Wolfram Pfreundschuh (1986) aus TÜRSPALT Nr. 11

Raus aus dem Irrenhaus!

Anmerkungen zum derzeitigen Stand der Psychiatrie-Diskussion (1986)

Die Psychiatrie-Enquête und die Folgen

Seit der Veröffentlichung der Psychiatrie-Enquête hat sich tatsächlich einiges geändert: Über 20 Millionen DM wurden allein für "Modellversuche im psychosozialen Bereich" freigegeben; Kliniken wurden bezuschußt, wenn sie sich "psychosozial" begründen konntem und vor allem: eine Menge "psychosozialer" Arbeitsplätze wurden geschaffen. Jede größere Stadt hat inzwischen -- fest eingegliedert in die "psychosoziale Versorgung der Bevölkerung" - ihre "sozialpsychiatrischen Dienste" und viele Leute, die sich früher der Antipsychiatrie zurechneten oder auch jetzt noch zurechnen, arbeiten dort; - mit einer BAT III- oder BAT II-Stelle.

Es war ja auch klar, daß hier »etwas geschehen« mußte. Schon gemessen an ganz gewöhnlichem hygienischen, medizinischen, rechtlichen und vor allem versorgungspolitischen »Behandlungsbrauch« war die »Psychiatriereform« überfällig und es ist hier und da nur allzu augenfällig geworden, daß dort der Krieg noch nicht vorbei war; - deshalb war wohl auch gerade diese Institution noch nicht richtig in das Selbstverständnis der Nachkriegszeit einbezogen. Es lag auf der Hand, daß ein moderner Staat nicht mehr mit den Kaserniermethoden und Foltern des Dritten Reichs in dieser plumpen Form seinen Aufgaben gewachsen sein kann. Die zeitgemäße »medizinische Versorgung«, die rechtliche »Gleichstellung des Psychisch Kranken mit dem somatisch Kranken«, die plurale Therapie, die »Vor- und Nachbetreuung« und deshalb auch vor allem die ambulante Betreuung sollte sich an den Stand der Versorgungstechnokratie, wie er von den USA vorgelegt worden war, angepaßt werden.

Die Antwort des Staats auf die zunehmende seelische »Systemverweigerung« ist eben das Prinzip der Versorgung. Es behauptet in der Schlichtung, sprich: Ausschaltung von geistiger Not die Bewältigung des Elends, vor allem aber die Auflösung von Unruhe. Und nachdem diese Versorgung nicht nur von CDU, FDP und SPD, sondern auch von »linken Berufstätigen« als Mittel, wenn auch schon als »Mittel der Befreiung« angesehen wurde, hatte sich eine breite Front der Versorgungstechnokratie gebildet, in welcher sich die Versorgungsbedürfnisse verbrüdern konnten. Sowohl vom Standpunkt der Staatspolitik wie auch vom Blickwinkel des Berufsstands der Gesundheitshelfer erscheint die »Versorgungslücke« gleichermaßen schlimm: dem »wachsenden Problem« entwachsen die Mittel, es zu beherrschen. Und so stand die Aufrüstung der Mittel, die Einrichtung der Modelle, Ambulanzen und Dienste gut gepaart mit der Ideologie der »sozialen Psychiatrie« einfach an. E,~ war deshalb auch die Deutsche Gesellschaft für soziäle Psychiatrie (DGSP) der beste »Mann« für den neuen Job: Für sie war die Verbesserung der Versorgung gleichbedeutend mit der Verbesserung der Lage der Gesundheitshelfer und mit der »Befreiung der Psychisch Kranken« aus ihrem Getto identisch.Und deshalb tat sie ja auch alles, was Mittel, Arbeitsstellen und Direktionsposten beibrachte.

Inzwischen steht man dort bereits vor Vergangenheiten, denn die »Freiheit« war durch die Modellpsychiatrie noch weiter entrückt: "Die DGSP hat zum Scheitern der Freiheitshoffnuhgen beigetragen, weil sie nie den Bannkreis der Reformlobby verlassen hat, weil sie nicht die herrschende Psychiatrie bekämpfte, sondern sich stattdessen Modelle, Institutionen, Stellen einer anderen, alternativen Psychiatrie erkämpfte .... Die DGSP hat nie politisch geklärt, ob sie die Verrückten besser versorgen will. um sie zu befreien, oder ob sie sie befreien will, um sie besser zu versorgen .... Die DGSP wird nicht nur einem gescheiterten Reformwerk gegenüberstehen, sie wird sich selbst als Unterdrückungsinstrument wiederfinden." (Klaus Hartung in der TAZ v. 5.11.84)

