Aus dem Türspalt Nr. 10 (1984)

Rainer Michler, Gabi Forcht

Die Morde an geisteskranken Kindern und Erwachsenen in Haar 1939-1944

Eine zeitgeschichtliche Nebenwirkung

"Was somit noch bis zum Ende des katastrophalen Zwischenspiels war, darüber möge das Wort des Herrn geschrieben sein: 'Einer ist, der richtet, der, Herr.' ... Mehr will über diese Zeit nicht gesagt werden. Mögen alle dieses Blatt der Geschichte so endgültig gewendet haben, wie es hier geschehen ist (aus: "Das Nervenkrankenhaus Haar bei München 1905-1955; Über 50 Jahre katholische Seelsorge", S. 195)

"Auch die Abgeordneten, schrieb A. Hoche, stehen unter dem Eindrucke von Geisteskranken, Querulanten und sonstigen Halbnarren geschriebenen Broschüren, der Schilderungen von Romanen und Dramen, des Getratsches von Kaffeetanten." (Festschrift 1950)

"Angesichts der in letzter Zeit in Mode gekommenen Kritik an der Krankenhauspsychiatrie ... wird sich hoffentlich mancher Leser Trost und Orientierung aus dieser Festschrift holen." (Festschrift 1980)

Warum ein Versuch, etwas über die Geschichte der Nervenheilanstalt Haar in der Zeit des Faschismus zusammenzutragen? Ein Grund, der als Begründung schon ausreicht, besteht darin, daß es kaum möglich ist, Informationen über die Ereignisse dieser Zeit zu finden, es also bisher nicht nötig gewesen sein muß, über diese Ereignisse zu berichten. (Vgl. hierzu die Festschriften von 1955 und 1980).

Die Festschriften für das Nervenkrankenhaus Haar von 1950 und 1980 beschreiben die Kontinuität der Asylierung und Behandlung psychisch Kranker seit der Errichtung der Anstalt 1905. Die Zeit des Faschismus bleibt eine Episode der Barbarei, eine Form von zeitgeschichtlicher Nebenwlrkung, die besser unerwähnt bleiben soll. In dieser Episode, die mehr als 100 000 psychisch Kranken das Leben gekostet hat, war Haar-Eglfing eine für die damalige Zeit normale Anstalt, kein Vernichtungslager wie Hadamar oder Grafeneck, wo die ausgesonderten Verrückten vergast oder totgespritzt wurden; aber eine Anstalt, wo es Hungerhäuser für Erwachsene und Kleinkinder gab, Durchgangsstation für Juden in Vernichtungslager und wohl auch Ausgangspunkt für die Verschickung Geisteskranker in die Venichtungslager. In der Anstalt selbst starben mehr als 400 Menschen an den Folgen des"Nahrungsentzugs", man ließ sie verhungern. Über die Anzahl der Insassen, die in die Vernichtungslager für psychisch Kranke verschickt wurden, gibt es keine Angaben ("sie ((die Schizophrenen)) machten früher etwa 75% der Anstaltsinsassen aus. Jetzt sind es trotz der beträchtlichen Verringerung durch die Euthanasie schon bald wieder 50% ", Festschrift 1950, S. 106), genauso wenig über die nach dem 1933 erlassenen Gesetz zur "Verhütung erbkranken Nachwuchses" Zwangssterilisierten und Kastrierten.

Die Geschichte der psychiatrischen Anstalten ist eine Geschichte von Gewalt, angefangen bei der zwangsweisen Unterbringung bis zu den gewalttätigen Theorien der "Wissenschaft" Psychiatrie. Der Schutz der Gesunden vor den Verrückten führte zur Absonderung und Asylierung der Irren.

"Das Erdgeschoß dieses lrrenhauses in Giesing war für die ganz ‚Tollen' bestimmt, enthielt 13 Zellen und ein Zimmer für den Wächter. . . Jede Zelle hatte 2 Türen, eine innen und starke, mit Staketen, weiche von außen mit einer Schraubenmutter versperrt war. . ." (Festschrift 1950, S. 7)

Die Behandlungsmethoden Gehirnoperationen, Insulinschock, E-Schock waren so brutal, wie der Schrecken vor den Zwängen und Wahnvorstellungen groß war.

