Josef Zehentbauer, Patrizia d'Onofrio, Francesco Tullio und Loranzo Toresini (1983)

Entnommen aus "Die Auflöasung der Irrenhäuser - oder die Neue Psychiatrie in Italien"

Herausgegeben vom Verlag der Arbeitsgruppe Psychologie München. (ISBN 3-924074-00-3)

ALS EINLEITUNG EIN GESPRÄCH MIT FRANCO BASAGLIA

Das Gespräch mit Franco Basaglia (1) fand im August 1979 in Triest statt. Aus der mehrstündigen Unterhaltung wurden die nachfolgenden, zusammenhängenden Textpassagen ausgewählt. An dem Gespräch nahmen außer Franco Basaglia auch Franco Rotelli (2), Giovanna Rotelli und andere Mitarbeiter Basaglias teil, als "Fragesteller" Francesco Tullio und Josef Zehentbauer.

Am 29,8.1980 ist Franco Basaglia im Alter von erst 56 Jahren verstorben. Wir werden ihn immer in Erinnerung behalten.

In dem folgenden Gespräch äußerte sich Franco Basaglia über die Erfahrungen der "Neuen Psychiatrie" in Italien während der letzten Jahre, über die antitherapeutischen Eigenschaften des Irrenhauses, die Rolle der Krankenschwestern und Pfleger, die Situation nach dem Gesetz Nr. 180 und vor allem über die mögliche Bedeutung der italienischen Erfahrungen für die dringend notwendigen Änderungen in der deutschen Psychiatrie.

Frage:

Die begonnenen radikalen Änderungen im Irrenhaus von Gorizla konnten damals oft nur gegen den Widerstand der konservativen Stadtverwaltung durchgesetzt werden. Dagegen hier in Triest hat die - ebenfalls konservative - Provinzregierung die allmähliche Auflösung des Irrenhauses nicht nur gebilligt, sondern auch weitgehend unterstützt.

Wenn man überhaupt die Lage der Psychiatrie in Italien und der BRD vergleichen kann~ dann scheint uns - trotz aller Vorbehalte - die Lage in den konservativ regierten Provinzen Italiens den deutschen Verhältnissen noch am ähnlichsten. Dabei ist uns klar, daß der sozialpolltische Hintergrund beider Länder sehr verschieden ist; es geht auch gar nicht darum, irgendein italienisches Psychiatrie-Modell in die BRD exportieren zu wollen.

Sowohl in konservativ regierten Provinzen ('province blanche') wie in sog. roten Provinzen ('province rosse') wurde bereits vor dem Gesetz Nr. 180 (über die Auflösung der Irrenhäuser etc.) für eine grundlegende Änderung der psycho-sozialen Versorgung gekämpft. Ist Deiner Ansicht nach die psycho-soziale Versorgung in den konservativ regierten Provinzen erheblich anders als in den roten Provinzen, war es für den Kampf um eine 'Neue Psychiatrie' in den verschiedenen Teilen Italiens entscheidend, ob die zuständigen Provinzverwaltungen konservativ oder links waren?

Franco Basaglia:

Das ist schwer zu beantworten. Natürlich ist es wichtig, in welchem Ausmaß eine Provinzverwaltung mitarbeitet und Unterstützungen gewährt. Aber dabei kommt es nicht so sehr auf die Provinzverwaltung als Ganzes an, ob sie rot ist oder konservativ - viel wichtiger ist die Einstellung der einzelnen Menschen, die in der Provinzverwaltung arbeiten.

In Trlest zum Beispiel haben wir eine offene Haltung vorgefunden, hier sind wir in der Provinzverwaltung usw. auf Leute getroffen, die klug und erfahren genug waren, um uns zu unterstützen. Man kann auch nicht sagen, daß die ganze Provinzverwaltung und schon gar nicht die ganze Provinz von Trlest konservativ war, selbstzverständlich gab es da auch Kommunisten usw..

