehrt: Als der bürgerliche Verstand, der diesen Besen schon immer hatte.

Faszinierend ist vielleicht für den theoretischen Verstand gerade dieser selbstreflektierende Tanz zwischen Kunsttheorie, Philosophie und Psychologie, die das Repertoire eines Intellektuellen leicht ausschöpfen und beflügeln kann. Und zweifellos enthält er vielerlei wichtige "Momente" von Kulturkritik. Man muss sie allerdings mitfühlen. Was als Gedanke erscheint ist nicht immer gedacht: Die Transzendenz widerspricht der negativen Dialektik aufs äußerste, wenn sie als Logik begriffen werden müsste - und dem entspringt ja eigentlich ein solcher Begriff - aber als Gefühl lässt sie uns doch verstehen, dass da was sein muss, was nicht in dieser Welt geht, eben dies Unerfüllte, Unvollkommene, Unvollzogene, was die Philosophie schon Jahrhunderte mit sich rum schleppt, was die Gotteserkenntnis oder die Gottverlassenheit ausmacht, die Mystik oder die Kritik der reinen Vernunft, die Leidenschaft oder die Selbstverwirklichung. In Adornos Denken wird es aus seiner übermenschlichen Dimension herausgenommen und kann sich als intellektuelles Sentiment auch leicht in der Lebenswelt seiner Subkultur als ozeanisches Selbstbewusstsein des besonderten Abgesonderten ausbreiten, des genuinen Intellekts mit dem absoluten Gefühl des kritischen Geistes.

Aber beliebig ist dieser allemal, da Adorno bis auf seine Anfangsversuche in der Sozialpsychologie sich niemals mit der Bewahrheitung seiner Aussagen befassen musste; dafür hatte er auch kein Kriterium: Seine Erkenntnisse erwiesen sich als geistreiche Glossen zu dem, was vor ihm gedacht wurde, und das war ihm zugleich seine Erkenntnistheorie. Dennoch: in der Abweisung des bürgerlichen Lebens kann sich die Kritische Theorie leicht einig sein, solange man sich im Gedanken hiervon schon befreit sieht, sich selbst als Antibürger (in Gedanken) weiß und darin schon von sich Grund genug hat, sich in allem zu erkennen, was sich darin nicht eingebürgert hat: Die Transzendenz. So nahe diese der Empfindung kommt, die um ihr Gefühl bange ist, so unnahbar ist ihr Sinn. Es bleibt der Sinn des Bildungsbürgers darin, der seine elitären Wahrnehmungen nicht als seine Entfremdung erkennen muss, weil er weiß, was Verdinglichung ist, und der daher eine hohe Affinität zu einer esoterischen Begrifflichkeit hat.

Dies geschieht, indem der Gegenstand des Denkens selbst zu einer Kategorie des Denkens wird, Leben zum Wahrheitskriterium und zugleich Wahrheitsäußerung. In der Behauptung einer Unwahrheit von Subjektivität wird es zu einem Begriff der Erkennntnistheorie, die somit Lebensurteil ist.