"Wer die Leukotomie in Verruf bringt, kann kaum ... erfahren haben, in welchem Zustand eine erhebliche Anzahl von Unheilbar-Psychotischen sich befindet." (Festschrift 1950, s. 109/110).

Die Verantwortung der Psychiatrie, der staatliche Auftrag, die Gesunden zu schützen und die oft uneinsichtigen Kranken zu behandeln, ließ sie in ihren Methoden oft einiges in Kauf nehmen.

"Man muß getrost ein niedrigeres existenzielles Niveau in Kauf nehmen, wenn auf dem höheren kein fruchtbares geistiges Leben mehr möglich ist." (Festschrift 1950, S. 110).

Dies führte zu einer Theorie der geplanten Nebenwirkungen, also all dessen, was in Kauf genommen werden muß, um diesen furchtbaren Krankheiten Herr zu werden und weiter zu einem Verfolgungswahn, in welchem der lebt, der das Gute will und über den boshafterweise nur das Negative (die Nebenwirkungen) berichtet wird.

"Wenn man Psychiater, die Leukotomie üben, als Verbrecher und ihre Bemühungen um das Wohl der Schwerstkranken als Vergehen gegen die Menschlichkeit bezeichnet ... so wird sich niemand mehr finden, auf diesem schwierigen Arbeitsgebiet weiter zu forschen." (Festschrift 1950, S. 44)

Aber so weit ist es nicht gekommen, denn die Psychiatrie weiß sich und ihre Methoden im Recht angesichts ihrer gesellschaftlichen Verantwortung und der Schwere der einzelnen Probleme.

"Darum müssen wir, über unsachliche Kritik und Unverstand hinweg, das Vertrauen der Patienten und Angehörigen gewinnen und dann handeln. Denn um dieses Handeln geht es auch in der lrrenheilkunde. 'Wissen allein', so sagte einmal Helmholtz, 'ist nicht das Ziel, die Bestimmung des Menschen. Wir lernen nicht nur, um zu wissen. Die Handlung die Wirksamkeit allein bieten dem Menschen einen würdigen Zweck des Lebens." (Festschrift 1950, S.44).

Psychiatrie und Politik

Als Wissenschaft kann man die Psychiatrie gar nicht begreifen. Ihr Gegenstand sollten Geisteskrankheiten sein. Sie begann jedoch erst dann eine wissenschaftliche Rolle zu spielen, als Geisteskrankheiten zu Gehirnkrankheiten erklärt wurden und damit eine reine Behauptung die Grundlage der neuen Lehre bildete. Das Dilemma der Psychiatrie, nämlich Geisteskrankheiten aus moralischen und sozialen Sinnzusammenhängen heraus nur verstehen zu können, war damit scheinbar gelöst. Die Geisteskrankheiten verwandelten sich' in "Psychopathien", und diese wurden auf organische Ursachen, welche zwar nicht auffindbar aber eben postuliert waren, zurückgeführt. Unter Psychopathie wurde alsbald alles gefaßt, was vom sozial erwünschten Menschentyp abwich: neben den eigentlichen Geisteskrankheiten die Trunksucht, Epilepsie, Mangel an ethischem Gefühl, auch etwa abstoßende Physiognomien, mangelnde Kindesliebe (nur bei Frauen), oder, wie vom Schweizer Psychiater Forel zusammengefaßt, "große Heftigkeit der Leidenschaften und Begierden oder auch nur eine starke lmpulsivität". Ließen sich anatomisch keine organischen Veränderungen auffinden, so wurde desto eifriger der ideologische Ersatz aufbereitet. Bekannte Psychiater der Jahrhundertwende wie Kraepelin, Krafft-Ebbing, Schüle entwickelten die Lehre vom "degenerativen erblichen lrresein" und verlegten die organischen Ursachen ins Erbgut, in den Keim des menschlichen Lebens. Das Erbgut wurde auf das Volksganze bezogen und von daher als hoch- bzw. minderwertig angesehen. Damit war die Brücke geschlagen zwischen dem moralischen Urteil der Minderwertigkeit, das über Menschen gesprochen wurde, die dem ideal gesetzten "Volkscharakter" nicht entsprachen, zur biologischen Abweichung und Gefährdung des"Volkskörpers", die der Ermordung Hunderttausender sog. Geisteskranker im Nationalsozialismus den Boden bereitete. (Zitate aus: Till Bastian, Von der Eugenik zur Euthanasie, Verlagsgemeinschaft Erl 1981.)