Während hier die Mittel der Psychiatrie, die »psychotherapeutischen«, »psychosozialen Therapieketten« verbessert wurden, ist es im selben Maße ,auf der andern Seite" ruhiger geworden. In München zum Beispiel gibt es keine der drei halbwegs kritischen Selbsthilfegruppen mehr (TC, HIPSY und KID), weil ihnen die Gelder gerade wegen der Einrichtung Sozialpsychiatrischer Dienste gestrichen wurden (vgl. TÜRSPALT Nr. 6: ,Die Öffentliche Hand der Psychiatrie'). Und auch anderswo (z.B. Berlin, Frankfurt, Wien, Zürich oder Hamburg) werden die Gelder immer mehr und das ist auch die Sachlogik darin den professionellen Stellen zugewiesen. Das sind inzwischen eben die »SPDie«s, jene große Erfindung der Psychiatriereformer. Und weil es nunmal nur einen bestimmten Etat gibt, muß der zuständige Mensch in der Kreisverwaltung - ob im guten oder bösen Willen, ist egal - die Gelder "effektiv" einsetzen.

Natürlich sind die sozialpsychiatrischen Konzepte und die Konzepte der Gemeindepsychiatrie außerordentlich effektiv. Sie bieten ja gerade das als restaurierte Lebensmöglichkeit an, woran die Menschen verzweifelt sind, die in der Psychiatrie landen: die intakte Familie, die intakte Gemeinde, das intakte Bürgertum, der gesunde Menschenverstand usw.

Indem auf diesem Weg so gut wie jede Eigeninitiative »verschwunden« ist, hat sich also vor allem eines geändert: Es gibt keinen anderen Weg mehr als den institutionellen. Eine ,Ordnung" ist entstanden, die sich überall durchzieht: Wo jemand austickt, findet er keine andere Stelle mehr als die Sozialpsychiatrischen Dienste oder die Sozialpsychiatrische Aufnahmeklinik. 'Und dort ist der ~Weg" im Großen und Ganzen geklärt: Da sitzt ein Mensch, der seine Fachbildung und vielleicht auch viel Engagement mitgebracht hat. Abgesehen davon, daß er sich in einem gewissen »Werdegang« begreift und von daher vorsichtig sein muß, hat er von sich her auch kein angeborenes Vermögen, in einer »Beratungssituation« und vor allem am Schreibtisch oder Couchtisch »das Problem« anders zu erkennen, als so, wie es ihm in efnem Gespräch erklärlich ist. Er wird in dieser Situation und von dieser Stelle her eine große Hilflosigkeit verspüren, sich auf die Fachliteratur stürzen, womit »es« ihm leichter gemacht werden soll, einen psychischen Zustand zu begreifen, sich glücklich schätzen, irgendeine nicht ganz so brutale Klinik in Erfahrung gebracht und somit eine »gangbare Vermittlung« gefunden zu haben. Also weiterhin Klapse! Nicht umsonst haben diese Dienste zudem ihren Psychiater als »Supervisor« und nicht umsonst werden sie ohne jede wirkliche materielle Ausstattung auf ein riesiges »Problemfeld« losgelassen. Selbst wenn er's anders will: was kann ein sozialpsychiatrischer Helfer oder der von ihm zudem noch betreute »Laienhelfer« innerhalb dieser Organisations- sprich: Institutionsform anderes tun, als sein Unvermögen zu erfahren und sich zunehmend in die etablierte »Therapiekette« einzuklinken? Der Staat hat ihn dann eben sorum gekriegt; nicht als Gefängniswärter und nicht als Drogenhändler, viel gezielter, von seirem eigenen Anspruch her!