Erlösung von dem Übel

Das macht Adornos Theorie, indem sie das bürgerliche Leben in einer negativen Ganzheit begreift, die durch sich selbst schon falsch sei, weil sie sich selbst nur im Widerschein des Lebens bewegt. "Wahr ist nur, was nicht in diese Welt paßt." (Adorno, "Ästhetische Theorie", Suhrkamp, S. 93). Und um solche triviale Weltabgrenzung zu unterlegen, die im Grunde nichts anderes ist, als die Herabsetzung der Welt unter den göttlichen Entschluss, sie zu erzeugen, nutzt Adorno eine Theorie, die aus der Kritik hierzu hervorgegangen ist: Den Warenfetisch, wie er ihn von Marx zu übernehmen vermeint. Mit solchen Begriffen aus der marxistischen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft treibt Adorno das Schindluder, das er dem Kunstbanausen als seine Verkommenheit vorhält. Er nimmt seinen Gegenstand nur in der Empfindung von Entfremdung, so auf, wie es ihm zur intellektuellen Selbstvergewisserung gefällig ist: als "Verdinglichung" des Menschen, der es versäumt, hiergegen anzugehen. Unnötig ist somit die Bewusstwerdung, die Wissenbildung und Wissenvermittlung, die Wissenverarbeitung von Intellektuellen. Die Negation der bürgerlichen Gesellschaft ist ein Akt des freien Gedankens, den Adorno als "richtiges Leben" nurmehr als begriffliche Ahnung, Vorstellung und auch Erlösungsglauben vorgibt, den er im Kontext der Hegelianischen und Marxistischen Entfremdungstheorie verstanden sehen will. Hierdurch blieb ihm Denken reine Selbstverständigung und frei vom Dilemma des Begreifens zwischen Gedanken und Wirklichkeit. Indem er die Subjektwerdung des Denkens als Denunziation von Falschheit, von Lüge verstand, argumentierte er mit der Hintersinnigkeit der bürgerlichen Ästhetik und Moral, welche ihm nicht anders als durch falsche Subjektivität erklärlich war. So waren in dieser Form zwar kulturkritische Positionen in einen psychologische Denkzusammenhang gestellt, wie sich Entfremdung natürlich auch als Selbstentfremdung ausdrückt und zum Begreifen und Bewusstwerden ansteht. Aber die adornitische Negation, die Negativität des denkenden Subjekts gegen die Falschheit bürgerlicher Subjektivität und Welt, scheint den Widerspruch erst denkend zu erzeugen, dessen Auflösung in der Wirklichkeit anstünde: Der Widerstreit in der geschichtlich entwickelten Welt wird zur Entgegensetzung der Wahrheit von Empfindung zu ihrem Gegenstand in einer falschen Welt. Indem sich nach seiner Auffassung in der Subjektivität die Wahrheit auch in ihrer Widersprüchlichkeit erweisen lässt (z.B. durch Psychologie oder Kunst), wird einerlei, was subjektiv oder objektiv wirksam ist. Prinzipiell ist es für Adorno identisch, also von selbem Grund, wie dies für jeden Bildungsbürger auch schon immer war: Kritik der Subjektivität ist damit unmittelbar Kritik der Objektivität - die Menschen machen das, was sie sind. Entfremdung ist eine Tatsache der Falschheit, Philosophie die "Lehre vom richtigen Leben" (Adorno). Und also ist auch der Bildungsprozess des Menschen nicht mehr in der Geschichte seines Stoffwechsels mit der Natur, nicht in der gesellschaftlichen Entwicklung seiner Produktivkraft und der darin involvierten Begeisterung der Menschheit in ihrem kulturellen Dasein begründet, sondern in einem ahistorischen Kulturwesen, das seine Wahrheit und Verwirklichung im Geist als solchen (also eigentlich im absoluten Geist) sucht.

Adorno ging es im Grunde um die bildungsbürgerlichen Prämissen der Psychoanalyse, um die Hervorkehrung der Wahrheit empfindsamer Subjektivität gegen eine an und für sich schäbige Welt, welche falsche Subjektivität hervorbringt und nötig hat, in der Kunst zur Technik zerrinnt und die Technik unmittelbare Herrschaft über das Leben vollstreckt. Der sensitiven Anschauung, welche sich nicht weiter in diese Welt einlassen muss, dienen diese Feststellungen zur Genüge als Selbstbestätigung, wie sie schon immer auch der Maschinenstürmerei solange dienstbar waren, wie der menschliche Nutzen der Maschine geleugnet werden konnte. Aber in der Politik wird die tödliche Lähmung solcher Anschauung schnell offenkundig: Die Kritik der politischen Wirklichkeit wird durch solche substantielle Abweisung von Dinglichkeit de facto unnötig. Aber dies konnte Adorno begrifflich kaschieren, indem er wahre Politik als Utopie, als Glaube an eine andere Welt verstand: Also eigentlich als Religion. Dieses Konstrukt von Verdinglichung einerseits und Politik als Erlösung von dieser Welt andererseits macht ihn selbst zu einem Heilstheoretiker, der sich am Unheil der Heilstheorie festgebissen hat (siehe Heilsversprechen). Dies zeigt auch seine begriffliche Gleichgültigkeit gegenüber wirklichem Verhalt: In der vielfachen völlig widersinnigen Verwendung des Begriffs Verdinglichung bei Adorno wird auch tatsächlich die Tautologie seiner Scheu vor der Welt sichtbar: Verdinglichung ist gleichermaßen Äußerung, Herstellung, Produktion weltlicher Dinge, wie auch die Herabsetzung des Menschen zum Ding, Unterwerfung des Menschen unter seine Sache. Entfremdung ist also vor allem schon die Arbeitswelt selbst und nicht die Form, worin sie sich gesellschaftlich vermittelt (siehe Formbestimmung). Die Folgen eines solchen Denkens sind eine begriffliche Esoterik, die bis heute noch spürbar ist (z.B. bei Postone, bei den Antideutschen, bei Gremliza von "konkret", und in der Werttheorie der sogenannten Wertkritik).