Wie konnte es dahin kommen?

Die wissenschaftlichen Ideen, insbesondere die der Psychiatrie, gediehen nicht im luftleeren Raum, sondern erfüllten staatliche Zwecke. Nur so ist es zu erklären, daß solch blühender Unsinn wie die Vererbungs- und Degenerationslehre zu gesellschaftlicher Ehre gelangte. Welches war der Zweck, dem diese Lehren in Deutschland dienten?

Man wünschte sich ein neues Volk, nicht ein Volk, sondern eine Rasse, eine kriegerische Herrenrasse unter Eliminierung, der widerständigen Volksteile. Begründen ließen sich diese Vorstellungen eben mit Hilfe der psychiatrischen und medizinischen Lehren, die der Verelendung auf den Grund gegangen waren und die Verseuchung des gesunden durch krankes Erbmaterial festgestellt hatten. Politische und medizinische Lehren verbanden sich auf''s beste in den praktischen Programmen, die zur Aufartung der Rasse, zur Erbpflege, zur Eugenik, d.h. zur Auslese des kranken Erbmaterials, aufgestellt und in den dafür gegründeten Instituten durchgeführt wurden. Solche Institute entstanden in der Weimarer Zeit in Massen, die eugenische und 'rassebiologische Forschung war schon damals fester Bestandteil der Psychiatrie. Um "die Bevölkerung von den geistig und körperlich Defekten zu befreien" (Grotjahn) wurden zunächst Sterilisation und Asylierung erwogen und durchgeführt. Zum nächsten Schritt, dem Gedanken an Tötung, war es nicht weit, und schon 1920 diskutierten die Professoren Binding (Jurist) und Hoche (Psychiater) in dem später von den Nationalsozialisten als Legitimation herangezogenen Werk die "Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens" (Buchtitel). Binding und Hoche kamen unter vielen Wenn und Abers zu dem Schluß, daß die Vernichtung "nicht lebenswerten Lebens" aus Gründen einer höheren staatlichen Sittlichkeit geboten sei, nämlich um eine moralische und wirtschaftliche Belastung durch sog. Ballastexistenzen von der gesunden Umgebung abzuwenden. Nicht wenige Ärzte und Psychiater stimmten solchen Gedanken zu, und so nimmt es nicht wunder, daß sich zu dem Zeitpunkt, als eine entschlossene Politik sich des unwerten Lebens annahm, genügend Berufsvertreter im medizinischen, juristischen und Verwaltungsbereich fanden, die die Vernichtung durchführten.

Planung und Durchführung der Vernichtung

Einer der bereitwilligen und pflichtbewußten Mörder war Herrr Dr. Pfannmüller, ärztlicher Direktor der Nervenheilanstalt in Eglfing-Haar bei München. Herr Pfannmüller diente als Gutachter für die in Berlin ansässige "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten", die unter Weisung des Reichsinnenministeriums die Vernichtungsaktion organisierte. Die Kommission hatte sich ihre Aufgabe so vorgestellt: Auf 1000 gesunde Menschen kommen 10, die in ärztlicher Behandlung stehen, davon 5, die stationär behandelt werden und 1 Mensch, der zur Vernichtung bestimmt wird. Bei 6 Millionen Menschen wurde mit 60 000 zu Tötenden gerechnet. Es gab jedoch auch Schätzungen bis zu 1 Million zu Vernichtender (Prof. Kranz im NS-Volksdienst vom April 1940) - weit über 100 000 "schafften" die Kommission und ihre willigen Helfer tatsächlich, bis sie - unfreiwillig - aufgeben mußten.

Die mit dem Mord beauftragten Ärzte und Anstaltsleiter sowie die Regierungsbeamten hatten dafür nahezu freie Hand. Als Grundlage und Rechtfertigung diente ihnen ein von Hitler ausgestelltes Schreiben vom Oktober 1939, in dem es hieß:

"Reichsteiter Bohler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichen Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. "