Der Trick des Wohlfahrtsstaats liegt hier auf der Hand: Indem staatliche Versorgung in alle Nischen hineinwirkt, also möglichst lückenlos funktioniert, lassen sich soziale und psychische Nöte am besten und wirkungsvollsten kontrollieren. Indem man also dem »Wildwuchs« der Initiativen den Hahn abdreht, wenn sie sich der Sozialpsychiatrie verweigern, glättet man die Versorgungsscene auf die staatlich erwünschte Supervisions- und Gutachterkette. Und wenn man dann auf der anderen Seite noch dem brav gewordenen »Psychisch Kranken« einige lukrative Angebote machen kann, die sich vielleicht bei einem Bruchteil der Betroffenen einlösen lassen, dann läßt sich auch bald vergessen, was das »Problem« überhaupt war: So wird in der Tat jetzt "effektiver" geholfen! Schließlich kriegste auch eine Karriere geboten als Rehabilitant, der sich durch beschützende Werkstätten hindurch bis zu eaner Arbeitsstelle wühlen kann, um sich schließlich glücklich zu schätzen, es mat irgendeiner Stelle in irgendeiner Werkstatt ,geschafft" zu haben. Und für wen ist das nichts, der in einer Situation steckt, wo ihm alle Möglichkeiten verwehrt, jedes Standbein weggezogen und keinerlei Existenz mehr möglich erscheint?

Die organisierte Not und ihre Wendung

Eine wesentliche Arbeit der sog. Selbsthilfegruppen - besser wäre wohl die Bezeichnung Selbstorganisation - bestand gerade darin, der Gutachtermeinung, der rechtlichen Situation des Betroffenen, den medizinischen Diagnosen und Verordnungen, den familiären und sozialen Bindungen und der Wohn- und sonstigen existentiellen Situationen die Befassung, Auseinandersetzung und Beantwortung eines wirklichen Problems entgegenzusetzen.

Sie waren ausdrücklich gegen die Interessen der Institution und des Staats angetreten, haben oft auch weitreichende Öffentlichkeitsarbeit gegen die Mißstände in der Psychiatrie initiiert und dem Betroffenen hiermit vor allem mitgeteilt, daß »sein Problem« über ihn hinausweist und für viele Menschen eine wirkliche Lebens- und Überlebensfrage geworden ist. Selbsthilfegruppen sind und waren die wichtigste Gruppierung um aktiv zu werden gegen Ein- und Zugriffe der systematischen Isolierung: Da wurde versucht, jemanden von den Psychodrogen runterzubringen, die er anderswo als Gesundheitsbnnger verschrieben bekam oder darum, ,im Schub" dabei zu sein, damit er nicht eingestampft wird, seine Wirklichkeit zu schützen, bevor die Psychodrogen oder die psychiatriche Institution wirksam wird oder Wohnung und Arbeit zu vermitteln, die nicht unter dem Etikett der »Psychischen Krankheit« gewährt und damit beherrscht wird.

Solche Selbstorganisationen sind ursprünglich nicht Teil eines Versorgungsgedankens gewesen, in welchen sie von der Sozialpsychiatrie integriert werden sollten. Sie waren ausdrücklich gegen die herrschenden Mittel der Psychiatrie gerichtet, gegen Versorgung, wo Widerstand nötig 'ist und gegen Fachleute und Sozialmanager, wo Menschen isoliert sind. Solche Selbstorganisationen sind wirkliche Antworten auf die »Probleme«, welchen durch Sozialtechnologie die Vollendung gegeben wird. Sie versuchen, sich dem wirklich zu widersetzen, was zur allgemeinen Wirklichkeit werden soll: alles in der Hand des Fachmanns, alles im großen Staat, jedem den Psychiater zum großen Bruder. Nur von dieser Seite so scheint es wird überhaupt noch das wirkliche Problem erkannt; und das ist kein Problem. welches sich durch Beratung, Psychotherapie und Drogen wesentlich lösen läßt. Hier hat sich längst auch wirklich gezeigt, daß jede psychisch auftretende Not letztlich soziale, materielle Not ist; nicht einfach Geldmangel o.ä. sondern die Vernichtung sozialer Räume und Beziehungen und die Abhängigmachung der Menschen von den großen Agenturen der Wirtschaft, des Konsums, der Kultur und Resozialisation. Solche selbstorganisierte (Wieder)Bemündigung setzt zumindest Zweifel in die Notwendigkeit des großen Bruders, dem groß angelegten Versorgungsapparat und all seinen damit begründeten Zwecken. Schon immer konnten Selbsthilfegruppen, sofern sie sich darin verstanden haben, belegen, daß einem Menschen nur das wirklich hilft, was ihm auch entspricht ,und wo er sich (wieder)erkennen kann. Und das ist für die Selbstgerechtigkeit und Rechtfertigung des »Systems« immer eine Gefahr.