Es ist nicht richtig, wenn man behauptet, daß es in den roten Provlnzen leichter war, Alternativen aufzubauen oder daß es da sehr viel weniger Schwierigkeiten mit der Verwaltung gegeben hätte. Außerdem finden wir nur wenige Provinzen, die ausschließlich rot sind, so wie vielleicht Perugla oder Parma. In einigen Provinzen haben Rote und Konservative zusammen den Aufbau von Alternativen unterstützt, wie zum Beispiel in Arezzo; dann gibt es auch rote Städte, wo nach wie vor eine ziemlich traditionelle Psychiatrie herrscht.

Stellt Euch vor, die roten Provinzen seien besser dran als die konservativent was die psychosoziale Versorgung angeht: das ist doch Unsinn; wenn ihr das irgendwo hört, dann ist das nur eine Propaganda der KPI. Ich wiederhole: In Triest haben wir es besser gemacht als in irgendeinem anderen Ort, und das mit einer konservativen Provinzregierung.

Ihr habt vorher auch von der deutschen Psychiatrie geredet, von eventuellen Ähnlichkeiten. Es ist klar, daß man die Psychiatrie In der BRD und in Italien nicht einfach vergleichen kann. Aber warum wollt ihr denn in der BRD die Psychiatrie überhaupt ändern, Eure Psychiatrie erfüllt doch ganz brav ihre Aufgabe? Außerdem sind Eure Irrenhäuser schöner als die unseren, einige scheinen sogar angenehm gebaut und gemütlich eingerichtet- vielleicht kann man in Euren Irrenhäusern sogar einigermaßen leben, ohne gleich zugrundezugehen. Wißt ihr, wie die Irrenhäuser bei uns ausgesehen haben?

Frage:

Irgendwie magst Du ja sogar recht haben, es gibt in der BRD tatsächlich einige scheinbar ganz komfortabel eingerichtete Irrenhäuser, wie zum Beispiel das in Weinsberg bei Heidelberg. Diese Sorte von Irrenhäusern eignet sich außerdem hervorragend dazu, den 'Psycho-Tourlsten' vorgeführt zu werden.

Aber Du weißt selbst, daß die Mehrzahl der psychiatrischen Anstalten in der BRD in einem katastrophalen Zustand sind. Ein Bericht zur Lage der deutschen Psychiatrie, die sog. Psychlatrle-Enquete, die vor ca. fünf Jahren fertiggestellt wurde, dokumentiert eindrucksvoll das Elend, das in der Mehrzahl der etwa 130 deutschen psychiatrischen Anstalten vorherrscht. Von den knapp 100.000 Menschen, die in der BRD in psychiatrischen Anstalten untergebracht sind, werden mehr als die Hälfte in geschlossenen Stationen verwahrt; in den meisten Anstalten finden wir die übelsten psychiatrischen Represslons-Methoden wie Festbinden im Bett, Elektroschock usw..

Der Schwerpunkt der begonnenen Psychiatrie-Reformen in der BRD liegt in der Verbesserung, der Verschönerung der Anstalten, ohne aber die Anstalten selbst in Frage zu stellen. Ja, man finanziert sogar Erwelterungsbauten und Neubauten von Irrenhäusern, sogar neue Irrenhäuser für Kinder werden errlchtet, wie z.B. in Würzburg.

Franco Basaglia:

Ich frage mich, warum die Situation der Psychiatrie in der BRD so schlimm, so rückständig ist.

Ich habe darüber mal den Häffner gesprochen und er sagte - so ungefähr - daß die meisten Psychiater während des Faschismus eine sehr dubiose Rolle gespielt haben. Wenn auch manche nach dem Krieg nicht mehr lange gearbeitet haben, viele scheinen doch weitergearbeltet zu haben, und alle zusammen haben das Klima der Nachkriegs-Psychlatrie in der BRD geschaffen, zum Beispiel durch die Auswahl sogenannter Behandlungsmethoden, durch die Ausbildung der jüngeren Psychiater usw.

