3.10.2018Gegen alte und neue linke Erzählungen

Marx’ Kritik des Utopismus ist noch immer aktuell

Von Emanuel Kapfinger

 

(Erschienen in: ak – analyse und kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Ausgabe 645 vom 15.01.2019)

Wir brauchen eine neue linke Erzählung. Wir brauchen Utopien, mit denen wir die Menschen für das linke Projekt begeistern können. Solche oder ähnliche Appelle erklingen in linken Debatten immer häufiger. Die Idee: Nur so können wir eine Perspektive über das Bestehende hinaus entwickeln.

Utopien bieten aber gerade keine Perspektive über das Bestehende hinaus. Sie sind antikapitalistisch, gehen aber an der emanzipatorischen Praxis der Gegenwart vorbei.

Das betrifft auch den von analyse und kritik mit herausgegebenen Band »Neue Klassenpolitik«: Darin wird eine neue linke Erzählung für nötig befunden, die den Menschen wieder eine Zukunftsvision ermöglicht, sie mit einem »Traum von einer anderen Welt« aufrüttelt.

Wie viele Autorinnen dieses Bands machen sich zur Zeit auch viele andere für Utopien und neue linke Erzählungen stark. Unter anderem führt Bini Adamczak in »Beziehungsweise Revolution« das Misslingen bisheriger Revolutionen auf das Fehlen von Utopien zurück, und der Band »Konkrete Utopien« versammelt Utopien von Aktivist_innen und politischen Gruppen. Im neuen Jahr erwartet uns »Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung« von Julia Fritzsche, und die jour fixe initiative berlin veranstaltet eine Reihe über die Utopie einer »solidarischen Weltgesellschaft der Freien und Gleichen«.

Liberté, Égalité, Fraternité

Die Debatte beruft sich auf Karl Marx. Aber Marx hat keine Zukunftsvisionen konstruiert, sondern im Gegenteil den Utopismus scharf kritisiert. Im Vorwort zu »Neue Klassenpolitik« fragt Herausgeber Sebastian Friedrich, was Kern linker Politik sei. Er antwortet: »Die kürzeste Definition stammt wohl von Karl Marx. Es gehe darum..., ›alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.‹ Anders gesagt: Die Koordinaten linker Politik sind Gleichheit und Freiheit.« In ähnlicher Weise lässt Bini Adamczak ihr Buch »Beziehungsweise Revolution« mit einem Plädoyer für Freiheit, Gleichheit, Solidarität ausklingen.

Aber Marx sagt nicht, dass das die Koordinaten linker Politik sind. Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind für ihn vielmehr die Ideen der bürgerlich- kapitalistischen Gesellschaft. »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« war der Schlachtruf der Französischen Revolution von 1789 – derjenigen Revolution, die den Kapitalismus politisch durchgesetzt hatte.

Marx analysiert im »Kapital«, dass Freiheit und Gleichheit im Kapitalismus wirklich durchgesetzt sind. Sie sind aber zugleich nur die Oberfläche des Kapitalismus, der so als ein »wahres Eden der angebornen Menschenrechte« erscheint, und so gerade verschleiert, dass der Mensch in ihm ein erniedrigtes und geknechtetes Wesen ist. Marx schreibt: »Was allein hier« – in der Zirkulationssphäre – »herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham.« Kapitalist und Lohnarbeiter begegnen einander auf dem Markt als Freie und Gleiche. Aber der Lohnarbeiter verlässt den Markt »wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.«

Man kann sich für eine Politik der Freiheit und Gleichheit nicht auf Marx berufen. Die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit führt nicht über den Kapitalismus hinaus, sondern kann nur in die Wiederherstellung jener Markt- und Geldbeziehungen münden, unter deren Oberfläche notwendig wieder die Gerberei entstehen würde.

Die Debattenbeiträge sind als solche hochspannend, und ihre emanzipatorische, antirassistische und antikapitalistische Zielsetzung steht außer Zweifel. Zudem ist es ein außerordentliches Verdienst der »Neuen Klassenpolitik«, den Klassenkampf systematisch mit feministischen und antirassistischen Kämpfen zusammenzudenken. Sie will damit aber vor allem – und hier ist die deutliche Kritik nötig – eine »neue linke Erzählung« konstruieren. Dem würde Marx entschieden widersprechen.

Der Bund der Kommunisten

Gegen den Utopismus haben sich Karl Marx und Friedrich Engels schon ab 1846 in ihrer ersten politischen Organisation, dem »Bund der Gerechten«, engagiert. Darin schwelte seit 1840 ein Konflikt zwischen dem bisher führenden, utopistischen Flügel mit Wilhelm Weitling an der Spitze, und einem erstarkenden kommunistischen Flügel. Marx und Engels traten dem Bund 1846 bei und ergriffen Partei für die Kommunisten. Schließlich gab sich der Bund nach einer Kampfabstimmung im Jahr 1847 eine neue Programmatik und nannte sich um in »Bund der Kommunisten«. Diese Kampfabstimmung setzte Raoul Peck in seinem Film »Der junge Karl Marx« von 2017 eindrucksvoll in Szene.

