Peter Lehmann (2013)

Entnommen aus "Psychotherapie-Wissenschaft - Science Psychthérapeutique" Bd. 3, Nr. 2 2013

Wie aktuell ist eigentlich noch Franco Basaglia?

Psychiater, Psychotherapeuten und die reduzierte Lebenserwartung psychiatrischer Patienten

Zusammenfassung:

Der Autor befasst sich mit der Aktualität des 1980 gestorbenen italienischen Reformpsychiaters Franco Basaglia. Trotz der massiv reduzierten Lebenserwartung Psychiatriebetroffener verabreicht man in aller Regel Psychopharmaka ohne informierte Zustimmung und ohne Aufklärung über Frühwarnzeichen, die bleibende oder tödliche Behandlungsschäden ankündigen. Kritiklos und gesponsert von der Pharmaindustrie plädieren Psychiater und Psychologen im Rahmen der Psychoedukation für die Dauereinnahme von Psychopharmaka und preisen neuere Substanzen wahrheitswidrig als nebenwirkungsarm an. Basaglias Aussage zu Befriedungsverbrechen Intellektueller ist hochaktuell. Es stellt sich nicht nur die Frage nach moralischer Schuld, sondern auch nach zivil- und strafrechtlichen Schritten.

»Es ist grotesk und tragisch, dass Intellektuelle,
indem sie sich an die Institutionen der Macht anbinden,
unter dem Schein der Hilfeleistung
die Opfer der Macht vollends entwaffnen:
In der Pose des Samariters geben sie ihnen den tödlichen Kuss.«
(Basaglia & Basaglia-Ongaro, 1980, S. 22)

»Wie aktuell ist eigentlich noch Franco Basaglia? Was bedeuten heute seine Sätze ›Freiheit heilt‹ und ›Richtig angewandt ist das Medikament in der Psychiatrie ein Instrument der Befreiung‹?« So lautete im November 2013 ein Workshop bei der Tagung »Vernetzung und individuelle Freiheit – Wieviel Netz braucht ein Mensch?« in Berlin, veranstaltet vom Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit e.V.

Basaglia und der Monolog der Experten

Intellektuellen im psychosozialen Bereich gehen die Antworten auf diese Fragen vermutlich leicht über die Lippen, sehen sie sich doch prädestiniert zu entscheiden, was eine richtige Anwendung von Psychopharmaka ist und wovon sich die Betroffenen befreien sollen: nicht etwa von psychiatrischer Behandlung mit persönlichkeitsverändernden und körperlich beeinträchtigenden Psychopharmaka und Elektroschocks, sondern von der als psychisch krank definierten störenden und unerwünschten Lebens- und Sinnesweise. Diese Kompetenz der Macht zur exklusiven Definition der Wirklichkeit ist jedoch seit langem umstritten, insbesondere mit Aufkommen der Recovery-Bewegung. Aktivisten der Selbsthilfebewegung erholten sich nach dem Absetzen der verordneten Psychopharmaka und der Verweigerung ihrer weiteren Anwendungen sowie weiterer Elektroschocks und führten daraufhin ein unabhängiges und gesundes Leben. Ihre Vorträge bei Kongressen und an Universitäten, ihre Bücher, Zeitschriften und andere öffentliche Auftritte konnten nicht mehr ignoriert werden (Lehmann, 2013a). Pat Bracken (2007, S. 420), Facharzt für Psychiatrie und klinischer Leiter beim Psychiatrischen Dienst von West Cork in Irland, brachte den notwendigen Paradigmenwechsel auf den Punkt: »Die radikalste Folgerung der Recovery-Bewegung mit ihrer Umkehrung dessen, was erst- und zweitrangig ist [Einnahme von Psychopharmaka oder deren Ablehnung], besteht in der Feststellung, dass es die Betroffenen sind, die das größte Wissen und die meisten Informationen über Werte, Bedeutungen und Beziehungen besitzen. Im Sinne der Recovery-Bewegung sind sie die wahren Experten.« (Ergänzungen in eckigen Klammern in Zitaten und im Weiteren die Übersetzung von Zitaten aus dem Englischen stammen von mir, P. L.)

Es sei dahingestellt, ob alle Psychiatriebetroffenen Experten par excellence sind. Doch an eine als ethisch zu bezeichnende Psychiatrie ist der Anspruch zu stellen, dass sie den einzelnen Betroffene nicht als Objekt, sondern als Subjekt seiner Geschichte betrachtet, als Fachmann, der seine Bedürfnisse selbst am besten kennt und dem man – sofern erwünscht – im Krisenfall soziale, therapeutische oder medizinische Unterstützung zukommen lässt. Da manchmal Probleme so drängend und gewaltig sind, dass weder mit Selbsthilfe noch mit psychotherapeutischen Verfahren eine rasche Abhilfe möglich scheint, würde eine Psychiatrie mit ethischen Grundlagen dazu aufrufen, für den Fall des Falles Vorausverfügungen zu erstellen, damit auch in sogenannten schlechten Zeiten die Entscheidung über höchstpersönliche Belange in der eigenen Hand bleibt (Lehmann, 2014).