Die "wahre" Theologie für den linken Intellekt

Die erkenntnistheoretische Schere, die in solchem subjektivistischen Gebrauch von richtig und falsch steckt, hat Adorno mit seinem Verständnis von Marx unkenntlich gemacht. Mit einem Salto Mortale nutzte er dessen Begriffe, die sich aus der Kritik der Philosophie objektiv als Begriff von Ökonomie ergeben hatten, zur Rückkehr in eine Philosophie als Wahrheitslehre über den notwendigen Schein der bürgerlichen Lebensverhältnisse. Adorno kehrt diese Notwendigkeit zu seiner Ästethik, zur Kritik des Scheinhaften durch die Wesensbehauptung einer Empfindung, welche sich in der Entgegensetzung hierzu als richtige Subjektivität gegen den falschen Schein der Welt erweist. Ihn sieht er im Warenfetischismus durch Marx bewiesen und versteht sich darin als Marxist, dass er seinen Begriff der wahren Subjektivität von Marxens Begriff des notwendigen Scheins des Wertbegriffs sich unterlegen lässt. Diesen subjektiven Schein eines objektiven Begriffs wiederum als reine Objektivität zu interpretieren, die gesellschaftliche Welt zum Schein an sich, den Wert als falsche Gedankenabstraktion zu deuten, das macht alle Begriffe zur Nomenklatur dessen, was der intellektuellen Subjektivität entsprechen soll: Mit der Abweisung solch abstrakter Negativität wird eine Position lebendig, die sich als Selbstverständnis gegen die Welt wunderbar in der Ausbreitung der Sensibilität leben lässt, die man zugleich an Seinesgleichen (und an anderen sowieso) leicht verurteilen kann (siehe den Zirkelschluss des Nominalismus).

Aus diesem Grund argumentiert Adorno nur scheinbar ökonomisch, indem er eine wahre Welt von menschlichen Beziehungen über den Gebrauchswert ihrer Produkte durch die "falsche Allgemeinheit" des Tauschwerts verstellt sieht und verlässt sogleich die Welt, welche im Warenfetisch ja auch nur falsch erscheinen kann. Sie dient alleine seiner Selbstbegründung (wie auch der seiner Nachfolger, z.B. Postone). Sie bietet hinreichend Grund zur Reflexion der Empfindung, so dass sich hierüber Adornos Philosophie der Negation gegen die Barbarei des Weltgeschehens frei ergiesen kann, ohne sich einer Praxis bewusst werden zu müssen. Der Fortgang der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie konnte ihn gar nicht interessieren, weil er Marxens aufwendige Beweisführung nur für die Allgemeinplätzeseiner Erkenntistheorie braucht und schluckt. Er will aus dem intelektuellen Bürger duch die Kritik des "falschen Lebens" in einem unendlichen Prozess des kritischen (meint abweisenden) Denkens einen Philosophen des Glücks gegen die Barbarei werden lassen; mehr noch: einen ästhetischen Philosophen, der seinen Geist durch die Welt gebrochen weiß, und einen philosophischen Ästheten, der seine Empfindung zur Wahrheit bringt. Beides in einem ist ihm die Verheißung der Kunst gegen das Grauen und von daher eine Philosophie, welche sich nicht zur Wirklichkeit der Gefühle treibt, sondern die Wirklichkeit zu einem negativen Gleichnis seiner Philosophie der Ästhetik werden lässt - nicht ganz unähnlich der Philosophie von Nietzsche. Beide sehen sich gegen alle Religion und Theologie in einer gottverlassenen Welt. Die Hoffnung auf Erlösung mag verschieden formuliert sein, was ihnen aber beiden bleibt ist das Selbstgefühl des freien Intellekts, der diese Welt zu leiden hat, gerade weil nur er ihre Wahrheit kennt. Dies allerdings ist die höchste Theologie, die möglich ist. Lebt es sich vielleicht nicht doch ganz gut im Wiesengrund?

 

Wolfram Pfreundschuh

siehe auch:

Emanuel Kapfinger: Adorno über verdinglichtes Denken

Emanuel Kapfinger: Elemente der Kulturkritik Adornos