Diese »latente Gefahr« für das öffentlich-rechtliche Verhaltenssystem kann eben auch nur aufgehalten werden, wo von Seiten des Staats und der Versorgungseinrichtungen dieser »Versorgungslücke« vorgegriffen wird und die lokalen Gruppen an den staatlichen Versorgungsplan angegliedert werden: sie wurden und werden zum Teil unter Verlockung größerer Geldsummen zunehmend eingebunden in psychologische oder psychiatrische Aufgaben genannt: Teilhabe an der therapeutischen Verantwortung. Und die »therapeutische Verantwortung« hat's dann auch bei vielen wirklich gebracht- wie kann ein Verantwortlicher verantworten, was er nicht verantworten kann? Wenn sich das »Problem« eben auf das Austicken reduziert, dann ist man verantwortlich geworden, für das Austicken. Und hinter dem drohenden Zeigefinger schiebt sich das altbekannte, und füher ein bißchen unbeliebte Haldolfläschchen hervor. Wer kann denn schon Leben und Tod verantworten! Also treibt sichs so weiter bis ad ultimo! Lieber keine Selbsttötung als Haldol, lieber keinen Schmerz als Semap usw. Und so reden und berichten sie vieles, die Herren von der Verrückten-Administration, die immer nur das zu Gesichte kriegen, was sich in ihren Häusern abspielt und die deshalb auch garnicht wissen, was es sonst geben kann; und wenn es das gibt, dann breiten sie fachmännisch ihre fachmännische Skepsis aus. Sie reagieren immer nur auf sich, ihren Berufsstand und ihre hiervon abhängigen »Erkenntnisse«. Kein Wunder, daß sie diese dann auch besonders toll finden!

Aber nicht nur die Arbeit der Selbstorganisationen ist durch die zunehmende Institutionalisierung der "sozialpsychiatrischen Versorgung" untergegangen oder reduziert. Weit folgenschwerer ist das allgemeine Versorgungsbewußtsein, das sich in der öffentlichen Diskussion um die "Zunahme von psychischer Krankheit" und die "Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Verhütung" ergeben hat. Diese Diskussion hat kein Licht in die Wirklichkeit der damit gemeinten Not gebracht; im Gegenteil: Wer beständig an die Versorgungsnotwendigkeit appelliert, der behauptet damit ja auch immer, daß diesem »Problem« nur noch Fachleute gewachsen sind, daß es also gar kein wirklich menschliches Problem ist! Und wo bisher der Nachbar sich mit dir über manche »Fragen des Lebens« noch verstanden hat, hat er jetzt diesen gewissen Argwohn im Blick, der die Dimensionen fürchtet, die er nicht kennt und von denen »man hört«.

Irgendwie hat fast jeder Angst davor. Eltern belauschen ihre Kinder, ob sie ,Anzeichen" entdecken, Lehrer und Schulpsychologen stecken zunehmend unter einer Decke, wenn sie über ,ihre Schüler" zu befinden haben, und auch jeder ,Arbeiigeber" hat inzwischen sein persönliches Augenmerk auf die ihm unterstellten Arbeitskräfte. Wichtig ist überhaupt, Anzeichen von »Fremdartigkeit« zu erkennen, denn das ist das, was den Bürger und seiner Kultur ans Mark geht. ,Psychische Krankheit" wird zwar offiziell als ,ganz normales Gebrechen', das ,gleichberechtigt" zu den ,körperlichen Gebrechen" gestellt sein soll, gehandelt, im wesentlich greift hierein aber nach wie vor die Angst, daß der Gleichklang der funktionellen Welt bedroht ist.

Es genügt daher auch nicht, ein vorhandenes ,Leiden" zu behandeln, sondern vor allem schon die Möglichkeit, Verrückt zu werden allgemein zu verhindern, es quasi prophylaktisch schon zu erkennen und zu ,behandeln", bevor sie wahr wird. So, als wäre dies nur eine Frage der Mittel und als könnte man ohne weiteres eines jeden »Psyche« handhaben, wird allerorts bis in das Parlament hinein die Bewahrung der psychischen Gesundheit erörtert. Und die Frage der Gesundheitschädigung ist nicht mehr wesentlich eine Frage der Arbeits- und Lebensbedingung, sondern eine Frage des guten Willens und der geeigneten Mittel zur Gesundheitserzeugung, eine Frage der »Harmonie des Ganzen« (Illich). Die voraussetzungslose Machbarkeit des gesunden Lebens sticht inzwischen auch längst in der "Gesundheitsbewegung" und der Gedanke der Verhütung und Vor-Beugung bedient die altbekannte Bürgersehnsucht einer Heilen Welt, der letztendlichen Integration der einzelnen Not in das Wohnzimmer der Gemeinde der Menschenfreunde. Je mehr man das Leiden hier als Argument bemüht, desto schneller sucht man seine Erlösung im Allgemeinen, im Zwischenmenschlichen, im Gemüt der Allgemeinseelsorge.

