Emanuel Kapfinger (25.01.11)

Die Enteignung der Wissenschaft durch die neoliberale Hochschulpolitik

Wissenschaft existiert seit jeher in gesellschaftlicher bestimmter Form. Auch wenn die Philosophen stets um die metaphysische Herleitung ihrer reinen Form bemüht waren: Seit dem Altertum ist ihr Verständnis von Wahrheit, des Verhältnisses von Objektivität und Beweisführung, ihr Bezug zur subjektiven Erfahrung und zur gesellschaftlichen Arbeit, ihr politisches Selbstverständnis bedingt durch ihre Funktionen für Herrschaft und Produktionsprozess sowie durch die ökonomische und kulturelle Form der wissenschaftlichen Tätigkeit. Dass dies eine je historisch spezifische Form ist, hindert freilich nicht, sie vor dem Hintergrund des historischen Prozesses zu kritisieren und von da aus sich auch zur Entwicklung der Gesellschaft zu positionieren.

Das betrifft gegenwärtig die Zwänge der neoliberalen Hochschule. Unter ihren Konkurrenzmechanismen und unter ihrer unmittelbaren ökonomischen Abhängigkeit wird selbst die bürgerliche Wissenschaft im Wesentlichen zu einer Farce. Ihr wird ihr eigener Wahrheitsgehalt gleichgültig. Die Inhalte bewegen sich am Rande der Sinnlosigkeit. Abgesehen von den Zweigen, die unmittelbaren ökonomischen oder politischen Nutzen bringen, bestätigt die Wissenschaft immer wieder selbst ihre eigene gesellschaftliche Irrelevanz, die nicht einmal mehr zur Ideologieproduktion taugen würde, wenn die Ideologie nicht genau in dieser bodenlosen Gleichgültigkeit und Leere bestehen würde. Damit kann sie dann mit all ihrer wissenschaftlichen Autorität sagen, dass sie zu einem Urteil nicht fähig und die Entscheidung letztlich der Politik zu überlassen sei. Die Absage an Reflexion war aber immer nur der Reaktion zunütze.

Bedingungen für die Wissenschaft

Die Form der Wissenschaft unter der neoliberalen Hochschule ist in erster Linie durch zahlreiche neuartige Messkriterien für wissenschaftliche Qualität bestimmt. Im Zuge der neoliberalen Hochschulpolitik wird die Grundfinanzierung der Wissenschaft auf einen verschwindenden Betrag gekürzt, diese erhält nun nur mehr auf Antrag Geld und muss hierfür ständig ihre Leistung und Relevanz beweisen. Die Wissenschaftler/innen werden damit unter hohe Konkurrenz um einen möglichst hohen „score“ hinsichtlich ihrer Qualität gesetzt. Hinzu kommt die Tendenz, dass Wissenschaft zunehmend in Projektgruppen und Forschungsteams durchgeführt wird, obgleich sie schon lange nur in der Unterordnung unter die Ordinarien, Institutsdirektoren etc. existierte. Die Prekarisierung der wissenschaftlichen Stellen und der zunehmend unsicherere Arbeitsmarkt für geistes- und sozialwissenschaftliche Akademiker/innen üben zusätzlichen Druck aus, sich in der wissenschaftlichen Tätigkeit diesen Bedingungen zu unterwerfen. Zu den Messkriterien für wissenschaftliche Qualität gehören etwa die Anzahl der Publikationen, der Vorträge, der Rufe auf Professuren (Zweit-/Drittplatzierung), der Zitationen in den Publikationen anderer und der organisierten Konferenzen – möglichst viel in möglichst kurzer Zeit. Eher implizit und nicht formalisiert gehören zu den Gütekriterien Kontakte zu möglichst hochrangigen Wissenschaftler/innen.

Konsequenzen für die wissenschaftliche Arbeit 

Diese Bedingungen, allen voran die Gütekriterien, haben für die wissenschaftliche Tätigkeit als solche zwei zentrale Konsequenzen:

Zum einen entsteht ein immenser Zeit- und Produktivitätsdruck, wissenschaftlich verwertbare Ergebnisse zu produzieren. Raum für Arbeit an eigenen Fragen lässt das kaum. Eine freie geistige Arbeit, die sich in unerforschtes Gebiet wagt, über Fragen mit unsicherem Ergebnis nachdenkt und sich auch falsche Erkenntnisse eingesteht, ist so nicht mehr möglich. Statt der Anstrengung des Begriffs und der mühsamen, zeitraubenden Arbeit an einem Gedanken herrschen Methoden schneller Produktion vor, also letztlich das Aufwärmen des Immergleichen.

