Entnommen aus:

Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener und Psychiatrie-Betroffener e.V.: »PSYCHEXIT – Auf dem Weg zum Curriculum ›Kompetente Hilfe beim Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika‹.
Dokumentation«, Berlin: Selbstverlag 2016, S. 15-24

Impulsreferat Peter Lehmann:

(Einige) Offene Fragen Psychiatriebetroffener zum Absetzen von Psychopharmaka

A) Zur körperlichen Abhängigkeit von Antidepressiva und Neuroleptika

Neuroleptika und Antidepressiva können massive Entzugsprobleme bereiten. Seit einem halben Jahrhundert ist diese Problematik bekannt. 1966 Jahr fragte der in New York City niedergelassene Psychiater Chaim Shatan anhand der Diskussion eines Fallbeispiels mit Imipramin im Canadian Psychiatric Association Journal, ob die Definition der Weltgesundheitsorganisation für Drogenabhängigkeit aus dem Jahre 1950 auch für Antidepressiva anzuwenden sei, schließlich lägen Toleranzentwicklung, psychische und körperliche Abhängigkeit sowie charakteristische Entzugssymptome vor. Es sei bemerkenswert, so Shatan, dass die Entzugsreaktionen in Abfolge und Symptomatik nahezu ununterscheidbar seien von denen, die mittlerer Opiatabhängigkeit folgen. Im gleichen Jahr 1966 betonte Raymond Battegay von der Universitätsklinik Basel die Notwendigkeit, den Abhängigkeitsbegriff um einen neuen Typ zu erweitern, um dem Problem der Abhängigkeit von Neuroleptika und Antidepressiva gerecht zu werden. Im Vergleich mit den Entzugserscheinungen von Tranquilizern würden neuroleptische Substanzen bzw. deren Entzug zwar kein unstillbares Verlangen (»craving«) auslösen, dennoch würden die Entzugserscheinungen auf eine körperliche Abhängigkeit hinweisen, so dass von einem »Neuroleptica/Antidepressiva-Typ der Drogenabhängigkeit« gesprochen werden könnte. Rudolf Degkwitz, 1971-1972 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, schrieb 1967:

»Das Reduzieren oder Absetzen der Psycholeptika (Antidepressiva und Neuroleptika) führt (...) zu erheblichen Entziehungserscheinungen, die sich in nichts von den Entziehungserscheinungen nach dem Absetzen von Alkaloiden und Schlafmitteln unterscheiden.« (S. 161)

Zur Wirkstoffgruppe von Alkaloiden gehört zum Beispiel Morphium. Zu den Symptomen des Morphium-Entzugssyndroms zählen Zittern, Durchfälle, Erbrechen, Übelkeit, Unruhe, Angst, Krampfanfälle, Schlaflosigkeit, Delire, Dämmer- oder Verstimmungszustände, vor allem aber auch lebensbedrohliche Kreislaufstörungen (Schockzustände). Schlafmittel gelten ebenfalls als abhängigmachend, und es ist bekannt, dass auch ihr Entzug mit großen Problemen bis hin zu lebensgefährlichen Krampfanfällen verbunden sein kann. Frank Tornatore von der University of Southern School of Pharmacy, Los Angeles, und Kollegen warnten 1991:

»Unter der Langzeittherapie mit Neuroleptika wurden Verschlechterungen psychotischer Verläufe mit Aktualisierung der Wahnsymptomatik und verstärkten Halluzinationen beobachtet. Die betroffenen Patienten sprachen typischerweise auf niedrige oder mittlere Dosen von Neuroleptika zunächst gut an; Rezidive (Rückfälle) machten jeweils Dosissteigerungen erforderlich, bis die Symptomatik schließlich nur noch durch Gabe von Höchstdosen beherrschbar war. Es würde sich also um eine Toleranzentwicklung gegenüber der antipsychotischen Wirkung handeln.« (S. 53)