Die Praxis im psychosozialen Bereich entspricht kaum den Anforderungen an eine ethische Psychiatrie. Ständig wird gegen das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und den Schutz der Menschenwürde verstoßen: »Täglich erfahren Menschen mit psychischen Problemen – wie auch ihre Angehörigen und andere Menschen, die sich um sie kümmern – Diskriminierung und Schikane in allen möglichen Lebensbereichen. Dies verringert die Chance von Genesung und gesellschaftlicher Integration.«

So lautete 2005 das Ergebnis einer multinationalen Studie, die im Auftrag der Europäischen Kommission im Rahmen des Europäischen Aktionsprogramms gegen Diskriminierung und Schikane von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen im Gesundheitsbereich von Verbänden Psychiatriebetroffener, psychiatrisch Tätiger und Angehöriger aus Deutschland, Großbritannien, Österreich, Spanien und den Niederlanden gemeinsam mit dem belgischen Forschungsinstitut LUCAS und Mental Health Europe (europäische Sektion der World Federation for Mental Health) durchgeführt wurde. Man stellte fest, dass strukturell ohne informierte Zustimmung behandelt wird; unerwünschte Psychopharmakawirkungen deutet man in Symptomverschiebung der diagnostizierten psychischen Krankheit um, Hilfeleistung wird vorenthalten (für Näheres siehe unter www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/enusp/schikane.htm). Gründe, weshalb in den letzten Jahren diese Menschenrechtsverletzungen abgenommen hätten, sind nicht zu erkennen; psychiatrische Standesorganisationen verweigern sich einem Runden Tisch, an dem öffentlich über die kritisierte Praxis diskutiert werden könnte, seit Jahren beharrlich.

Reduzierte Lebenserwartung Psychiatriebetroffener

Menschen in psychischen Krisen werden oft psychiatrisiert. Sie erhalten psychiatrische Diagnosen und entsprechend psychiatrische Psychopharmaka, vor allem Antidepressiva und Neuroleptika, sowie zunehmend wieder Elektroschocks. Spätestens seit der Publikation des Hamburger Psychiaters Volkmar Aderhold (2007) über die hohe Mortalität psychiatrisch behandelter Patienten darf der Tatbestand einer durchschnittlich um drei Jahrzehnte gesenkten Lebenserwartung unter langfristiger Neuroleptika-Einnahme auch im deutschen Sprachraum als bekannt vorausgesetzt werden. Defizit-Syndrom, Fettleibigkeit, Hypercholesterinämie (erhöhter Cholesteringehalt im Blut), Diabetes, Apoptose (Sichabstoßen von Zellen aus dem Gewebe, d. h. Zelltod), Suizidalität, tardive Dyskinesien und Psychosen als Neuroleptika-Auswirkungen und eine deutlich erhöhte Sterblichkeit vor allem bei Verabreichung von Neuroleptika in Kombination mit anderen Medikamenten stellen häufige Gesundheitsrisiken für die Behandelten dar. Seit Jahrzehnten steigt die Sterblichkeitsrate von Psychiatriepatienten in alarmierender Weise kontinuierlich an (Saha et al., 2007).

Für manche ist die toxische Wirkung der Psychopharmaka die Ursache für die Katastrophe, für andere sind es die prekären Verhältnisse, unter denen die meist arbeitslos gewordenen Psychiatriebetroffenen ihr Leben fristen. Nähme man den angeschlagenen Gesundheitszustand als ursächlich für ihren häufigen frühen Tod an, stellte sich die Frage, ob es irgendeine Rechtfertigung gibt, dieser vulnerablen Patientengruppe die riskanten und potenziell toxischen Wirkstoffe zu verabreichen – oft gar noch unter Nötigung, Drohung und Gewaltanwendung. Selbst Pharmafirmen thematisieren inzwischen die hohe Sterblichkeitsrate psychiatrischer Patienten: 

»Forschung hat gezeigt, dass die Lebenserwartung von Menschen mit schweren psychischen Leiden um durchschnittlich 25 Jahre geringer ist als die der Durchschnittsbevölkerung. Herz- und Atemwegserkrankungen, Diabetes und Infektionen (wie HIV/AIDS) sind die häufigsten Todesursachen in dieser Bevölkerungsgruppe.« (Janssen Pharmaceuticals, 2012)

Oft wird das Argument ins Feld geführt, mit der jeweils neuesten Generation von Psychopharmaka würde alles anders. Die modernen, sogenannten atypischen Neuroleptika unterscheiden sich jedoch in ihren Auswirkungen nicht wesentlich von herkömmlichen Neuroleptika (Lehmann, 2010). Dies bestätigte Gerhard Ebner (2003, S. 30), Präsident der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärzte und Mitglied des Advisory Board bei Janssen Cilag zur Einführung von Risperdal Consta, schon vor einiger Zeit: »Es handelt sich nicht um weniger Nebenwirkungen, sondern um andere, die aber ebenfalls sehr einschneidend sein können, auch wenn sie von den Patienten nicht unmittelbar wahrgenommen werden, weswegen die Patienten leichter zur Einnahme dieser Antipsychotika motiviert werden können, da die quälenden Frühdyskinesien/extrapyramidalen Nebenwirkungen nicht oder nicht so stark auftreten.«

Dienstbare Mietmäuler der Pharmaindustrie

Die erleichterte Motivierung von Patienten, gefährliche Substanzen einzunehmen, bedeutet für die Pharmaindustrie einen verbesserten Absatz ihrer patentgeschützten teuren Produkte, somit steigende Gewinne – in einer marktwirtschaftlich orientierten Industrie das primäre Ziel unternehmerischer Tätigkeit.