Fast jede "Behandlung" ist inzwischen legalisiert. Die Versuche, "alleine durchzukommen" geraten zunehmend in die Halblegalität oder Illegalität und jeder ,Sozialpsychiatrisch Tätige" hat seine ,soziale Verantwortung", die ihn dazu treibt, auch dort, wo keine Hilfe gesucht wird, Versorgung reinzubringen. Wer hierdurch "vorübergehend" in eine Klinik eingewiesen wird, der bewegt sich zu auf illegalem Weg, wenn er dort ausreißt. Die Macht der Versorgungsinstitutionen nimmt zu. Und das geschieht allein innerhalb ihrer Strukturen, die deshalb kaum sichtbar werden, weil sie mit Therapie gleichgesetzt, mit Gesundheitsbeschaffung, GesundheitssichersteUung oder mit Willensunfähigkeit des Betroffenen begründet werden (vgl. unseren Artikel zum Bayerischen Unterbringungsgesetz im TÜRSPALT Nr. 5).

Der technokratische Staat ist gerade in diesem Bereich und mit weitgehender Unterstützung der ,linken Sozialpsychiater" dabei, sich vollends durchzusetzen, -- auch und'gerade dann, wenn er aus Oportunitätsgründen an Geld spart, wo die Sozialpsychiatrie schon gegriffen hat! Zu alle dem müssen sich die Sezialpsychiater -- göttliche Ironie des bürgerlichen Staats! -- immer betrogen fühlen, denn ihr Konzept geht immer und nie auf." wo sie die Versorgung der »Psychisch Kranken« durch Fachleute im ambulanten Sektor aufbereiten, da unterwirft der Staat zugleich diesen seiner Bettenpolitik. Die Rechnung mit dem Versorgungssatz muß immer so aufgehen, wie es gerade am billigsten ist. Und schon von daher wird sich niemals die Überflüssigmachung des Irrenhauses durch die Psycho-Ambulanzen einstellen!

Aufstand aus dem Getto oder Kampf gegen das Irrenhaus?

Der wichtigste Grund allerdings, warum die Befreiuungsversuche aus dem Irrenhaus versacken, steckt in der Wirklichkeit der sogenannten Gesundheitsbewegung selbst. Was man von Idee und Einfall, von Phantasie und Utopie hereinzubringen hatte, das war gelaufen: Man hatte sich umgeschaut, wo es ,Änderungen in der Psychiatrie" gab. hat unermüdlich auf Initiativen in der Italienischen Psychiatrie hingezeigt, und hat es wie einen eigenen Erfolg erlebt, wo ,Betroffene sich kritisch geäußert haben". Beliebte Exkursionen von Seiten kritisch engagierter Leute nahmen die ,Betroffenen" in den Blickwi

kel eines neuen, sozialen Exempels, das auf seine Widerstandskraft, seine Kritikfähigkeit .und dergleichen begutachtet wurde. Man hatte die Gettos unter sich. Auf dem Bremer Gesundheitstag wurde es in der Titulierung des »Randgruppenfelds« klar: Aufstand aus den Gettos! - Getto. erhebe Dich!?

Solange man für einen Aufstand im Jenseits, im Getto arbeitet, versteht man sich in der »Politik für die Armut«, die sich eben auch so wunderbar mit der Sorge um die Schwachen, Armen, Randständigen. also mit der Versorgung verträgt. Egal, was man selbst ist, was man teilen oder mitteilen kann: die Not soll für sich sprechen! Sich selbst kann man eben nur als Helfer verstehn, wenn auch zugegeben -- als mächtigen Helfer mit Arbeitsstelle. Professorentitel. Direktorpöstchen usw! Und außerdem läßt sich hier noch "Gutes" tun (und leben), was dem Selbstbewußtsein besonders dienlich ist.

