Wolfram Pfreundschuh (11.2.2011)

Die verhütete Gesellschaft

Niemand hatte es für möglich gehalten, dass die Verhältnisse im Norden Afrikas sich so schnell aufbrechen lassen, wie es im Augenblick möglich erscheint. Egal was daraus entstehen wird: Die Aufstände in den nordafrikanischen Ländern Tunesien, Ägypten, Algerien und Marokko und den vorderasiatischen Ländern Jemen, Jordanien und Syrien und teilweise auch in Saudi-Arabien gegen Armut, Verteuerung der Grundnahrungsmittel, korrupte Eliten und politischer Verfolgung und Folter hatten schlagartig die Verhältnisse in Frage gestellt, die man durch fremden Glauben für verfestigt gehalten hatte, einem Glauben, der nicht so aufgeklärt sie wie der des Abendlands, nicht so reif - nach hießigen Maßstäben eher mittelalterlich. Ägypten hat wie auch Tunesien den Islam als Staatsreligion. 90 - 98% der Bevölkerung bekennt sich zum sunnitischen Islam. Das islamische Recht, die Scharia, ist die Hauptquelle der Gesetzgebung in Ägypten. Wie auch in Tunesien sind dort Leichtindustrie, Tourismus und Landwirtschaft die bedeutenden und bescheidenen Wirtschaftsfaktoren. 34% der Ägypter sind unter 21 Jahren, die Tunesier sind im Durchschnitt 28,3 Jahre alt. Jeder Dritte kann weder lesen noch schreiben.

Man war daran gewöhnt worden, dass von den Ländern des Islam nicht zu erwarten sei, dass sie sich zu einer Demokratie entwickeln könnten, weil Demokratie irgendwie dem Christentum zugerechnet war. Dem Mainstream der Medien folgend hätte man dort nicht aufgeklärte Menschen vermutet und eine differenzierte Bildung in Natur- und Geisteswissenschaften zu finden. Wie verhält sich das nun, dass hier selbstbewusste Menschen auf die Straße gehen, Männer wie Frauen, und für ihr Recht und ihre Demokratie eintreten und sich hierüber auch noch bei ihren Freitagsgebeten besprechen und zusammen mit Christen gegen ein autoritäres Regime aufbegehren? Ändert sich hier das Verhältnis von Religion und Politik ganz grundlegend oder war es vielleicht schon immer anders, als man es sich angewöhnen sollte? Warum hat die hiesige Öffentlichkeit die Kultur des Islam so gering geschätzt und vor was hütet sich die europäische Politik und was will sie verhüten?

Während hierzulande verkündet und gefeiert wird, dass die Weltwirtschaftskrise auf wundersame Weise überwunden sei, dass es die Politik geschafft habe, das Krisenmonster des Finanzkapitals zu überwältigen, stürzen in Nordafrika einige der Diktatoren, die sich dem so genannten Westbündnis angedient hatten. Ihre Militärs waren von ihm finanziert und ihre Kredite und Staatsanleihen von ihm gewährt. Nun entschwindet ihre Basis. Die Verhältnisse dort sind im Umbruch, während sie sich hierzulande zumindest im Augenblick wieder verfestigen. Was hat das miteinander zu tun? Hatte sie die Globalisierung des Kapitals, die Ausdehnung der Finanzmärkte durch die Vernutzung der Warenmärkte nun doch erreicht? Hat sie die Entwertung ihres Geldes in eine noch krassere Armut getrieben oder war es vielleicht doch ihre Religion, die sie zum Aufstand gegen ihre Polizeistaaten gebracht hatte, also doch der Glaube, dass die Welt ihres Gottes ihnen ein höheres Recht verspricht, als es die Lebensverhältnisse unter ihren Regierungen des politischen Terrors und der Gewalt boten?

Alles, was denen die Macht gegeben hatte, ihr Land zu beherrschen und ihrer Bevölkerung die Lebensverhältnisse zu diktieren und sie auszuplündern, war aus den reichen Ländern eingebracht worden, besonders auch aus den USA und Deutschland: Waffen, Kredite, Industrie und sogar auch große Mengen an Nahrung wie z.B. Weizen aus den USA. Reich waren auch sie einmal gewesen und die Wisenschaften des Orients waren noch vor 300 Jahren denen des Abendlandes weit überlegen. Der Gegensatz der Kontinente hat sich umgekehrt und durch die Globalisierung des Kapitals in den letzten 30 Jahren auch noch verschärft und dahin getrieben, dass es inzwischen peinlich geworden ist, wenn offenkundig wird, wie dabei noch die kolonialistischen Rollen der Diktatoren in den armen Ländern von Europa und des USA ausgestattet worden waren. Die Monokultivierung hatte ihre eigene Entwicklung vereinseitigt und ausgedünnt. Nur um existieren zu können, mussten sie ihre Produkte zu einem Preis liefern, den das Finanzkapital ihnen dort vorschrieb, wo sie ihm keine Bodenschätze und damit keine eigenen Preise entgegen zu setzen hatten.

Das scheint nun zu Ende zu gehen. Der Westen hat es auch gewollt und er selbst steckt wohl auch dahinter, dass sich das von ihm finanzierte Militär auf die Seite der Bevölkerung stellte. Die Globalisierung hat zu der Erkenntnis geführt: Diktatur durch die Staatsadministrationen lohnt sich nicht mehr. Die Diktatur der Armut ist weit effektiver, wenn sie ohne dies funktioniert. Kapitalmacht ist erst dann vollständig, wenn sie sich nur noch in der Preisbildung darstellt, wenn sie den Markt frei, also weitgehend willkürlich beherrschen kann.

Die Spaltung der Welt in Armut und Sucht

Armut ist im Grund nur die Ohnmacht in der Bildung eigener Preise. Ihr steht immer ein Preisdiktat der Bessergestellten gegenüber, durch welches die möglichst billige Selbsterhaltung des Kapitals und die Fortentwicklung seiner Mehrwertproduktion erst möglich ist. Die Armut dort ist der Reichtum hier. Sie hat den Gegensatz der Lebensverhältnisse von Nord und Süd durch den Gegensatz der Wertbestimmungen verschärft, dort die Abhängigkeit von Landwirtschaft und Tourismus, hier die Abhängigkeit von der Technologieproduktion totalisiert.

Und von daher haben sich auch die Kulturen gegensinnig entwickelt. Während wir am Kapitalreichtum zumindest durch billige Nahrungsmittel teilhaben, herrscht dort ganz massive Verelendung. Während hier die allgemeine Sucht nach Geld dominiert, herrscht dort der chronische Bedarf an Lebensmittel. Wir ernähren unsere Wirtschaft wesentlich durch Importe, dort wird alles exportiert, was nur irgendwie Geld einbringt.

Wäre der gesellschaftliche Selbsterhalt hierzulande 100prozentig durch Importe aus dem Ausland gesichert, so wäre dies hier nur noch eine reine Dienstleistungsgesellschaft, die Autos, Waffen, Pharmazie und Technologie exportiert und dabei soviel einnimmt, dass ihr die eigene Bevölkerung durch ihre reinen Konsumbedürfnisse zu Diensten ist. Die Dienstleistungsbranchen und Banken haben in Deutschland tatsächlich den weitaus größten Anteil am Brutto-Inlandsprodukt (BIP in Deutschland 2009: 3,33 Billionen USD), nämlich weit über 70%. Jenseits der Pharma-, Auto- und Technologieproduktion ist die Industrie zudem stetig rückläufig. Die Landwirtschaft macht weniger als 5 % aus.