Zweitens wird Forschung in offizielle Forschungsprogramme eingesperrt. Diese Fixierung entsteht durch die Notwendigkeit, sich zur Steigerung des eigenen Werts ständig wissenschaftlich aufeinander zu beziehen (Zitationsindex, Netzwerke) sowie durch die institutionellen Zusammenhänge (Lehrstühle, Forschungsinstitute), in der Gegenstand und Methode an die Weisung des Vorgesetzten gebunden ist und Kritik unterbleiben muss. Hierzu zwingen die Verpflichtungen der Stelle und die Gütekriterien, da nur durch Protektion eines „großen Namens“ eine wissenschaftliche Laufbahn möglich wird. In diesen Forschungsfeldern ist Forschungsperspektive, Frageinteresse und Begrifflichkeit bereits vorgegeben, man hat sie hinzunehmen und als bloßes ausführendes Organ zu fungieren, und einen abweichenden kritischen Standpunkt für sich zu behalten.

Insgesamt entsteht dadurch ein mechanisches, zeitlich äußerst dichtes Arbeiten, das sich in festumrissenen und vorstrukturierten Aufgaben bewegt und von daher auch kaum Erkenntnis bringt.

Folgerungen für die Form der Wissenschaft

Der Zeit- und Produktivitätsdruck und die Äußerlichkeit des Forschungsfelds trennen das Denken vom Subjekt und seiner Praxis ab, obwohl Denken und daher auch Wissenschaft stets ein subjektiver Prozess und auf eigener Erfahrung, Handlungszusammenhänge und gesellschaftliche Zwecksetzung basiert. Die wissenschaftliche Tätigkeit wird zu einem außerindividuellen Forschen, das im mechanischen Abarbeiten von Aufgaben besteht und von eigenen Erkenntnisinteressen abgetrennt ist.

1. Entleerung des Verständnisses von Wahrheit: Unmöglich wird so ein realer Bezug zu den Gegenständen, die sich als Fragestellungen tatsächlich aus einem Lebensvollzug ergeben könnten. Es kann auf diese Weise subjektiv nie um Wahrheit gehen, sondern immer nur um die Fortführung und Anreicherung schon bestehender Positionen. Ein Urteil, also die Prüfung einer Erkenntnis, Entscheidung über Wahrheit ist angesichts des Zeitdrucks unmöglich, abgesehen davon, dass ein vom eigenen Team abweichendes Urteil (außer es bleibt bloßer meinender Zweifel) unweigerlich zur Nichtverlängerung des Vertrages führen würde. Wahrheit wird in sich beliebig.

2. Dialektik von Pluralismus und Positivismus: So entsteht eine neumodische Verteilung von Subjektivität und Objektivität. Letztere ist durch das Forschungsfeld definiert und unhinterfragbar. Auf der anderen Seite steht die sogenannte wissenschaftliche Urteilsbildung, die in einer Wahl einer der Positionen besteht, aber immer ins Subjektive verwiesen ist, also schon von vornherein zu einer bloßen Meinung degradiert ist, die ganz genauso auch anders aussehen könnte. Geisteswissenschaft heißt hier nicht mehr Urteilsbildung aufgrund einer stringenten Argumentation, sondern Entscheidung nach Geschmack und Gefallen. (Die Naturwissenschaften funktionieren an dieser Stelle nur bedingt so, da sie die Empirie als vorrangiges Kriterium haben.)

3. Reduktion auf den reinen Begriff: Weil außerdem die Trennung von der Praxis, wie sie in bürgerlicher Wissenschaft schon immer gegeben war, mit dem Druck der Ökonomisierung potenziert wird, kann die Wissenschaft für die Menschen selbst bloß mehr abstrakte Tätigkeit sein. Die Wissenschaftler können für ihr Denken weniger denn je von Wahrnehmungen, Phänomenanalysen, eigenen Erfahrungen, eigenem Interesse ausgehen, und müssen immer sehr abstrakt am Begriff operieren, so dass Wahrheit zunehmend eine abstrakte begriffliche Beziehung ist, und immer weniger im Lebensvollzug Sinn macht und darin auch verständlich ist. Die Wissenschaft ändert sich entsprechend, aus Wissen wird Information, aus Erfahrung Daten, aus Begriffen werden Schemata und aus Theorien Zeichensysteme. 

4. Willkür der Beweisführung: Es kommt daher zu einer Verselbständigung von Wissenschaft gegen die Praxis und ihre Erfahrungs- und Handlungszusammenhänge. Da sich Wissenschaft daher nicht mehr auf die Praxis bezieht, andererseits nur durch sie Erkenntnisinteresse gewinnt und nur in ihr Beweise führen kann, existiert ihr – notwendiger – Bezug auf sie nur mehr in der Negation: Es entsteht eine brutale Unmittelbarkeit des Praxisbezugs: Auf der einen Seite, in den Natur- und Sozialwissenschaften, nackte Empirie als letztgültige Form des Beweises und als Erkenntnisinteresse der pure ökonomische oder politische Nutzen; auf der anderen Seite, nun bei den Geisteswissenschaften, die ästhetische Bewertung: Wie sich eine Wahrheit anfühlt als auch eine Form des „Beweises“, und wie unterhaltsam ein Thema ist zur Begründung von Fragestellungen. Das heißt für den Beweis, er wird entweder durch die reine Objektivität oder die reine Subjektivität geleistet, aber in keinem Fall durch ein Subjekt, das sich in seinem Urteil selbst objektiv wird.