Nach der Umbenennung beauftragte der Bund Marx und Engels mit dem Verfassen einer Programmschrift, die 1848 als »Manifest der kommunistischen Partei« veröffentlicht wurde. Darin üben Marx und Engels scharfe Kritik am Utopismus und grenzen sich damit auch von Weitling und dem früheren »Bund der Gerechten« ab. (1) Der Utopismus erhebt sich nach Marx und Engels mit seinen Gesellschaftsplänen bloß in phantastischer Weise über den Klassenkampf. Er ersetzt zwar den Klassengegensatz durch eine zukünftige Harmonie, analysiert aber die gegenwärtigen Bedingungen der Befreiung nicht. Dadurch bleibt im Utopismus unklar, wie es konkret zur Aufhebung des Klassengegensatzes kommen soll.

Was die Utopisten dann wirklich tun, geht laut Marx und Engels völlig an der »Selbsttätigkeit des Proletariats« vorbei. Die Utopisten konstruieren mit viel Eifer Gesellschaftspläne, und glauben, dass sie die Menschheit nur noch durch Propaganda von ihren Plänen überzeugen müssten, damit diese sich anschließend befreien könne. Aber das Proletariat braucht diese Propaganda nicht. Es gerät aufgrund seiner Unterdrückung immer wieder in Kämpfe und damit auch in Prozesse der politischen Organisierung. Heute will »die Linke« mit einer neuen Erzählung die Menschen vom linken Projekt überzeugen – während gleichzeitig die gilets jaunes die Selbsttätigkeit des Proletariats auf Landes-Maßstab praktizieren.

Bei Marx und Engels steht diese Kritik in einem geschichtsphilosophischen Rahmen: »Die« geschichtliche Entwicklung bringt das Proletariat hervor, das dann die geschichtliche Mission hat, die Klassen abzuschaffen. Und das sei auch unvermeidlich. Wir müssen, wenn wir die beiden heute lesen, einfach versuchen, uns innerhalb dieses geschichtsphilosophischen Quarks das anzueignen, was wir für eine treffende Kritik des Utopismus halten.

Der Kommunismus ist kein Ideal

Im Manuskript zu »Die deutsche Ideologie« (2), einige Jahre vor dem »Manifest«, schreiben Marx und Engels: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten hat. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.«

Marx und Engels verstehen den Kommunismus also explizit nicht als einen zukünftigen Zustand, der vom Jetzt getrennt ist. Kommunistische Praxis besteht nicht darin, ein Ideal zu verwirklichen. Die Wirklichkeit braucht kein Ideal, dem sie gleich gemacht werden muss, weil diese Wirklichkeit selbst bereits die Bewegung ist, den jetzigen Zustand aufzuheben. »Wirkliche Bewegung« meint also nicht eine »wirkliche« Organisation wie etwa der Bund der Kommunisten, sondern dass der jetzige, widersprüchliche Zustand beständig Kämpfe, Organisationsprozesse, kritisches Bewusstsein hervorbringt.

Der zentrale Widerspruch der Wirklichkeit war für Marx und Engels die Klassenlage des Proletariats, also dass dieses eigentumslos ist und daher trotz des produzierten Reichtums im Mangel lebt. Dieser Widerspruch macht es zugleich für das Proletariat notwendig, sich dieser Wirklichkeit zu widersetzen. (3) Für uns heute ist an diesem Argument nicht wichtig, dass Marx und Engels darin lediglich den »einen« zentralen Widerspruch benennen und dass für sie der Klassenkampf automatisch aus der Verelendung folgt, sondern dass Unterdrückung nie ohne Widerstand, ohne die »wirkliche Bewegung«, zu denken ist.

Das kritische Bewusstsein über den Kapitalismus bildet sich nach Marx und Engels nicht durch Propaganda oder linke Erzählungen, sondern aufgrund der Klassenlage des Proletariats und im Zuge der dadurch notwendig werdenden Organisierungen und Kämpfe. Marx schreibt 1846: Im Kampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten »findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst.« Damit meint Marx kein stolzes Arbeiter- und Klassenbewusstsein, sondern das innerhalb einer widerständigen Organisierung bestehende Bewusstsein, dass die eigene proletarische Klassenlage durch das gesellschaftliche Ganzen bedingt ist. Dieses kritische Bewusstsein des Ganzen besteht nicht im »Traum von einer anderen Welt« (Friedrich), sondern darin, dass die sozialen Probleme der Gegenwart innerhalb des bestehenden Ganzen systematisch notwendig sind, und dass darum »nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen Gesellschaft, sondern gegen die bisherige ›Lebensproduktion‹ selbst« revolutioniert werden muss. (4)

Solidarität und Revolution

Der Utopismus will, damals wie heute, gegen all die Gegensätze die Idee der Solidarität mobilisieren. Der ak-Schwerpunkt vom September 2018 zeigt auf zahlreichen Fotos, wie Menschen Schilder wie »Solidarity will win« und »United against racism« hochhalten, und Bini Adamczak sagt in ihrem Buch »Beziehungsweise Revolution«, dass die kommunistische Gesellschaft an die

Stelle des Gegeneinander die Solidarität und das Füreinander setzt. Eine praktische Bedeutung für die »Revolutionierung der bisherigen Lebensproduktion« hat dies allerdings nicht.

