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Peter Lehmann

Alte, veraltete und neue Antipsychiatrie

Zusammenfassung. Die Antipsychiatrie entwickelte sich seit den 60er Jahren von einer eher akademisch orientierten Disziplin zu einer neuen, im wesentlichen von Psychiatriebetroffenen getragenen Bewegung. In deren Mittelpunkt steht die Forderung nach nutzergetragenen bzw. nutzerkontrollierten Alternativen zur Psychiatrie und nach Verzicht auf toxische Substanzen. Die Sozialpsychiatrie machte sich die Psychiatriekritik lediglich zunutze, um unter Ausblendung der Behandlungsschäden ein umfassendes, Rechtsverstöße und Langzeitschäden begünstigendes System der Gemeindepsychiatrie aufzubauen. Die auf der Stelle tretende alte Antipsychiatrie läuft angesichts vorhandener alternativer Konzepte Gefahr, trotz radikaler Positionen zum Bremsklotz zu werden.

Summary: Since the 60s antipsychiatry has evolved from a more academically orientated discipline towards a new movement, mainly led by (ex-)users and survivors of psychiatry. Its key issue is the demand for user-run and user-controlled alternatives to psychiatry and for rejection of toxic drugs. Ignoring treatment damages social-psychiatry only used the criticism of psychiatry to built a comprehensive system of community psychiatry, which is favouring juridical assault and long-time damages. In spite of radical positions the old antipsychiatry that makes no headway runs the risk of becoming an obstacle to progress in view of present alternative concepts.

Alte Antipsychiatrie

Die Antipsychiatrie der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde im wesentlichen von Psychiatern wie zum Beispiel Ronald D. Laing und David Cooper vertreten. Diese machten deutlich, daß es für psychiatrische Diagnosen keine objektiven klinischen Kriterien gibt und sogenannte Schizophrenien lediglich Versuche sind, unter unerträglichen Familienbedingungen und kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen psychisch zu überleben. Wenn auch dem patriarchalischen Denken verhaftet, schufen sie doch die Grundlagen der neueren Entwicklung der Psychiatriekritik. Der konservative US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz leitete die historische Entwicklung der Psychiatrie aus der Hexenverfolgung ab und legte die moderne psychiatrische Praxis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bloß sowie die psychiatrische Lehre als größten wissenschaftlichen Betrug dieses Jahrhunderts.

In der BRD traten mit der 68er Studentenbewegung noch andere akademisch orientierte Kritiker auf, die sich aufgrund ihrer rein theoretischen und wiederum männlichen Orientierung unfähig zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Psychiatriebetroffenen erwiesen – mit Ausnahme der Sozialistischen Selbsthilfe e.V. Köln, einem Wohn- und Arbeitskollektiv mit ehemals schlagkräftigen Aktionen gegen psychiatrische Menschenrechtsverletzungen.

Den Schwung der Psychiatriekritik nutzten sozialpsychiatrische ReformerInnen (»Auflösung der Großkliniken«), die von der sogenannten demokratischen Psychiatrie des Italieners Franco Basaglia inspiriert wurden, um das System der Psychiatrie zu verdoppeln: Die Anstalten wurden verkleinert und baulich renoviert, psychiatrische Abteilungen an Krankenhäusern sowie ein umfassendes System der Gemeindepsychiatrie mit unterschiedlichsten Einrichtungen neu geschaffen. Den Betroffenen gelingt kaum noch der Ausstieg aus diesem Komplettsystem, das auf der Verabreichung von psychiatrischen ›Medikamenten‹ mit mehrwöchiger Halbwertzeit basiert, den Depotneuroleptika.

Besonders diese neurotoxischen Psychodrogen können katastrophale Schäden verursachen. In einer Studie von 1991 über eine Stichprobe gemeindepsychiatrisch behandelter und zum Teil in ›betreutem‹ Einzelwohnen oder ›therapeutischen‹ Wohngemeinschaften lebender BerlinerInnen sprach eine Autorengruppe von einem durchschnittlichen Vorkommen von 59% tardiven Dyskinesien. Dies sind veitstanzartige und von anhaltenden und schmerzhaften Krämpfen begleitete Muskel- und Bewegungsstörungen, die im Laufe der Behandlung, beim Absetzen oder danach im Gesicht, am Rumpf oder an den Extremitäten auftreten, nicht behandelbar sind, sozial stigmatisieren und mit einer Verkürzung der Lebenserwartung einhergehen (Lehmann 1996b, S. 208 ff.).