Dieser Erlaß erlangte niemals Gesetzeskraft. Eine Verweigerung, bei der Auslese und Tötung mitzumachen, hatte im allgemeinen keine negativen Folgen für den Betreffenden, der zum Stillschweigen verpflichtet wurde. Jedoch: Aus dem Kreis der von Bohler und Brandt zur Mitwirkung berufenen ärztlichen Standesvertreter - einige Universitätsprofessoren, mindestens zwei Anstaltsleiter, einer davon Pfannmüller, sowie eine sich ständig vergrößernde Zahl von Psychiatern und Ärzten - ist nur einer bekannt, der sich dezidiert gegen die Mordpläne ausgesprochen hat. Zurück zu Pfannmüller. Die Aktion nahm ihren Anfang, indem an alle Anstalten Meldebögen verschickt wurden, auf denen die persönlichen Daten der Anstaltsinsassen, ihre Diagnose und Arbeitsfähigkeit vermerkt werden sollten. Die ausgefüllten Fragebögen wurden an die Gutachter verschickt, die die Patlenten mit einem + oder - versahen und die Bögen zurück nach Berlin sandten. Zum Beispiel so:

"An das Mitglied des Gutachterausschusses

Herrn Ob.-Med.-Rat Dr. Pfannmüller 

Betrifft:

Meidebogensendung Nr. 137901-138200 

In der Anlage lasse ich Ihnen 300 Meldebogen aus den Anstalten Lüneburg mit der Bitte um Begutachtung zugehen. Freigemachte Aufklebeanschrift für die Rücksendung liegt bei. 

Prof. Dr. Heyde"0

Vier Tage später (?) antwortet bereits Pfannmüller.

"Eglfing, den 29. November 1940 

An die Reichsarbeitsgemeinschaft

Heil- und Pflegeanstalten

z. H. Pg. Prof. Dr. Heyde, Berlin W 9 

Betreff: 107. Meldebogen-Sendung 300 Stück Nr. 137901-138200  

Sehr verehrter Herr Professor Heyde 

In der Anlage übersende ich Ihnen die 107. Meldebogen-Sendung 300 Stück Nr. 137901-138200 nach Begutachtung zurück. 

Dr. Pfannmüller

Obermedizinalrat"

Auf diese Weise 'prüfte und begutachtete' Pfannmüller in der Zeit vom 14. November 1940 bis 1. Dezember insgesamt 2190 Fragebogen (also im Durchschnitt 137 täglich!), ohne auch nur einen Patienten persönlich je in Augenschein zu nehmen."

In Berlin versah ein weiterer "Obergutachter" die Bögen mit + oder -, worauf die mit + versehenen an die für den Transport gegründete "Gemeinnützige Krankentransport GmbH" überstellt wurden. Diese holte die zur Vernichtung ausgesuchten Menschen in eigenen Buss& von den Anstalten ab und fuhr sie in die Vernichtunganstalten. Als sich herausstellte, daß der direkte Transport zur Tötung nicht geheimgehalten werden konnte, verlegte man die Opfer zunächst in sog. Zwischenanstalten, um sie nach einer Wartezeit von dort zur Tötung abzuholen.

Die Haarer Hungerhäuser

In Haar wurden jedoch nicht nur die Insassen anderer Anstalten zur Tötung bestimmt, in Haar wurde auch selbst getötet. Hierfür wurden unter Leitung und Verantwortung von Pfannmüller sogg. "Hungerhäuser" eingerichtet. Grundlage dieser Maßnahme bildete ein Erlaß des Bayrischen Innenministeriums vom 30. November 1942:

"Nr. 5263a 81 München, den 30. November 1942. Der Bayr. Staatsminister des lnnern.

An den Herrn Reichsstatthalter in der Westmark und die Regierungspräsidenten. Betr.: Verpflegung in den Heil- und Pflegeanstalten. Beilagen: Nebenabdrucke für die Heil- und Pflegeanstalten des Regierungsbezirks. Im Hinblick auf die kriegsbedingten Ernährungsverhältnisse und auf den Gesundheitszustand der arbeitenden Anstaltsinsassen läßt es sich nicht mehr länger verantworten, daß sämtliche Insassen der Heil- und Pflegeanstalten unterschiedslos die gleiche Verpflegung erhalten ohne Rücksicht darauf, ob sie einerseits produktive Arbeit leisten oder in Therapie stehen oder ob sie andererseits lediglich zur Pflege in den Anstalten untergebracht sind, ohne eine nennenswerte nutzbringende Arbeit zu leisten. Es wird daher angeordnet, daß mit sofortiger Wirkung sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht diejenigen Insassen der Heit- und Pflegeanstatten, die nutzbringende Arbeit leisten oder in therapeutischer Behandlung stehen, ferner die noch bildungsfähigen Kinder, die Kriegsbeschädigten und die an Alterspsychose Leidenden zu Lasten der übrigen Insassen besser verpflegt werden.