Wie Pharmafirmen mit Verlagen kooperieren, die als wissenschaftlich gelten und somit exzellente Werbeträger (»Mietmäuler«) sind, geht aus einer Beilage zur »Psychiatrische Praxis« hervor, erschienen im Stuttgarter Thieme-Verlag. Hier kann man von Patienten lesen, die das atypische Serdolect erhalten und »die sedierende Wirkung schätzen und nicht missen möchten«, so Peter Falkai (Psychiatrische Praxis, 1998, S. 3), später Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (2011–2012) und seit 2012 Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Beilage, in der er Serdolect als effektiv und nebenwirkungsarm anempfiehlt, wurde finanziert von der Promonta Lundbeck Arzneimittel GmbH & Co. Hamburg, der deutschen Herstellerfirma von Serdolect. Wiederum im Thieme-Verlag durfte Falkai auch ein Buch mitverfassen, das unter dem Titel »Paliperidon ER (INVEGA®) – Der nächste Schritt zur optimalen Schizophrenietherapie« ein atypisches Neuroleptikum der Janssen-Cilag AG anpries (Falkai et al., 2007). Zusätzlich zur ersten Auflage von 300 Stück ließ die Pharmafirma weitere 10.000 Exemplare drucken, vermutlich um mit diesem Werbeträger medizinische Fachbibliotheken, Medizinjournalisten und Ärzte zu versorgen. 

Neben Psychiatern werden auch Psychologen von der Pharmaindustrie als Werbeträger angeworben. Mitglieder beider Berufsgruppen – namentlich Josef Bäuml, Bernd Behrendt, Hartmut Berger, Hans-Jürgen Luderer, Gabi Pitschel-Walz, Fritz-Michael Sadre Chirazi-Stark u.v.m. – bilden beispielsweise die Arbeitsgruppe Psychoedukation: In der Psychoedukation wird Gruppen von Psychiatriebetroffenen in aller Regel das monokausale biomedizinische Krankheitskonzept vermittelt. Der an sich vernünftige Ansatz, bewusst zu leben, Warnsignale aufziehender Krisen wahrzunehmen und sich entsprechend zu schützen, wird in der Psychoedukation in das Herstellen von Compliance umgemünzt, damit die Betroffenen ihre Neuroleptika trotz unerwünschter Wirkungen dauerhaft schlucken (Behrendt, 2009a). Den Betroffenen erklärt Bernd Behrendt, Psychologe an der Psychiatrischen Universitätsklinik Homburg, in seinem für sie verfassten Heft »Meine persönlichen Warnsignale« Psychosen als Produkt von Stoffwechselstörungen, die zwar maßgeblich genetisch bestimmt, jedoch psychopharmakologisch und speziell mit atypischenNeuroleptika risikoarm zu korrigieren seien, da bei diesen »keine oder nur geringe Nebenwirkungen« (Behrendt, 2009b, S. 40) auftreten.

Kein Wunder, dass das Buch »Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen. Konsensuspapier der Arbeitsgruppe ›Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen‹«, in dem die atypischen Neuroleptika beworben werden, von der versammelten Pharmaindustrie, namentlich Janssen-Cilag GmbH, Bayer Vital GmbH, Lilly Deutschland GmbH, Astra Zeneca GmbH und Sanofi-Synthelabo GmbH, gesponsert wurde (Bäuml & Pitschel-Walz, 2003). Wie wenig es den Verfassern um eine objektive Aufklärung über Risiken, sogenannte Nebenwirkungen und Alternativen geht, zeigen die Beschwörungsbemühungen von Bäuml und Psychoedukations-Kollegen: »Bevor die unzweifelhaften Vorteile der neuroleptischen Medikation thematisiert werden, sollten die dem subjektiven Erleben zunächst sehr viel näher liegenden Nebenwirkungen besprochen werden. Dadurch wird der Provokation des typischen ›Ja-aber-Effektes‹ vorgebeugt, wenn die positiven Wirkungen der Medikation beschworen werden und die Patienten dann mit den typischen Nebenwirkungen kontern.« (Bäuml et al., 2005, S. 104)

Frühwarnzeichen ignorieren?

Während psychoedukativ Tätige frühe Anzeichen psychischer Krisen nutzen, um die Betroffenen zu verstärkter Einnahme von Psychopharmaka zu verleiten, denken sie nicht daran, sie über die Bedeutung solcher Frühwarnzeichen aufzuklären, die erfahrungsgemäß mehr oder weniger häufig auftretende, potenziell bleibende oder gar tödliche Schäden infolge der Verabreichung insbesondere von Neuroleptika ankündigen. Dabei wäre von psychiatrisch Tätigen anzunehmen, dass sie über die Gefährlichkeit psychiatrischer Psychopharmaka informiert sind. Eine Reihe von Frühwarnzeichen sollte es Psychiatern und Psychologen angeraten erscheinen lassen, die Dosis der Neuroleptika schnellstmöglich sofort oder graduell abzusetzen bzw. auf diese Entscheidung hinzuwirken. Da die Kenntnis von Frühwarnzeichen lebensrettend sein kann, sollen sie hier ausführlich dargestellt sein:

• Nachlassen des Antriebs und des Bedürfnisses zu sprechen und nach sozialen Kontakten: Vorboten eines möglichen chronischen Defizit-Syndroms (neuroleptisches apathisches Syndrom / Syndrom der »gebrochenen Feder«).