Aufgrund der neuroleptika- und antidepressivabedingten Langzeitschäden kommt auch der im italienischen Faschismus von Schweineschlachthäusern abgeguckte Elektroschock wieder verstärkt in Gebrauch. Mit ihm werden in den Gehirnen der Behandelten – zu 80% Frauen – epileptische Anfälle ausgelöst, was irreversible massive Nervenzellausfälle bewirkt (Lehmann 1996a, S. 20ff.; Frank 1996). Reaktion auch der fortschrittlichen Reformpsychiater: Schweigen (Lehmann 2001). Ein ebenso lautes Schweigen schwappt einem entgegen, wenn man sie um ihre Meinung zu der vom Europarat geplanten Ethikerklärung zu den Rechten Zwangspsychiatrisierter befragt, die unter anderem eine gewaltsame Neuroleptikaverabreichung inner- und außerhalb von Anstalten sowie gewaltsame Elektroschocks legalisieren soll (Arbeitskreis des Steering Committee on Bioethics des Europarates 2000).

Mit einer Vielzahl von gut bezahlten Arbeitsplätzen und Teilhabe an der Machtausübung korrumpiert das psychiatrische System die MitarbeiterInnen. Obwohl die Langzeitschäden von Elektroschocks oder Neuroleptika himmelschreiend sind, bleiben die psychiatrisch Tätigen in aller Regel stumm, die politisch Verantwortlichen in den Parteien und den Gesundheitsbürokratien tatenlos und die Betroffenen verloren, sofern sie sich nicht zusammenschließen.

Neue Antipsychiatrie

Ein Vierteljahrhundert, nachdem dissidente Psychiater ihre Wissenschaft als Antipsychiatrie neu erfanden, artikuliert sich seit den frühen achtziger Jahren zunehmend eine radikale Kritik, die als neue Antipsychiatrie bezeichnet werden kann. Sie wird nicht von Professionellen getragen, die für und über ›psychisch Kranke‹ reden wollen, sondern von Psychiatriebetroffenen, die sich auf allgemeine Menschenrechtserklärungen berufen und die wissen, daß es Geisteskrankheiten (im Gegensatz zu Hirnkrankheiten) als medizinische Komplexe mit kategorisierbaren Ursachen, Verläufen und Prognosen nicht gibt. Sie wollen die Psychiatrie nicht reformieren, sondern ein System mitmenschlicher Hilfeleistung für Menschen in psychischen Notlagen sozialer Natur entwickeln, neue – mehr oder weniger institutionelle – Formen des Lebens mit Verrücktheit und Andersartigkeit. Sie setzen sich zudem ein für deren rechtliche Gleichstellung mit gesunden sowie kranken Normalen (d.h. straffreie Behandlung nur nach informierter Zustimmung auf Grundlage des allgemeingültigen und von der Haltung zur Psychiatrie unabhängigen Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit), für ihre Organisierung und die Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen, für die Unterstützung beim Entzug von psychiatrischen Psychopharmaka, für die Ächtung von Elektroschocks sowie den Schutz vor ambulanter Zwangsbehandlung, die durch den Ausbau der Gemeindepsychiatrie begünstigt wird.

Ein prominenter Vertreter der neuen Antipsychiatrie ist der Däne Karl Bach Jensen, ehemaliger Vorsitzender des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen. Er brachte 1998 die Position der neuen Antipsychiatrie auf den Punkt:

»Das überkommene Konzept der psychischen Krankheit und des Bedarfs an synthetischen Psychopharmaka abzulehnen, speziell wenn sie über lange Zeit oder gar lebenslänglich verordnet werden, kann natürlich nicht heißen, die Augen zuzumachen vor den realen Problemen, die viele Menschen haben. Ich will keineswegs darauf hinaus, daß wir uns um andere, wenn sie verrückt werden, etwa gar nicht kümmern sollten, daß die Leute eingesperrt und allein gelassen werden sollten.