Frage:

Es ist ja bekannt, daß nicht nur die Psychiater ihre im Faschismus begonnene Tätigkeit nach dem Krieg in der BRD fortsetzen konnten, auch viele der während des Faschismus ernannten Richter, Lehrer, Unlversltätsdozenten, Generäle usw. erhielten in der BRD wieder führende Positionen ...

Franco Basaglia:

Ich kann das nicht ganz verstehen. Ich frage mich, warum gerade die westdeutsche Psychiatrie so reaktionär ist? Die BRD ist das wirtschaftllch stärkste Land in der EG, mit dem meisten Geld, mit dem höchsten Lebensstandard. Die BRD ist auch politisch in der EG tonangebend. Und die Psychiatrie?

Es genügt nicht mehr, irgendein Psychiatrie-Modell, z.B. so etwas wie die Sozlalpsychlatrle, zu nehmen und nach diesem Muster Änderungen durchsetzen zu wollen - das wird nichts. Man muß nach den Ursachen der Psychlatrle-Mlsere suchen, die eigene Geschichte aufarbeiten. Und Jedes Land hat eben seine eigene Geschichte.

In Italien war es offensichtlich, daß wir uns in einer totalen Misere befanden, aber die hat sich im Laufe der Zeit geändert, dank der Formlerung einer gut organisierten Arbeiterklasse, die immer stärker und stärker geworden ist. Das war eine Zelt des verschärften Klassenkampfes, die für Italien enorm wichtig war und die vieles ermöglicht hat. Damals entstanden auch zahlreiche Bewegungen, die schließlich zu den Rebellionen von 1968 führten.

Eigentlich können wir den anderen Ländern keine Erklärungen geben, wir sind nicht 'besser' als die anderen. Vielleicht sind die Deutschen die tüchtigeren Psychiater, die besseren Techniker, als Psychoanalytiker, als Chirurgen, als Psychologen. Vor allem als Techniker, als Spezialisten mögen sie ja ausgezeichnet sein - also, was können wir ihnen schon geben als die praktischen Erfahrungen, die wir gemacht haben und die wir noch machen werden. Durch andere Techniken, durch ein neues Spezialistentum läßt sich die Psychlatrle-Misere nicht beseitigen, da braucht man schon die Unterstützung durch politische Gruppen usw..

Von England kamen auch irgendwie wertvolle Beiträge für die Änderung der Psychiatrie, auch von Frankreich, aber von Deutschland? Deutsche Vorstöße für eine Änderung der Psychlatrle-Mlsere? Nichts, gar nichts, eigentlich komisch.

Frage:

Harte und schonungslose Kritik an den unmenschlichen Zuständen in den psychiatrischen Anstalten gibt es in der BRD durchaus. Die vorher schon erwähnte 'Psychlatrle-Enquete', immerhin von der Regierung in Auftrag gegeben, ist eigentlich eine umfangreiche Anklageschrlft. Aber die Konsequenzen waren und sind sozlalpsychlatrlsche Reförmchen, die gar nichts oder zu wenig ändern. Natürlich gibt es eine ganze Reihe engagierter Einzel-Versuche, die psychiatrische Versorgung irgendwie zu verbessern. Einige Ansätze in Wunstorf oder Häckllngen könnte man in diesem Zusammenhang nennen oder auch viele andere, weniger bekannte Initiativen in den verschledenen Landes-Krankenhäusem.

Auch Gruppen von Freiwilligen, die außerhalb und oftmals auch gegen die instltutlonalislerte Psychiatrie arbeiten, spielen in der psychosozlalen Versorgung eine erhebliche Rolle (im Gegensatz zu Italien, wo es nur wenige solche Gruppen gibt).

Es ist klar, daß wir in der BRD einen anderen sozlalpolltischen Hintergrund haben als Italien, beispielsweise behandeln die großen Partelen und die Gewerkschaften die Situation der Psychiatrie nur wie ein unbedeutendes Randthema.