• Parkinsonoid, Apathie, Willenlosigkeit und niedergedrückte Stimmung: mögliche Vorboten von Neuroleptika-bedingter Suizidalität (Lehmann, 2012).

• Schwächegefühl, Müdigkeit, Antriebsabstumpfung, Interesselosigkeit, zeitweilige Übelkeit, Bewegungsstörungen wie Muskelzittern und Muskelstarre als Vorboten von Verwirrtheitszuständen, die mit innerer Unruhe, Erregtheit, Sich-getrieben-Fühlen und Ängstlichkeit beginnen und in (teilweise tödlich verlaufenden) Deliren enden können.

• Prolaktinerhöhung als möglicher Vorbote von Geschwulstbildungen in den Brustdrüsen, die sich zum Brustkrebs entwickeln können (Halbreich et al., 1996). (Prolaktin ist ein Hormon, das vor allem während der Schwangerschaft das Brustwachstum und die Milchbildung fördert. Bei Männern wie bei Frauen beeinflusst es zudem die Sexualhormonregelung im Hypothalamus und in der Hirnanhangdrüse.)

• Müdigkeit, Zuckerausscheidung im Harn, vermehrte Harnmenge, Mundtrockenheit, vermehrter Durst bei Appetitmangel, Potenz- und Regelstörungen, verminderter Widerstand gegen Infektionskrankheiten, Fettleber, Leberzirrhose (Leberschrumpfung) und Sehstörungen: Anzeichen für eine verminderte Glukosetoleranz – krankhafte Veränderungen des Blutzuckerhaushalts, insbesondere erhöhter Blutzuckerspiegel, der in chronischem Diabetes enden kann.

• Zunehmender Hüftumfang, ansteigender Body-Mass-Index: Vorboten einer möglicherweise chronischen, mit erhöhter Sterblichkeitsrate einhergehenden Fettleibigkeit.

• Temperaturerhöhung, verbunden mit neurologischen Symptomen: mögliche Vorboten einer malignen Hyperthermie (Störung der Körpertemperaturregulation mit lebensbedrohlichem Fieber, das zu irreversiblen zentralnervösen Schäden und Hitzschlag mit Kreislaufversagen führen kann).

• Zunahme extrapyramidal-motorischer (durch Störungen der Muskelspannung und des Bewegungsablaufs charakterisierter) Auffälligkeiten, Polypnoe (gesteigerte Atemfrequenz, verbunden mit vermindertem Sauerstoffangebot), Herzjagen, gesteigerter Speichelfluss, vermehrte Schweißabsonderung, beeinträchtigtes Bewusstsein und leichtes Fieber, allgemeine vegetative Labilität, Muskelsteifheit und andere extrapyramidal-motorische Auffälligkeiten: mögliche Vorboten eines neuroleptischen malignen Syndroms (lebensbedrohlicher Symptomenkomplex aus Fieber, Muskelsteifheit und Bewusstseinstrübungen).

• Belastungsherzinsuffizienz (Herzschwäche bei körperlicher Anstrengung) als Risikofaktor für die – unter Neuroleptika dreifach erhöhte – Gefahr schwerer, teilweise lebensbedrohlicher Herzkomplikationen aller Art.

• Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck und Insulinresistenz, die dem metabolischen Syndrom als Bedingungsfaktoren zugrunde liegen, wobei schon jedes Symptom für sich mit hohen Risiken für schwere Gefäßerkrankungen verbunden ist, die Kombination jedoch als besonders gefährlich gilt, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall auszulösen.

• Mundtrockenheit, Zahnfleischentzündung und verminderte Mundhygiene: mögliche Vorboten von Karies (Zahnfäule) und Parodontopathien (Entzündungen des Zahnfleisches und Zahnhalteapparates mit Zahnlockerung und Zahnverlust) aller Art.

• Erhöhte Leberwerte und Fettleber und mögliche Vorboten chronischer Gelbsucht und chronischer Leberzellschäden, woraus sich, sofern keine Behandlung stattfindet oder die lebertoxischen Stoffe weiter eingenommen werden, eine Leberfibrose (Umbau von Leberzellen in Bindegewebe) und schließlich eine irreversible Leberzirrhose mit schweren Komplikationen bis hin zum Leberversagen entwickeln kann.

• Verzögerte Wundheilung, Angina, »Grippe ohne Grippe« (unerklärliches Unwohlsein in Verbindung mit unklaren vegetativen Symptomen), Symptome wie Fieber, Schüttelfrost, Entzündung von Zunge, Mundschleimhaut, Zahnfleischsaum, Hals, Schlundkopf und Ohren, Halsschmerzen, Schwitzen, Schwächegefühl, Hinfälligkeit, Hautausschlag, Gelenkschmerzen, Geschwüre im Analbereich, Gelbsucht, Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Durchfall, Lymphknotenschwellungen, Leberzellschäden: mögliche Vorboten einer lebensbedrohlichen Agranulozytose (oft fulminant auftretendes Absterben der weißen Blutkörperchen mit lebensbedrohlichen Folgen wie Blutvergiftung, Lungenentzündung und Blutungen).