Ein wesentliches Charakteristikum alternativer psychosozialer Dienste würde darin bestehen, Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen – unter anderem durch gegenseitige Lernprozesse, Rechtsbeistand, alternative Medizin, gesunde Ernährung, natürliche Heilverfahren und spirituelle Übungen. Die alternative Arzneimittelkunde hat beispielsweise ein großes Wissen über die Wirkung von Kräutern und Homöopathika, die dem Körper und der Psyche helfen können, Entspannung zu finden und das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Mit solchen Dingen kann man möglicherweise nicht so viel Geld verdienen, doch sie sind es, die Zukunft haben.

In diesem Feld können Psychiatriebetroffene eine wichtige Rolle als MitarbeiterInnen und RatgeberInnen spielen, denn sie haben das Wissen darüber, was ihnen geholfen hat. Solche mit einer positiven Subkultur_Identität und Würde verbundenen Dienste können von der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden oder, mit öffentlicher finanzieller Unterstützung, von der Betroffenenbewegung selbst, wobei Menschen einfach ein Ort gegeben würde, sich zu treffen und ihr eigenes Leben zu gestalten. Falls Menschen eingesperrt werden müssen, um ihnen das Leben zu retten oder um sie davon abzuhalten, anderen ernsthaften Schaden zuzufügen, sollte niemand das Recht haben, ihnen irgendeine Art von Behandlung aufzuzwingen. Zum Schutz vor Zwangsbehandlung sollten Psychiatrische Testamente oder andere Vorausverfügungen (in denen steht, welche Form der Behandlung eine Person wünscht oder nicht wünscht, falls es zu einer Zwangseinweisung kommt) in allen Staaten und Ländern rechtskräftig werden.

Alternative Systeme und dezentrale Dienste müßten sich um die Bedürfnisse von Menschen mit psychosozialen Problemen in einer Weise kümmern, daß der Gebrauch von synthetischen und giftigen psychiatrischen Psychopharmaka minimiert und auf lange Sicht überflüssig wird.

Einen integrierten Teil eines zukünftigen, ökologisch und humanistisch ausgerichteten Gesellschaftssystems stellt der Verzicht auf toxische Stoffe in der Natur, im Wohnbereich, in der Ernährung und in der Medizin dar. Der Verzicht auf den Einsatz chemischer Gifte im psychosozialen Bereich könnte unter folgenden Gesichtspunkten entwickelt werden:

Die neue Antipsychiatrie in Deutschland wurde im wesentlichen von der Berliner Selbsthilfeorganisation Irren-Offensive e.V. entwickelt. Schon kurz nach ihrer Gründung 1980 hatten ihre Mitglieder, AkademikerInnen wie NichtakademikerInnen, Frauen wie Männer, den entwertenden Krankheitsbegriff über Bord geworfen. All die Schritte der ›alten‹ Irren-Offensive, nachzulesen in Tina Stöckles Buch »Die Irren-Offensive – Möglichkeiten und Grenzen antipsychiatrischer Selbsthilfe« (Stöckle 1983, 2000), sind inzwischen auch von einigen neugegründeten Gruppen in anderen Städten nachvollzogen worden oder werden zumindest teilweise angestrebt:

(Nichtangeleitete) Selbsthilfe zur Lösung psychischer Probleme und Verarbeitung verrückter (›psychotischer‹) Erfahrungen – unter Verneinung der Zuständigkeit von MedizinerInnen und unter Abwehr sexistischer Verhaltens- und Denkweisen

 