Der Aufstand im Irrenhaus ist die niedliche Vorstellung des Modellbauwiderstands, des Narrentourismus. Allein schon in der Diskussion um die italienische Psychiatrie hat sich gezeigt, daß die Ereignisse dort Geschichten waren. die sich nicht aus den Gettos begründet hatten. Es hat sich gezeigt, daß solche Bewegungen nicht machbare Fakten sind. sie einfach nachzuahmen oder zu übertragen waren oder als "Modell" hier Anwendung finden könnten und sich als sozialpsychiatrisches Versorgungssystem wiedererkennen können sollten. Was viele Ereignisse im Kampf um die italienische Psychiatrie aufmerken ließ. waren eigentlich nicht die groß angelegte Konzepte, die ja zum Teil auch zu einer Technokratisierung im Gesundheitswesen (ähnlich wie Sozialpsychiatrische Dienste) geführt hatten, sondern der Sinn eines Widerstands gegen die Sinnfälligkeit herrschender Gewalten. der Kampf um ein Verständnis dessen, was überhaupt in der Psychiatrie geschieht und was hiergegen zu tun ist und das unermüdliche Festhalten an einer Änderung der Arbeits- und Lebenswelt durch Versuche mit kooperauven Organisationsformen (Vgl. hierzu unser Buch "Die Auflösung der Irrenhäuser oder Die Neue Psychiatrie in Italien").

Das beständige blödsinnige Aufzählen von »Befreiungen« von Erlebnissen der "Verrückten" mit den "Normalen" hat inzwischen fast jeden westdeutschen Psychiater begeistert, .dürfte er es auch erleben". Derweil wird die "Andersartigkeit" solcher Menschen sublim fortgetrieben bis zu der ergriffenen Erkenntnis daß auch sie "unsere Kunst" begreifen können.

Nein, die Diskussion um die Italienische Psychiatrie war wichtig zur Entdeckung von Möglichkeiten des Widerstands, der alle Menschen einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Land betraf, der Notwendigkeit der Änderung von Verhältnissen unter Menschen. Und das war eben leider auch von vornherein wesentliche beschränkter Widerstand in der italienischen Psychiatrie: Die meisten Änderungen dort ergaben sich aus einem Zusammengehen von Aufbegehren gegen zum großen Teil auch anachronistiSche Verhältnisse in der Psychiatrie und der administrativen Unfähigkeit, mit den bekannten "Maßnahmen" und unter der damaligen gesetzgeberischen Situation dieses Problem .zu beherrschen". Nur so war es möglich, daß sich die Direktoren der Irrenhäuser im Parlament als Fürsprecher der Insassen darstellen konnten (und auch waren). Und da sowohl Veränderung von oben wie von unten nötig war, kam es zu solchen Formulierungen, wie sie sich im Gesetz Nr. 180 (zur Auflösung der Irrenhäuser) niederschlugen. Das wird auch weiterhin die Schwachstelle bleiben, die die Italienische Psychiatrie hat. Beschränkt auf die Irrenhäuser und reduziert auf gesetzgeberische Möglichkeiten bleibt der Aufstand dort nur solange Aufstand, wie ihn die Berufstätigen für richtig halten, solange eben, wle sle es »verantworten« können.

Die Diskussion der Berufstäter ist eine Diskussion für sich. Die Diskussion um die psychiatrische Versorgung überhaupt hat zumindest offengelegt, daß es sich hierin nicht mehr um einen Gegensatz der Positionen handelt; - es gibt nicht Meinungsverschiedenheiten zur »selben Sache«. Die Sache. das Anliegen selbst ist verschieden! Die einzige Gemeinsamkeit in der Diskussion besteht vielleicht noch darin, daß die psychiatrischen Gitter. weg müssen, damit man sich bewegen kann. Aber schon in der Benennung der Gitter und der Bezeichnung der Bewegung und vor allem in der Beschreibung des Vorgehens. der Zeitfolge (erst Gitter weg, dann »Bewegung«; erst »Bewegung«, dann Gitter weg oder »Bewegung gegen die Gitter«) sind die Anliegen vollkommen gegensätzlich. Immerhin: es geht um Befreiung.