Der Gegensatz der Kulturen der Araber zu denen der Europäer ist krass. Dort ist die Hälfte der Bevölkerung meist unter 30 Jahre, in Europa weit über 30 Jahre alt. Dort werden die Kommunikationsmöglichkeiten des Internets weitgehend zur gesellschaftlichen Verständigung genutzt, hier eher zur Unterhaltung, Selbstdarstellung und Selbstbeglückung. Hier liebt man die private Welt, dort sucht man die Öffentlichkeit. Obwohl es im Verhältnis der armen Schichten der Bevölkerung zu den reichen auch hier eine zunehmende Kluft gibt, wenn auch in ganz anderem Ausmaß wie dort, scheint sich die kulturelle Gegenwart vollkommen gegenläufig zu entwickeln: was hier gehütet wird, wird dort verworfen. Es geht dort um eine Gesellschaftlichkeit gegen die Privatmacht der institutionalisierten Willkür, hier um den heilen Lebensraum privater Willkürlichkleit gegen die Institutionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dort sucht man die Auseinandersetzung und Bündnisse im öffentlichen Raum. Hier hütet man seine Privatwelt und verhütet damit seine eigene Gesellschaftlichkeit, überlässt sie den Medien, die vordiskutieren, was man sich zu eigen machen kann oder auch nicht. Hier will man vor seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit behütet bleiben, während man sie dort geradezu sucht.

Hier stellt sich Gesellschaft eben vor allem im Konsum dar. Im Grunde sind wir gesättigt und definieren uns auch durch Sättigung. Je mehr Wert hier durch Import gezogen wird, desto weniger muss hier zur Reproduktion der Bevölkerung erarbeitet werden. Zwar müssen auch hier die Arbeitslöhne immer als erstes den Lebensmittelbedarf decken. Doch in dem Maße, wie dies durch die Gewinne aus Exporten schon gedeckt ist, zählt hier in immer größerem Maß Miete, Pacht und Energie, also das, was dem Wert der Arbeit entzogen werden kann, den die Menschen für ihren gesamten Selbsterhalt erbringen müssen. Man kann das ganz allgemein ausdrücken: Wir haben genug zum konsumieren, aber immer zu wenig zum Leben.

Obwohl wir also im Grunde satt sind, leben wir in einem unsagbaren Mangel, in einem allgemeinen Mangelgefühl, als Gefühl nichtig gewordener Existenz mit einem Loch in den Existenzgrundlagen, des Lebens, das Angst macht. Und die muss dann auch durch Konsum kompensiert werden. Es ist im Kleinen wie im Großen: Der Mangel an substanzieller Lebenserfahrung verlangt nach Auffüllung irgendwie reizvoller Produkte und Ereignisse. Und genau dies hatten die Strategen der Globalisierung bereits 1993 auf einer Konferenz in San Franzisko auch aufgerufen. Man nannte es Tittytainment, die Abfüllung der Bevölkerung durch Konsumabhängigkeit, die sie abhängig macht von den Finanziers der Welt, den Dealern des Weltkapitals.

So war eine Sucht entstanden, die nur im Entzug zu erkennen ist. Panik kommt auf, wenn irgendwo ein Mangel zu erahnen ist. Zugleich sind die Menschen als Bürger ihres Staates hier permanent überfordert: Als Subjekte ihrer Begierden sind sie Objekte eines neuartigen Feudalsystems (siehe Feudalkapitalismus) geworden und leben im Selbstgefühl einer allgegenwärtigen Verletzlichkeit (1). Von daher ist auch allgemein verständlich, dass immer etwas hergestellt werden muss, dessen Nutzen nicht konkret abzusehen ist, das ihnen aber zumindest Sicherheit ihrer Standards verspricht. Man setzt auf das permanente Wachstum der Produktion, das allerdings nicht wirkliche Mehrproduktion für die Menschen ist, ihrer Vermehrung und der Verbesserung ihres Lebensstandards dient, sondern wesentlich nur Wertwachstum sein kann, ein Wachstum an Geldwerten, das immer wieder mal Krisen überwindet, aber auch immer wieder neue Krisen entwickelt. Die Produktion des Mangels ist längst System: Wertwachstum muss auf „Teufel komm raus“ funktionieren, weil es nur teuflisch funktionieren kann, weil darin "alles was entsteht, wert ist, dass es zugrunde geht". So bestätigte sich Mephisto als Wertschöpfer in Goethes Faust und so funktioniert eben auch jedes Wertverhältnis: Wachstum von Wert ist eben nur Auszehrung von Substanz. Durch Vorschüsse von fiktiven Geldsummen in Kredite, die ihren Wert nur behaupten, werden Verhältnisse erzeugt, welche die Ausbeutung von Mensch und Natur permanent verschärfen, um deren Wertbehauptung zu realisieren (siehe Negativverwertung). Man setzt auf Rettungsschirme und Sparpakete, die letztlich nur durch gigantische Geschäfte auf dem Weltmarkt eingelöst werden können. Wenn hierdurch entsprechende Nachfrage wieder möglich ist, wird die Konsumkultur auch immer wieder mal aufgehen und damit die "Konjunktur beleben", wie es so schön heißt.

Der Wahnsinn der Geldverwertung

Unser Wertsystem pendelt um irgendeine krude Wertschöpfung herum, die sich nicht wirklich erkennen lasst. Was macht dieses System eigentlich im Kern aus, das immer wieder mal gerettet werden muss, das einen enormen Verschleiß darstellt und sich dann doch auch scheinbar immer wieder einpendeln lässt? Ist das Auf und Ab der Konjunktur nicht vielleicht doch besser als eine Diktatur, die mit der Armut hantiert und die Menschen demütigt? Geht es uns nicht sehr viel besser als den Menschen in Afrika und anderswo, die unmittelbar politisch unterdrückt, verfolgt und gefoltert und wirtschaftlich immer ärmer werden? Irgendwie besser vielleicht schon. Doch was heißt besser? Armut und Demütigung und Unterdrückung gibt es nicht voraussetzungslos. Das alles entsteht ja erst durch dieses System. Das System ist der Irrsinn, der sich als Irrsinn der Geldwerte abspielt: Die Menschen sind überall, wo das Kapital herrscht, zu einer Arbeit gezwungen, die ihren Mangel an Existenzmittel beheben soll und die in ihrer Konsequenz zugleich eine Verschärfung des Mangels bewirkt, weil der Geldwert letztlich nur noch durch den Kapitalwert bestimmt wird. Das System wird immer wieder daran kollabieren, dass zu viel Geld auf den Finanzmärkten kreist, während nicht genügend Zahlungsmittel, also Geld für die reale Wirtschaft vorhanden ist, weil es wiederum in die Spekulation auf Bereicherung in die Finanzmärkte abfließt. Die Kräfte der Menschen und die Organismen der Natur werden zunehmend aufgezehrt. Aber Kapital kommt dann schon irgendwo immer noch dabei heraus, das über den Finanzmarkt fortgepflanzt wird – immer weniger in die reale Wirtschaft und immer mehr in den reinen Kapitalbesitz, der sich durch ein Preisdiktat der Grundrendite über Mieten, Steuern, Energie usw. solange durchsetzt, bis das ausgeschöpft ist. Und dann kommt auch immer wieder die Kehrseite, die Wirtschafskrise, durch die überschüssig gewordenes Geld auf den Finanzmärkten und den Banken in seinem Wert zusammenbricht, wenn Überproduktion mangels Absatz vernichtet werden muss oder Kredite nicht mehr ausgeglichen werden können oder Währungen in die Knie gehn.

Auf Dauer verliert sich letztlich die gesellschaftliche Produktion von Wert in einem insgesamt absolut unsinnigen Wertwachstum. Alle Menschen werden ärmer, weil sich darin auch ihre gesellschaftliche Realität verliert, weil ihre gesellschaftlichen Beziehungen zunichte gehen und das Wachsum ihrer Ohnmacht immer größeres Elend erzeugt, weil es nichts anderes als das Wachsum der Macht zur Verwertung ihres Lebens ist. Sie werden aber nicht nur ärmer und leerer, sondern auch aggressiver, suchen einen Ursprung für sich, für ihr Leben, ein Heil, in welchem sie sich zumindest kulturell veredeln können. Die Kulturen werden dann zu einem Ort der Selbstveredelung, zur Kultur der Verherrlichung ihrer Unwirklichkeit, zur Verhütung von gesellschaftlicher Wirklichkeit durch Heilsversprechen, die in den jeweiligen Religionen immer virulent sind und zu ihrer gesellschaftlichen und also politischen Wirkung zur Verfügung stehen.