2015 können wir im »DSM-5« von einem »Absetz-Syndrom bei Antidepressiva« lesen. Tritt dieses auf, sieht die herausgebende American Psychiatric Association nur eine Möglichkeit, das Problem zu lösen: die Wiedereinnahme von Antidepressiva. Schon nach vier Wochen Einnahmedauer müsse bei allen Arten von Antidepressiva mit spezifischen Absetzproblemen gerechnet werden:

»Das Absetz-Syndrom bei Antidepressiva beschreibt eine Gruppe von Krankheitsbildern, Symptomen, die nach der abrupten Unterbrechung (oder nach deutlicher Dosisreduktion) einer antidepressiven Medikation, die mindestens einen Monat lang durchgeführt worden war, auftreten. Die Symptome beginnen in der Regel innerhalb von 2 bis 4 Tagen und umfassen typischerweise spezifische sensorische, somatische und kognitiv-emotionale klinische Manifestationen (Erscheinungsformen). Häufig berichtete sensorische und somatische Symptome sind Lichtblitze, ›elektrische Schläge‹, Übelkeit und eine Überreagibilität auf Geräusche oder Lichter. Unspezifische Angst und Furcht werden ebenfalls häufig angegeben. Die Symptome werden durch Wiederaufnahme der medikamentösen Therapie mit demselben Antidepressivum oder bei Aufnahme einer medikamentösen Therapie mit einem Antidepressivum mit einem ähnlichen Wirkmechanismus abgemildert. Beispielsweise können Symptome, die nach dem Absetzen eines Serotonin-Norepinephrenin-Wiederaufnahmehemmers aufgetreten sind, durch die Therapie mit einem trizyklischen Antidepressivum abgemildert werden. Um als Absetz-Syndrom bei Antidepressiva zu gelten, dürfen die Symptome nicht vor Dosisreduktion des Antidepressivums vorhanden gewesen sein und nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt werden (z. B. eine manische oder eine hypo-manische Episode, Substanzintoxikation, Substanzentzug, Störung mit somatischen Symptomen).« (American Psychiatric Association, 2015, S. 982f.)

Laut der internationalen Diagnosenfibel »ICD-10« (International Classification of Diseases) von 1992 müssen mindestens drei der folgenden sechs Kriterien während eines Monats oder mehrmals innerhalb eines Jahres zutreffen, um von Abhängigkeit sprechen zu können: (1) ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen; (2) Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren; (3) anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen; (4) dem Substanz-gebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben; (5) Toleranzbildung; (6) körperliches Entzugssyndrom (Dilling et al., 1992). In der Abhängigkeitsdefinition galt Sucht damals noch nicht als Bestandteil von Abhängigkeit – entsprechend der damaligen Definition der WHO:

»Medikamenten-Abhängigkeit liegt vor, wenn zur genügenden Symptom-Suppression und zur Kontrolle des Befindens eine kontinuierliche Medikation oder sogar steigende Medikamenten-Dosen erforderlich werden und/oder eine ›Medikamenten-Pause‹ zum verstärkten Auftreten der ursprünglichen und weiterer Beschwerden führt. Zeichen chronischer Intoxikation machen sich bemerkbar.« (Poser et al., 1985, S. 34)

Durch das willkürliche Hinzufügen von Kriterien, die auf suchtbildende Stoffe zutreffen (im »ICD-9« genügte Toleranzbildung oder das Vorliegen eines Entzugssyndroms als Nachweis von Abhängigkeit), und dem Negieren der Toleranzbildung meinen Befürworter von Antidepressiva, deren abhängigkeitsförderndes Potenzial als nicht existent abtun zu können. (Wie sich seit Mitte der 1980er Jahre, nachdem sich das abhängigkeitsfördernde Potenzial der Benzodiazepine nicht mehr vertuschen ließ, die Abhängigkeitsdefinitionen im »ICD« und dem vom weltweit einflussreichen amerikanischen Psychiaterverband dominierten »DSM« [Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders] veränderten, damit insbesondere Antidepressiva nicht mehr als abhängigkeitsfördernd gelten sollen, verdeutlichten Margrethe Nielsen, Ebba Holme Hansen und Peter Gøtzsche vom Nordic Cochrane Centre sowie der Pharmakologischen Fakultät der Universität Kopenhagen 2012 in ihrem Übersichtsartikel in der Zeitschrift Addiction.) 2014 stehen die sechs Kriterien im aktualisierten »ICD-10« nach wie vor, eingeleitet durch die Bekräftigung,