Nur: Die Befreiung durch staatliche Mittel, die admimstrative Befreiung verstärkt die Macht, das Verfügen über die Freiheit umso nachdrücklicher auf der Seite der Administration, solange sie bestimmen kann, was diese Befreiung ausmacht und was hierfür nötig ist. Niemand würde etwas gegen die Reduzierung der Bettenzahl in Finzens Klinik ("Machen Sie mir das erst mal nach!") haben, wäre dies kein Argument für eine »Vermenschlichung der Psychiatrie«; niemand wäre gegen die "Aufhebung der Großkrankenhäuser", wäre dies nicht zugleich ein Argument für die kleinen überschaubaren Versorgungszellen, für die Verbesserung und Verschärfung, Präzisierung der Psychokontrolle (Diagnostik und Psychopharmaka); und niemand hätte etwas gegen die Sozialpsychiatrischen Dienste, wäre die ,ambulante Betreuung" von den Betroffenen selbst kontrolliert und nicht abhängig von Gutachten und Supervision irgendeines Psychiaters.

In der »Befreiung« waren sich viele einig, die auch nur das Wort aus dem Geschichtsbuch kannten. Deshalb haben letztlich auch nur die ,Betroffenen" selbst erkannt, welche , Wohltaten" ihnen wieder mal mit solchen abstrakten Begriffen aufbereitet werden: die selbstgerechten Visionen der Versorgungstechnokraten fügt sich reibungslos in den allgemelnen Wahnsinn des Verfügungsstaats und seine. Machtgier. Offen und unheimlich breitet er sein Versorgungsnetz über alle Krisen und Nöte, inwelchen Menschen zweifeln und verzweifeln. Sein »Resozialisations«« und »Prophylaxen«-Netz wird sehr schnell zu einem elastischen Gitter, welches man nicht mehr so leicht sprengen kann, weil Menschen dran kleben wie Fliegen an der Leimstange; immerhin haben sie ja irgendwas davon! Die Öffnungen, welche der Staat von dieser Seite betreibt, sind bei gleichzeitiger Weiterentwicklung der menschenverachtenden therapeutischen Werkzeuge und Diagnostika die zunehmende Unterwerfung der Gesellschaft unter die Psychiatrie: Die Häuser werden geöffnet, wo man sich draußen von drinnen nicht mehr wesentlich unterscheiden kann!

Raus aus dem Irrenhaus!

Gegen das politische Ungetüm »Staatswesen« wenden sich die Menschen, welche ihre Not noch empfinden; - es hatte sie ja auch ursprünglich erzeugt! Die Staatsform ist keine Erfindung der Politiker, sondern selbst Ausdruck aller Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft: Staat ist Familie, Gemeinde, Nation, Kultur usw (vergleiche hierzu unsere Beweisführung in der Serie "Was heißt da: Psychisch krank?")

Widerstand gegen die Irrenhäuser ist deshalb nicht einfach Aufruhr der »Betroffenen«, das ergattern freier Räume jenseits von Gut und Böse; der Widerstand umfaßt unsere ganze Existenz. Er verlangt Verweigerung bestimmter Tätigkeiten, die allein der Formation dienen und neue Tätigkeiten, die sich aus der Notwendigkeit und Schutzbedürftigkeit gegen den Zugriff der Administrationen und ihrer bewußten und unbewußten Helfershelfer ergeben. Die Erkenntnis, daß hier ein allgemeiner Irrsinn einer bestimmten Lebensweise nicht nur an Menschen weitergegeben wird, sondern mit einem wahnsinnigen Machthunger tötend und zerstörend um sich greift, verlangt den Zweifel an allen Formationen dieser Lebensweise. Solange die herrschende Lebensweise selbst unangefochten besteht, wird jedes Mittel gegen eine Not immer zum Herrschaftsmittel! Solange die Familienstrukturen unberührt sind, die Gemeinde ihren gesellschaftlichen Eigendünkel behält, die Nation die Gewalt der Gemeinschaft nutzt, bleiben die Wahnsinnigen normal, die Schwachen stark und die Dummen klug!

Weil wir erstens begriffen haben, daß wir als einzelne Menschen keine Chance haben und zweitens, daß die Vereinzelung selbst Produkt unseres Gegners ist. weil wir also begriffen haben, daß unsere Not unmittelbar gemeinschaftliche, gesellschaftliche Not ist, müssen wir Formen und Räume finden, durch welche wir uns der Normalität, der öffentlichen Norm stellen und widersetzen können, ohne daran zugrunde zu gehn.

Wir fordern als Mittel hierfür von den Menschen, die in der ,öffentlichen Meinung" Rang, Posten, Mandat oder Namen haben und die die Auflösung der Irrenhäuser mit forantreiben wollen, alle Maßnahmen zu ergreifen die folgendes bewirken können:

Wolfram Pfreundschuh (1986)