Aber in diesen Versprechen widersprechen sich die Kulturen, weil sie eben doch gegensätzliche Ursprünge haben – eben gegensätzliche Produktionsbedingungen, hier Landwirtschaft, Bodenschätze und Tourismus, dort Technologieentwicklung und Export. Jede Religion will Frieden verheißen und schärft zugleich die Waffen gegen das Böse, das einen abstrakten Gegner darstellt, der jederzeit auch konkret werden kann. Je schreiender das wirtschaftliche Elend der Armen wurde, desto zynischer entwickelte sich der ökonomisch-militärische Komplex der Reichen. Für die Finanzmärkte war es immer wieder ein neues Füllhorn an Entwicklungspotenzialen, die überflüssiges Geld in ihrem Sinn gut anlegen ließ. Von daher sind Militärausgaben immer Ausgaben für eine Zukunft, die keine Gegenwart hat, eine Zukunft der großen Geldvorschüsse. Und genau diese Zukunft bestimmt dann die Entwicklung. Der Kapitalismus vollzieht sein Ende in einem unendliche Kreislauf von Religion, Kultur und Politik – solange, wie die Kapitalverwertung die Gesellschaft der Menschen beherrscht und zwischen Krise und Krisenlösung pendelt. Es bewegen sich darin die Abstraktionen seiner gesellschaftlichen Beziehungen, die Substanzen seiner gesellschaftlichen Form. Es muss daher jetzt interessieren, was den Kapitalismus als abstrakte Gesellschaft eigentlich ausmacht, wenn er in der Lage ist, die wirklichen Grundlagen seiner Geschichte scheinbar endlos im Kreis bewegen, sie also nicht mehr erneuern, sondern nur noch veraltern kann und letztlich ein tödlich gewordenes Leben verewigt. (2)

Die Illusionen des erneuerten Kapitalismus:
Das Finanzsystem einer unendlichen Veralterung

Gesellschaft gründet darauf, dass der Mensch den Menschen nötig hat. Sie entsteht unentwegt aus der wirklichen Beziehung der Menschen, weil sie nichts anderes als ihr Zusammenwirken ist. Wo diese Beziehung als menschliche Wirklichkeit aufgeht, wo die Arbeit der Menschen sich mit ihren Bedürfnissen entwickeln kann, ist die menschliche Gesellschaft nichts anderes als menschliche Wirklichkeit, Dasein von Geist und Sinn der Menschen, menschliche Kultur (3). Ihre Wirtschaft wäre nichts anderes, als die optimale Organisation der Arbeit und Nutzung ihrer Werkzeuge, die Minimalisierung des Aufwands zur Herstellung ihrer Produkte für einen optimalen Ertrag. Das allein meint "Wirtschaft".

Kapitalismus ist aber eine Gesellschaftsform im Prinzip einer unendlichen Geldverwertung und steht im Widerspruch zur Daseinsform der Menschen zwischen Arbeit und Bedürfnissen. Dass sie nur durch Geld gesellschaftlich aufeinander bezogen sind und damit nur geldwertig gesellschaftlich existieren, macht ihre Wirklichkeit selbst widersprüchlich: Mit der Produktion für menschliche Bedürfnisse muss zugleich und ganz allgemein auch Geld produziert werden. So wird das Wesen der Produktion der einzelnen Produkte allgemein zum Wesen einer Wertproduktion, in der alle Realprodukte nur als Wertdinge zählen, reale Güter nur als Waren existieren und reale menschliche Arbeitskraft nur als Lohnarbeit gehandelt wird. Der Markt ist das einzig reale Verhältnis der Wertbeziehung und die ist zugleich völlig irreal. Sie ist die Abstraktion von allen wirklichen gesellschaftlichen Beziehungen, abstrakte Arbeitsform einer Gesellschaft, die nur für den Markt produziert.

Das mag noch relativ simpel erscheinen. Weil aber Geld die über allen Waren stehende allgemeinste Ware, die einzig wirkliche Gesellschaftsform der Warenwelt ist, erhält sich diese Gesellschaft selbst auch nur durch Geld und kann sich nur durch Geld entwickeln und vermehren. Und weil Geld nur durch stetig erneuerte Produkte sich erneuern kann, enthält das Geldverhältnis notwendig einen Verwertungstrieb, der sich aus dem Mangel ergibt, dass der Masse der für diesen Trieb erzeugten Waren ein Schwund an Verwertungsmöglichkeiten entgegensteht. Je wirtschaftlicher die Produktivität wird, desto weniger Wert ist die menschliche Arbeit. Und weil also der Verwertung dieser Arbeit die Entwertung des Vermögens der Menschen gegenübersteht, die solche entmenschten Beziehungen beinhalten, geraten die Verhältnisse des Geldes selbst immer wieder in die Krise und müssen vernichten, was die Menschen sich nicht mehr aneignen können. "Autos kaufen keine Autos" hatte Henry Ford erkannt. Aber auch seine Massenproduktion zu günstigeren Preisen hat das Problem des Geldverhältnisses nicht wirklich aufgelöst. Die Mehrwertbildung wurde nur weiter weg von den Menschen auf den globalen Finanzmarkt verschoben und ihr Verwertungstrieb kann dennoch immer nur durch sie befriedigt werden. Was sie nicht kaufen können, kann seinen Wert nicht realisieren; aber man kann sie durch die allgemeine Existenzmacht des Werts erpressen, solange man alle Rechte auf diese konzentriert. Der Verwertungstrieb erzeugt den Wert einer Arbeit, die wesentlich nicht konkret für die Menschen sondern nur für einen Geldwert betrieben wird und der daher vor allem auch nur in einem Wertwachstum aufgehen kann, das der menschlichen Entwicklung zuwider läuft und sich nicht als Wirtschaftswachstum für die Menschen realisiert.

Und nicht nur dies: Wo über den Selbsterhalt der Menschen hinaus produziert wird, verzehrt der Verwertungsprozess ihre organische Verhältnisse selbst. Je reicher das auf diese Weise gebildete Kapital durch die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit wird, desto ärmer wird ihr wirkliches Leben, weil es durch den Wert und sein Wachstum bedrängt, zerstückelt, vereinzelt und ausgebeutet wird. Ihre Mehrproduktion, die ihnen weniger Arbeit und verbesserten Lebensstandard bescheren könnte, wird in der Form des Mehrwerts zu einem Kapital, das nur darauf spekuliert, wie es sie damit erpressen und auspressen kann. Jeder kleine Schritt in der Verbesserung des Lebensstandards wird zu einem großen Verhängnis ihrer Lebensgestaltung, weil das Mehr der Produkte und Produktionsmittel auf sie nur als Bereicherung der Geldbesitzer und ihrer Titel auf Besitz schlechthin, auf die Preisbildung und Verwertungslage zurückkommt und zudem gegen ihr Leben selbst spekuliert. Und das können sie, solange sie die Risiken der Welt in dem Maße vermehren, wie sie das Vermögen erwerben, sich darin bewegen zu können, um diese für sich zu nutzen. Und sie tun daher alles dafür, dass es so bleibt, wie es ist. Die anderen sind diesen Risiken voll ausgesetzt und müssen um ihre Existenz kämpfen und alles tun, was von ihnen verlangt wird, um ihrem existenziellen Untergang zu entgehen. Die gesellschaftliche Selbsterneuerung, ihre lebendige Fortentwicklung, die Entfaltung der Bedürfnisse und Erzeugung von neuem Leben, wird darauf reduziert. Kinder werden zu einer zunehmenden Belastung der Existenz, die immer mehr Menschen nicht mehr durchhalten können. Zugleich werden auch ihre gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen immer absurder und sinnloser für sie - und die Möglichkeiten zur Flucht in eine Reizkultur, in welcher vielerlei Unsinn und Ablenkung entfaltet wird, befördert die Vielfalt der Süchte, die den Mangel zu überdröhnen suchen.

