Ivy Anger (2002/01)

gespiegelt aus "Soziale Psychiatrie" (1/2002)

Des Kaisers neue Kleider - Eine Modediagnose im Schatten postmodernen Aberglaubens

Eigentlich ist dies ein Exkurs über die Macht des Glaubens. Dabei nehme ich als Ex-Betroffene Rückbezug auf das so genannte »Borderline-Syndrom«, auch »Borderline-Persönlichkeitsstörung« (im Folgenden mit dem Kürzel »BL« bezeichnet) genannt. Die Palette der BL-Begriffe hat Hochkonjunktur. Ihr inflationärer Gebrauch zeugt von beträchtlicher Aktualität; gleichzeitig erfolgt zunehmende Trivialisierung. Aus der psychiatrischen ist längst eine gesellschaftspolitische Kategorie geworden, die sich im Dienste der Sozialkritik vorzüglich instrumentalisieren lässt. Des Kaisers neue Kleider? Nun, eines steht für mich fest: Diagnosen, mögen sie auch als noch so »wissenschaftlich fundiert« gelten, funktionieren nur auf der Basis kollektiven Glaubens ... oder sollte ich sagen Aberglaubens?

Begegnung mit einem Phantom

Immer wieder gehen am Beratungstelefon der Selbsthilfeorganisation, der ich angehöre1, Anfragen Betroffener ein, die viel eher Appelle, ja Hilfeschreie sind. Solche Anrufe erinnern mich an mich selbst: an die Stadien, die ich von der Erstdiagnose an durchlief, an Ratlosigkeit, Konfusion, Verzweiflung. Meine nähere Befassung mit dem Artefakt »BL-Syndrom« und der Frage, was genau darunter zu verstehen sei, stiftete anstelle komplexitätsreduzierender Ordnung ein heilloses Chaos: Was ich da kennen lernte, war ein Phantom, eine unbesiegbare Hydra mit immerfort nachwachsenden Köpfen. Ich litt unter dem Eindruck inneren Fragmentiertseins einschließlich seltsamer weißer Flecken auf meiner Gedächtnislandkarte, an Selbstentfremdung, dem Gefühl innerer Leere und abrupten Stimmungsumschwüngen? Typisch BL! Sexuelle Exzesse, Depressionen, chronische Suizidalität? Dito! Ganz zu schweigen von Intrusionen, Impulsdurchbrüchen, Hyperarousalund Burnout-Phasen, regressiven Rückzügen, Reizüberflutungs-, Depersonalisationsoder Zuständen sensorischer Deprivation, dissoziativen Absenzen, selbstverletzendem Verhalten, Bindungs- und Verlustängsten, Schlaf- und Essstörungen etc. – alles, alles qualifizierte mich für diese eine Schublade, der ich so bald nicht mehr entkam.

Zu Recht ist BL, dies zeitgeistgezeugte Kunstprodukt, auch in Fachkreisen sehr umstritten und gelangt vielfach als Verlegenheits-, ja Abfalleimerdiagnose zu zweifelhafter Anwendung. Anscheinend besteht das nosologisch Typische gerade im mannigfaltig Atypischen. Die enorme Bandbreite möglicher, chamäleonhaft changierender Erscheinungsformen in krass schwankenden Intensitätsgraden lässt selbst grundlegende Grenzziehungen zwischen »Neurose« und »Psychose«, »gesund« und »krank« bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. In solcher Lesart stimmt also etwas nicht mit dem Konstrukt namens »BL-Störung«. Welche Ironie, dass der gedankliche Boden, dem es entsprießt, sich seinerseits als gespalten und spaltend entpuppt!

Der Störungsbegriff: Wer stört wen?

Diagnosen – vor allem psychiatrische – dienen unserer Gesellschaft als Polarisationsfilter für unbequem Ungewöhnliches, sozial Unerwünschtes. Pathologisierung und Medikalisierung helfen, eine Fiktion als allgültigen Bewertungsmaßstab zwischenmenschlichen Umganges aufrechtzuerhalten: das ominös »Normale«. So erfüllt auch die Erfindung der »BL-Störung« Basisbedingungen zur Identifizierung und Infantilisierung, Entmachtung und Ausgrenzung bestimmter Dissidenten. Durchoperationalisierte Erkennungsschemata wie ICDs und DSMs mögen sich als nützliches Koordinatensystem erweisen, verleiten jedoch dazu, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Nützlich, mag sein, aber für wen? Gewiss am wenigsten für die, die die Patientenrolle spielen. Das Aufbegehren Betroffener nimmt nicht wunder: Wo akademische Erkenntnis Menschen diffamiert und Autonomieverlust Programm ist, bleiben Frustration und Konsensverweigerung nicht aus.

