Quelle: Peter Lehmann: "Schöne neue Psychiatrie", Band 2: "Wie Psychopharmaka den Körper verändern", Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996. Nähere Informationen siehe http://www.antipsychiatrieverlag.de/verlag/titel/snp.htm#band2

Zum selben Thema siehe auch: Peter Lehmann (Hg.): "Psychopharmaka absetzen. Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern", 4. Auflage, Berlin / Eugene / Shrewsbury: Antipsychiatrieverlag 2013. Nähere Informationen siehe http://www.antipsychiatrieverlag.de/verlag/titel/absetzen.htm

 

Peter Lehmann

Tipps zum Absetzen von Psychopharmaka

 

Für die Betroffenen bedeutet der Einsatz psychiatrischer Psychopharmaka, daß ihre unerwünschten und störenden Gefühle in tiefere Bereiche der Psyche gedrängt werden. Die Reaktion auf den pharmakologischen Verdrängungsprozeß kann aus körperlichen und psychischen Symptomen bestehen, die die schädlichen Psychopharmakawirkungen verstärken. Die Behandelten verlieren ihre Handlungsfähigkeit, ihr Körper wird zum Absatzmarkt von Produkten der Pharmaindustrie. Schaffen sie den Ausstieg aus der Psychiatrie nicht, bleiben sie dazu verdammt, ihre Psychopharmakaeinnahme und ihre mehr oder weniger freiwilligen Pilgerfahrten von einem Psychiater oder Arzt zum nächsten fortzusetzen und zu erleben, wie ihre Gesundheit und ihre Lebenskraft mehr und mehr verfallen.

Völlig außer acht gelassen wird von fast allen Behandlern, daß auch der Selbstwertverlust, der aus der entwertenden Diagnose (»psychisch krank und behandlungsbedürftig«) und der dann folgenden Behandlung resultieren kann, möglicherweise eine langfristige Abhängigkeit von Psychopharmaka einleitet oder zementiert. Dabei ist der Mechanismus, daß aus der vorübergehenden Bewältigung psychischer Probleme mit Hilfe psychotroper Substanzen eine Abhängigkeit entstehen kann, von anderen psychotropen Stoffen wie z.B. Alkohol, Marihuana, Kokain oder Heroin durchaus bekannt.

Am Beispiel von Neuroleptika, die hier stellvertretend für alle psychiatrischen Psychopharmaka stehen sollen, legte Martensson den Schwerpunkt seiner Kritik auf die Orientierung an kurzfristigen Erfolgen, deren Befürworterinnen und Befürworter sich – wie in so vielen Bereichen der Gesellschaft – keine Gedanken über die mittel- und langfristigen Folgen ihres Handelns machen:

Wenn die Psychose ohne Medikamente besiegt wird, wird der Glaube des Patienten an sich selbst und die Mitmenschen angewachsen sein. Diese Dinge – Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und Glaube an Mitmenschen – sind genau das, was er braucht, um mit der Zeit seine Schizophrenie endgültig zu überwinden. Wenn Medikamente benutzt werden, wird er die entgegengesetzte Lehre ziehen und sich auf dem Weg steigender Medikamentenabhängigkeit befinden. Auch aus pharmakologischen Gründen wird der Patient sich auf dem sehr gefährlichen Weg steigender Medikamentenabhängigkeit befinden.

Psychotherapeutische Hilfen werden durch den Einsatz von Psychopharmaka sabotiert, erläuterte Rufer. Stehen die Betroffenen unter ihrem Einfluß, lasse sich kein Resultat mehr beurteilen, und meist gehe es in Gesprächen nur noch um störende Wirkungen der Psychopharmaka und nicht mehr um die eigentlichen Probleme der Betroffenen:

Gleichzeitig wird der KlientIn mit der Verschreibung des Psychopharmakons sehr deutlich gezeigt, dass ihr eine Besserung ihres Zustandes ohne chemische Hilfe nicht zugetraut wird, was einen sinnvollen Verlauf der Psychotherapie verhindert.

Ein erfülltes Leben führen zu können setzt voraus, frei von persönlichkeitsbeeinträchtigenden psychotropen Wirkstoffen zu leben. Viele Psychiatriebetroffene entschließen sich deshalb zum Absetzen. Damit kommen sie wahrscheinlich in Konflikt mit den Verabreichern der Substanzen. Wenn diese, was mehr oder weniger die Regel ist, den Betroffenen die Einsichtsfähigkeit für ihren Entschluß absprechen, werden sie kaum Informationen über die Wirkungen des Psychopharmaka-Entzugs geben und auch nicht darüber, wie man diese auf ein Minimum beschränken kann. Um dem Groll seiner Kollegenschaft zu entgehen, verfaßte Richman die erste Anleitung zum verantwortungsvollen und bewußten Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka 1984 unter einem Pseudonym (»Dr. Caligari«).