• Verfestigung des Bluts, gestörte Blutströmung und Abweichungen von der natürlichen Blutbeschaffenheit in Verbindung mit längerer Ruhigstellung: Vorboten und Risikofaktoren für lebensbedrohliche Thrombosen und Embolien.

• Pigmentablagerungen im Auge: mögliche Vorboten chronischer Schäden an der Netzhaut, der Hornhaut und am Sehnerv.

• Schluckstörungen, Gefühl der verstopften Nase, Beklemmungsgefühle, leichte Atemnot, Appetitstörungen mit Übelkeit bis Erbrechen, kolikartige Schmerzen und krampfartige Durchfälle, allgemeines Schwächegefühl, Muskelschmerzen, abnorme Kribbelempfindungen, Schwindel und schließlich das Auftreten eines Pseudo-Parkinson mit Muskelzittern und -steifheit, Propulsion (Neigung beim Gehen, immer schneller vorwärtszuschießen), erhöhter Speichelfluss, Salbengesicht und mimische Starre: mögliche Vorboten einer Aspiration (Ansaugung von Blut oder Erbrochenem in die Luftröhre oder in die Bronchien) mit nachfolgender Asphyxie (lebensbedrohlicher Erstickungszustand).

• Muskelzittern und andere Muskelstörungen: mögliche Vorboten einer tardiven Dyskinesie (Symptomenkomplex aus möglicherweise irreversiblen und mit verkürzter Lebenserwartung einhergehenden unwillkürlichen Muskelbewegungen [Bewegungsstereotypen, Muskelkrämpfe oder Hyperkinesien, d. h. Bewegungsstörungen infolge übermäßiger Aktivität der Muskulatur]).

Auch Störsymptome beim Absetzen von Neuroleptika können Warnzeichen bleibender Schädigungen darstellen. Das rasche Eintreten psychotischer Symptome beim Reduzieren kann auf sich ausbildende (organisch bedingte) Supersensitivitätspsychosen hinweisen, die durch die weitere Verabreichung von Neuroleptika zu chronischen Psychosen werden können (Lehmann, 2013b).

Zweifelhafte Dauerverabreichung von Psychopharmaka

Obwohl der Sinn der dauerhaften Einnahme von Psychopharmaka sowohl unter psychotherapeutisch als auch unter biologisch ausgerichteten Behandlern umstritten ist, vermittelt man gerne unter Hinweis auf Studien, die den prophylaktischen Wert der Dauerverabreichung nachgewiesen hätten, der Psychotiker brauche sein Antipsychotikum (Neuroleptikum) wie der Diabetiker sein Insulin. Dabei gelten diese Studien intern als inhaltlich nichtssagend, da man Entzugsprobleme wie behandlungsbedingte Rezeptorenveränderungen, Reboundeffekte oder Supersensitivitätserscheinungen nicht vom sogenannten echten Rückfall unterschieden und auch nicht definiert habe, was eigentlich unter einem Rückfall zu verstehen sei. Sogar die Psychopharmaka-Befürworterin Brigitte Woggon von der Universitätsklinik Zürich fand die selbst bei abruptem Absetzen mangelnde Differenzierung zwischen Entzugssymptomen und Wiederkehr der ursprünglichen psychischen Probleme bedenklich: »Interessanterweise wird in den meisten Absetzstudien zur Frage möglicher Entzugssymptome nicht Stellung genommen, offenbar weil die Studien nicht direkt auf diese Befunde ausgerichtet waren.« (Woggon, 1979, S. 46)

Längst wird eingeräumt, dass man nicht weiß, ob Neuroleptika im Einzelfall eher helfen als schaden. William Carpenter und Carol Tamminga (1995, S. 193) vom Maryland Psychiatric Research Center in Baltimore, die in ihrer Einrichtung einen kontrollierten Entzug ermöglichten, kamen zur Einschätzung: »Obwohl man unerwünschte Vorkommnisse wie Suizid, enttäuschte Patienten oder Angehörige, Verlust der Arbeit, verschlechterter Verlauf und Hirnabnormalitäten allesamt während des Medikamentenentzugs beobachten kann: In aller Regel findet sich dies alles auch bei medikamentierten Patienten unter klinischer Aufsicht.«

Aufdeckende psychotherapeutische und betroffenenorientierte Verfahren, wie sie etwa der Schweizer Psychotherapeut Theodor Itten (2007) beschreibt, werden von vornherein in ihrer Wirkung behindert, Selbstheilungskräfte unterdrückt, psychotische Prozesse an der Rückbildung gehindert. Zu dieser Erkenntnis kam Klaus Ernst von der Universitätsklinik Zürich schon zu Beginn der 1950er Jahre, als Neuroleptika in die Psychiatrie eingeführt und ihre Wirkung systematisch auch in Selbstversuchen untersucht wurde. Nach Tests an sich selbst und seiner Ehefrau Cécile mit dem Neuroleptikaprototyp Chlorpromazin (Largactil) wies Ernst auf den zweischneidigen Charakter der neuroleptischen Symptomdämpfung hin. Seine ausführliche Schilderung lässt ahnen, weshalb die Chancen für eine erfolgreiche konfliktaufdeckende (»entwickelnde«) Psychotherapie unter psychiatrischen Psychopharmaka, insbesondere Neuroleptika, auch heute noch und auch in Bezug auf niederpotente atypische Neuroleptika so kritisch zu beurteilen sind, hat sich doch die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in den letzten Jahrzehnten nicht verändert:

»Für uns liegt das Schwergewicht auf der Erzeugung eines – soweit wir bis heute wissen – reversiblen hirnlokalen Psychosyndroms [von Leukotomien her bekannte Symptomatik, charakterisiert sowohl durch Enthemmung und ziellose Umtriebigkeit als auch durch Apathie und affektive Verflachung]. Diese Auffassung bringt auch die Frage nach dem Verhältnis zur begleitenden Arbeitstherapie und zur Psychotherapie mit sich. In Bezug auf die erstere können wir uns kurz fassen. Die Largactilkur verträgt sich ausgezeichnet mit jeder routinemäßigen Arbeitstherapie. Die Kranken stehen schon nach wenigen Tagen auf und nehmen ohne erhebliche orthostatische [bei aufrechter Körperhaltung auftretende] Beschwerden an der Arbeit teil. Freilich handelt es sich um leichte Arbeit unter pflegerischer Aufsicht. Komplexer ist das Problem des Zusammenwirkens mit der Psychotherapie. In der Erinnerung an unsere Selbstversuche können wir uns zunächst eine gleichzeitige Psychotherapie an uns selber kaum vorstellen. […] Außerdem müssen wir zwischen der führenden und der entwickelnden Psychotherapie unterscheiden. Für die erstere bildet die entspannende Wirkung des Medikamentes eine gute Voraussetzung. Wir sind uns aber klar darüber, dass das Mittel die gesamte und nicht nur die krankhafte Affektivität dämpft. Eine solch umfassende Dämpfung könnte vielleicht auch diejenigen Impulse erfassen, die Selbstheilungstendenzen entspringen. Einzelne freilich unkontrollierbare Eindrücke bei akut Erkrankten ließen uns sogar die Frage aufwerfen, ob nicht unter der medikamentösen Apathisierung eine Stagnation der psychotischen Entwicklung auftreten kann, die nicht bloß das Rezividieren [Wiederauftreten], sondern auch das Remittieren [Rückbilden] betrifft.« (Ernst, 1954, S. 588)

Gegen die Dauerverabreichung von Neuroleptika spricht auch die seit langem bekannte Toleranzbildung, die nicht zu vermeiden sei (Meyer, 1953) und die vorwiegend bei niederpotenten Neuroleptika und auch bei relativ niedriger Dosierung auftrete (Haase, 1982). (Als niederpotent gelten Neuroleptika mit einer geringeren Potenz als Chlorpromazin [mit seiner Bezugsgröße 1], d. h. einer Potenz kleiner als 1, z. B. Atosil, Dipiperon, Dogmatil, Dominal, Neurocil / Nozinan, Prazine, Solian, Truxal; für Näheres siehe meinen Artikel unter www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/rez-ver.htm.) Frank Tornatore von der University of Southern California, School of Pharmacy, Los Angeles, und Kollegen (1991, S. 53) warnten: »Unter der Langzeittherapie mit Neuroleptika wurden Verschlechterungen psychotischer Verläufe mit Aktualisierung der Wahnsymptomatik und verstärkten Halluzinationen beobachtet. Die betroffenen Patienten sprachen typischerweise auf niedrige oder mittlere Dosen von Neuroleptika zunächst gut an; Rezidive machten jeweils Dosissteigerungen erforderlich, bis die Symptomatik schließlich nur noch durch Gabe von Höchstdosen beherrschbar war. Es würde sich also um eine Toleranzentwicklung gegenüber der antipsychotischen Wirkung handeln.«

Ein Team um Patricia Gilbert von der Psychiatrischen Abteilung der University of California in San Diego publizierte 1995 eine Metaanalyse von 66 Studien, die man zwischen 1958 und 1993 an nahezu 5600 Betroffenen durchgeführt hatte. Gilbert und Kollegen (1995, S. 173) brachten die Probleme fortgesetzter Neuroleptikaverabreichung für die Behandler auf den Punkt: »Das Thema ›Fortgesetzte neuroleptische Behandlung eines Patienten mit chronischer Schizophrenie‹ bringt den Behandler in eine Zwickmühle. Da die Neuroleptikabehandlung Schizophrenie nicht heilt, braucht die große Mehrzahl dieser Patienten eine Dauerbehandlung. Gleichzeitig beinhaltet der fortgesetzte Gebrauch dieser Medikamente ein hohes Risiko unerwünschter Wirkungen einschließlich tardiver Dyskinesie. Deshalb wird empfohlen, die dauerhafte Verordnung antipsychotischer Medikamente über einen langen Zeitraum nicht ohne angemessene Rechtfertigung vorzunehmen, sowohl aus klinischen als auch aus medizinisch-juristischen Überlegungen. Dies kann Versuche erfordern, die Neuroleptika abzusetzen. Das Absetzen der Medikamente ist jedoch mit dem Risiko eines psychotischen Rückfalls verbunden. Dass eine Anzahl von Patienten nach Beendigung der antipsychotischen Therapie – zumindest in einem kurzen Zeitraum – keinen Rückfall hat, macht alles noch komplizierter.«