Seit jeher haben Menschen Finger, die auf den Mond zeigen, für den Mond selbst erklärt und sich im Garn ihrer eigenen Abstraktionen verfangen. Es braucht wenig Weitblick, um zu sehen, wie Glaubensinhalte immer wieder als vermeintlich gesichertes Wissen feilgeboten und Häresie mehr oder minder bestraft worden ist – und wie sich im Wandel der Zeiten eins ins andere wendete. Gleichwohl sind Modelle, Theorien und Paradigmen für Menschen da und nicht umgekehrt. Es genügt nicht, Symptome zu beschreiben, sie patchworkartig zu klittern und lege artis zu verteilen. Es genügt allenfalls den Kriterien aristotelischer Logik, die angesichts anthropologischer Ambiguität ohnehin kläglich versagt. Bei jedem Blick über den Tellerrand springt der Willkürfaktor solch selektiver Wahrnehmung ins Auge: Manche Spielarten nonkonformen Verhaltens von beträchtlicher antisozialer Sprengkraft – z.B. »Ausländerhass« oder rechtsradikale Denke – obliegen traditionell (nur) der Strafjustiz, während man andere, auch vergleichsweise harmlose Regelwidrigkeiten, der fachlichen Zuständigkeit forensischer Psychiatrie zuweist und damit als genuin krankhaft abstempelt. Einzusehen ist das keineswegs. Warum werden »Stimmenhörer«, die niemandem etwas tun, wider Willen fahrplanmäßig pharmazeutisch stummgeschaltet, während die Terrorismusparanoia, die aktuell grassiert (und der die Mehrheit anstandslos demokratische Grundrechte opfern würde), sich mit breiter Akzeptanz durchsetzen kann?

Bloßer Zufall? Wohl kaum. Konvention? Schon eher, und unbedingt Grund zum Nachdenken. Wie geht es zu, dass in einer Ära permanenter öffentlicher Selbstinszenierung und obsessiver Ichbezogenheit nur wenige den Borderline-Stempel verpasst bekommen? Worin besteht ihr angebliches Mehr an »narzisstischer Persönlichkeitsstörung«, worin die unterstellte Gefährdung?

Mehr als über das Leiden an sich scheint mir die Modediagnose »BL« etwas über gesamtgesellschaftliche Bedürfnislagen samt zugehöriger Kompensationsmechanismen auszusagen. Regelmäßig beantworten wir die Urangst vor dem »Fremden in uns«2 mit Feindbild-Projektionen, d.h. mit Stereotypisierung – naturgemäß auf Kosten bestimmter Zielgruppen. In solchem Fokus mutiert die so genannte »Störung« unter der Hand zum Gegner, den es zu bekämpfen gilt, und der Störungsträger zum heimlich gehassten Objekt, welches das ihm zugedachte Stigma auch noch billigen soll.

Im Prokrustesbett der Therapie

Wie oben erwähnt zieht, wer einmal auf »BL-Syndrom« erkannt wurde, in einer gegebenen Behandlungssituation mit hoher Antizufallswahrscheinlichkeit den kürzeren. Die Eigendynamik selbsterfüllender Prophezeiung entfaltet sich entlang dem schlechten Image der Betroffenen. Es leuchtet ein, dass ein Krankheitsmodell, dem das Omen der Therapieresistenz anhaftet, seinen Schatten vorauswirft. Nicht nur in Fachkreisen sind als »Borderliner« etikettierte Personen als »intrigant«, »querulatorisch« bzw. ausgemachte »Therapeutenkiller« verrufen und unterliegen automatischem Vorausverdacht. Analoges passiert spiegelverkehrt. »Borderliner« wissen über sie betreffende Klischees in aller Regel bestens Bescheid, was zu ihrem Wohlbefinden nicht notwendig beiträgt. Wie viele, die irgendwann arglos einen Psychiater konsultieren, mögen sich wohl mittelfristig in derlei suggestiven Fallstricken verfangen? Wäre da eine groß angelegte Studie zum Zweck der Qualitätssicherung (und, wer weiß, nebenbei auch zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen) nicht überfällig? Haben wir denn aus dem »Rosenhan-Experiment« 3 wirklich gar nichts gelernt?