Veraltete und neue Antipsychiatrie im Konflikt

Letztlich spiegelt sich in der Entwicklung der Irren-Offensive in den letzten zwölf Jahren der Konflikt zwischen alter und neuer Antipsychiatrie. Nahezu alle ehemals antipsychiatrisch aktiven Mitglieder dieser Gruppe wechselten Anfang der 90er Jahre zum Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. und seinem Weglaufhausprojekt über, nachdem eine Reihe der damaligen Mitglieder zum Schritt von reiner Selbsthilfe hin zum Aufbau einer nutzerkontrollierten Alternative zur Psychiatrie ansetzten (Lehmann 1998). Während das 1996 in Berlin eröffnete Alternativprojekt durch seine Praxis Positionsklärungen ermöglichte bzw. erzwang, blieben die bei reiner Psychiatriekritik stehengebliebenen Mitglieder der neuen Irren-Offensive letztlich auf dem Szasz'schen Entwicklungsstand verhaftet: mit der Abschaffung der Psychiatrie würden die Probleme psychiatrisierter Menschen verschwinden.

So war es ›zufällig‹ die Person von Thomas Szasz, an der sich am 1. Mai 1998 dieser Konflikt konkretisierte. Im Jahr zuvor hatte der erzkonservative und mit den Scientologen eng verquickte Psychiater in Berlin sein Buch »Grausames Mitleid« präsentiert. Darin stellte er Psychiatriebetroffene auf eine Stufe mit Verbrechern und Landstreichern und forderte den Verzicht auf jegliche sozialstaatliche Tätigkeit, das Wahlrecht nur für Steuerzahler, dafür das Recht auf Armut, auf Obdachlosigkeit, Sucht und Drogentod für alle übrigen. Er formulierte unter anderem:

»Ein Individuum, das nicht produktiv werden kann oder will, muß ein Abhängiger oder ein Räuber werden oder zugrunde gehen. (...) Einfach ausgedrückt, jemand, der Diabetes oder Bluthochdruck hat, ist nicht notwendigerweise unproduktiv oder kriminell, während Personen, bei denen Schizophrenie oder antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, typischerweise unproduktiv sind und sich häufig in einer Weise verhalten, die als gesellschaftsfeindlich oder kriminell bezeichnet wird. (...) Die simple Wahrheit ist, daß manche Menschen es vorziehen, ihr Geld nicht für eine Behausung aufzuwenden (sondern vielleicht lieber für den Kauf von Drogen), daß sie es ablehnen, bei Familienmitgliedern zu wohnen, die bereit wären sie aufzunehmen, und ein Leben in psychischer Krankheit, Verbrechen und Landstreicherei bevorzugen.« (Szsaz 1997, S. 213, 211, 140)

In seiner Presseerklärung zur Einladung zum »Foucault-Tribunal«, einem von der ›neuen‹ Irren-Offensive 1998 in Berlin veranstalteten Tribunal gegen die Psychiatrie, schrieb der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V.:

»Sehr geehrte Damen und Herren von den Medien, wir möchten unseren Unmut ausdrücken darüber, daß beim ›Foucault-Tribunal‹ ausgerechnet Thomas Szasz als Vertreter der antipsychiatrischen Anklage auftreten soll bzw. sollte. Wir halten dies für einen Affront gegenüber Psychiatriebetroffenen, die Strategien entwickeln, um die psychiatrische Bedrohung abzuwehren und Möglichkeiten echter Unterstützung für Menschen in psychischen Notlagen sozialer Natur zu schaffen, die sich für den politischen Zusammenschluß mit anderen Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen einsetzen sowie für neue Formen des Lebens mit Verrücktheit, für Verrückten- und Weglaufhäuser.

Dabei sind die historischen Verdienste von Thomas Szasz um die Kritik der Psychiatrie unbenommen. Allerdings hat er in letzter Zeit, speziell in seinem Buch ›Grausames Mitleid‹, eine immer drastischere Wendung unternommen in Richtung Primitivstkapitalismus (sinngemäß ›Rechte nur für diejenigen, die Geld machen‹), wobei er zuletzt diejenigen, die am Ende der sozialen Hierarchie stehen, nämlich Psychiatriebetroffene und insbesondere wohnungslose Psychiatriebetroffene, als tendenziell kriminelle Sozialschmarotzer diffamiert und für die Abschaffung des Sozialstaats eintritt.