5. Ideologischer Charakter: Entsprechende Schlüsse lassen sich aus dieser Verselbständigung der Wissenschaft auf gesellschaftskritisches Denken und das politische Selbstverständnis ziehen. Gesellschaftskritik wird bereits durch die mechanische Art des Denkens unmöglich und in seiner bloßen Reproduktion von Wahrheiten. Gesellschaftskritik muss sich praktisch auf die Welt beziehen und ist aufwendige Arbeit. Der abstrakte, von Praxis getrennte Begriff der gegenwärtigen Wissenschaft kann den Verhältnissen gar nicht widersprechen, und mittels Empirie und Geschmack lässt sich eben kein Beweis für kritische Erkenntnis führen.

Zur Nutzlosigkeit dieser Wissenschaftskritik

In der Diskussion auf der „Summer Factory Bildung“ im Sommer 2010 in Frankfurt am Main wurde gegenüber der hier formulierten Wissenschaftskritik herablassend polemisiert, die Sorge um den Wahrheitsbegriff sei ein sehr abgehobenes Philosophen-Interesse und habe keinen politischen Gehalt. Als politisch wurde dabei nur begriffen, was im Nutzen negativ ist. Meine Wissenschaftskritik könnte vor dieser Sichtweise nur gerechtfertigt werden, wenn der kritisierten Wissenschaft eine nachteilige Wirkung auf anderes nachgewiesen werden könnte. Aber obgleich letzteres möglich wäre – dafür sei nur an die benannte Unfähigkeit zu kritischem Denken verwiesen –: Für die Wissenschaft muss auch ein immanenter Maßstab gelten. Der alleinige Maßstab ihres Nutzens würde die Gesellschaft und entsprechend das menschliche Wesen auf einen rein ökonomisch-funktionalen Zusammenhang reduzieren, obgleich das menschliche Wesen vielfältige Sinne hat, so auch die Liebe oder die Not der Wahrheit. Das Kalkül des bloßen Nutzens ist also selbst Teil des Problems. Es entspricht dem einseitigen Zweck der Kapitalverwertung.

Das Ende der bürgerlichen Wissenschaft

Der innere Auflösung der – bürgerlichen – Wissenschaft ist nicht die einzige negative Folge, die durch die Ökonomisierung der Hochschule entsteht. Wissenschaftler geraten unter immer stärkeren Leistungsdruck, 70-Stunden-Wochen sind auf halben Stellen keine Seltenheit, die kurzfristigen Verträge lassen eine ungeheure Unsicherheit bezüglich der Lebensplanung entstehen, und die wissenschaftliche Qualifikation (Dissertation, Habilitation) muss neben der „eigentlichen Arbeitszeit“ irgendwie noch geleistet werden, um sich die Zukunft in der Hochschule zu sichern. Diesen Entwicklungen korrespondieren die Modularisierung und Ökonomisierung des Studiums, und auch hier wird es für die Betroffenen unter diesen Bedingungen zu einer Unmöglichkeit, ein am Gegenstand interessiertes und selbständiges Studium zu untersuchen (das habe ich in meinem Aufsatz „Die Enteignung der Bildung“, http://kulturkritik.net/politik/modularisierung/index.html, gezeigt).

Die hier skizzierten Entwicklungen zeigen das Ende der bürgerlichen Wissenschaft an. Sie hört auf, überhaupt noch Wissenschaft zu sein. Zugleich zeigt ihre Gehaltlosigkeit, ihr Ästhetizismus wie ihr Positivismus nichts anderes auf als die vollendete Konsequenz derjenigen Widersprüche, die mit ihrem Beginn und mit ihrem Begriff schon gesetzt waren. Allerdings steht infrage, wie unter diesen Bedingungen aus bürgerlicher Wissenschaft noch kritisch geschöpft werden kann. Sie bewegt sich, wie gezeigt, am Rande der Irrelevanz, und Kritik ist ihr wurst, weil sie nicht mehr beweist. Auch ideologiepolitisch ist unter diesen Ansprüchen unklar, wie noch innerhalb des Terrains der bürgerlichen Wissenschaft agiert werden soll. Die Antwort kann im Grunde nur folgende sein: Erstens: Der bürgerlichen Wissenschaft müssen ihre eigenen Bedingungen, unter denen sie existieren kann, zurückerobert werden. Vor allem aber muss es eine unabhängige und selbstorganisierte Wissenschaft geben, die nicht auf Pöstchen im akademischen Rahmen abzielt, sondern versucht, aus umwälzender gesellschaftlicher Praxis heraus und für diese zu arbeiten.