Auf die am 17. November 1942 beim Staatsministerium des Innern stattgefundene Besprechung mit den Anstaltsdirektoren wird Bezug genommen. Die Anstaltsdirektoren haben unverzüglich die entsprechenden Maßnahmen zu veranlassen."

Gerhard Schmidt, der die Anstalt Haar-Eglfing nach 1945 leitete, schreibt dazu:

"In Eglfing existierten zwei sogenannte Hungerhäuser (Haus 25 für Männer, Haus 22 für Frauen, aushilfsweise auch Haus 39). Ab Januar 1943 bis Kriegsende, also zweieinviertel Jahre, war die Abgabe von Fleisch und Fett an diese beiden Stationen untersagt. Die ausgesonderten Pfleglinge erhielten Gemüse, Kartoffeln und täglich eine Scheibe Brot. Das war eine angeblich in der Anstalt Kaufbeüren erprobte Kost, weiche den Magen füllt und doch langsam zum Ziel führt. 'Wir geben ihnen kein Fett, dann gehen sie von selber, hieß die vielerseits bezeugte Devise des Eglfinger Direktors, wobei Eiweiß, ohnehin Mangelware, nicht einmal erwähnt wird. Fiel die Abmagerungskurve nicht erwartungsgemäß, so gab es Vorhaltungen, nicht ganz unberechtigt, weit von der Küche öfter Fett oder Fleisch in die Suppe geschmuggelt worden wäre.

Der elendeste Zustand der Eglfinger Männer um Kriegsende lag mit 51,2 kg Durchschnittsgewicht immer noch 11 kg über dem Ernährungsniveau von Haus 25. Das ist der in Gewichten ausgedrückte Unterschied zwischen den Folgen vorsätzlicher Aushungerung und kriegsbedingter Notlage.

Gelegentlich hört man gegen die Feststellung bewußter Aushungerung den Einwand, daß Abmagerung und Anstaltssterblichkeit schon im ersten Weltkrieg erschreckend hoch waren. Bedenkt man aber, daß die Ernährungslage im ersten Krieg schlechter war und daß trotzdem 1945 die Sterblichkeitskurve weit höher kletterte, so wird der zusätzliche Einfluß des nationalsozialistischen Vernichtungswillens offenbar. Während 1918 bei einem Verpflegungsstand von 2338 Personen 363, d.h. 15,5% Todesfälle gezählt wurden, stieg 1945 bei einer Durchschnittsbelegung von 2686 die Zahl der Todesfälle auf 821, dh. 28,601o. Diesem Vergleich ist das ganze Jahr 1945 mit seinen seit Mai fortwirkenden Kriegsschäden zugrunde gelegt.

Gemessen am ersten Halbjahr mit allein schon 17% Todesfällen, verschiebt sich das Verhältnis weiter zu Lasten der nationalsozialistischen Zeit. Die Todesquote in Eglfing-Haar war Anfang 1945 gut doppelt so hoch wie 1918.

Absolut gerechnet waren bis zum 1. Juni 1945 an direkten und indirekten Folgen des Nahrungsentzugs auf den beiden - angeblich meist unterbelegten - Stationen zu je 60 Betten 444 Patienten gestorben. Dabei fällt der hohe Prozentsatz an Tuberkulose auf, der bei Frauen 54, M bei Männem 65,7% beträgt. Der schon im ersten Weltkrieg beobachtete Zusammenhang zwischen Entkräftung und Tuberkuloseanfälligkeit ist evident, freilich nicht im Sinne eines Experimentes, weil unbekannt ist, wieviel Kranke trotz oder gerade wegen eines floriden Lungenprozesses auf die Hungerstationen verlegt wurden.

Mit der Massenvergasung in ,Reichsanstalten' konnten die Hungerhäuser wegen ihrer langwierigen Prozedur nicht konkurrieren. Auch ließen sich dort lediglich ausgesucht antriebsarme, körperlich geschwächte Pfleglinge halten, unfähig, Widerstand zu leisten. Unter so eingeengten und protrahierten Umständen darf die in zweieinvieriel Jahren erreichte Gesamtzahl von 444 Eglfinger Hungertoten als erstaunlicher Beitrag zur Ausrottung von Geisteskranken gebucht werden.