Das geflügelte Wort von der Psychiatrie als Krankheit, für deren Kur sie sich erklärt, passt leider gut ins Bild. Beim Versuch, die Wirkungsweise psychiatrischdiagnostischer Paradigmen zu skizzieren, fallen mir gerade am Beispiel BL Parallelen zum Prozedere früherer Hexenverfolgung ein radikaler Beziehungsabbruch Vorteile bringen kann.

Der Psychiater als übermächtige Vater-Repräsentanz

Von Anfang an (vermutlich zu meinem Glück) entschied ich mich überwiegend für psychotherapeutische Hilfen, für den Weg langwieriger Selbsterforschung, für Emanzipation statt Restauration. Ich entschied mich für meinen Schmerz; durch ihn musste ich hindurchgehen, um zu wachsen; ihn mir wegnehmen zu lassen, hätte bedeutet, meiner selbst beraubt zu werden, und das hatten bereits Familienangehörige besorgt. Meine Selbstisolierung, mein emotionales Ausgehungertsein, die suchtartige Suche nach Beelterung trieben mich um. In diesem Spiegel sah ich auch PsychiaterInnen, die ich zwecks Krisenüberbrückung oder aufgrund bürokratischer Sachzwänge widerstrebend konsultierte. Patriarchalische Attitüden, durch Süffisanz bemäntelte Unsicherheit, die Bevorzugung von Methoden schwarzer Pädagogik und nicht zuletzt die Ausschließlichkeit des pharmakologischen Diktates wirken nicht eben vertrauensbildend. Bis auf zwei rühmliche Ausnahmen fand ich mich mit schöner Regelmäßigkeit vor die Wahl zwischen unannehmbaren Alternativen gestellt: Entweder schluckte ich brav die verordneten Pillen – stets um den Preis einer Zustandsverschlechterung (!) –, oder ich suchte mir einen anderen Arzt. In den ersten Jahren ließ ich mich verunsichern, lernte jedoch nach und nach meine Zustimmung in Bezug auf Maßnahmen, die meiner Selbstwerdung abträglich waren, zu verweigern ... und die Konsequenzen zu tragen. Natürlich kamen Ohnmachtsgefühle und Kontrollverlustängste auf, begleitet von Zorn, sooft irgendwelche »Aufklärung« durch Spezialisten, an die ich mich hilfesuchend wandte, mich unterschwelligem Konsensdruck aussetzte, jener rigiden Erwartungshaltung, die beinhaltete, ich möge doch Krankheitseinsicht zeigen, sprich, Komplize werden beim Verrat an meinem Selbst. Und schlimmer: Da gab es jene versteckten Signalements einer durchaus persönlichen Abwertung, rhetorisch verschleiert und verbarrikadiert hinter klirrender Rationalität. So ist und bleibt man PatientIn auf Bewährung: einerseits für »zu krank« erklärt – etwa hinsichtlich Medikationsverzicht – und im selben Atemzug für »zu gesund« – z.B., um nicht Ramsch auf einem enthumanisierten Arbeitsmarkt zu sein. Dieses Nullsummenspiel, in dem man nie gewinnen kann, empfand ich als Perfidie, was mir postwendend in »affektiven Widerstand mit Symptomcharakter« umgedeutet wurde, mit anderen Worten, in mangelnde Compliance. Dazu lässt sich generalisierend sagen, dass bei ungünstigem Therapieverlauf die Endverantwortung mit Vorliebe den projizierenden/manipulierenden/agierenden BL-PatientInnen angelastet wird. Wagen sie sich zu widersetzen, bekommen sie »Abwehr«, »Widerstand« oder »destruktive Übertragung« so lange um beide Ohren geschlagen, bis sie sich fügen. Und fügen sie sich nicht, zementiert dies umso mehr die Richtigkeit der einmal gestellten Diagnose – bzw., dass der Leidensdruck »dann ja wohl so schlimm nicht gewesen sein kann«.