Doch auch allgemein hat die absurde Bereicherung im Geldbesitz einen weiteren Haken: Es ist die gewaltige Illusion der Geldbesitzer, dass durch ihren Geldbesitz auch wirklich mehr Geld entsteht und dass dieses auch auf Dauer wirkliche Sicherheit gegen ihre Risiken darstellen kann. Dass Geldmärkte auch für den scharf kalkulierenden Verstand trotz aller "Gewinne" keine Sicherheit bieten können, bemerkt man doch unentwegt in den durch sie immer wieder erzeugten Krisen, in welchen die Realwerte vernichtet werden müssen, die als Geldwert gegen ihre Realisierbarkeit gehandelt wurden. Der Finanzmarkt kann keine selbständige Wirtschaftsform haben, bewegt sich notwendig im Widerspruch von Geld- und Warenwirtschaft, in welchem sich die Profitraten der Welt bewegen. Gigantische Wertsummen bewegen und bestimmen hierbei die realen Beziehungen der Arbeitswelten und entziehen ihnen die Grundlagen ihres realen Wachstums durch ein immer absurder werdendes Wertwachstum, das lediglich aus immer fiktiver werdendem Kapital besteht. Das reduziert zwar die Gefahren der Geldentwertung, verfestigt aber den Kapitalismus durch gigantische Staatsverschuldungen und durch Feudalisierung der Nationalstaaten. Die Jugend wird hierdurch für ihr ganzes Leben belastet, während sie zugleich die arbeitsunfähig gewordenen Alten und Kranken noch zu ernähren hat - und das in einem zunehmendem Ausmaß, in welchem die Lebenskräfte sich verzehren.

Die Überalterung der reichen Länder und der Hunger in der Welt ist das zwangsläufige Produkt ohnmächtig gewordener Infrastrukturen, ebenso wie der Niedergang der natürlichen Gemeinwesen und Kommunen, der sozialen Kultur der Menschen. Wenn sie sich dann im Gottvertrauen auf eine Macht verlassen, die sie irgendwann erlösen wird, so hoffen sie nur darauf, dass Gott die Vernichtung seiner Schöpfung nicht zulassen wird, dass er sich an ihrer Stelle gegen die Aufzehrung des Lebens und ihrer Kultur überhaupt zur Wehr setzt oder dass die Macht übermenschlicher Spiritualität dies zu überwinden vermöchte.

Doch durch Religion wird der Widerspruch von Kultur und Ökonomie in die übermenschliche Macht und Spiritualität einer höheren politischen Selbstbeziehung aufgelöst. Als allgegenwärtiges Prinzip hoher Werte müssen sich die Religionen durch ihre zwangsläufige Selbstgerechtigkeit widersprechen. Und die Menschen, die sich damit begründen, stehen dann auch durch die widersprüchlichen Bekenntnisse ihres Erlösungsglaubens gegeneinander. Darin ist der Kreislauf dann geschlossen, die Ausbeutung der Menschen dem Bewusstsein entzogen und ihre realen Widersprüche zu einem Kampf der Menschen gegeneinander geworden. Im Kreislauf von Kultur und Ökonomie schließt sich die Geschichte kurz, wird zu einem unendlichen Zirkel und der Anachronismus des Kapitalismus wird altern und auf Ewigkeit geschaltet. Die Verhütung der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Menschen, die Verschüttung ihrer wirklichen Lebensverhältnisse war durch den so genannten „Kampf der Kulturen“, wie er schließlich auch politisch gewollt war, total geworden.

Realpolitik für Afrika, Idealpolitik für Europa

Mit der Revolte der arabischen Jugend wurde nun die Hoffnung geweckt, dass sich dies ändern kann. Die Hoffnung gründete zunächst darauf, dass sich die biologischen Folgen der Globalisierung, nämlich dass die reichen Gesellschaften überaltern und die Armen sich verjüngen, auch die Kräfte des gesellschaftlichen Lebens bestärken und damit die Beklemmungen der inquisitorischen Regimes der Religionen und politischen Kulturen überwinden können. Was wir da aus Nordafrika und dem Nahen Osten erfahren, geschieht in einer gewaltigen Dimension. Es geschieht nicht aus religiösen Gründen, nicht aus staatspolitischen und nicht aus Unwissenheit und Fanatismus. Es ist gut organisiert, teilt sich der ganzen Welt mit und belegt, dass Information und Wissen um die Verbindungen mit der Welt der Menschen ein Bewusstsein schaffen kann, das über alle Religionen und Kulturen hinweg alle Menschen betrifft. Auch die vielen Menschen dort, die nicht lesen und schreiben können, wurden durch das Audio- und Videomaterial, das sich im Internet vermitteln lässt, gut informiert. Die arabische Jugend zeigt eine Kraft der Veränderung, die es bisher dort nicht gab. Der Aufstand der Menschen gegen die Diktatoren und Marionetten des Kapitals ist zweifellos ein Meilenstein in der Bewegung, die inzwischen in anderen Formen auch in den Kommunen der Welt um sich greift. Sie wird das politische Verhältnis im Staat und vielleicht auch das Verhältnis der Staaten selbst verändern. Aber die Veränderung ist zugleich auch im Weltmaßstab des Kapitals erforderlich, denn es selbst hat sein Verhältnis zu den politischen Formen des Gemeinwesens geändert.

Die deutsche Regierung beschrieb die jämmerliche Position der deutschen Politik, die bis gerade eben auf direkte Staatsmacht durch Diktatoren gesetzt hatte, als Notwendigkeit einer Realpolitik, die man jetzt zugunsten der demokratischen Bewegung der Araber auch aufgeben müsse. Doch in Wahrheit geht es ihr nicht um die Aufgabe einer bestimmten Realpolitik. Im Gegenteil: Die politische Realität hat sich geändert. Natürlich war die Politik nie real bezogen auf die realen Interessen der arabischen Bevölkerung. Und das ist sie auch heute nicht. Sie ist bezogen auf die Stagnation der Europäischen und der US-Wirtschaft. Diktaturen verbrauchen nicht nur viel Kapital zur Stabilisierung ihrer Macht und durch Korruption, sie lassen auch die Marktbeziehungen selbst verarmen. Und die sind inzwischen wichtiger geworden als die bloßen staatsadministrativen Strukturen der Dritten Welt wie eben sonst wo auch. Darin vollzog und vollzieht sich ja der eigentliche Umbruch globaler Kapitalexpansion. Massenarmut soll nicht mehr länger durch Diktatur nur verwaltet werden. Sie soll aufgelöst werden in Klassenverhältnisse, wodurch Kapital in allen Ländern der Welt als Schlüssel der Produktion und ihrer Märkte, der Warenmärkte wie der Kapitalmärkte wirksam werden kann. Verarmung muss sich nutzen lassen, um Bereicherung zu sichern. Die verelendeten Armen müssen also auch eine Chance haben, auf den Arbeitsmärkte der Welt gegen die etwas besser gestellten zu konkurrieren. Ihr Elend muss eingegrenzt und funktional für die allgemeine Existenzangst der Arbeitsleute werden.

Man wollte sich bisher nur abschirmen gegen die Widerstände aus den Niederungen der dritten Welt, den Aggressionen, die zwangsläufig auch gegen den Westen gerichtet waren. Man führte Krieg gegen die zu Terroristen gewordenen Aufständigen, die sich nicht mehr in westliche Interessen einbinden ließen. Man hat begriffen, dass diese Kriege nicht mehr hinreichend funktionieren und man eröffnet sich die Möglichkeit, die beschränkten Verhältnisse der Marionettenstaaten von oben her aufzubrechen durch die unmittelbaren Beziehungen zum Militär. Nicht umsonst war es jahrzehntelang direkt vom Westen finanziert worden. Nicht umsonst soll es nun die Freiheit der Vermarktung arabischer Arbeitskraft absichern. Denn für ihre unmittelbaren Verwertung sorgen ja inzwischen die Finanzmärkte weltweit.

Mit einem Schlag steht nun alles Kopf. Immerhin wurde mit dem Aufbegehren der arabischen Bevölkerung klar, was europäisches Demokratieverständnis zu schützten und auch zu verbergen vermag. Die Entwicklungspolitik des Kapitals war unmittelbar mit den Diktaturen der so genannten Entwicklungsländer verbunden. Nun globalisiert sich auch diese. Die idealisierten Perspektiven des fiktiven Kapitals auf den Finanzmärkten beziehen ihre Realität aus deren Entwicklung und soll nun unmittelbar maßgeblich für die realen Beziehungen zu den Ländern Afrikas werden - vielleicht auch nur solange, bis diese sich zu einem eigenen Staatskapitalismus wie in China entwickeln werden.