»... ein entscheidendes Charakteristikum der Abhängigkeit ist der oft starke, gelegentlich übermächtige Wunsch, psychotrope Substanzen oder Medikamente (ärztlich verordnet oder nicht), Alkohol oder Tabak zu konsumieren.« (Dilling et al., 2014, S. 114)

Viele Psychiatriebetroffene fühlen sich von Professionellen über Jahrzehnte schlichtweg im Stich gelassen. Um so begrüßenswerter ist, dass jetzt ein Umdenken beginnt und zumindest eine Minderheit psychosozial Tätiger Verantwortung übernimmt. Nichtsdestotrotz ist allen möglichen Publikationen zu lesen, nur Benzodiazepine würden eine körperliche Abhängigkeit bewirken können, nicht aber Antidepressiva und Neuroleptika, schließlich würden diese Substanzen nicht süchtig machen. Dies gilt insbesondere für das Gebiet der Psychoedukation. Publikationen der Arbeitsgruppe »Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen« werden von Janssen-Cilag GmbH, Bayer Vital GmbH, Lilly Deutschland GmbH, Astra Zeneca GmbH und Sanofi-Synthelabo GmbH gesponsert (Bäuml & Pitschel-Walz, 2003). Entsprechend finden sich in solchen Publikationen ausschließlich Aussagen, die das Abhängigkeitspotenzial von Neuroleptika (»Antipsychotika«) in Abrede stellen. Beispiel ist die Publikation »PEGASUS – Psychoedukative Gruppenarbeit mit schizophren und schizoaffektiv erkrankten Menschen« im Psychiatrie-Verlag mit ihrer Aussage:

»Die Gefahr der Entwicklung einer körperlichen oder psychischen Abhängigkeit besteht bei Antipsychotika generell nicht.« (Wienberg et al., 2013, S. 175) Was die Bewältigung der Probleme beim Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika betrifft, stehen wir noch ziemlich am Anfang. Es gibt eine Vielzahl offener Fragen. Ein großes Problem besteht darin, dass körperliche Abhängigkeit von Antidepressiva und Neuroleptika im DSM und ICD nicht klassifiziert ist. Die Folgen sind: Keine Klassifikation, keine Diagnose, keine Informationen, keine Warnhinweise, keine Abrechnungsziffer, keine stationäre Unterstützung, kein Anspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen oder gar Kompensation, wenn ein Schaden eingetreten ist.

Offene Fragen:

Brauchen wir die Klassifikation »Körperliche Abhängigkeit von Antidepressiva und Neuroleptika«, und wenn ja, wie kommen wir dahin? Was macht es psychiatrisch Tätigen so schwer, das A-Wort (Abhängigkeit) auszusprechen Wieso folgen so viele bereitwillig der verschleiernden Koppelung von Abhängigkeit an Sucht?

B) Zu den juristischen Konsequenzen

Asmus Finzen bezeichnete es als Kunstfehler, wenn Ärzte ihre Patientinnen und Patienten im Stich lassen, falls diese ihre Antidepressiva oder Neuroleptika mit therapeutischer Hilfe absetzen wollen:

»Man mag es für merkwürdig halten, wenn ein Arzt sich über das Absetzen von Psychopharmaka auslässt. Seine Aufgabe ist es doch, Medikamente zu verordnen. Ärzte lernen das. Wie man Medikamente absetzt, lernen sie nicht. In Zeiten, in denen die Langzeitmedikation nicht nur in der Psychiatrie bei vielen Krankheiten (Blutdruck, erhöhte Blutfette, Diabetes) zur Regel geworden ist, ist das ein Mangel. (…) Viele Patienten machen die Erfahrung, dass ihre Ärzte nicht auf ihre Klagen und Wünsche hören, wenn sie meinen, man könne es doch auch einmal ohne Medikamente versuchen. Ich will an dieser Stelle nicht auf die Frage eingehen, wann und wie lange Psychopharmaka unter welchen Bedingungen notwendig sind oder nicht. Hier geht es darum, dass viele Medikamenten-Konsumenten aus guten oder weniger guten Gründen die Nase voll haben und die weitere Medikamenteneinnahme einstellen. Behandelnde Ärzte reagieren darauf immer noch allzu häufig verstockt. Viele drohen damit, ihre Patienten zu verstoßen – und manche tun das auch. Das aber ist mit den Prinzipien und der Ethik ihres Berufes nicht vereinbar. Es kann sogar ein Kunstfehler sein: Wenn ein Patient Medikamente, die er langzeitig eingenommen hat, absetzen oder reduzieren will, hat der behandelnde Arzt ihm gefälligst zu helfen – auch wenn er anderer Meinung ist.« (2015, S. 16)

In ihrer Pflichtenposition haben Ärztinnen und Ärzte dafür einzustehen, dass bestehende Rechtsgüter, zum Beispiel Leben und Gesundheit ihrer Patientinnen und Patienten, vor Schäden geschützt werden. Die Beistandspflicht (Garantenpflicht) ist in Deutschland durch § 13 Absatz 1 StGB (Begehen durch Unterlassen) geregelt:

»Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.«

Damit ist gemeint: Wer ein Delikt nicht verhindert, macht sich strafbar, wenn er es hätte verhindern müssen und wenn durch sein Unterlassen die Tat möglich wurde. Diese Rechtsauffassung könnte gegen Ärzte verwendet werden oder andere Tätige im psychosozialen Bereich, die in fehlgeschlagene Absetzversuche verwickelt waren, in deren Folge Personen-oder Sachschäden entstanden.

Eine Beispiel hierfür stellt das Observatorium für Menschenrechte in der Psychiatrie in Thessaloniki dar, bei deren Gründung kritische psychosozial Tätige, Angehörige und Psychiatriebetroffene beteiligt waren. Die Gruppe propagiert nicht nur Psychosoziale Vorausverfügungen, sondern bietet auch Unterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka an. Eines ihrer Mitglieder sah sich – vorübergehend – strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt, nachdem ein Mann, dessen Absetzen sie begleitet hatte, gewalttätig gegen Familienangehörige geworden war.

Doch auch Ärzte könnten zivil- oder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie im Angesicht sich herausbildender Warnzeichen für chronische oder gar lebensbedrohliche psychopharmakabedingte Erkrankungen (Lehmann, 2014) unverändert weiterbehandeln und sich möglicherweise eventualvorsätzlicher (bedingt vorsätzlicher) Körperverletzung mit möglicher Todesfolge schuldig machen, in anderen Worten: wenn sie als Konsequenz ihres Handelns den Schaden ernsthaft für möglich halten (wovon bei ihrer medizinischen Ausbildung ausgegangen werden muss), ihn zugleich als nicht ganz fernliegend erkennen und ihn billigend in Kauf nehmen, d.h. sich damit abfinden und an ihrer Psychopharmaka-Verabreichung festhalten.

Jenseits von Notfallsituationen wie beispielsweise neuroleptikabedingte Agranulozytosen, die sofortigesAbsetzen erfordern, gilt in der Rechtsprechung noch die Doktrin der Mainstreampsychiatrie, wonach die verordnete Einnahme von Psychopharmaka als vernünftig und der selbstbestimmte Entschluss zum Absetzen als unvernünftig gilt. Dieses Vorurteil unterminiert die Rechtsposition von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen massiv. Ihr Entschluss zum Absetzen kann als Krankheitssymptom denunziert werden, Zwangsunterbringung, Zwangsbehandlung und Pflegschaften können die Folgen sein, sofern sich die Betroffenen nicht durch eine Vorausverfügung geschützt haben und diese vor Gericht Bestand hat. Dies wird aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 2015 ersichtlich, das eine zuvor vom Landgericht Leipzig akzeptierte Einwilligung eines Betreuers zu einer Zwangsbehandlung zurückgewiesen hatte:

»Seine Ausführungen zum Vorliegen eines die Zwangsmedikation ausschließenden freien Willens der Beschwerdeführerin im Beschluss selbst (es habe nicht feststellen können, dass es sich bei dem Entschluss der Beschwerdeführerin zur Absetzung der Medikamente um eine aus freiem Willen getroffene Entscheidung gehandelt habe; diese Entscheidung sei bereits Ausdruck des erneuten Ausbruchs ihrer seit Jahrzehnten andauernden psychischen Erkrankung) sind demgegenüber nicht geeignet, nachvollziehbar zu begründen, dass sich die Beschwerdeführerin nicht – wie vom Amtsgericht festgestellt – in einem Zustand der Einsichtsfähigkeit wegen der Nebenwirkungen bewusst gegen die weitere Einnahme von Psychopharmaka entschieden hat. Vielmehr lassen sie vermuten, dass das Landgericht daraus, dass die Entscheidung der Beschwerdeführerin zur Absetzung der Medikamente von durchschnittlichen Präferenzen abweicht und aus der Außenansicht unvernünftig erscheinen dürfte, auf die (eingriffslegitimierende) Unfähigkeit der Beschwerdeführerin zu freier Selbstbestimmung geschlossen hat. Damit verkennt es, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit als Freiheitsgrundrecht das Recht einschließt, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der – jedenfalls in den Augen Dritter – den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwiderläuft. Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließt gerade auch die ›Freiheit zur Krankheit‹ und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind (vgl. BVerfGE 128, 282 <304 m.w.N.>).« (BVerfG 2015, Rn. 30)


Offene Fragen:

Wie lassen sich die Interessen von Patientinnen und Patienten schützen und Ärztinnen und Ärzte zivil- und strafrechtlich belangen, wenn diese

ihren absetzwilligen Patientinnen und Patienten die Unterstützung beim Absetzen ihrer Psychopharmaka verweigern?

in Kenntnis der Entzugsprobleme nicht bei Beginn der Psychopharmaka-Verabreichung über eine mögliche Abhängigkeit und über mögliche massive Entzugsprobleme informiert haben?

in Kenntnis möglicher schädlicher Langzeitfolgen keinen Absetzversuch unternommen haben?

Wie können sich Gruppen und Personen vor juristischen Konsequenzen schützen, wenn sie ohne ärztliche Zustimmung oder gegen ärztlichen Rat Unterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka anbieten bzw. Patientinnen und Patienten auf deren Wunsch hin beim Absetzen unterstützen und Absetzprozesse ungünstig verlaufen? Wie kommen wir dazu, dass Gerichte beim strittigen Absetzwunsch nicht nur von (möglicherweise vernunftwidrigen) »Freiheit zur Krankheit« sprechen, sondern auch von der (vernunftgemäßen) »Freiheit zur Gesundheit«?

C) Zu Sofortmaßnahmen und -hilfen

Der Bedarf an kompetenter Unterstützung beim Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika ist immens, das Angebot an kompetenter Unterstützung im Selbsthilfebereich dagegen minimal. Dass die Unterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka durch einen kompetenten Arzt oder eine kompetente Ärztin hilfreich ist, steht außer Frage. Bei neueren Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SRI) wird diesen inzwischen geraten, sich an Experten zu wenden, sollten Entzugssymptome nicht nachlassen. Das »British National Formulary« warnt beispielsweise vor SRI-Entzugssymptomen:

»Um diese Wirkungen zu vermeiden, sollte die Dosis über mindestens vier Wohen ausgeschlichen werden. Bei einigen Patienten kann es nötig sein, über einen längeren Zeitraum hinweg abzusetzen; ziehen Sie in Erwägung, einen Spezialisten zu Rate zu ziehen, wenn die Symptome anhalten.« (2012, S. 250)

Wie und wo man – egal ob als Arzt oder Patient – solche Spezialisten findet, ist unbekannt; dies gilt auch hierzulande.