 

Die Absetzempfehlungen von David Richman

Das am gleichen Ort ansässige Network Against Psychiatric Assault (Netzwerk gegen psychiatrische Übergriffe) publizierte die ausführlichen und detaillierten Ratschläge Richmans. Im einzelnen hatte dieser ausgeführt:

Wegen der häufig unangenehmen `Nebenwirkungen' der Psychopharmaka hören die Betroffenen oft plötzlich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit der Einnahme auf. Dies kann ernsthafte Entzugsprobleme verursachen. Ein abruptes Absetzen ist nicht der beste Weg, um von Psychopharmaka loszukommen.

Wenn mit der Einnahme aufgehört wird, kann die Zeitspanne, bevor Entzugserscheinungen auftreten, unterschiedlich sein. Manche Leute haben sie innerhalb von acht bis 24 Stunden, während sie bei anderen erst nach einigen Tagen oder ein oder zwei Wochen anfangen. Teilweise hängt dies davon ab, wie lange die Psychopharmaka eingenommen wurden und in welchen Mengen, denn die meisten dieser Substanzen sammeln sich im Körpergewebe in Form von Reservoirs an. Werden die Psychopharmaka nicht mehr eingenommen oder wird die Einnahme verringert und fällt der Psychopharmakaspiegel im Blut, so werden diese gespeicherten Psychopharmaka allmählich in die Blutbahn abgegeben. Tests haben gezeigt, daß Psychopharmaka im Körper bzw. im Urin noch Monate nach Beendigung der Einnahme nachgewiesen werden können.

Ein anderer Faktor, der berücksichtigt werden muß, ist, daß Psychopharmakawirkungen am intensivsten spürbar sind, wenn der Psychopharmakaspiegel im Blut steigt oder fällt. Je drastischer die Veränderungen, desto intensiver die Wirkungen. Wenn also ein starker und plötzlicher Anstieg oder Abfall im Blutspiegel passiert, ist es wahrscheinlicher, daß bedrückende Psychopharmakawirkungen zu spüren sind.

Psychopharmaka werden vom Körper verschieden schnell aufgespalten, neutralisiert und vernichtet. Dieser Faktor, den man »Halbwertzeit« nennt, ist sehr wichtig. Psychopharmaka mit kurzen Halbwertzeiten, die also rasch abgebaut werden, führen zum schnelleren Abfall des Psychopharmakaspiegels im Blut und intensivieren Entzugserscheinungen. Diese beginnen eher und enden auch eher. Psychopharmaka mit längerer Halbwertzeit verursachen Entzugserscheinungen, die später zutage treten und länger anhalten.

Eine Anzahl weiterer Faktoren wirkt sich auf die Schwierigkeit des Entzugs aus: die Art des genommenen Psychopharmakons, die Dosierungshöhe und Einnahmedauer, der allgemeine Gesundheitszustand der Betroffenen, die innere Einstellung zum Entzug, die Qualität der Unterstützung während des Entzugs sowie die Kenntnis des Entzugsprozesses mit seinen möglichen Symptomen und Problemen und den konkreten Maßnahmen zu ihrer Linderung.

Der beste Weg, Entzugsrisiken auf ein Minimum herunterzuschrauben, ist die allmähliche Verringerung der Dosis. Dies ist besonders wichtig, wenn das Psychopharmakon länger als ein oder zwei Monate verabreicht wurde. Wer geringe Dosen nur für kurze Zeit genommen hat (d.h. ein paar Tage oder Wochen), wird vielleicht am liebsten die Einnahme der Psychopharmaka einfach stoppen.

 

Allmählicher und stufenweiser Entzug: die 10%-Formel

Wenn man diese Formel benutzt, wird der Entzug erreicht, indem man die Dosis stufenweise in aufeinanderfolgenden und entsprechend langen Schritten verringert. Wer über Jahre psychiatrische Psychopharmaka bekam oder eingenommen hat, kann – nach wie vor laut Richman – damit rechnen, daß es viele Wochen oder sogar länger dauert, von ihnen vollständig loszukommen. Bei dem vorgeschlagenen Schema wird die Dosis um jeweils 10% der augenblicklichen Höhe in zehn aufeinanderfolgenden Stufen vermindert.

Bei einem Entzug von beispielsweise ursprünglich 500 mg Chlorpromazin pro Tag würde auf jeder Stufe die Einnahme um 50 mg verringert. Richman riet im einzelnen:

Stufe 1: Gehen Sie von 500 mg pro Tag auf 450 mg. Warten Sie mehrere Tage oder eine Woche, bis Sie frei von belastenden Entzugserscheinungen sind.

Stufe 2: Gehen Sie jetzt von 450 mg auf 400 mg und warten Sie wieder mehrere Tage oder eine Woche, bis Sie zurechtkommen.

Stufe 3: Gehen Sie dann von 400 mg auf 350 mg usw., bis Sie das Psychopharmakon vollständig abgesetzt haben.