Franco Basaglia:

Die Bevölkerung müßte mehr polltisiert werden, in alle Diskussionen mlteinbezogen werden, gemeinsame Versammlungen in den Stadtteilen müßten organisiert werden, gemeinsame Aktionen usw.. So allmählich würde dann ein geeigneter sozialpolitischer Hintergrund geschaffen werden. Aber nicht so, nicht so wie es das SPK gemacht hat, das war ein Schlag ins Wasser, auch der Text von ihnen ist Unsinn, das war keine richtige Strategie, so kann man zu keinem brauchbaren Ergebnis kommen.

Frage:

Sicherlich waren manche Aktionen des SPK und auch der Text den meisten Menschen unverständlich, zu abgehoben und elitär. Aber man muß auch sehen, daß viele Maßnahmen des SPK sich gar nicht entfalten konnten, weil sie vorzeitig von staatlichen Institutionen unterbunden oder sogar krlminalislert wurden.

In der Folgezeit wurden dann ähnliche Aktionen und Initiativen anderer Gruppen, die auch eine radikale Änderung der Psychiatrie zum Ziel hatten, kaum mehr finanziell unterstützt, die meisten wurden in ihrer Arbeit behindert oder ebenfalls kriminallsiert.

Franco Basaglia:

In Italien ist das vielleicht einfacher, weil eben viele politische Gruppen umfassende Ausdrucksmögllchkeiten haben, ihre politischen Standpunkte wirksam verbreiten können. Aber, wie gesagt, das ist eben italienische Geschichte, das ist die italienische Situation, das kann nicht als Beispiel oder Modell übertragen werden.

Frage:

Das ist klar. Aber die Irrenhäuser mit ihren unmenschlichen Bedingungen, ihren vielfältigen Repressionen gibt es sowohl in Italien wie in der BRD die bestehenden Unterschiede sind dabei nicht wesentlich.

Die antitherapeutlsche Eigenschaft der psychiatrischen Anstalten ist offensichtlich, und ihre allmähliche Auflösung ist sicherlich der einzig logische Weg, dieses Elend zu beenden.

Die Auflösung der Irrenhäuser wird sich irgendwann in der BRD zweifellos auf eine andere Art und Weise vollziehen als wir es jetzt in Italien beobachten können, Deshalb kann man aber trotzdem die in Italien gemachten Erfahrungen mltverwerten.

Franco Basaglia:

Ja, das ist schon rlchtlg. Elgentlich ist ja überall bekannt, daß Irrenhäuser nicht hellen, sondern zerstören, Klar, das Irrenhaus ist eine völllg überholte Elnrlchtung, und jedes Land muß sehen, wie es damit fertlg wlrd.

In Italien slnd dle starken Gegensätze innerhalb der Gesellschaft schon immer deutllch gemacht worden. Dadurch ist vlelen auch klar geworden, daß belsplelswelse dle Sltuatlon der Psychlatrle unerträgllch geworden ist. Dann slnd allmähllch Altematlven entstanden, die CIM zum Beispiel (das sind sozlalpsychlatrlsche Ambulatorien). Aber diese alternativen Elnrlchtungen sind in Italien nicht 'gemacht' worden, sondern sie slnd gewachsen. Was aber zum Beisplel in Hannover aufgebaut wurde, das ist eine ganz andere Sache, das hat andere Hlntergründe.

In Deutschland ist eln entscheidendes Problem, daß immer noch nicht klar ist, immer noch nlcht entschieden ist, die Irrenhäuser abzuschaffen. Das helBt, es müßte wenigstens ein Programm da seln, das dle Auflösung der Irrenhäuser fordert. Sonst hat das ganze keinen Slnn, versteht Ihr, was ich meine?

Innerhalb des Berelchs, den wir Psychlatrle nennen, ist bewiesen worden, daß die Verwahrung in Anstalten nlcht 'hellt', sondern zerstört. Normalerwelse ist das Irrenhaus der Zufluchtsort von Unglückllchen, dle nlcht mehr leben können, dle nlchts mehr zu essen haben, dle von der Polizei usw. verfolgt werden etc..

Und das Irrenhaus ist dann noch der einzige Ort, der diesen Leuten noch offen blelbt. Aber für den psychisch Gestörten brlngt das Irrenhaus nlchts anderes als elne Verschllmmerung seiner Störungen.