Lex Wunderink und Kollegen (2007, S. 654) von der Psychiatrischen Abteilung des University Medical Center Groningen, Niederlande, kamen zum Ergebnis, dass, wenn »das Rückfallrisiko durch vorsichtige und enge Überwachung bewältigt werden kann, sich bei einigen remittierten Patienten nach einer ersten Episode eine geleitete Absetzstrategie als zulässige Alternative zur Dauerbehandlung anbieten kann. Weitere Forschung ist nötig, um Prädiktoren für ein erfolgreiches Absetzen zu finden.«

Jüngst publizierten Wunderink und Kollegen (2013) Ergebnisse einer siebenjährigen Verlaufsstudie; danach lag die Recoveryrate (bezogen auf Selbstfürsorge, Haushaltsführung, familiäre, partnerschaftliche und freundschaftliche Beziehungen, soziale Integration und Berufstätigkeit) nach Verminderung und Beendigung der Dosis bei sogenannten remittierten Psychotikern mit erster Episode doppelt so hoch wie bei dauerbehandelten Patienten mit gleicher Diagnose.

Was für die kritische Einstellung zu Neuroleptika gilt, trifft im Prinzip auch auf synthetische Antidepressiva zu. Sie lösen keine Probleme, sondern verstärken diese häufig. Schon Anfang der 1970er Jahre äußerten Ärzte den Verdacht, dass Antidepressiva zur Chronifizierung von Depressionen führen (Irle, 1974). 2011 zeigte die Studie eines Teams um Paul Andrews von der Abteilung für Psychologie, Neuro- und Verhaltenswissenschaften an der McMaster-Universität von Hamilton in Ontario, dass Antidepressiva die natürliche Selbstregulation des Serotoninhaushalts oder anderer Transmitter im Gehirn stören und dazu führen können, dass das Gehirn beim Absetzen überreagiert. Hierdurch würden neue Depressionen hervorgerufen, erläuterte Andrews:

»Wir fanden heraus, dass je stärker diese Medikamente im Gehirn auf Serotonin und andere Neurotransmitter einwirken – und diese Wirkung schreibt man ihnen zu –, desto größer ist das Rückfallrisiko, wenn man sie absetzt. […] All diese Medikamente verringern Symptome wahrscheinlich bis zu einem bestimmten Grad und kurzfristig. Aber was passiert auf lange Sicht? Unsere Resultate legen nahe, dass die Depression wieder da ist, wenn man versucht, diese Medikamente wegzulassen. Dies kann Leute in einem Kreislauf festhalten, wo sie weiterhin Antidepressiva nehmen müssen, um der Wiederkehr der Symptome vorzubeugen.« (McMaster University, 2011)

»Es ist ein Prinzip der evolutionären Medizin, dass die Störung von Anpassungsprozessen, wie sie sich entwickelt haben, biologische Funktionen schwächt. Da Serotonin viele Anpassungsprozesse reguliert, könnten Antidepressiva viele unerwünschte gesundheitliche Wirkungen haben. Während Antidepressiva in bescheidener Weise depressive Symptome reduzieren, steigern sie beispielsweise nach dem Absetzen die Empfänglichkeit des Gehirns für zukünftige Episoden.« (Andrews et al., 2012, S. 1)

Es sei wichtig, so Andrews und Kollegen (2011, S. 15), die Betroffenen vor der Erstverabreichung über das Abhängigkeitsrisiko aufzuklären: »Medikamente, die das Risiko eines Rückfalls oder Entzugserscheinungen beim Absetzen fördern, können Medikamentenabhängigkeit verursachen, die darin besteht, die Rückkehr von Symptomen zu verhindern. Folglich muss man mit solchen Medikamenten sorgfältig umgehen, und die Patienten müssen für ihre Anwendung eine informierte Zustimmung geben. ADMs [antidepressive Medikamente] werden manchmal bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit verschrieben, denn man glaubt, dass der Einsatz solcher Substanzen bei der Abhängigkeit eine Rolle spielt, wenn es um die Medikation von Angstgefühlen und Depressionen geht. Ironischerweise könnte der Einsatz von ADMs bei der Hilfe zur Entwöhnung von solchen Substanzen lediglich dazu führen, dass die eine Abhängigkeit durch eine andere ersetzt wird.«

Basaglia heute

Was hat das alles mit Franco Basaglia zu tun, der schon vor über 30 Jahren gestorben ist? In seinem Artikel »Befriedungsverbrechen« sprach Basaglia (gemeinsam mit seiner Ehefrau Franca Basaglia-Ongaro) seinerzeit vom kleinen Krieg in den Irrenhäusern, von Pharmafirmen als Quellen der Zerstörung etc. Angesichts der ständig steigenden Sterblichkeitsrate Psychiatriebetroffener scheinen seine Worte zur potenziellen Destruktivität der Pharmaindustrie aktueller denn je (Basaglia & Basaglia-Ongaro, 1980, S. 54): »Es ist hohe Zeit, nicht nur von den großen Kriegen zu sprechen, sondern auch von dem kleinen Krieg, der den Alltag verwüstet und der keinen Waffenstillstand kennt: von dem Krieg im Frieden, seinen Waffen, Folterinstrumenten und Verbrechen, der uns langsam dazu bringt, Gewalt und Grausamkeit als Normalzustand zu akzeptieren. Krankenhäuser, Gefängnisse, Irrenhäuser, Fabriken und Schulen sind die bevorzugten Orte, an denen dieser Krieg geführt wird, wo seine lautlosen Massaker stattfinden, seine Strategien sich fortpflanzen – in Namen der Ordnung. Das große Schlachtfeld ist der gesellschaftliche Alltag. Was heißt das? Krankenhäuser und Pharmazeutika-Betriebe sind Quellen der Zerstörung …«