Wenn Sie verteilte Dosen nehmen, d.h. eine morgens, eine nachmittags und eine abends (das wird häufig getan), so gibt es mehrere Möglichkeiten, stufenweise abzusetzen. Sie könnten als erstes die Morgendosis verringern und absetzen, dann die Nachmittags- und schließlich als letzte die Abenddosis. Eine andere Möglichkeit wäre, die Morgendosis als 1. Stufe um 50 mg zu verringern (wenn wir beim Beispiel mit Chlorpromazin bleiben), dann als 2. Stufe die Nachmittagsdosis um 50 mg, dann die Abenddosis um 50 mg als 3. Stufe, dann die Morgendosis um weitere 50 mg als 4. Stufe usw. bis zum kompletten Absetzen.

Haben Sie nach der Dosisverringerung Entzugserscheinungen, bleiben Sie bei der gleichen Dosis, bis sie abklingen oder verschwinden. Gehen Sie erst dann zum nächsten Schritt über. Als Alternative können Sie zur vorherigen Stufe (mit der höheren Dosis) zurückkehren, wo Sie besser zurechtkamen, und dort bleiben, bis Sie erneut zur nächsttieferen Stufe weitergehen.

Manchmal wird der erste Teil der Reduzierung keinerlei Probleme mit sich bringen. Aber dann, wenn viel niedrigere Dosen erreicht werden, tauchen Probleme auf. Zum Beispiel kann es schwierig sein, von 50 mg (wieder das Chlorpromazinbeispiel) auf 0 mg zu gehen. In diesem Fall könnten Sie die Verringerung so gestalten, daß Sie von 50 mg auf 40 mg gehen und dann auf 30 mg usw..

Wenn Sie diese stufenweise Methode anwenden, kann es notwendig sein, unterschiedliche Tablettenstärken zu benutzen oder Tabletten oder Kapseln zu zerschneiden. Tabletten mit harter Hülle lassen sich nur schwer gleichmäßig teilen. Sie sind normalerweise markiert, d.h. sie haben eine Kerbe in der Mitte, die es erleichtert, sie mit den Fingern zu halbieren oder zu vierteln. Kapseln sind schwieriger zu zerschneiden. Wenn sie mit Messer oder Rasierklinge halbiert werden, kommt der Inhalt heraus, und man muß den nicht benutzten Inhalt der Kapsel in einem Döschen aufbewahren. Kapseln enthalten nicht nur den psychopharmakologischen Wirkstoff, sondern auch Geschmacks- und Konservierungsstoffe. Da beim Zerteilen nicht gewährleistet ist, daß der eigentliche Wirkstoff gleichmäßig in den Pulverteilen enthalten ist, kann es ratsam sein, vor dem stufenweisen Entzug auf die Einnahme in Tabletten- oder Tropfenform umzusteigen.

 

Weitere Ratschläge

Aufgrund einer möglicherweise beim Absetzen – durch das Nachlassen der abstumpfenden Wirkung – vorübergehend steigenden Suizidgefahr sollten unbedingt mit wohlwollenden Nahestehenden geeignete Vorkehrungen getroffen werden, um dieses Risiko einzuschätzen und um Maßnahmen zu seiner Minimierung zu treffen.

In Zusammenhang mit einem Verdacht auf tardive Dyskinesien sprachen Tornatore und Kollegen von der Notwendigkeit der Dosisreduzierung. Auch sie rieten zur Geduld. Das Absetzen sollte,

... nicht zuletzt wegen der Gefahr von hirnorganischen Anfällen und von Entzugsdyskinesien, sehr vorsichtig geschehen, etwa schrittweise um monatlich jeweils ein Drittel der augenblicklichen Dosis.

Psychiatrische Berichte, wonach Menschen, denen mindestens sechs Monate Chlorpromazin verabreicht worden war, bei langsamem Entzug weit besser zurechtkamen als bei abruptem <M>1632, unterstützen solche Warnungen. Matthias Seibt, Vorstandsmitglied im deutschen Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen e.V. und Dipl.-Psychologe, kritisierte, daß manche Psychiater das gelegentlich riskante abrupte Absetzen fördern, z.B. wenn sie auf Kritik an ihren Psychopharmaka mit einem saloppen »Dann lassen Sie sie doch einfach weg« antworten, ohne vor den teilweise lebensbedrohlichen Risiken zu warnen. Auch Seibt empfahl einen stufenweisen Entzug:

Wer jahrelang Psychopharmaka geschluckt hat, sollte durchaus einige Monate Zeit investieren. Schließlich hat er/sie der Psychiatrie Jahre eingeräumt, ohne daß eine Problemlösung erfolgte. Warum also von einem anderen Weg Wunder verlangen?

Bei unerträglichen Entzugserscheinungen, die ein neuerliches `Ausrasten' befürchten lassen, legte Seibt – wie zuvor Richman – nahe,

... lieber zu einer vorhergehenden Stufe des Entzugs zurückzukehren. Eine momentane Erhöhung der Drogeneinnahme ist auf jeden Fall einem Anstaltsaufenthalt mit einem Vielfachen der Dosis der »freiwillig« eingenommenen »Medikamente« vorzuziehen.