Für Marx und Engels war die Kritik an dieser Vorstellung zentral. Sie führen sie im Manuskript zu »Die deutsche Ideologie« in ihrer Kritik an dem sozialistischen Philosophen Ludwig Feuerbach, einem Vordenker der 1848er Revolution. Sie tun dies an Stichworten wie Liebe, Gemeinsinn, Harmonie – von der Sache her das, was wir heute unter Solidarität diskutieren. Marx und Engels zufolge ist Solidarität bloß eine Abstraktion, die gegenüber der spezifischen Bestimmtheit von Beziehungen nichts aussagt. Es gibt nicht so etwas wie eine prinzipielle Beziehungsweise, die »dem« Menschen eigentlich zukommt, sondern immer nur den »wirklichen historischen Menschen«. Damit ist gemeint, dass die Menschen immer in spezifischen Tätigkeiten und Beziehungen in einer spezifischen gesellschaftlichen Gliederung leben. Sie leben nicht in prinzipiellen Beziehungsweisen »des« Gegeneinander oder »der« Solidarität, sondern in den spezifischen Verhältnissen des Betriebs oder der gegenwärtigen Familie. Und diese Verhältnisse sind mitsamt ihren konkreten Tätigkeiten, Abläufen und Bedürfnissen geschichtlich entstanden und nicht einfach durch »ganz andere Beziehungen« austauschbar.

Emanzipation besteht dann nicht in der Konstruktion ganz anderer Beziehungen, sondern in der konkreten Umgestaltung der geschichtlich entstandenen gegenwärtigen Beziehungen. Das Prinzip Solidarität sagt uns nichts darüber, wie der jetzige Betrieb oder die jetzige Familie umzugestalten ist. An die Stelle der Konstruktion einer solidarischen Zukunft muss die konkrete Kritik der Gegenwart treten. Nur ausgehend von dieser Kritik können wir Konzepte entwickeln, mit denen wir unsere vorgefundenen, gegenwärtigen Verhältnisse anders organisieren können.

Der Materialismus des Reichtums

Wo bleibt aber bei all der Kritik das Positive, für das wir streiten wollen? Es bleibt uns, aber nicht als Idealismus einer utopischen Zukunft, sondern als Materialismus eines Reichtums, der heute schon besteht. Es ist der Reichtum der Gesellschaften, wie ihn Marx als Thema von »Das Kapital« in dessen erstem Satz nennt.

Das Positive, das uns für die Revolution begeistert, ist ein Reichtum, den wir auch heute überall da erfahren können, wo die herrschenden Verhältnisse ihre Kraft verlieren: bei der Organisierung im Mietshaus, im Sog von sozialen Bewegungen, in der Aneignung einer Fabrik oder beim hedonistischen Feiern.

Anmerkungen:

1) Die Kritik des Utopismus im »Manifest« richtet sich gegen andere Utopisten und nicht direkt gegen Weitling, den einige Kritikpunkte von Marx und Engels nicht betreffen. Trotzdem trifft die Kritik in ihrer Grundorientierung auch Weitling.

2) »Die deutsche Ideologie« gilt meist wie selbstverständlich als »Grundlegung des historischen Materialismus«. Marx und Engels haben aber nie ein solches Buch fertiggestellt, es gibt lediglich Manuskriptfragmente in unterschiedlichem Ausarbeitungsstand und nicht als kohärenter Zusammenhang einer »Grundlegung«. Trotzdem finden sich in diesen Fragmenten Ausführungen, die für das theoretische Selbstverständnis von Marx und Engels grundlegend sind.

3) Das Proletariat ist, wie Marx und Engels schreiben, eine Klasse, »welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft herausgedrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen andern Klassen forciert wird«.

4) Wenn es über lange Zeiten hinweg nicht zu diesem kritischen Bewusstsein kommt, zeigt das, wie erfolgreich die Spaltungen des Proletariats und wie dicht die Ideologien sind. Die Aufgabe antikapitalistischer Aktivist_innen wäre es dann gerade, in lokaler Basisarbeit widerständige Organisierungen trotz der Spaltungen zu unterstützen und den Ideologien argumentativ entgegenzutreten.