Angesichts der Tatsache, dass Behandlungsleitlinien, die Absetzversuche von Antidepressiva und Neuroleptika befürworten, massive finanzielle Folgen hätten für die Pharmaindustrie, ist von deren Seite und den mit ihr liierten Medizinern mit Gegenmaßnahmen zu rechnen. Hierzu könnten Studien zählen, die so angelegt sind, dass das Scheitern von Versuchen, Neuroleptika bei Diagnosen und Indikationen wie »Schizophrenie« oder »Psychose« oder Antidepressiva bei Diagnosen wie »Depression« programmiert ist; man hätte dann evidenzbasierte Studien, die beweisen, dass Absetzversuche unvernünftig und Kunstfehler sind. Beispiel für eine solche Herangehensweise ist die interdisziplinäre »Antidepressiva Absetzstudie Zürich« (AIDAZ). Sie wird durchgeführt von der Translational Neuromodeling Unit (TNU) der Universität Zürich und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich in Kooperation mit der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Leiter der TNU ist der Neu-roinformatiker Klaas Enno Stephan, der als Koryphäe im Zusammentrommeln von Drittmitteln gilt. Ziel der Studie ist die Erarbeitung eines mathematischen Modells, womit erklärt werden kann, wie das Gehirn Informationen verarbeitet (»Neuromodeling« – siehe Abbildung), beispielsweise wie es auf Antidepressiva anspricht.

»›Neuromodeling‹ bedeutet, mathematische Modelle menschlichen Verhaltens oder neuronaler Aktivität beschreiben. Solche Modelle können sowohl Prozesse der Physiologie als auch der abstrakten Informationsverarbeitung quantifizieren, welche menschlicher Kognition, wie Lernen oder Entscheiden, zu Grunde liegen.« (Translational Neuromodeling Unit, o.J.) Abb.: Neuromodeling

Die AIDAZ-Forschungsgruppe besteht aus Medizinern, Psychologen, Biologen, Informatikern, Mathematikern und Physikern. Die Probanden sprechen mit Psychiatern, füllen Fragebögen aus, geben Blutproben ab und legen sich in die Röhre eines Kernspintomographen, um ihre Hirnaktivität messen zu lassen. Mit einer mathematischen Formel wollen die Forscher voraussagen, wer von welchem Psychopharmakon profitiert und bei wem es wieder abgesetzt werden kann. Der Studienleiter Quentin Huys antwortete auf die Frage, in welcher Form und in welchem Umfang die teilnehmenden Absetzwilligen über Abhängigkeitsprobleme von Antidepressiva, über Entzugsprobleme und Möglichkeiten zu ihrem Vermindern informiert würden, es handele sich um eine rein begleitende Beobachtungsstudie und keine klinische Interventionsstudie. Man dürfe daher in keiner Weise die Behandlung beeinflussen, sondern nur Patienten begleiten, die die Entscheidung abzusetzen unabhängig von der Studienteilnahme mit ihrem Behandler getroffen hätten. Die Verantwortung für die detaillierte Aufklärung über alle Aspekte der Behandlung, inklusive der Information bezüglich Risiken des Absetzens, liege beim Behandler. Lediglich auftretende Absetzsymptome würden mit standardisierten Instrumenten erfasst. Laut Internetinformation finden zwei Tage vor dem Absetzen und ca. eine Woche danach jeweils eine zweistündige Magnetresonanztomographie am Universitätsspital Zürich und eine dreistündige Verhaltensuntersuchung an der TNU statt (ebd.). Dass das Niveau der ärztlichen Aufklärung erfasst wird, ist unwahrscheinlich. Alles deutet darauf hin, dass die Studie mit schnellem Absetzprozess und wenig oder keinen Informationen über körperliche Abhängigkeitsbildung und entzugssymptomlindern-de Maßnahmen »evidenzbasiert« das Scheitern von Absetzversuchen nachweisen bzw. vorhersagen wird.