Klein und Kollegen empfahlen ein Tempo, das für viele erheblich zu schnell sein dürfte. Aber auch sie sprachen sich für ein stufenweises Absetzen aus in dem Fall, daß man die Psychopharmakabehandlung beenden wolle:

Dies gilt für alle psychotropen Wirkstoffe. Entzugssyndrome verschieden starker Intensität sind bei nahezu all diesen Wirkstoffen beschrieben worden, auch in Zusammenhang mit niedrigen Dosierungen, und bei abruptem Absetzen kann es zu subklinischen (mit nur geringer Symptomatik auftretenden) physiologischen Störungen kommen. Um sie zu vermeiden, ist es besser, die Dosis um ungefähr 10% bis 25% pro Tag zu verringern, wobei man bei höheren Tagesdosen langsamer vorgehen sollte. Eine genaue Beobachtung von Entzugssymptomen kann ein vorübergehendes Steigen oder ein Plateau (zeitlich begrenzte Beibehaltung einer momentanen Dosis im Verlauf des Absetzprozesses, P.L.) notwendig machen.

Wer selbst diesen Prozeß durchlaufen hat und zudem viel mit Menschen zu tun hatte, die Psychopharmaka absetzten, kennt viele Faktoren, die die Probleme des Absetzens lindern. Beim Kongreß »Alternativen zur Psychiatrie« in Ostberlin 1990 sprach Rufer über Möglichkeiten eines Arztes und Therapeuten, den Entzug psychiatrischer Psychopharmaka zu unterstützen <M>1280. Ochsenknecht beschrieb bei derselben Veranstaltung sowie später in dem Buch »Statt Psychiatrie« Pflanzen und ihre Wirkstoffe, deren Kombinationsmöglichkeiten und Mischungsverhältnisse, um unerwünschte psychische Zustände positiv zu beeinflussen und unabhängig von schädlichen Psychopharmaka zu werden. Sylvia Caras aus Santa Cruz, Kalifornien, publizierte 1991 eine Broschüre zum Thema Absetzen, in die sie auch Empfehlungen von Personen aufnahm, die von positiven Absetzerfahrungen berichteten . All diese Ratschläge sowie eigene Erfahrungen ergänzen die Palette an unterstützenden Maßnahmen, die Richman vorgeschlagen hatte. In der Summe wird folgendes geraten:

Sich vom Krankheitsbegriff trennen.

Von den Schwierigkeiten, ambivalenten Klienten beim Absetzen beizustehen, berichtete Rufer:

Wenn bei ihm die psychiatrische Gehirnwäsche nämlich gewirkt hat, wenn er glaubt, er sei psychisch krank, wenn er die Idee übernommen hat, er brauche Psychopharmaka, um ein einigermaßen unauffälliges Leben außerhalb der Klinik leben zu können, dann ist die Sache äußerst schwierig. Meiner Erfahrung nach findet dann oft in irgendeiner Form ein Tauziehen statt. Einerseits lehnt der Betroffene die Psychiatrie ab. Und er glaubt daran, daß er es schaffen kann, sein Leben zu bewältigen ohne Psychiatrie, vor allem ohne Psychopharmaka. Doch dann kippt er wieder zurück. Auslösend kann beispielsweise sein, daß ihm eine weitere Person, die für ihn wichtig ist, sagt, daß es für ihn viel zu gefährlich sei, auf die Neuroleptika zu verzichten. Oft hat er diese beiden Ansichten nebeneinander, fast gleichzeitig, oder es findet ein fortwährendes Hin und Her statt zwischen diesen beiden Meinungen.

Sich über Risiken und unerwünschte Wirkungen psychiatrischer Psychopharmaka informieren.

Entzugserscheinungen einkalkulieren, so z.B. Reboundeffekte, die noch nach Wochen einsetzen können. Richman:

Entzug von psychiatrischen Psychopharmaka kann eine schwierige und anspruchsvolle Erfahrung sein. Sie sollten wissen, daß der Entzug manchmal mittleres oder schweres Unbehagen und totales Gefühl von Elend mit sich bringen kann. Wenn Sie geistig auf diese Situation vorbereitet sind, verringert sich die Wahrscheinlichkeit, daß Sie ängstlich oder entmutigt werden. Geduld und Entschlossenheit sind notwendig. .

Schöpf empfahl, das Absetzen so zu planen, daß störende Entzugserscheinungen keine allzu unangenehmen sozialen Folgen nach sich ziehen:

Der Zeitpunkt des Absetzens soll so gewählt werden, daß ein vorübergehender Leistungsabfall mit den Aufgaben des Patienten vereinbar ist.

Rat holen.

Mit Absetzerfahrenen sprechen. Sich einer Selbsthilfegruppe anschließen, in der die Individualität jedes Mitglieds respektiert wird. Sich keine Patentrezepte einreden lassen. Seibt warnte vor dem verbreiteten Hang zu einfachen Denkmustern:

Da jeder Mensch anders ist, läßt sich nichts verallgemeinern. Jede/r muß selbst herausfinden, was ihr/ihm gut tut. Dazu ist eine gewisse Selbstbeobachtung notwendig, die erlernbar ist.