Und das ist die andere Seite der Medaille: Sollte sich die Globalisierung in einen platten Staatskapitalismus aller Länder umkehren, zu einem international agierenden Staatskapitalismus in Orwellscher Dimension? Soll die gesamte Menschheit hierfür feudalisiert werden? Die Gefahr besteht, solange sie an die Fiktionen der Erlösung durch Wertwachstum glaubt. Die Zeitachse des fiktiven Kapitals ist unermesslich. Sie reicht bis zur Vernichtung aller möglichen Kapitalressourcen. Und das sind vor allem Mensch und Natur.

Das System der Rettungsschirme

Rette sich, wer kann, möchte man schreien. Aber Rettung gibt es nur für das Kapital, weil es das Allgemeinste ist, was die herrschenden Verhältnisse so erhält, wie sie eben gerade herrschen. Und solange die Verhältnisse des Finanzmarktes bleiben, wie sie sind, hängt alles davon ab, wie die Wertverluste, die es den Staaten zufügt, durch fortschreitende Ausplünderung aller Lebensstrukturen ausgleicht. Es herrscht das Prinzip der Bereicherung durch Mangel: Je mehr Menschen ihn zu spüren bekommen, je größer ihre Existenzangst ist, desto reicher und sicherer können die Reichen leben. Denn was aus dem Mangel im Kapitalismus entsteht, ist auch durch Mehrarbeit nicht die Verbesserung des Lebensstandards oder der Arbeitsbedingung der Menschen, Aufhebung der Armut und Schonung der Natur, sondern vor allem die Spekulation auf immer mehr Geld, das immer nur der Machterhaltung und Erweiterung der Geldverhältnisse dient. In die Realwirtschaft fließt höchstens 5 % des Geldes als Zahlungsmittel zurück. Der Rest existiert als noch nicht aufgebrauchtes Anlagevermögen und vor allem aus Kreditwirtschaft, also dem System des Kapitalvorschusses durch Banken, Börsen und Notenpressen.

Funktioniert dieses System nicht mehr, weil es Krisen erzeugt, welche die Realwirtschaft insgesamt erdrosseln, so droht der Zusammenbruch aller Wirtschaftsverhältnisse des Kapitalismus. Das haben wir gerade gesehen. Und was jetzt gerade mal wieder herrscht, ist die Rückgewinnung von Geldwert durch Spekulation in eine neue Auftragslage und Ressourcenverknappung, durch die Entwicklung des Staatskapitalismus in ehemaligen Entwicklungsländern und durch den „Überschuss an Menschen“, durch welche der Wert der menschlichen Arbeit immer weiter schwindet. Dieser „Überschuss“ ist das absurdeste Resultat des Kapitalismus, seine unmittelbare Tötungsmacht, die Menschen verhungern lässt, weil sie sich nicht auf den Arbeitsmarkt konzentrieren können und weil die Produktivität der Arbeit sie ausschließt. Kapitalmacht beruht eben überall darauf, dass die Menschen nur zu einem geringen Anteil an die Erzeugnisse ihrer Produktivkraft gelangen und die Märkte der Welt nur der Vermarktung der Geldwerte dienen.

Die ganze Entwicklung der Lebensverhältnisse der Menschen beruht inzwischen auf einer Fiktion, die sich als Systematisierung einer Mangelwirtschaft begreifen lässt. Natürlich wird man alles tun, um den Mangel vor allem dorthin zu verlagern, wo er nicht ins Auge springt. Vor seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit werden wir weitgehend behütet, solange hierzulande Kapital noch irgendwie realwirtschaftlich funktionieren kann. Aber die Rettungsschirme, welche für das Geldsystem aufgespannt sind und durch Staatsverpflichtungen verbürgt werden, lassen sich nur durch verschärfte Ausbeutung bewerkstelligen, entweder national oder international. Und weil die physische Auspressung der Arbeit weltweit an eine Grenze gelangt ist, findet sie immer mehr durch Ausplünderung der Lebensstrukturen statt, durch die Verdingung der politischen Rechte des Privatbesitzes an Land und Infrastrukturen.

Der Niedergang der Kommunen ist bei uns das sichtbarste Merkmal dieser Tendenz. Die sozialen Konflikte dort haben inzwischen unheimliche Dimensionen eingenommen, die Gentrifizierung der Städte zerstört deren Urbanität. Die Aufhebung von bewährten Lebensgewohnheiten und dramatische Verschlechterung der Existenzbedingungen vereinzeln die Probleme in den Menschen selbst bis hin zur Störung ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen und Identität. Die Beschädigung der eigenen Gesundheit ist zum zentralen gesellschaftlichen Thema geworden, weil Krankheit immer offenkundiger wird, sowohl körperlich wie auch psychisch. Nicht nur stofflich, sondern auch geistig macht sich Erschöpfung breit. Burnouts, Depressionen und Suizide sind häufiger geworden. Die Zwangseinweisungen in die Psychiatrie haben sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt. Jeder dritte Deutsche hat an sich selbst psychisches Leiden als eigene Krankheitssymptomatik erfahren.

Die Konsequenzen der Finanzpolitik sind inzwischen total. Die Verhütung eines Bewusstseins hierüber wird durch Einbeziehung der Menschen betrieben, die dort leben müssen, wo sie dies auch leiden. Sie werden besonders in den etwas besser gestellten sozialen Schichten durch die Behütung ihrer Selbstwahrnehmung vor der Einsicht in ihre gesellschaftliche Wirklichkeit bewahrt. Sie dürfen ihre Beschwerden besprechen, an allen möglichen Talk-Shows teilnehmen, Protest gegen ihre Kränkungen äußern ... usw. Das Meiste geschieht über die Medien, durch welche sich alles Einzelne leicht auch verallgemeinern und in seiner Verallgemeinerung ebenso leicht abstrahieren lässt. Werden solch abstrakte Allgemeinheiten hinreichend prominent gemacht, so wird soziale Ignoranz zu einer allgemeinen Gewohnheit, die Verletzung des Einzelnen zu einem individuellen Kulturphänomen en masse, zur Dramaturgie der Kränkung, die öffentlich geteilt und aufgeteilt werden kann wie eine „Public Private Partnership“. In seiner Allgemeinheit wird das Abstrakte gewaltig und hat oft auch Gewalt über die Beziehungen, die es nur ausdrücken soll, sobald es sich in der Wirklichkeit geltend machen kann. Was gedanklich durch Abstraktion - also durch Absehung von konkreten Bestimmungen - in Beziehungen gesehen werden kann, was irgendeine Idee oder Vorstellung oder auch nur Idealisierung (siehe Ideologie) zu einem Gedankenwesen von etwas dadurch wird, dass man von der Vielfalt seiner Wirklichkeit absieht, verbirgt zwangsläufig alles, von was es absieht. Im Begriff der Freiheit erscheint nicht mehr, was hierfür in Wirklichkeit notwendig verlangt ist, z.B. Geld; im Begriff der Gleichheit sind die realen Unterschiede verschwunden, z.B. die realen Klassenunterschiede. Doch gerade solche Abstraktionen wollen die Vorzüge der repräsentativen Demokratie untermauern.

Wenn Abstraktionen aber selbst wirklich wirksam werden, dann können ihre wahren Beziehungen nur hinter dem Rücken der aufeinander bezogenen Subjekte sich verhalten. Die Wirklichkeit vollzieht sich in einer wesentliche Unwirklichkeit, die im Einzelnen nicht zu erkennen ist. Während das Abstrakte als ihr allgemeines Wesen, als Substanz ihrer wirklichen Beziehungen wirkt, erscheint dessen Individualität unmittelbar lebendig. Die Menschen beziehen sich zwar menschlich auf die Mittel ihrer Beziehung, auf ihre Sachen und Existenzgrundlagen, diese aber sehen in Wirklichkeit von ihrem Menschsein ab und verwirklichen einen unmenschlichen Zweck, den sie aus der Abstraktion von ihrem menschlichen Ursprung zu einem Wert abstrakt menschlicher Arbeit und einem Selbstwert abstrakt menschlicher Sinne verkehrt haben, was zu ihrer aussschließlichen und ausschließenden Verkehrsform geworden ist.