Krank machende Mythen

Wenn ein übergestülptes Krankheitsmodell systematisch die Integrität und Selbstbestimmtheit Betroffener beeinträchtigt, könnte es geboten sein, sich mit Glaubensfragen auseinanderzusetzen. Vielleicht ist es an der Zeit, abtrünnig zu werden oder zumindest eine gewissenhafte Inventur vorzunehmen. Als »Borderliner« klassifiziert zu werden, hat nichts mit Schicksal zu tun, sondern bedeutet zunächst, der autoritativen Macht von Fachleuten und deren privilegierten Anschauungen ausgesetzt zu sein. Den Anspruch auf Objektivität resp. »Wahrheit« vermögen sie freilich nicht einzulösen. Insoweit kann es sich lohnen, das BL-spezifische Begriffssystem einmal durch die konstruktivistische Brille zu betrachten und sich nebenher mit postmodernen Mythen auseinander zu setzen, von denen ich drei herausgreife:

⇒ Beim Mythos der leidensfreien Existenz haben wir es mit einer mustergültigen »Anleitung zum Unglücklichsein« (4) zu tun. Sie geht zurück auf die Wunschvorstellung, mensch könne sich bei hinreichender Investition von Willensenergie und Arbeit von jeglichem Leiden auf Dauer befreien. Damit einher geht die Prämisse, dies sei machbar und prinzipiell erstrebenswert. Unser Umgang mit dem Phänomen Schmerz, den es, seelisch wie körperlich, partout auszuschalten gilt, spricht diesbezüglich Bände. Für Verankerung im kollektiven Unbewussten sorgen Tag für Tag Werbeslogans und New-Age-Sophistereien, Wissenschaftsdiskurse und politische Größenfantasien: Die Entfremdungsmaschinerie läuft auf Hochtouren.

Leben heißt Leiden, wie schon Buddha gesagt haben soll (was Leidenslinderung als Gebot des Mitgefühls unabdingbar impliziert). Das eine vom anderen trennen zu wollen, hieße eine BL-prototypische Entweder-oder-Position einzunehmen. Die schwindende Akzeptanz zivilisierter Gesellschaften gegenüber Grundbedingungen der Existenz sowie technokratisch bestimmter Ehrgeiz, Krankheit, Alter und Tod ein für alle Mal abzuschaffen, muten per se wahnhaft an. Konkret zeugt die Vision vom leidensfreien Dasein nur immer neues Leiden, solange Humanität als Gutmenschentum und Mitgefühl als wertneutralitätshemmender Ballast abgetan wird.

Angezeigt ist nicht Fatalismus, schon gar nicht Resignation. Wie wär's dafür mit ein wenig Bescheidenheit, mehr Respekt vor der Kreatur und mit ... Vernunft?

⇒ Der Mythos vom Heil-Werden durch Fremdeinwirkung verlangt sorgfältiges Differenzieren. Genesung von einer wie immer gearteten Erkrankung ist immer eine schwebende Möglichkeit. Wann Genesung als erreicht gelten kann, hängt von zahlreichen Variablen ab.

Die Idee von »Heilung« im Sinne von Wiedergutmachung bzw. UngeschehenMachen jedoch verleitet zu ewiger Gralssuche und stellt eine Täuschung dar, die der Ent-Täuschung geradezu bedarf. Einmal erlittene seelische Traumata mögen beispielsweise noch so oft und noch so gründlich be- und durchgearbeitet werden – die Rückversetzung in den ursprünglichen, also vor-traumatischen Zustand muss misslingen. Versteht man Krankheit versuchsweise als Synonym für Verlust von »Unschuld« (bzw. als »Sünden-Fall«), so wird klar, dass das Verlorene niemals wieder erlangt werden kann. Ebenso wenig gebe ich der persönlichen »Erlösung« durch Außenstehende irgendeine Chance. Doch kann ich mich möglicherweise selbst erlösen, indem ich eine neue Richtung einschlage und mich statt nach außen auf die Reintegration meines Selbst hin orientiere. Folglich sind meine Hoffnungen auf den lebendigen Prozess des Wachsens und Reifens gegründet, auf Überwindung realitätsfeindlicher Fixierungen (vor allem meiner eigenen), auf den Weg, der letztlich das Ziel ist.