Planen.

Eventuell bereits vor dem Absetzen mit einer Änderung der Lebensumstände (Wohnen, Arbeit, soziale Kontakte) oder des Umgangs mit sich selbst beginnen. Eventuell den Arzt oder Psychiater wechseln, wenn abzusehen ist, daß der gegenwärtige die Unterstützung beim Absetzen verweigert. Vor dem Absetzen das Risiko des Verlusts der Wohnung, Sozialhilfe oder sonstiger Leistungen abklären, sofern deren Gewährung an die Bereitschaft zur Einnahme der Psychopharmaka gekoppelt ist. Die richtige Jahreszeit aussuchen. Sich vorher Gedanken über den möglichen Zeitraum des Absetzens machen. Nahestehende wohlgesinnte Personen vom Vorhaben informieren. Caras zitierte eine Person, die nachträglich bereute, ihr Kind nicht vom Absetzen informiert zu haben: »Ich begann, hysterisch zu lachen, und meine Tochter intervenierte und veranlaßte die erneute Verabreichung der Medikamente.« Außerdem empfahl Caras, sichere Orte zum Leben zu suchen, alte Kenntnisse aufzufrischen, Neues zu lernen, z.B. Sprachen, neues Bewußtsein zu entwickeln und zu akzeptieren, daß sich gute Zeiten mit schlechten abwechseln.

Rechtssicherheit schaffen.

Für den drohenden Fall eines erneuten Kontaktes mit der Zwangspsychiatrie sich schon vorher mit dem Patientenfürsprecher in Verbindung setzen. Oder sich mit einem Psychiatrischen Testament vor einer Zwangsbehandlung im Falle der (Wieder-)Einweisung in die Anstalt zu schützen und sich in diesem Zusammenhang rechtzeitig fragen: Was brauche ich, sollte ich wieder verrückt, depressiv, manisch, ängstlich usw. werden? Was tut mir dann gut? Was lehne ich ab? Was will ich? Was nehme ich notfalls in Kauf? Wo sind die Menschen, die mich unterstützen werden?

Eine ruhige Umgebung schaffen.

Sich während des Entzugs von wenig belastbaren Angehörigen fernhalten. Streß und aggressive Orte meiden. Nicht ans Telefon gehen, wenn Telefonieren mit Streß verbunden ist. Sich an friedlichen Orten aufhalten, z.B. ans Meer oder aufs Land fahren, in ein Meditationszentrum oder in eine Kirche oder Bibliothek gehen. Sich nicht in schwierigen sozialen Beziehungen aufreiben.

Für eine vernünftige Ernährung sorgen.

Gut essen – regelmäßig, aber nicht übermäßig. Ballaststoffe, Vollwertkost, Salat, frisches Gemüse, frisches Obst, Diät, viel Flüssigkeit. Eventuell Verzicht auf nervös machende Getränke wie schwarzen Tee oder schwarzen Kaffee, Alkohol, Fertiggerichte, Zucker (Bonbons, Eis, Limonaden), verarbeitete Lebensmittel (in Dosen oder gefroren), Gebratenes, tierische Produkte (Fleisch und Milch) und Drogen wie Marihuana, Kokain und andere Aufputschmittel.

Bewegung. Spazierengehen, Wandern, Tanzen, Schwimmen, Gymnastik, Aerobic. »Mäßigkeit ist ein Hauptprinzip: Steigern Sie Ihre Aktivitäten schrittweise.«

Auf ausreichenden Schlaf achten.

Richman:

Wenn der Schlaf nicht so schnell kommt, ist es besser, im Bett zu bleiben als irgendeiner Aktivität nachzugehen. Einige Leute haben dies als hilfreich empfunden, andere haben von Yoga und Atemübungen profitiert, warmen Bädern und Massage vor dem Einschlafen.

Sich Gutes tun.

Wohltuende Musik hören, angenehme Literatur lesen. Kontakt halten. Viel mit Freundinnen und Freunden telefonieren oder sie besuchen. Maßnahmen der Affirmation, d.h. sich selbst durch stärkende Worte und aufbauende Bilder bestätigen, daß man ein starker Mensch ist und den Absetzprozeß durchhält.

Entzugslindernde Substanzen bereithalten.