Am 1. Januar 1996 nahm das Weglaufhaus in Berlin-Reinickendorf seinen Betrieb auf. 13 obdachlose Psychiatriebetroffene, die das psychiatrische Netz verlassen haben und ihr Leben wieder in die eigene Hand nehmen wollen, finden für maximal ein halbes Jahr Unterkunft und Unterstützung bei der Bewältigung ihrer vielfältigen Probleme. Im Team arbeiten zehn Teilzeitkräfte (unter anderem SozialarbeiterInnen, ehemalige Psychiatriebetroffene, PsychologInnen). Die MitarbeiterInnen und BewohnerInnen finden es absurd, Thomas Szasz als antipsychiatrisches Zugpferd einzuladen und ihm publizistische Gelegenheit zu geben, weiter Wasser auf die Mühlen derer zu kippen, die derzeit den Sozialstaat demontieren. Szasz steht mit seinen Aussagen diametral entgegengesetzt zu den existentiellen Bedürfnissen vieler Psychiatriebetroffener nach sozialer Unterstützung. Insbesondere im Weglaufhaus, in dem weggelaufene wohnungslose Psychiatriebetroffene Unterstützung suchen, finanziert nach § 72 BSHG (›Hilfe in besonderen sozialen Schwierigkeiten‹), findet die Einladung von Thomas Szasz keinerlei Verständnis. Unklar bleibt auch, wie Angehörige der Freien Universität Berlin, die gegen Mittelstreichung im Bildungswesen eintreten, hinter der Einladung eines Mannes stehen, der offenbar in den USA eine solche Mittelstreichung publizistisch unterstützt und anscheinend letztlich den gesamten Staat privatisieren möchte – mit Ausnahme vielleicht von Gefängnissen, in die er am liebsten Psychiatriebetroffene gesteckt haben möchte (...).

Wir werden nicht sprachlos zusehen, wie das – auch von uns – mühevoll aufgebaute positive Image der neuen Antipsychiatrie zerstört wird von einigen Besserverdienenden, die möglicherweise gerne einfach im Rampenlicht stehen möchten und sich nicht um mögliche Konsequenzen ihres Tuns für die sozial Schwächsten kümmern. Deshalb sehen wir uns gezwungen, mit unserer Kritik an die Öffentlichkeit zu gehen. (...) Übrigens beschimpft Thomas Szasz nicht nur (Psychiater und) Psychiatriebetroffene als tendenzielle Feinde der Freiheit, sondern auch Kommunisten, Psychoanalytiker, Feministinnen und Laingianer.« (Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. 1998)

Die neue Antipsychiatrie in der Praxis

Wie die Ablehnung der psychiatrischen Ideologie den Blick auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit psychosozialen Problemen geradezu erzwingt – Empathie und Interesse für diese Menschen vorausgesetzt –, geht aus einem 2000 von Thilo von Trotha verfaßten Diskussionspapier des Weglaufhausteams hervor. Mit seiner Reflexion reagierten die MitarbeiterInnen auf spezifische Fragen, die ihnen häufig vor allem von Professionellen aus anderen Einrichtungen gestellt werden, wenn diese mit dem Weglaufhaus konfrontiert werden. Das Papier setzt daher schon gewisse allgemeine Kenntnisse über das Projekt voraus und gibt, für sich allein genommen, kein vollständiges und angemessenes Bild der Arbeit des Weglaufhauses, sondern beleuchtet nur einen sehr spezifischen Ausschnitt:

»Antipsychiatrie bedeutet für unsere tägliche Praxis, daß im Weglaufhaus der Schwerpunkt auf der Wahrnehmung, Entwicklung und Stärkung der Selbstbestimmung von psychiatrieerfahrenen Menschen liegt. Maßgeblich für die Unterstützung, die die BewohnerInnen des Weglaufhauses erfahren, sind die jeweils eigenen Vorstellungen der BewohnerInnen darüber, welche Formen der Beratung, der Hilfe und des Schutzes ihnen wünschenswert erscheinen.