Offene Fragen:

Wie können wir der Mainstreampsychiatrie eigene, nutzerorientierte oder -kontrollierte Studien mit einem humanistischen Menschenbild und Problemverständnis entgegensetzen oder solche initiieren? Wie erstellen wir verantwortungsvolles Schulungsmaterial für Selbsthilfegruppen, psychiatrisch Tätige, Psychiatriebetroffene und Angehörige? Wer könnte Anstrengungen in diese Richtung finanzieren?

Wie lassen sich kompetente und nutzerorientierte Ärzte, Therapeuten und Heilpraktiker finden, die unvoreingenommen beim Absetzen von Psychopharmaka helfen? Wie lassen sich kompetente Pharmakologen und Pharmazeuten finden, die das Dogma des nicht-existenten Potenzials von Antidepressiva und Neuroleptika, eine körperliche Abhängigkeit bewirken zu können, nicht teilen, die Betroffene beim Absetzen unterstützen – insbesondere wenn behandelnde Ärzte keine technische Hilfe beim Verringern von Dosierungen leisten wollen –, und die praxisorientierte und detaillierte Auskunft darüber geben,

wie Kombinationen abzusetzen sind

welche Rolle diverse Verabreichungsformen beim schrittweisen Absetzen spielen

wie Dosierungen auch außerhalb vorgegebener Produkteinheiten verringert werden können

welche Psychopharmaka eine magensaftresistente Zufuhr benötigen und wie diese gewährleistet werden kann

wie Dosierungen durch zeitliche Streckung verringert werden können und bei welchen Psychopharmaka diese Möglichkeit ausscheiden?

Ist es möglich und juristisch machbar, eine interne oder öffentliche Datei zu den genannten Personenkreisen zu entwickeln? Wer macht das wie? Wo findet man stationäre Möglichkeiten der Unterstützung beim Absetzen? Wie sähen solche Möglichkeiten aus, wenn Betroffene über lange Zeiträume die Möglichkeit haben sollten, niedrigschwellig und bei Bedarf kurzfristig aufgenommen zu werden, ohne jedoch der Gefahr ausgesetzt zu werden, dass der Absetzversuch durch kontraproduktive Maßnahmen und Haltungen torpediert wird?

Worauf müssen engagierte Psychiatriebetroffene achten, damit sie in der zukünftigen Diskussion wesentlich beteiligt bleiben und die Diskussion nicht auf Niedrigdosierung, d.h. eine Dosisfrage reduziert wird?

Lassen sich durch eine Vernetzung mit ähnlich gerichteten Bemühungen der Entwicklung kompetenter Absetzhilfen (Bern, Schweden, USA, Großbritannien) Synergieeffekte erzielen?

Mit welchen Maßnahmen ist von der Gegenseite zu rechnen – beispielsweise Ausweitung der Psychoedukation, der gemeindepsychiatrischen Überwachungsmaßnahmen der Compliance sowie vermehrten Vormundschaften (»Betreuungen«), Entwicklung von Psychopharmaka mit noch länger wirksamen Depots wie z.B. Trevicta (Paliperidonpalmitat)? Und sollten unsere Bemühungen um kompetente Unterstützung beim Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika fruchtbar sein, wie kann der derzeit schon massiv geförderte verstärkte Einsatz von Elektroschocks und die Entwicklung genmanipulativer Maßnahmen (Rupp et al., 2016) gestoppt werden?

Welche Fragen sollten anders gestellt werden? Welche Fragen sind unsinnig oder überflüssig? Welche weiteren offenen Fragen gibt es?

Anmerkung

Die Übersetzungen aus dem Englischen und die in Klammern kursiv gesetzten Erläuterungen in Zitaten stammen von P.L.

Abbildungsnachweis

Die Abbildung ist der Website »Antidepressiva Absetzstudie Zürich – Wann können Antidepressiva sicher abgesetzt werden?« der Translational Neuromodeling Unit Zürich entnommen.

Quellen

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»British National Formulary«, 63. Auflage, Basingstoke: Pharmaceutical Press 2012

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