Ochsenknecht erläuterte die Wirkung von Baldrian, Bockshornkleesamen, Fenchel, Hafer, Hopfen, Jasminblüten, Johanniskraut, Kava-Kava, Lavendelblüten, Majoran, Melisse, Orangenblüten, Passionsblumen, Pfefferminzblättern, Schafgarbenkraut und Weißdornblüten und berichtete:

Ich arbeite viel mit Heilpflanzen. Sie regulieren nicht nur das körperliche, sondern auch das seelische Gleichgewicht. Das unterscheidet sie von den chemischen Arzneimitteln, die nur zur Beseitigung oder Unterdrückung eines bestimmten Symptoms dienen, ohne die Selbstregulierungskräfte zu aktivieren. Dadurch helfen sie auch, die schweren Entzugserscheinungen zu lindern oder völlig aufzufangen, die beim Absetzen von Psychopharmaka entstehen können. Oft ist gerade die Angst vor Entzugssymptomen (u.a. Schlafstörungen, Herzjagen, Übelkeit, Schweißausbrüche, innere Unruhe) ein Grund, bei solch krankmachenden Mitteln zu bleiben. Eine Angst, die von vielen Psychiatern noch zusätzlich geschürt wird.

Es ist wichtig, mit einem ganzheitlichen Blick nach Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen. Nicht nur Symptome zu lindern, sondern die Regulationskräfte in uns zu aktivieren und dadurch die seelische Balance neu zu finden. (...)

Die Heilkräfte der Pflanzen können wir in Form von Tees, Auszügen (alkoholische/wäßrige oder ätherische Öle) oder entsprechenden Dragées nutzen. Die von mir angegebenen Teemischungen und Rezepte verstehe ich als Anregung zum Ausprobieren, aber nicht als Dauertherapie für alle und auch nicht nach der Devise »Viel hilft viel«.

Unterstützung suchen.

Organstärkende und entgiftungsfördernde Präparate einnehmen. Unter Menschen sein, die den Psychopharmaka-Entzug verstehen. Eventuell Medizinerinnen und Mediziner aufsuchen, die ihr psychiatrisches Wissen vergessen und statt dessen Verständnis, Menschlichkeit, Einfühlungsvermögen und Takt haben. Rufer warnte vor hierarchischen Verhältnissen in medizinischen und therapeutischen Praxen und empfahl seinen Kolleginnen und Kollegen:

Sobald eine ExpertIn, ein Fachmann, ein Profi (oder einfach ein `vernünftiger' Mensch) einem anderen Menschen gegenübersitzt, der Hilfe braucht und sucht, ergibt sich automatisch ein Macht-Ohnmacht-Gefälle. Der eine kann entscheiden, der andere muß gehorchen, annehmen, befolgen und auch dankbar sein. Nur derjenige kann wirklich helfen, der diese Macht nicht annimmt. Denn aus der ungleichen Verteilung der Macht heraus und aus der Abhängigkeit beginnt der Betroffene in der Rolle des Kranken weiterzuleben. Aus Dankbarkeit, Respekt, Angst – oder was auch immer – vergißt er schlicht, daß er selbst entscheiden und leben könnte, ganz unabhängig von dieser ExpertIn. 

Bewußt leben.

Beispielsweise Briefe schreiben, Tagebuch führen. (...)

Leben ohne Psychopharmaka

Wenn der Körper die psychiatrischen Psychopharmaka schließlich abgebaut hat und der Organismus entgiftet ist, wird nach Lage der Dinge die frühere Lebenskraft wieder zum Vorschein kommen. Allerdings hat der Glaube, daß ein Aufenthalt in der Anstalt oder der Gang zum Psychiater oder Arzt Zufall oder ein Mißgeschick gewesen sein könnte, schon viele Leute dazu verlockt, auch die für die Behandlung ursächlichen unangenehmen Gedanken und Gefühle rasch wieder zu verdrängen. Dies ist nicht ungefährlich.

Wem die psychiatrische Behandlung aufgezwungen oder aufgenötigt wurde, sollte sich fragen, wie das Leben in der Weise verändert werden kann, daß der vermutlich noch vorhandene Angstdruck abgebaut werden kann. Wer die Verabreichung von Psychopharmaka mehr oder weniger freiwillig angestrebt hatte, sollte sich fragen, ob er bzw. sie das, was ursprünglich gewollt war – vielleicht Ruhe, Entlastung, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Verständnis und Anerkennung – tatsächlich erreichte. War das Erleben dieser an und für sich wertvollen Erfahrungen der eigentliche Zweck der psychiatrischen Behandlung, kann die Frage gestellt werden, ob es nicht Wege gibt, diese Ziele zu erreichen, ohne daß der Körper riskanten und schädlichen Chemikalien ausgesetzt wird.

Die Psychologin Doris Latta von `Schwindel-Frei', einer Beratungsstelle für medikamentenabhängige Frauen in Berlin, sprach in einem Zeitungsinterview die schwierigen Zeiten an, die nach dem Entzugsprozeß kommen:

Für viele Frauen kommt jedoch die schwere Krise erst nach dem harten Entzug. »Clean sein«, so Doris Latta, »bedeutet Konfrontation mit dir selbst. Mit dem, was du durch die Tabletten verdecken und nicht mehr spüren wolltest. Es heißt, dein Leben zu verändern.«

Da auch Monate oder Jahre nach dem Entzug ein erneutes Aufbrechen psychischer Probleme möglich ist, könne es laut Seibt – trotz der auch bei einmaliger Einnahme von Psychopharmaka vorhandenen Risiken und zwecks Vermeidung eines größeren Übels wie z.B. einer Anstaltsunterbringung – hilfreich sein, eine einzige kleine Dosis eines Psychopharmakons einzunehmen, um rasch zur Ruhe zu kommen:

Wer sich von einer hohen Dosis »Medikamente« auf Null dosiert hat, wird oft erstaunt feststellen, wie stark eine ganze oder halbe Tablette auf einen giftfreien Körper wirkt.