Der psychiatrische Krankheitsbegriff und die entsprechenden Diagnosen spielen für die Arbeit mit den BewohnerInnen keine Rolle und werden von den MitarbeiterInnen als Arbeitsgrundlage prinzipiell abgelehnt. Die BewohnerInnen gelten weder als krank, noch als fremdbestimmt, sondern bleiben für ihr Leben, für ihre Handlungen und Äußerungen selbst verantwortlich. Einer der zentralen antipsychiatrischen Positionen besteht in der Überzeugung, daß es psychische Krankheit als medizinische Kategorie nicht gibt und daß mit der Diagnostizierung einer solchen ›Krankheit‹ neue Probleme erst geschaffen werden, statt bei der Lösung der bestehenden zu helfen.

Diese Position leugnet jedoch nicht – wie häufig fälschlich behauptet – den großen Bedarf an Unterstützung, Zuwendung und Beistand, den Menschen mit Erfahrungen von Verrücktheit, in Lebenskrisen und in den damit einhergehenden sozialen Existenznöten haben, im Gegenteil: Die Ablehnung der psychiatrischen Raster ermöglicht überhaupt erst einen unvoreingenommenen Blick auf die besonderen Schwierigkeiten der Einzelnen und führt zu einer radikalen individuellen Anpassung der jeweiligen Formen der Unterstützung an die spezifische Situation der Betroffenen. Eine zentrale Aufgabe der MitarbeiterInnen des Weglaufhauses besteht unter diesen Voraussetzungen darin, die Balance zwischen der Hilfebedürftigkeit und der Selbstverantwortung der BewohnerInnen immer wieder neu auszutarieren und Umgangsweisen zu finden, die beiden Aspekten so weit als irgend möglich gerecht werden, ohne dabei auf allgemeine Richtlinien oder Patentrezepte zurückgreifen zu können. (...)

Der Trägerverein hat die Konzeption des Weglaufhauses als praxisbezogene und um die Erfahrungen der Selbsthilfebewegung bereicherte Umsetzung antipsychiatrischer Positionen der siebziger und achtziger Jahre entwickelt. Das Weglaufhaus konnte sich so zu einem beschützten Ort entwickeln, an dem die Betroffenen meistens zum ersten Mal die Gelegenheit haben, zwischen Alternativen zu wählen und konkrete psychiatriefreie Lebensentwürfe auch praktisch zu erproben.

Ohne die antipsychiatrische Grundhaltung des Projekts und die daraus resultierende bewußte konzeptionelle Abgrenzung von psychiatrischen Diskursen und Praktiken würde sich das Weglaufhaus in einer psychosozialen Landschaft, die in aller Regel eng mit der Psychiatrie zusammenarbeitet, nach kurzer Zeit in wesentlichen Aspekten nicht mehr von Einrichtungen des sozialpsychiatrischen Versorgungsangebots unterscheiden und damit als Alternative entfallen.

In den Alltag des Weglaufhauses fließen antipsychiatrische Positionen unter anderem in folgende konkrete Verhaltens- und Arbeitsweisen ein:

Aus der antipsychiatrischen Kritik folgt keine eindeutige und detaillierte Handlungsanweisung für die Realisierung eines alternativen Ortes zur Bewältigung tiefgreifender sozialer und psychischer Krisen. Eine Institution, die lediglich Theorie und Praxis der Psychiatrie mit umgekehrten Vorzeichen zu ihrer eigenen machte, brächte sich um die Chance, etwas ganz Anderes und Neues in ihre Praxis zu integrieren. Deshalb ist das Weglaufhaus ein auf der Grundlage dieser Kritik konzipierter geschützter Ort, an dem die jeweiligen BewohnerInnen gemeinsam mit den MitarbeiterInnen und den Mitgliedern des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt die Praxis einer antipsychiatrischen Institution überhaupt erst hervorbringen, entwickeln und immer wieder revidieren.« (Weglaufhaus »Villa Stöckle« 2000)