Frage:

Dle meisten deutschen Psychlater sind davon allerdings nlcht überzeugt.

Franco Basaglia:

Ich weiß, daß sle davon nlcht überzeugt sind. Sie verwechseln Armut und Elend mit psychischem Leiden. Sie verwechseln zwei Aspekte: Ein Mensch ist bedürftig, fühlt sich elend und schlecht, und sie sagen, er ist schizophren.

Das Problem ist, wie kann man Armut, Elend usw. und psychisches Leiden auseinanderhalten?

Die Frage ist nicht, ob die Irrenhäuser gut sind oder schlecht - sie sind schlecht. Seit die Irrenhäuser gegründet worden sind, spricht man ständig von notwendigen Reformen. Es ist offensichtlich, daß die Irrenhäuser schaden, daß sie die Patienten zerstören. Und man sagt schon seit 20 Jahren, daß es notwendig ist, diese Anstalten irgendwie aufzulösen. Also, ist doch wunderbar, lösen wir das Irrenhaus auf. Aber: Es bestehen dermaßen viele soziale Probleme außerhalb des Irrenhauses, daß es nötig ist, anstelle des Irrenhauses etwas anderes aufzubauen - weil eben die Gesellschaft noch nicht in der Lage ist, sich von heute auf morgen zu ändern, die Absonderung abweichender Menschen zu überwinden. Also brauchen wir anstatt des Irrenhauses alternative Einrlchtungen. Aber diese Einrlchtungen sollten nicht 'gemacht' werden, sie müßten aus Notwendigkeit entstehen, wachsen, etwa wie das Zentrum in der Via Gambini entstanden ist. Ja, das ist eine beispielhafte Geschichte: Das Haus für dieses Zentrum wurde von Psychiatrie-Mitarbeitern und Patienten besetzt. Das heißt also, dieses Zentrum war auch notwendig, sonst hätte man auch nicht die vielen Mühen und Risiken auf sich genommen. Ein Jahr lang haben die Leute dann in diesem Zentrum ohne Licht, mit Laternen gelebt, weil die Stadtverwaltung den Strom gesperrt hat. So allmählich hat man sich eingerichtet, und die Leute im Stadtteil haben die Notwendigkeit dieses Zentrums gefühlt, und das ist wichtig: Dieses Zentrum hat sich also allmählich entwickelt und ist offensichtlich eine 'natürliche' Alternative, nicht eine künstlich geschaffene Alternative. Ich weiß nicht, ob dieses Beispiel klar genug ist.

In der BRD ist es wichtig, die politischen Kräfte durch Bündnisse miteinzubezlehen und alle wichtigen Aktionen zu politisieren. Zum Beispiel in dem Moment, in dem du sagst, das Irrenhaus muß aufgelöst werden, wirst du alle deine Aktionen politisieren.

Wenn ihr allerdings so kämpft wie das SPK, dann ist es klar, daß ihr zerstört werdet. Dennoch ist das SPK historisch gesehen wichtig gewesen in den 60er Jahren, weil es zum ersten Mal die gesamte deutsche Psychiatrie in Frage gestellt hat.

In Italien war das, wie gesagt, alles ganz anders. Auch die Entwicklung der Psychiatrie in England und Frankreich hat nach dem Krieg eine grundlegend andere Richtung genommen. Mag sein, vielleicht war das Ziel ähhnllch, aber die Praxis zeigt, daß man es nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Frankreich nicht geschafft hat, sich dem Problem des Irrenhauses zu stellen - man hat nur die Represslon innerhalb des Irrenhauses geändert oder vermindert, aber nie wurde ernsthaft die Abschaffung des Irrenhauses diskutiert. In Italien war und ist die Abschaffung des Irrenhauses der zentrale Punkt überhaupt. Und das Ist auch die notwendige Voraussetzung, um einen alternativen Kampf beginnen zu können.

Ohne die Irrenhäuser abzuschaffen, ist es unmögllch, wirklich alternative Einrichtungen aufzubauen.