Der Verstehbarkeitsmythos scheint zuvörderst auf dem Bedürfnis nach symbiotischer Harmonie zu beruhen und dieses auf der isolierenden Erfahrung der Getrenntheit zwischen Ich und Du und Ich und Welt. Im zwischenmenschlichen Beziehungsfeld etabliert das Ideal der Verstehbarkeit sämtlicher nur denkbaren Probleme vielfach paradoxe Meta-Probleme, die schwer aufzudecken sind; sprachliche Unschärfen und Missverständnisse tragen das Ihrige bei. Im Rahmen (natur-)wissenschaftlicher Weltanschauungen im Allgemeinen und psychiatrischer im Besonderen scheint man Verstehen eher mit Manipulierbarkeit bzw. Kontrolle gleichzusetzen. Die Tiefe und Vieldimensionalität des Lebendigen ist dadurch freilich nicht annähernd auszuloten. Pharmakologische Effekte aufgrund hirnphysiologischer Forschungsergebnisse belegen keineswegs, dass irgendein »Wesen« psychischer Erkrankung verstanden wurde – geschweige denn die betroffene Person –, sondern lediglich, dass beteiligte biologische Prozesse sich medikamentös verändern lassen. Mir als Individualsubjekt ist das zu wenig.

Es gibt neben dem kognitiv-rationalen so viele unterschiedliche Zugänge zum Verstehen. »Soziale« und »Emotionale Intelligenz« sind derzeit mega-in und doch nur Teilfacetten menschlicher Ressourcenvielfalt. Weshalb nicht aus unserer Fülle schöpfen?

»Dort ist die Tür. Warum nimmt niemand diesen Weg?« (5)

Für mich ist »Borderline« eine Worthülse, die ich mit jedem Schritt weiter hinter mir zurücklasse. Es gibt sie, aber sie behindert mich nicht mehr. Meine Begegnungen und Gespräche mit anderen Psychiatrie-Erfahrenen sowie unser gemeinsames Engagement auf dem Gebiet der Selbsthilfe wirken gleichsam immunisierend, ändern meine Blickachse und verbreitern den Horizont. Als Entdeckungsreisende in eigener Sache ist es mein erklärtes Ziel, wach und aufmerksam und anteilnehmend zu werden. Ich bin unterwegs, um sehend zu werden, frei zu unbekannten Ufern. Dazu gehört, Gefühle (auch die unerwünschten) zu fühlen und Verletzungen zuzulassen. Verleugnung würde mich schwächen, mich trostlos, blind, unempathisch machen, empfänglich für Irreführung und Betrug, d.h. Mehr-Desselben. Allmählich wächst meine Überzeugung, dass Spaltung überwindbar ist. Dass Hass überwindbar ist und Vertrauen sich lohnt, ganz gleich, wie übel mir mitgespielt wurde.

Wenn ich sterbe – wann immer das geschieht –, möchte ich, dass mein Geist möglichst klar ist und mein Herz weit offen. Das vergegenwärtige ich mir Tag für Tag. Der Weg »hinaus« und die Tür, die ihn weist, waren seit jeher da, ebenso der Schlüssel. An mir ist es, von alledem Gebrauch zu machen.

Ivy Anger ist im Verwaltungs- und Sekretariatsbereich tätig und seit 15 Jahren engagiert in der Selbsthilfe Psychiatrie-Betroffener. Sie ist Vorstandsmitglied der Münchener Psychiatrie-Erfahrenen (MüPE) e.V.

Anmerkungen:

1 Münchener Psychiatrie-Erfahrene (MüPE) e.V.

2 Anspielung auf Arno Gruens gleichnamiges Buch (Gruen, A.: Der Fremde in uns. München, 2. Aufl., 2000)

3 Erstveröffentlichung von Prof. David L. Rosenhan in der Zeitschrift Science (1973)

4 Watzlawick, P.: Anleitung zum Unglücklichsein. München (1983)

5 Sinnspruch aus unbekannter, vermutlich Zenbuddhistischer Quelle