Resümee

Vieles an Angeboten haben die wenigen antipsychiatrisch ausgerichteten Gruppen verständlicherweise nicht zu bieten. Sie haben notorisch zu wenig Geld und zu wenig MitarbeiterInnen. Psychiatriekritische Gruppen werden in aller Regel von staatlicher Förderung ausgeschlossen. Propsychiatrische Einrichtungen werden dagegen vom Staat und der Pharmaindustrie mit Milliardenbeträgen bedacht. Anliegen aller psychiatriekritischer Gruppen ist es deshalb, mit Spenden oder aktivem Engagement unterstützt zu werden. Das mindeste ist, ihr humanistisches Anliegen zu respektieren: Menschen in psychischen Nöten sozialer Natur nicht weiter den Anspruch auf Unterstützung und Hilfe zu verwehren, nicht weiter stumm zuzuschauen, wie diese Menschen elektrogeschockt oder mit synthetischen Psychopharmaka ruhiggestellt und als psychisch krank und damit als gemeingefährlich und behandlungsbedürftig, letztlich nicht mehr ernst zu nehmen, verunglimpft werden.

Nur wenn Psychiatriebetroffene in ihrem Streben nach Menschenrechten, rechtlicher Gleichstellung mit gesunden und kranken Normalen und nach finanzieller Absicherung und Unterstützung solidarisch unterstützt werden, kann sich an der jetzigen miserablen Situation etwas ändern. Ein klarer Blick auf die bestehenden Probleme soll dabei helfen.

Angesichts der fortschreitenden Organisierung von Psychiatriebetroffenen und der Konkretisierung der von ihnen entwickelten alternativen Konzepte gerät eine auf der Stelle tretende alte Antipsychiatrie in die Gefahr, sich trotz radikaler Positionen zum Bremsklotz zu entwickeln. Die bloße Kritik an psychiatrischen Menschenrechtsverletzungen, und mögen diese noch so drastisch sein, wird den Interessen und Problemen vieler Betroffener, die in ihren Nöten mangels Alternativen in der Psychiatrie Hilfe suchen, nicht mehr gerecht, wenn Alternativkonzepte und Organisationsformen der neuen Antipsychiatrie ignoriert werden.

Quellen

Arbeitskreis des Steering Committee on Bioethics des Europarates: »White Paper über den Schutz der Menschenrechte und der Würde von Menschen, die an einer Geistes-Störung leiden, insbesondere jener, welche als unfreiwillige Patienten in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind«, Diskussionspapier, Straßburg, 3. Januar 2000; siehe http://www.bpe.berlinet.de/infopool/recht/initiativen/white_paper/text.htm

Bach Jensen, Karl: »Entgiftung – im großen wie im kleinen. Für eine Kultur des Respekts«, in: Peter Lehmann (Hg): »Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin und Tranquilizern«, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1998, S. 337 – 344

Frank, Leonard Roy: »Elektroschock«, in: Peter Lehmann: »Schöne neue Psychiatrie«, Band 1: »Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996, S. 287 – 319

Lehmann, Peter: »Blinde Flecken in der sozialpsychiatrischen Wahrnehmung«, in: Soziale Psychiatrie, 25. Jg. (2001), Nr. 1, S. 10 – 14

Lehmann, Peter: »Schöne neue Psychiatrie«, Band 1: »Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996a

Lehmann, Peter: »Schöne neue Psychiatrie«, Band 2: »Wie Psychopharmaka den Körper verändern«, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996b

Lehmann, Peter: »Zum Davonlaufen. Wie die Weglaufhausgruppe entstand«, in: Kerstin Kempker: »Flucht in die Wirklichkeit – Das Berliner Weglaufhaus«, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1998, S. 30 – 37

Stöckle, Tina: »Die Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieopfern«, Frankfurt a.M.: Extrabuchverlag 1983 (Wiederveröffentlichung Berlin: Antipsychiatrieverlag 2000)

Szsaz, Thomas S.: »Grausames Mitleid. Über die Aussonderung unerwünschter Menschen«, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1997

Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. (Berlin): Presseerklärung zum »Foucault-Tribunal« vom 1. Mai 1998

Weglaufhaus »Villa Stöckle«: »Die Auswirkungen der antipsychiatrischen Konzeption auf die Arbeit im Weglaufhaus«, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2000

Peter Lehmann, Zabel-Krüger-Damm 183, D-13469 Berlin, Tel. +49-(0)30-85963706,
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