In Auswahl und Anzahl der Patienten basierte die Aushungerung, nachdem sie prinzipiell auf der Konferenz im Staatsministerium festgesetzt worden war, auf der Initiative des Anstaltsdirektors. Hier war er wirklich unabhängig, frei, souverän. Kein Meldebogen, keine Reichsarbeitsgemeinschaft, kein Reichsausschuß, kein Nebengutachter und kein Obergutachter engten ihn ein."

Der Kindermord in Haar

Für die Erfassung und Vernichtung als geisteskrank eingestufter Kinder war eine eigene Organisation eingerichtet worden, der "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden". Ihm mußten laut Erlaß des Reichsinnenministeriums vom August 1939 alle Kinder mit als ererbt angesehenen Leiden gemeldet werden, die bei Ärzten, Hebammen, in Krankenhäusern oder Gesundheitsämtern bekannt wurden. Diese wurden vom Reichsausschuß in sog. "Kinderfachabteilungen" eingewiesen. Solche Kinderfachabteilungen existierten in 28 Anstalten, deren leitende Ärzte dem Vernichtungsgedanken in Wort und Tat nahestanden. Die Kinder wurden nach einem festgesetzten Terminplan durch Injektionen getötet, was durch Ärzte oder auch durch Sonderpflegerinnen, die dazu bereit waren und sich zur Geheimhaltung verpflichtet hatten, geschah. Eine der 28 Kinderfachabteilungen befand sich in Haar. Dort hatte sich Pfannmüller eine besondere Methode der Tötung ausgedacht.

"16. Februar 1940: Der ärztliche Direktor der Anstalt für Geisteskranke und Geistesschwache in Eglfing-Haar (Bayern), Obermedizinalrat Dr. Hermann Pfannmüller, führt einen Lehrgang des Reichsbeamtenlagers Tölz, zu dem vom Stellvertreter des Führers abkommandierte Gauamtsleiter und Kreisleiter sowie auch höhere Offiziere des Heeres, der Marine und der Luftwaffe gehören, die in einführenden Vorträgen über Rasse und Erbfragen geschult wurden, durch die Kinderstation der Anstalt.

Ludwig Lehner, einer der Anwesenden, berichtet später hierüber in einer eidesstattlichen Erklärung:

'Um Dr. Pfannmüller drängten sich etwa 40 Besucher in Uniformen unterschiedlichster Färbung, vom dunklen Grau der Wehrmacht über das heil getönte Braun des Amtsleiterkorps der Nazi-Partei zum tiefen Schwarz des SS-Verbandes.

Nach kurzen einleitenden Bemerkungen trat Dr. Pfannmüller an eins der 15 Kinderbetten heran, die rechts und links den Mittelgang flankierten.

'Wir haben hier Kinder im Lebensalter von ungefähr ein bis fünf Jahren' begann er in dozierendem Ton. 'Alle diese Geschöpfe stellen für mich als Nationalsoziatisten nur Ballastexistenzen dar ... Ballast für unseren Volkskörper. . . lnsofern ist die vom Führer angewießene Aktion, die Volksgemeinschaft von dieser Überbürdung zu befreien, schlechthin eine nationale Tat, deren ganze Größe Nichtmediziner erst nach Jahren, wenn nicht nach Jahrzehnten werden ermessen können. Wir führen die Aktion nun nicht durch Gift, Injektionen oder andere von außen erkennbare Maßnahmen durch ... da würden die Auslandspresse und gewisse Kreise in Paris und London nur Möglichkeiten zu neuer Hetze gegen uns haben ... Nein, unsere Methode ist viel einfacher.'

Mit diesen Worten zog er mit einem Handgriff ein Kind aus dem Bett. Während der dicke,

1953 verfettete Mann das wimmernde Menschlein-Gerippe wie einen erbeuteten Hasen herumzeigte, bemerkte er sachlich:

'Wir entziehen die Nahrung natürlich nicht von einem Tag zum anderen. Das würde zuviel Unruhe machen. Wir verringern allmählich die Essenrationen. Die Natur hilft sich dann schon selber . . . Bei diesem hier wird es kaum noch zwei bis drei Tage dauern ...'

Dann ließ er das Kind in das Bettchen zurückfallen."