Verwirtschaftung der Kommunen oder Kommunalwirtschaft?

Dass Abstraktionen sich in wirklichen Beziehungen auch verhalten können klingt zunächst banal, ist aber äußerst folgenreich. Hegel hat in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie über eine wesentliche Grundlage ihres Erkenntnisinteresses geschrieben: "Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören." (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke Bd. 20, S. 331). Diese Erkenntnis war auch die Grundlage, welche Marx ihm als Grundlage seiner Erkenntnismethode entnommen hat. Das Kapital von Marx ist nichts anderes, als die Ausführung dieser Erkenntnis, allerdings nicht auf der Basis des Hegelschen Geistesbegriffs, sondern auf der Basis einer Analyse der praktischen und materiellen Lebensverhältnisse der Menschen. Die einfache Wahrnehmung, dass ihre Verhältnisse auf Warentausch gründen, wird zu einer weitreichenden Erkenntnis, wenn sie auf eine Abstraktion bezogen wird, die sich hinter ihrem Rücken in einer allgemeinen Beziehung durchsetzt. Indem sie an Ort und Stelle nach Bedürfnis und Preis ihre Produkte tauschen, abstrahieren sie von den wirklichen Quantäten ihrer Lebensäußerungen, ihrer Arbeit, welche darin vergegenständlicht ist. Während sie im Einzelnen nur die Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse erwerben und tauschen, vertauschen sie abstrakt menschliche Arbeit in konkret nützliche Wertdinge. Der Wert ist nur in den Relationen einer algemeinen Tauschbarkeit überhaupt zu bemessen, während die Waren nach Angebot und Nachfrage auf dem Markt gehandelt wird; aber wesentlich abstrahiert er von der Wirklichkeit der Waren als Produkte menschlicher Arbeit.

Weil sie in ihrer Wertbeziehung diese Wirklichkeit verlieren, wird ihre allgemeine Existenz, also ihre gesellschaftliche Form, der Kapitalismus, zu einer Verwirklichungsform einer allgemeinen Abstraktion, einer verselbständigten Abstraktionsmacht, welche die gesellschaftliche Wirklichkeit beherrschen kann, welche also eine unwirkliche Gesellschaftlichkeit betreibt und nur hierdurch zu einer Verwirklichungsform des Kapitals wird, dem Prinzip, aus einem Geldquantum mehr Geld schöpfen zu können.

Solche Abstraktion ist eine von den wirklichen Beziehungen der Menschen abgetrennte Allgemeinheit, die im Verwertungsprozess des Kapitals die Menschen beherrscht, weil dessen Wertgröße nur im Wertwachstum aufgehen kann, nicht als wirkliches Mehrprodukt auf die Menschen zurückkommt und daher ihnen ihre eigene Allgemeinheit, ihr wirkliches Gemeinwesen entfremdet. Während konkrete Quanta an Arbeit für bestimmte Quanta an Bedürfnissen aufgewendet werden, entzieht sich das Wertquantum dem Produktionsverhältnis der Menschen, entzieht es sich ihrem konkreten Menschsein und entzieht daher auch sie von sich, von ihren Verhältnissen und entfremdet sie von ihrem gesellschaftlichen Wesen. Denn solange Geld als gesellschaftliches Gut und Mittel herrscht, muss es immer für eine Allgemeinheit produziert werden, die zwar von und für Menschen entsteht und genutzt wird, die aber als das, was sie von Menschen ist, nicht für sie sein kann. Sie kann überhaupt nur als verdoppelte Menschenwelt, als Überwelt menschlicher Beziehungen, als das Prinzip ihrer Entwirklichung herrschen.

Dies alles geschieht mitten in ihren wirklichen Lebensverhältnissen, in ihren sozialen Beziehungen, in ihrem Gemeinwesen, in ihren Arbeitsverhältnissen und in ihren Wirtschaftsbeziehungen. Die Abstraktion vollzieht sich im Verwertungsprozess, der ihre gesamte Wirtschaft und Kultur bestimmt . Geld soll darin Geld vermehren, weil Geld selbst keine andere Verwirklichungsform hat, es sei denn die, dass es in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit menschlicher Beziehungen untergeht und irgendwann darin auch unnötig wird und sich aufhebt. Das ist der Traum von einer Sache, die als Sache der Menschen selbst und unmittelbar gesellschaftlich existiert.

Davon sind wir natürlich weit entfernt. Aber wir können die Schritte dahin längst erahnen und das wird ja auch vielerorts so diskutiert. Für eine Zeit lang hat man gedacht, schon eine andere Organisation der Arbeit durch Partei und Staat könne die Menschen aus ihren abstrakten Zusammenhängen befreien. Doch dies geriet zu einer noch fataleren Abstraktion, in die Abstraktion eines politischen Staatswesens, das sich als Formation eines menschlichen Gemeinwohls ausgab. Gesellschaft ist ein Lebensverhältnis und keine Produktionsgenossenschaft. Sie umfasst das ganze menschlich Leben und lebt und bereichert sich durch die Wechselwirkung der Menschen in ihrer Lebensproduktion, der Entwicklung ihrer Sinnbildung als ihre Kultur. Gesellschaft kann nur menschlich sein, wenn sie dies gewährleistet.

Abstraktion ist immer eine Absehung, eine Wegnahme von Inhalten aus der Vielfältigkeit der wirklichen menschlichen Beziehungen, aus den wirklich gesellschaftlichen Verhältnissen. Die abstrakten Verhältnisse des Werts und seiner Verwertung sind die Herrschaft des Wegnehmens, die Enteignung menschlicher Wirklichkeit. Das ist die allgemeinste Erkenntnis, die über Kapitalismus möglich ist. Sie verhilft immerhin zu einem Umkehrschluss: Wenn in der Abstraktion nur Enteignung geschieht, so wird darin ein konkretes Verhältnis, wie es auch wirklich da ist, abstrahiert und also ist ein Insistieren auf konkrete Beziehungen eine Entgegnung zur Enteignung.

Aber wenn schon beim allgemeinen Austausch von Waren auf dem Markt eine abstrakte Allgemeinheit in deren Bewertung entsteht, welche die Verhältnisse der Menschen bestimmt, wie kann dannn überhaupt eine konkrete Beziehung von Gütern des Bedarfs als Produkte der Arbeit sein, wo doch immer Produkte der Arbeit nicht unmittelbar von denen konsumiert werden, die sie gerade erzeugen, wo also immer eine Art Austausch erfolgen muss? Die Frage heißt daher jetzt ganz essentiell: Wie kann Einzelnes in Allgemeines übergehen und dabei mit sich und ihm Identität bewahren, sich also nicht ihm beugen muss? Wie kann das Allgemeine, die Gesellschaft, entstehen und wirklich sein, ohne dass sie sich gegen das Einzelne verselbständigt, sondern so konkret auf das Individuum zurückkommt, wie sie von ihm auch fortgebildet wird? Wie kann ein menschliches Verhältnis in sachlichen Beziehungen bestehen, das nicht durch diese diktiert wird?

Konkret sind die wirklichen Beziehungen von Arbeit und Bedürfnissen, Individuum und Gesellschaft, Wohnen und Kommune, usw. also eigentlich alles, worin das menschliche Leben natürlich verbunden ist. Da die Enteignung der Arbeit aber nur im Arbeitsprozess stattfindet, die Enteignung der Wohnung in der Kommune, die Enteignung der Bedürfnisse in der Kultur usw., kann das Konkrete nur die Beziehung von all dem sein, wie es von seiner Wirklichkeit her natürlich wäre, wenn die Formationen der Kapitalwirtschaft, das Verwertungsprinzip als Prinzip des Wertwachstums nicht mehr dazwischen treten. Es gibt ein natürliches Wachstum, das für die Menschen und die Natur möglich ist und es gibt eine Gesellschaft, in welcher die Individuen zusammenwirken können und es gibt auch natürliche Beziehungen von Arbeit und Bedürfnissen, wo dies alles auch wirklich ohne Formbestimmung geschehen kann.