Ich will damit sagen, daß jede Institutionalisierung eines Problems dich hindert, dich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Zum Beispiel die Familie als Institution hindert dich daran, deine eigene Funktion, deine eigene Problematik zu erkennen.

Das gleiche gilt für den psychisch Kranken: Du kannst dich seinen Problemen nicht stellen, solange seine Probleme institutionalisiert sind, er im Irrenhaus ist und einer totalen sozialen Kontrolle unterliegt. In dem Augenblick, in dem du das Irrenhaus abschaffst, siehst du überhaupt erst das Problem, nämlich das Problem des Wahnsinns. Und wie willst du dich mit dem Problem des Wahnsinns auseinandersetzen? Das wird dann der entscheidende Punkt sein.

Das Irrenhaus ist zwar meist nicht mehr so organisiert wie ein Gefängnis, aber die Leute, die im Irrenhaus die Macht haben, wollen sie auch nicht verlieren. Und um die Macht nicht zu verlieren, müssen sie sich eine andere Art von sozialer Kontrolle einfallen lassen. So entstehen viele Widerstände gegen die Auflösung der Irrenhäuser.

Das Irrenhaus ist eigentlich eine völlig abstrakte Einrichtung: Zum Beispiel in einer Stadt wie Rom mit vier Millionen Einwohnern gibt es das Irrenhaus Santa Maria della Pletä mit 2000 Betten. Aber was willst du denn mit 2000 Irrenhaus-Betten für eine so riesige Stadt. Wer weiß, wieviel Verrückte in Rom leben, wahrscheinlich bräuchte man ein Irrenhaus mit 20.000 Betten!

In Wirklichkeit ist die ganze Irrenhaus-Psychiatrie eine Farce - man sagt den Leuten: Da ist ein Irrenhaus, ihr könnt ganz beruhigt sein. In Wirklichkeit aber laufen die meisten Verrückten frei herum. Das Irrenhaus hat also nur eine symbolische Funktion. Die Schwierigkeit ist, daß du dieses Symbol zerstören mußt, aber wahrscheinlich mußt du dafür ein anderes Symbol schaffen ...

Wenn es nicht die Unterstützung durch politische Gruppen gegeben hätte, die sich für die Auflösung der Irrenhäuser mit eingesetzt haben, hätte man nie anfangen können, die Irrenhäuser zu beseitigen. Wir hätten wahrscheinlich das gemacht, was man in Frankreich und England machte, wo man sich neuer Techniken bediente und die dadurch entstehende Situation dann als alternativ bezeichnete, d.h. die instltutionallslerte Psychotheraple in Frankreich und die therapeutische Gemeinschaft in England usw..

Hier in Italien ist noch alles offen, man weiß nicht, was kommen wird, nachdem das Gesetz Nr. 180 verabschiedet worden ist, man diskutiert weiterhin über die Anwendbarkeit und Nicht-Anwendbarkeit dieses Gesetzes.

Will man die Gesundheitsversorgung in einem Land ändern, muß man auch die Qualität des Alltagslebens ändern - aber ist die BRD in der Lage, die Qualität des Alltagslebens zu ändern? Denn wenn sie nicht die Qualität des Alltagslebens ändert, ist es schwierig, die Gesundheitsversorgung grundlegend zu ändern. Mit Sicherheit ist in Deutschland das Geld da, um die Gesundheitsversorgung zu ändern - dann müßte aber auch, wie gesagt, die Qualität des Alltagslebens geändert werden.

Frage:

Eine ganz andere Frage: Welche Rolle spielen die Schwestern und Pfleger in den sogenannten alternativen Einrlchtungen, welchen Einfluß haben sie überhaupt auf die langfristige Arbeit eines CIM (= psychosozlales Ambulatorium), z.B. hier in Trlest? Welche Entscheldungen können sie treffen, ohne die Psychiater fragen zu müssen?

Franco Basaglia:

Welche Entscheidungen treffen Schwestern und Pfleger zum Beispiel, wenn ein Patient sich in einer Krise befindet? Treffen sie dann eine medizinische, eine soziale oder eine politische Entscheidung? Das ist das Problem.