Der Reichsausschuß arbeitete bis ins Jahr 1945 weiter. Auf seine Veranlassung wurden insgesamt etwa 5 000 Kinder ermordet.

Die Verschickungen in die Vernichtungslager

"Das Dokument No. 1133 gibt einen der vom Amt Linden im RMdl ausgegebenen Verlegungsbefehle wieder.

'Staatsministerium des lnnern München, den 18. Okt. 1940

An den Direktor Dr. Pfannmüller der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar

Betrifft: Verlegung von Kranken der Heil- und Pflegeanstalt. 

Die gegenwärtige Lage macht die Verlegung einer großen Anzahl von in Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Kranken notwendig. Im Auftrage des Reichsverteidigungskommissars ordne ich die Verlegung von 120 Kranken aus Ihrer Anstalt an. Die Verlegung wird voraussichtlich am 24. Okt. 1940 erfolgen. Wegen der Abholung der Kranken, die in meinem Auftrag erfolgt, wird sich die Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH. in Berlin, bzw. deren Transportleiter mit Ihnen ins Benehmen setzen. Der Transport ist von der Abgabestelle vorzubereiten. Falls die Anstalt über kein Bahnanschlußgleis verfügt, ist der Transport der Kranken bis zur nächsten Bahnstation von der Anstalt durchzuführen. Unruhige Kranke sind mit den entsprechenden Mitteln für einen mehrstündigen Transport vorzubehandeln. Die Kranken sind, soweit möglich, in eigener Wäsche und Kleidung zu übergeben. Das gesamte Privateigentum ist in ordentlicher Verpackung mitzugeben. Soweit keine Privatkleidung vorhanden ist, stellt die Abgabestelle Wäsche und Kleidung leihweise zur Verfügung. Die Krankenpersonalakten und Krankengeschichten sind dem Transportleiter auszuhändigen. Die Kostenträger sind von der Abgabestelle davon in Kenntnis zu setzen, daß weitere Zahlungen über den Tag der Verlegung hinaus solange einzustellen sind, bis sie von der Aufnahmeanstalt angefordert werden. Bei gerichtlich Eingewiesenen hat diese Verständigung an die Strafvollstreckungsbehörde unter Angabe des Aktenzeichens zu erfolgen. Die Benachrichtigung der Angehörigen von der Verlegung. erfolgt unverzüglich durch die Aufnahmeanstalt. Sollte in der Zwischenzeit ein Angehöriger bei der Abgabeanstalt anfragen, so antwortet ihm diese, falls ihr der Name der Aufnahmeanstalt noch nicht bekannt sein sollte, der Kranke sei im Auftrag des zuständigen Reichsverteidigungskommissars verlegt worden. Die neue Anstalt werde sich übrigens bald mit den Angehörigen in Verbindung setzen.'

Drei weitere, völlig gleiche Befehle an die Anstalt Eglfing-Haar enthält das Dokumentenbuch. Betroffen sind vom Okt. 1940 bis Jan. 1941 440 Patienten. Die Namenlisten und die 'Empfangsbestätigungen' des Beauftragten der 'Gemeinnützigen Krankentransport GmbH.' befinden sich ebenfalls unter den Dokumenten.

In einer Zeugenaussage (Prot. S. 1841) gab der ehemalige Oberarzt der 'Beobachtungsstation' Eichberg an, daß ihm sein Chef, Dr. Mennecke, gesagt habe, die jeweils am sehr frühen Morgen durch die Omnibusse der 'Gem. Krankentransport Gesellschaft' nach Hadamar abgeholten Patienten wären bereits am Abend des gleichen Tages tot.

Nach erfolgter 'Verlegung' erhielten die Anstalten zumeist kurze Zeit später ein Schreiben wie das folgende: (Doc. 1696 PS)

'ich beehre mich mitzuteilen, daß die am 8.1,1.1940 aus Ihrer Anstalt verlegten weiblichen Pfleglinge alle im Nov. v.J. in den Anstalten Grafeneck, Bemburg, Sonnenstein und Hartheim gestorben sind." (Mitscherlich/Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, S. 194f)

Endlösung Haar

Am 4. September 1940 erging folgender Erlaß des Bayrischen Innenministeriums:

"Der Reichsminister des lnnern hat mit Erlaß vom 30.8.1940 Nr. IV g 66621405106 angeordnet daß die Juden in einer Anstalt untergebracht werden. Zur Durchführung dieses Erlasses ordne ich an, daß alte Juden am 14.9.1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München zu verbringen sind. Für diese Maßnahmen kommen nur Volljuden deutscher oder polnischer Staatsangehörigkeit sowie staatenlose Volljuden in Frage. Juden anderer Staatsangehörigkeit (auch Protektoratsangehörige) sind ebenso wie Mischling 1. und 2. Grades in diese Aktion nicht einzubeziehen ... "

Schon Monate vorher waren in Brandenburg bei Berlin die zuvor in der Heit- und Pflegeanstalt Buch bei Berlin zusammengezogenen jüdischen Insassen ermordet worden. Ein Bericht aus Eglfing-Haar macht deutlich, daß hier derselbe Zweck verfolgt wurde:

"... als im September 1940 hundertsechzig Juden allein und in Gruppen eintrafen, wurden sie in zwei Häusern der Anstalt (Eglfing-Haar) lediglich nach Geschlechtern getrennt, ohne Rücksicht auf ihren Zustand Erregte, Stumpfe, Sieche, lmbezille und intellektuell Normale - zusammengepfercht ... (es) waren viele ältere Herren darunter, ein Stadtrat aus dem Rheinland, Kaufleute, ein Rechtsanwalt, ein Bekannter von Thomas Mann. . . geistig hat man sich sehr gut mit ihnen unterhalten können . . . und es waren gebrechliche Damen darunter, die gefahren werden mußten ... Näheres wußte niemand. Ein tückenloses Namensverzeichnis wurde nicht aufgestellt ..."

In Haar wurden die jüdischen schwachsinnigen Menschen gezwungen, vor der Kamera zu gestikulieren und sich als Abschaum der Menschheit "für wissenschaftliche Zwecke" filmen zu lassen. Am 20. September 1940 wurden alle jüdischen Anstaltsinsassen in die "Reichsanstalt" Cholm, Post Lublin, Polen-Generalgouvernement abtransportiert. Von "Cholm, Post Lublin" wurden kurze Zeit darauf Kostenrechnungen für "verstorbene" jüdische Geisteskranke verschickt. Das Standesamt "Cholm, Post Lublin" war schon vorher in Aktion getreten: Von dort waren die Sterbeurkunden der in Brandenburg getöteten Juden verschickt worden, und es befand sich keineswegs in Cholm, sondern in der Berliner Zentrale, die Cholm, Post Lublin, als Deckadresse benutzte und sogar einen Briefkurierdienst dorthin unterhielt, damit die Briefe richtig abgestempelt wurden.

In der Lubliner Adresse wird der Zusammenhang mit den Judenmorden im Sinne der Endlösung augenfällig: Wurden doch in Lublin die Gaskammern neu aufgebaut, die aus den Vernichtungsanstalten für Geisteskranke stammten, und die aufgrund der Proteste der Bevölkerung und kirchlicher Kreise ab 1941 nicht mehr in Deutschland verwendet werden konnten. So entstanden in Lublin 1942 und 1943 drei Vernichtungslager (Treblinka, Sobibor und Belzec), in denen 1,5 Millionen Juden vergast wurden.

Sühne

"Die in der bayerischen Anstalt Eglfing-Haar begangenen Morde wurden an drei langjährigen Anstaftspflegerinnen von der 3. Strafkammer des Landgerichts München 1 am 24. Juli 1948 'als Beihilfe zum Totschlag' mit einer Gefängnisstrafe von je zwei Jahren sechs Monate Gefängnis geahndet.

Dr. Pfannmüller, der Leiter der Anstalt, wurde 1949 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, auf diese Strafe wurde die seit 1945 erlittene Internierungs- und Untersuchungshaft angerechnet."

Rainer Michler, Gabi Forcht

 

Literatur

(Zitate" soweit nicht angegeben, aus: Kaul 1979)

Friedrich Karl Kaul, Die Psychiatrie im Strudel der 'Euthanasie', EVA Köln, 1979.

Till Bastlan, Von der Eugenik zur Euthanasie, Verlagsgemeinschaft Erl 1981.

Mitscherlich/Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, Frankfurt M., 1978.

Bezirk Oberbayern (Hrsg.), Das Nervenkrankenhaus Haar bei München 1905-1955.

Bezirkskrankenhaus Haar (Hrsg.), 75 Jahre Bezirkskrankenhaus Haar 1905-1980.