Der Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Veränderungen muss die Gesellschaft als natürliches Verhältnis der Menschen selbst sein, als eine politische Lebensform, die zugleich als natürliche Form ihrer Bewirtschaftung existieren kann, weil die Menschen die Mittel ihrer Existenz in ihrem politischen Lebensverhältnis selbst erwirtschaften. Das ist im Kern die Kommune, wenn man das Wechselwirken in ihr auch als Wechselwirkung zwischen den Kommunen begreift, wenn man von den Kommunen ausgehend eine internationale Vernetzung der Kommunen als Ergänzungswirtschaft erreichen kann, ohne dass abstrakte Bestimmungen in die Form dieser Beziehungen eingreifen. Das ist nicht einfach, weil dann auch ihre wirtschaftlichen Beziehungen konkret sein müssen, z.B. die Bemessung des Ausgleichs der Aufwände und Bedürfnisse immer konkret an ihrem eigenen Maß nur stattfinden kann. Aber mit den heutigen Methoden der Kommunikation und Berechnung ist es möglich. Das letztendliche Ziel muss die Überwindung der allgemeinen Geldbeziehung sein, nicht nur regional sondern international. Geld muss auf ein konkretes Maß für eine Beziehung der Arbeitsprodukte heruntergebrochen werden, muss Arbeit als bestimmtes Quantum eines Aufwands mit einem bestimmtem Arbeitsvermögen darstellen können und den Verbrauch von Arbeitsmittel und Ressourcen einbeziehen.

Der Weg dahin ist weit. Zweifellos. Aber eine internationale Kommunalwirtschaft auf der Basis einer Vertragswirtschaft ist nach meiner Auffassung die einzige Möglichkeit, aus der bislang verhüteten Gesellschaftlichkeit der Menschen ihre wirkliche Gesellschaft hervorzubringen, indem ihre darin schon vorhandenen gesellschaftlichen Beziehungen ent-deckt, sie also auch wirklich hervorgekehrt werden. Diese Entwicklung hat ja zum Teil schon zumindest im Bewusstsein der Mensch begonnen. Es kommt drauf an, dieses Wissen überall auf der Welt in konkrete Beziehungen auch wirklich umzusetzen, die Wirklichkeit gegen die Macht der Abstraktionen zu verteidigen und zu vollziehen, was zwischen den Kommunen der Welt schon langst existiert: weltweite Ergänzung der Lebensmittelproduktion und kultureller Austausch in der Entwicklung der Lebensbedürfnisse. Diese Verhältnisse bestehen aber nur in einer unmenschlichen Form. Deren Aufhebung ist dann schließlich auch als wirkliche Emanzipation der Menschheit selbst zu begreifen:

„Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andrerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person.
Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine »eigenen Kräfte« als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (Karl Marx in MEW 1, S. 370)


(1) Die Lebensperspektiven der Menschen werden hierzulande unter dem Joch der allgemeinen Verschuldungspolitik immer fataler. Ihre sozialen, körperlichen und psychischen Beschädigungen rufen immer mehr therapeutische Angebote und entsprechende Propaganda auf den Plan. Das sogenannte Trauma hat einen gesellschaftlichen Status bekommen. Philosophen, Psychologen, Pädagogen und Gesundheitsarbeiter aller Art bearbeiten individualisierte gesellschaftliche Probleme an Menschen, die in ihrer Individualität vor gesellschaftlichen Wirkungen lediglich behütet werden sollen. Die Folge ist eine Verdopplung der Vereinzelung: Jeder Einzelne ist gefordert, das Ganze nicht zur zu ertragen, sondern es auch zu tragen. Seine Schuldenlast ist schon durch seine Staatsbürgerschaft erdrückend, 22.000 Euro pro Kopf und Leben. Das Sparpaket und die deutsche Politik machen ihn zum Volksgenossen. Die Jugend bekommt es schon in frühester Kindheit zu spüren. Ihre Erziehung selbst verläuft schon unter dem Damoklesschwert ihrer zukünftigen Leistungsbereitschaft.

Dass jeder deutsche Staatsbürger gefordert ist, war nicht ganz neu: Der “Ruck“, den der einstige Bundespräsidenten Herzog in seiner Rede 1997 gefordert hatte, dass der durch die Gesellschaft gehen solle, ist beim Einzelnen angelangt. Die “Deutsche Depression“ wird an ihm nicht mehr nur diagnostiziert, sondern auch behoben. Der Neoliberalismus ist an seinem Ziel angekommen: Gesellschaft wird zum Mythos, tritt in der Form des Staates und der Sozialsysteme zunehmend nur noch als Schutzagentur der Leistungsselektion, als Ein- oder Ausgrenzungsagentur der “Benachteilgten“ auf. Das hat Folgen. Die Ausgegrenzten geraten in ein entgrenztes Sozialverhältnis mit entsprechenden Ausfällen und Kosten. Und die behütete Gesellschaft der Eingegrenzten ist immer zugleich eine verhütete Gesellschaft, ein “Menschenpark“, wie ihn Peter Sloterdjik schon philosophiert hat, das “Tittytainment“ des Geistes. Auch dies lässt sich erkennen und also auch bewusst werden.

(2) Das Ende vom Kampf der Kulturen? In den 90ger Jahren des letzten Jahrhundert wurde in den USA der sogenannten „Kampf der Kulturen“ entwickelt, der „Clash of Civilization“ (so der Regierungsberater Samuel Huntington), der die so genannten Weltordnungskriege um die Vorherrschaft der Westpolitik in den verbliebenen Ölförderländern begründen sollte. Der Text von Huntington setzte Kulturen mit den Religionen gleich und entwickelte aus ihren Grenzbereichen Konfliktzonen, auf welche sich die Politik in diesen Gebieten konzentrieren sollte. Die Nato wurde hierbei als das Militärpotenzial der Christen eingestuft, das sich auf Kriege, genannt „Konflikte“, auf diese Zonen einstellen solle. Eine dieser Zonen war der Balkan – vor allem dem ehemaligen Jugoslawien -, eine andere war die Gegend von Irak, Iran und Afghanistan. Es war eine Kriegserklärung der anderen Art. Die kriegerischen Interessen des Westbündnisses warfen die betroffenen Länder auf ihre Religion zurück, die dann auch als ihr einziger Zusammenhalt verblieben war. Der einstige US-Verbündete Bin Laden, der bis dahin Waffen von dort bezogen hatte und als Aufständiger der Mudschahid im Krieg gegen den Einmarsch der Sowjets in Afghanistan gewesen war, wurde zu einer charismatischen Figur der kämpferischen Islamismus, namentlich der al-Quaida. Er war durch die vorausgehende US-Hilfe gut gerüstet und rief zum Dschihad auf. Und das ließ eine neue Waffe entstehen, die weitaus raffinierter als die Waffen des Westens war: Den Selbstmordattentäter, den völlig selbstlosen Terroristen.

Die Kriege um die letzte Ressourcen des Öls sollten sich als Religionskrieg aufführen lassen und das Selbstmordattentat eignete sich auch hierfür bestens - besonders, als es in einen Zusammenhang mit dem Zusammensturz der Twin-Towers gebracht werden konnte. Der Gegner war zu einem religiösen Monster geworden, dem sich die Nato als Waffe der Vernunft entgegen zu stellen hatte. Doch auch als Religionskrieg war der Krieg nicht zu gewinnen.

Die "Weltordnungskriege" laufen langsam aber sicher aus. Vielleicht sind wir inzwischen da angelangt, wo Neubesinnung zumindest auf der Ebene der wirtschaftlichen und politischen Verkehrsformen entstehen könnte. Die Kriege sind auch für das Kapital absurd geworden, viel „zu teuer“ für den „Nutzen“, den sie einbrachten. Und die Militärindustrie kann nur den Wert realisieren, den die Staatsbürger auch noch als Kriegssteuer bezahlen können. Man müsste eigentlich jetzt aufräumen und abziehen. Und das wird zumindest so versprochen. Das Ressentiment gegen fremde Religion wäre demnach auch nicht mehr nötig.