Wenn ihre Entscheidung dazu führt, dem Patienten Psychopharmaka zu geben, dann handeln sie wie "kleine Ärzte", sie sind also in der Lage, die Ärzte nachzuahmen.

Was ihr wollt, wäre ein Schritt vorwärts - aber was in Wirklichkeit dabel rauskommt und was so aussieht wie Gleichberechtigung, ist nichts anderes als eine Identifizierung mit Ärzten.

Einen anderen Gesichtspunkt halte ich für wichtiger: Wenn sich Schwestern und Pfleger mit dem psychischen Problem eines Patienten auseinandersetzen, dann tun sie das, als wäre es ihr eigenes Problem; sie haben das, was man Einfühlungsvermögen nennen könnte. Im Bildungsgut der Psychiater finden wir alles nicht. Wenn sich Psychiater mal nicht einmischen dann kann man sehen mit wieviel Faszination und Engagement Schwestern und Pfleger einen Patienten behandeln. Sie wollen das psychologische Problem eines Patienten lösen, als wäre es ihr eigenes.

Als Psychiater jedoch setzt du bei der Behandlung eines Patienten immer etwas ein, was du schon mal ausgearbeitet hast. Du als Person hältst dich heraus aus der Beziehung zu dem Patienten und seiner Behandlung. Das ist Bestandteil deiner anerzogenen Kultur, da kannst du nichts dagegen machen.

Die Selbstkontrolle der Schwestern und Pfleger besteht letztendllch darin, daß sie die Lösung von psychologischen Problemen eines Patienten an ihrer eigenen Situation und an ihren eigenen Erfahrungen messen. Dieses Niveau erreichst du als Psychiater nie weil du von einem "höheren" Niveau ausgehst, wenn du dich mit einem Patienten auseinandersetzt, einem Niveau theoretischer Selbstverwirklichung, das du niemals in Frage stellst.

Frage:

Eine letzte Frage: Was hat sich nach dem Gesetz Nr. 180 Entscheidendes geändert? Haben z.B. progressive Initiativen jetzt mehr Spielraum, mehr Möglichkeiten für den Aufbau alternativer psychosozialer Elnrlchtungen als vor dern Gesetz?

Franco Basaglia:

Auf nationaler Ebene arbeitet schon der größte Teil der Mitarbeiter für die Verwlrkllchung des Gesetzes, also für die Auflösung der Irrenhäuser etc.. Vor dem Gesetz sagten viele: "Ah ja, sehr, sehr schön, dieses und jenes würden wir auch gerne machen, aber das Gesetz erlaubt es uns nicht. Das hat sich geändert.

Nun, die progressiven Bewegungen und Initiativen haben schon vorher entscheidende Änderungen verwirklicht. Aber vielleicht haben sie jetzt durch das Gesetz mehr Möglichkeiten erhalten.

Ohne Zweifel hat das Gesetz Nr. 180 einige Vorteile mit sich gebracht, wenn wir nur an die Tatsache denken, daß sich die Anzahl der stationären Aufnahmen erheblich vermindert hat und daß die Zangseinweisungen schon im ersten Jahr auf die Hälfte zurückgegangen sind. Das sind immerhin zwei wichtige Punkte.

Einige Verrückte, die vorher ins Irrenhaus gebracht worden wären, leben jetzt auf den Straßen und Plätzen. Das Problem für diese Menschen ist nicht ihre angebliche Geisteskrankheit, sondern ihre Armut und ihr Elend. Aber selbst das Leben auf der Straße ist immer noch besser als die Verwahrung in irgendeinem Irrenhaus.

 

(1) und (2) Franco Basaglla war bis Ende 1777/1780 Leiter der psychosozla[en Einrich.

tungen in Trlest und übernahm dann bis zu seinem Tod ähnUche Aufgaben in Rom. Sein Nachfolger in Trlest wurde Franco Rote[iio

(3) Hervorhebung durch die Verfasser,