Der Glaube, einzig die `bösen anderen' (Nachbarinnen und Nachbarn, Ehemann, Ehefrau, Eltern, Hausarzt, Psychiater, Polizei, Sozialpsychiatrischer Dienst usw.) oder die `psychische Krankheit' (Stoffwechselstörung, genetische Disposition, Vulnerabilität usw.) habe zur Verabreichung der Psychopharmaka geführt, erschwert es oder macht es sogar unmöglich, das Leben nach dem Absetzen wieder selbstverantwortlich und aktiv zu gestalten, da mit diesen Schuldzuweisungen der eigene Anteil am Zustandekommen der Entwicklung negiert wird. Psychische Krisen – wie körperliche auch (z.B. Herzinfarkte) – bieten die Chance der Veränderung, ja fordern sie geradezu. Hierzu gehört die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, sei es im Zwiegespräch mit sich selbst, sei es in der Selbsthilfegruppe, im Kontakt mit Nahestehenden, bei Therapeuten und Therapeutinnen, sofern diese frei von psychiatrischen Glaubensvorstellungen und Machtgelüsten sind. Wie sie weitere psychische Extremzustände bewältigte, nachdem sie die Psychopharmaka abgesetzt hatte, schilderte beispielsweise Hölling 1996:

Im Winter 1994 – exakt sechs Jahre, nachdem ich in Freiburg gewaltsam in die Psychiatrie eingeliefert wurde – war ich noch einmal in genau dem gleichen verrückten Zustand wie damals, was ich ohne Psychiatrie und ohne Medikamente durchlebte, u.a. weil vertraute Menschen da waren, die bei mir bleiben konnten, und weil ich inzwischen Menschen gefunden hatte, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Seit fast fünf Jahren lebe ich nun ohne Psychiatrie und ohne psychiatrische Psychopharmaka mit meinen oft extremen Stimmungsschwankungen, wie ich es auch schon die 20 Jahre vor meinem Psychiatrieaufenthalt getan habe. Im Laufe meines Lebens habe ich eine Menge Strategien entwickelt, um mit meinen Extremzuständen umzugehen und zu leben. Wenn ich schreibe, male, Musik mache, viele Leute sehe oder mich tage- und wochenlang völlig in mein Bett zurückziehe und unfähig bin, irgend etwas zu tun, handelt es sich dabei nicht um »Krankheitssymptome«, sondern um Überlebensstrategien.

Wie leicht Menschen in eine körperliche und psychische Abhängigkeit von Psychopharmaka, in diesem Fall von Neuroleptika kommen, ist selten klarer geschildert worden als von Vera Stein. Diese war als 16jähriges Mädchen wegen Unangepaßtheit und Wildheit von ihren Eltern, die in ihren Erziehungsbemühungen überfordert waren, in die Psychiatrie gebracht worden. Zuerst mit Zwang und Gewalt unter Psychopharmaka gesetzt, entwickelte sie mit der Zeit einen Drang zur Selbstbetäubung:

Ich hatte lernen müssen, bei auftretenden Angstgefühlen vom Angebot der Ärzte und Pfleger Gebrauch zu machen und selbst Zusatzmedizin abzuholen. Es fiel anfangs nicht leicht, da ich mich an früher erinnerte, wo ich das Zeug gar nicht brauchte, doch nun gab es Sicherheit und Ausgeglichenheit.

Als sie zwei Jahre nach ihrem oben geschilderten erfolglosen ersten Absetzversuch erneut zu ihrer ehemaligen Leidensgenossin zog, verbrachte sie dort zwei Jahre in Stummheit und kehrte dann in ihre eigene Familie zurück, um von dort aus im Nachbarort einen Arbeitsplatz in der Behindertenwerkstatt anzutreten. Sie hatte Glück, denn zum einen entsetzten sich einige Betreuer über die Vielzahl und Dosis der verordneten Psychopharmaka, und zum anderen überwies sie der Arzt, den die `Behinderten' alle paar Wochen aufsuchen mußten und der ebenfalls über die `Medikation' erschreckt war, zu einer Logopädin zur Sprachbehandlung. Dies hatte zur Folge, daß die Psychopharmaka reduziert wurden und Vera Stein aus dem pharmakologischen Dämmerschlaf erwachte. Wieder führte das Wacherwerden und die stärker werdende Sensibilität zu stärkeren subjektiven Qualen über das Nichtsprechenkönnen, doch mit Gekritzel auf Schiefertafeln und Pfeifen konnte sie sich verständigen. Trotz des Wissens, wie die psychiatrische Behandlung ihre Lebensqualität nahezu vollständig zerstört hatte, behielt sie den Blick nach vorne gerichtet und versuchte, aus ihrer Lage das Beste zu machen, und in kleinen Schritten und mit Hilfe von außen schaffte sie schließlich den völligen Ausstieg aus der Psychiatrie. Anschließend reflektierte sie die Gefahr, in der sich diejenigen befinden, die sich in medizinische Hände begeben und Verantwortung abgeben. Sie drohen im psychiatrischen Sumpf unterzugehen, was so vielen Betroffenen passiert, und landen in Heimen, `Übergangseinrichtungen', Langzeitstationen oder gemeindenahen Verwahreinrichtungen:

Man verfällt leicht in die Ausrede zu sagen, ich bringe dies oder jenes nicht fertig, ohne es überhaupt versucht zu haben. Werden Handgriffe unter Druck verlangt, kann es passieren, daß man mitleidserregende Krankheitsfloskeln nur vorschiebt. Arbeit soll einem abgenommen werden. Man will sich am Ende jeglicher Anstrengung, aller Mühe und allem Neuen entziehen. (...)

Dann will man »freiwillig« in die Psychiatrie zurück, dorthin wo man sich heimisch fühlt, wo man hinter verschlossenen Türen den Tag verdöst und sich mit Hilfe von Medikamenten in ganz eigene Welten zurückziehen kann. Man wird entwöhnt und verlernt, selber zu leben, man läßt sich fallen und treiben, vegetiert dahin. Das einzige, was einem noch selbst gehört, sind Gedanken, obwohl diese wegen der Müdigkeit und des Gedämpftseins selten in Gang kommen. Man braucht als Kranker, als Kranke keine Verantwortung zu tragen, wie vorher für die Familie oder im Beruf, jetzt tut man es nicht einmal mehr für sich selbst. Man gilt als unzurechnungsfähig und als anstaltsbedürftig. Es wird einem kein selbständiges Handeln und Denken mehr abverlangt. Man ist abgeschirmt von allen Problemen, vom Existenzkampf und von der Härte des Alltags. Man kann sich einfach ins Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen, um sich aus der Realität zu entfernen.

Zudem wird der Körper mit Psychopharmaka betäubt, deren Wirkung und Dämpfung die Flucht aus der Wirklichkeit und dadurch das Weggetretensein noch erleichtern. Krankheitssymptome helfen und geben Schutz. Mit der Zeit aber fühlt mach sich hin- und hergerissen, will einerseits gesund sein und will endlich aus dem Dilemma heraus, andererseits macht die »Normalität« gerade Angst.

Wer selbst wirklich will, auch die nötigen Unterstützungen und positiven Bedingungen der Umwelt entgegengebracht bekommt, der kann den Schritt schaffen, ein Leben aufzubauen, ohne wieder in einer Psychiatrie zu landen.

Rufer, in dessen Praxis viele absetzwillige Psychopharmakakonsumentinnen und -konsumenten kommen, appellierte an Professionelle, die Betroffenen bei der Verarbeitung ihrer Geschichte zu unterstützen:

Der Betroffene selbst muß verstehen, was mit ihm geschah, was er erlebte, wieso er so und nicht anders reagierte. Wo ist das Problem, wie hat es sich entwickelt, wo war die Auslösung der Verschlimmerung, die zur Hilfebedürftigkeit, zur Auffälligkeit führte? Es ist lebenswichtig, daß auf dieses Thema ganz bewußt und möglichst eingehend eingegangen wird. Was ist passiert? Wer ist beteiligt? Geht es um die Schule, die Arbeit, die Eltern, die Partnerschaft, die Sexualität, geht es um Eifersucht, Abhängigkeit, Sucht? Geht es um eine Leistungsproblematik bzw. das Gefühl, die Angst oder die Gewißheit, leistungsmäßig nicht zu genügen und die Forderungen und Erwartungen der Eltern, Lehrer und Beziehungspartner nicht erfüllen zu können? Geht es um die Angst, Examen nicht zu bestehen, nicht genug zu verdienen, in der Sexualität nicht zu genügen? Geht es ums Erwachsenwerden, um die Ablösung eines Kindes vom Elternhaus? Geht es um Vereinsamung, um die Unmöglichkeit, auf andere Menschen zuzugehen, mit anderen Menschen Beziehungen zu haben und zu pflegen? Das sind Fragen, die uns alle quälen können, und, wenn sie zunehmen, wenn sie lange ungelöst weiterbestehen, dann können sie eben auch ursächlich Verrücktheitszustände auslösen.

Wo ist der heikle Punkt, der die unheilvolle Entwicklung bedingte? Dies alles ist zu klären mit dem wesentlichen Ziel der Selbständigkeit und des Wissens: »Ich kann von jetzt an derartige Entwicklungen vermeiden. Ich selbst habe das in der Hand, ich selbst. Ich brauche dazu keinen Arzt, keine Medikamente, keine Anstalt.«

 

Peter Lehmann