Doch der Verwertungsdruck des Kapitals hat damit nicht aufgehört. Im Gegenteil: Er verstärkt sich mit Größe und Umfang seines Marktes und dissozialisiert die Beteiligten in ihren Staaten selbst. Was in die Kriegskultur an Aggression nach außen eingeflossen war, hat sich inzwischen eher nach innen gewendet. Darin werden sich die Staaten ähnlicher. Die Globalisierung betreibt eine Angleichung der innenpolitischen Zerwürfnisse. Die inneren Konflikte sind in den Vordergrund getreten, zu einem Streit um die soziale Versorgungslage geworden, um die Gerechtigkeit der Güterverteilung und Löhne. Alles ist jetzt knapper und man fühlt sich potenziell weltweit durch die Unwägbarkeiten einer auf Fiktionen basierenden Kapitalwirtschaft bedroht. Und so hat sich das Ressentiment gegen andere Lebensart und Religion verändert. Während es sich in den reichen Ländern nach innen totalisiert, wird es in den ärmeren bedeutungsloser. Die existenziellen Voraussetzungen der Religionen (Agrarwirtschaft oder Kapitalwirtschaft) unterscheiden sich nicht mehr grundsätzlich, wohl aber ihre politische und strategische Perspektive. Religion ist jetzt zu einem wichtigen innenpolitischen Faktor geworden – zumindest das, was man sich darunter vorstellen kann. Das Verhältnis von Religion und Politik ist daher nun in den unterschiedlichen Kulturen selbst virulent geworden.

(3) Menschen können sich zwar vorstellen, mal ganz ohne Menschen auszukommen, aber sie können nicht wirklich und dauerhaft ohne Gesellschaft mit anderen Menschen sein. Ihr Leben wäre nur unwirklich, hätte einen Sinn, der nicht menschlich sein kann, weil er nicht auf Menschen bezogen ist, und hätte einen Geist, der nur Geister beschwören kann, wenn er sich im Verhältnis zu anderen Menschen nicht mitteilt. Und in einer unwirklichen Gesellschaft wird der Mangel ihrer Unwirklichkeit zu einer Macht gegen die Menschen, zum Hunger nach Lebensmittel und nach einer Spiritualität, die nicht mehr von dieser Welt ist. Der Mangel trennt ihre Wirklichkeit zwischen Geist und Sinn auf und radikalisiert sich in der Trennung. Sie fixieren sich an ihr materielles Dasein, weil sie darin ihren einzigen gesellschaftlichen Zusammenhang haben. Und der erscheint ihnen zugleich gespenstisch, weil sie darin keine wirklich menschliche Beziehung finden. Das gesellschaftliche Verhältnis ihrer Sachen erscheint ihnen als das versachlichte Verhältnis von Menschen, die sich in ihrem Leben, in ihren Bedürfnissen und in ihrer Arbeit wechselseitig fremd geworden sind. Nur durch Geld treten sie in Beziehung und verhalten sich auch nur durch Geld zu einander. Ihr politisches Verhältnis ist das Verhältnis der Geldbesitzer. Sie verdienen es, um es für ihr Leben zu verausgaben. Sie verausgaben ihr Leben, um Geld für Lebensnotwendigkeiten zu verdienen.

Ihre geistige Beziehung ist entsprechend in ihrer privatisierten Individualität verselbständigt, in der sie sich als Mensch durch eine Beziehung auf sich selbst nur gewinnen können. Spiritualität wird in den geistigen Betätigungen und Religionen zu einer Brücke der Menschen, in der sie ihre menschliche Beziehung außer sich, in einem Übermenschen vergesellschaftet finden müssen, um sich als je einzelner Mensch darin auch geistig bewahrt zu wissen. Die spirituelle Selbstgewissheit wird zu einer mächtigen Identität, in der sich der vom gesellschaftlichen Menschen verlassene Mensch aus seinem Jammertal zu erheben versteht.

Allein ihre Kultur erscheint durch den Mangel ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit auch wirklich zerteilt, bedroht durch die Mächte der Selbstentfremdung, durch gesellschaftslosen Individualismus und durch selbstlosen Kollektivismus. In der Kultur dreht sich die Politik im Kreis, wird offenkundig, dass die ökonomische Wirklichkeit nicht durch politische Entscheidungen zu beherrschen ist und dass die politischen Entscheidungen diktatorisch werden, weil sie aufhalten müssen, was sie nicht beherrschen können. Die Entscheidungsgremien der Parlamente lähmen sich gegenseitig und verhindern selbst die Lösungen, die sie suchen. Kultur wird daher in den Krisenzeiten des Kapitalismus selbst zu einem Phänomen des Niedergangs der gesellschaftlichen Entwicklung und von daher auch zum Augapfel der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung.

Von daher bekommt dann Religion als Erlösungsglaube eine politische Rolle, die zum Erhalt der Verhältnisse unabdingbar scheint. Darin trifft sich der Glaube an den Menschen in der Form eines Übermenschen mit der Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Lebenserhalts. Und damit wird die Krise des ökonomischen Systems und der Kultur in einen unendlichen Regress getrieben. Religion hebt Politik und Kultur insgesamt in einem übermenschlichen Willen auf und macht im Glauben an die Ewigkeit einer übermenschlichen Ethik aus kulturellen Problemen Politik und aus politischen Problemen Kultur: schlichte Unendlichkeit einer gesellschaftlichen Unwirklichkeit, die Unmöglichkeit, eine menschliche Gesellschaft überhaupt verwirklichen zu können. Politik repräsentiert nurmehr die Abstraktion von Gesellschaft und die repräsentative Demokratie demokratisiert nurmehr die Repräsentanten. Religion schließlich hebt alles in allem auf, wird zum Präsens der unendlichen Macht vermeinter Ursprünglichkeit, zur Politik der Esoterik. Der Kreislauf der politischen Kultur wird zur Unendlichkeit des Verhältnisses von Religion und Politik und Ökonomie, schließlich zu einem religiösen Staat zum Erlöserstaat.

Und genau um das Ende dieses Kreislaufs geht es derzeit in den Auseinandersetzungen in Nordafrika und Nahost. Der Aufstand geht nicht nur gegen einige Diktatoren. Es ist ein Aufstand gegen die Diktatur schlechthin, gegen das Diktat der Politik, der Religion und der Ökonomie, die Diktatur veralteter Verhältnisse. Die Unterdrückung der Jugend schlechthin. Ihnen ist nicht nur die theokratische und kapitalistische Politik zuwider. Sie skandieren, was sie begriffen haben: Nicht politischer Wille, nicht Menschenrecht und nicht radikale Religion kann die Verhältnisse noch ändern, sondern nur noch die gesellschaftliche Beziehung lebendiger Menschen. Der Gottesstaat ist ebenso am Ende wie jede Form der Diktatur und der machtpolitischen Repräsentation – und trete sie auch als repräsentative Demokratie auf.

Das Leben altert, um Neues zu erzeugen und es stirbt, um neues Leben zu entfalten. In seiner Verwesung ernähren sich neue Wesen und bewahrheiten und bestärken damit die Geschichte des Lebens selbst. Altert indes der bloße Mangel, so entsteht Verfestigung und Dogmatismus. Der will verhüten, dass Veraltetes stirbt. Eine bloße Illusion! Aber Illusionen setzen Kräfte frei, die sich gegen ihren Untergang wehren, die ihre Vorstellungen behüten um ihre Verwirklichung zu verhüten. Solche Kräfte sind reaktionär und erfordern den Verbrauch fremder Energien, die dem Leben der Natur und der Menschen für nichts abgerungen werden und damit von dort entzogen sind, dort nicht mehr aufgehen können. Zum Überleben von Totem muss nämlich allerlei Aufwand in der Verhütung von gesellschaftlicher Wirklichkeit betrieben werden. Religion und Esoterik sind die theoretischen Vorstellungen, die den Diebstahl von Lebensenergie legitimieren. Es sind die Geistesformen einer Gesellschaftsform, in welcher nurmehr das Tote herrscht, die Versprechungen eines unendlichen höheren Willens, für den sich die Menschen ihren ihnen entfremdeten Verhältnissen unterwerfen sollen, um sich von ihnen zu befreien. Eine Absurdität schlechthin! Es ist das Wollen einer unendlichen Veralterung.