Wenn Basaglia die im psychosozialen Bereich tätigen Intellektuellen aufforderte, sich für ein Engagement zugunsten von Psychiatriebetroffenen oder gegen deren Interessen zu entscheiden, gilt dies – auch angesichts der Gleichgültigkeit der meisten psychiatrisch Tätigen gegenüber der hohen Sterblichkeitsrate Psychiatriebetroffener sowie ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Lobbyarbeit so vieler Kollegen für die Pharmaindustrie – heute noch mehr als 1980. Damals forderten Basaglia und Basaglia-Ongaro (1980, S. 60 f.): »Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns dieser Tätigkeit, nachdem wir uns ihre Implikationen und ihre Folgen bewusst gemacht haben, weiterhin mit Haut und Haaren verschreiben wollen oder nicht; ob wir uns an der Verdunkelung der Unfreiheit oder an ihrer Enthüllung beteiligen wollen; ob wir nach wie vor über die Schwachen, Ohnmächtigen, Unterdrückten, Ausgestoßenen anstatt endlich mitihnen sprechen wollen.«

Fazit

Trotz der massiv reduzierten Lebenserwartung Psychiatriebetroffener verabreicht man in der Psychiatrie in aller Regel Psychopharmaka ohne informierte Zustimmung und ohne Aufklärung über Frühwarnzeichen, die bleibende oder tödliche Behandlungsschäden ankündigen. Gesponsert von der Pharmaindustrie plädieren Psychiater und Psychologen im Rahmen der Psychoedukation für die Dauereinnahme von Psychopharmaka und preisen neuere Substanzen wahrheitswidrig als nebenwirkungsarm an, damit psychische Probleme maßgeblich sozialer Natur chemisch befriedet werden können. Basaglias Aussage zu Befriedungsverbrechen Intellektueller ist hochaktuell.

Wen, wenn nicht den psychiatrisch Tätigen und insbesondere die Akteure der Psychoedukation könnte Basaglia mit den Intellektuellen gemeint haben, die den – häufig – ohnmächtigen Psychiatriebetroffenen in der Pose des Samariters den eingangs erwähnten tödlichen Kuss geben? Letztlich ist dies nicht nur ein ethisches Problem. Da der psychosoziale Bereich kein rechtsfreier Raum ist oder sein sollte, stellt sich die Frage nach juristischen Konsequenzen. Dies betrifft insbesondere Schadenersatzforderungen und die strafrechtliche Verfolgung wegen möglicher Beihilfe (Mittäter- und Gehilfenschaft) zur eventualvorsätzlichen Körperverletzung bzw. Tötung.

Eventualvorsatz liegt nach herrschender Rechtsauffassung vor, wenn der Täter (Verabreicher insbesondere von Neuroleptika) den Taterfolg – in diesem Fall wäre es Körperverletzung mit möglicher Todesfolge – als Konsequenz seines Handelns ernsthaft für möglich hält und den Schaden zugleich billigend in Kauf nimmt und sich damit abfindet (indem er beispielsweise Warnzeichen für sich entwickelnde chronische oder tödlich verlaufende Störungen ignoriert). Allgemein herrscht unter Juristen Einigkeit, dass für die Strafbarkeit einer Tat Eventualvorsatz ausreicht und das Ausmaß der Verantwortlichkeit gleich zu bewerten ist, ob der Schadensverursacher nun rücksichtslos oder vorsätzlich handelt. Auch für die zivilrechtliche Verantwortlichkeit genügt der bedingte Vorsatz. Psychiatrisch Tätige kennen die Risiken und unerwünschten Wirkungen von Psychopharmaka sowie die Warnzeichen für sich entwickelnde chronische oder tödlich verlaufende Störungen. In ihren psychoedukativen Ratschlägen geben sie psychiatrischen Patienten – in Basaglias Worten – in der Pose des Samariters den tödlichen Kuss.

Autor

Peter Lehmann ist Diplom-Sozialpädagoge und betreibt den Antipsychiatrieverlag in Berlin. Eigene Buchpublikationen:  »Der chemische Knebel – Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen«,  »Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern«,  »Statt Psychiatrie« u.v.m. Mehr siehe www.peter-lehmann.de

Korrespondenz

Kontakt: mail@peter-lehmann.de

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Erklärung des Autors zu möglichen Interessenkonflikten

Peter Lehmann hat keinerlei Verbindung zur pharmazeutischen Industrie und zu Organisationen, die von ihr gesponsert werden, noch zu Scientology oder anderen Sekten jeglicher Couleur.