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Wolfram Pfreundschuh (1982)

Was heißt da: »Psychisch krank«?

Über die Gründe einer Not

Vorbemerkung:

Die nachfolgend abgedruckte Artikelserie war in der Hochphase der antipsychiatrischen Bewegung (1981-1986) in der Antipsychiatriezeitung TÜRSPALT erschienen. Sie ist eine journalistische Umsetzung komplexer Gedanken zur Psychodiagnostik und Psychotherapie, die vor allem darin kritisiert werden, dass sie mit ihren Krankheitsbegriffen die Not, die sich in seelischem Leiden äußert, entsozialisieren, die betroffenen Menschen in eine finale Isolation treiben und die ursächlichen Verhältnisse vor jeder Infragestellung abschotten. Viele dieser Gedanken lagen in einem konzeptionellen Papier "Kultur – die Entstehung der Privatperson" als theoretische Gliederung vor, das bis heute als "Dialektische Systematik der Kultur des Kapitals" weiterentwickelt wird.

Technische Anmerkung zum Neuabdruck: Die Fußnoten werden abweichend vom Original fortlaufend gezählt.

Die Artikelserie erschien in der Zeitschrift Türspalt in folgenden Nummern: Teil 1 in Nr. 7 (1982), Teil 2 in Nr. 8 (1982), Teil 3 in Nr. 9 (1983), Teil 4 in Nr. 10 (1984), Teil 5 in Nr. 11 (1986). Die Seitenangabe enthält Folge/Seitenzahl des Originals. Zitate sind nach die eingefügten Seitenwechsel beziehbar.

1. Teil:

Kann eine Seele krank sein? 

Seitdem die Statistik Zahlen ausspuckt, die belegen, daß praktisch jeder dritte Bundesbürger im Laufe seines Lebens mit »psychischer Krankheit« zu tun hat, weiß jeder, der bis drei zählen kann, daß es auch ihn »treffen« kann. Die Zahl der Selbstmorde hat die Zahl der Verkehrstoten bereits überschritten. (1)

Was bisher höchstens wie ein Gespenst am Horizont bürgerlicher Selbstgefälligkeit hie und da aufgeflackert war, ist spürbar näher gerückt. Es gilt inzwischen wie ein neuer Umstand, mit dem man hierzulande leben muß, wie ein Problem, das einem im Laufe seines Lebens einmal »begegnen« kann – so wie Arbeitslosigkeit oder Inflation.

Aber gegen solche Verunsicherungen kennt der Deutsche die Versicherung. Die Not ist groß und der Staat ist mächtig. Und für die aufkeimende Entsorgungsangst ist es auch besser, die »Versorgung psychisch Kranker« als die Gründe der damit bezeichneten Not anzugehen. Man gewöhnt sich schließlich auch leichter an Krisen, wenn man sie zu menschlichen Lebenstatsachen verklärt. So ist jetzt nicht nur die Arbeitslosigkeit, nein, auch Irren ist menschlich! Neben der Sozialversicherung gibt es inzwischen die Sozialpsychiatrie.

Man nennt das, worum es hier geht, die »psychische Krankheit«. Krankheit ist ein Mißstand und Mißstände müssen behoben werden. So hat sich eine eifrige Geschäftigkeit in Sachen Psychotherapie ausgebreitet und man diskutiert Verbesserungsvorschlage zur Psychiatrie so, als wäre die Veränderung des Verhältnisses zu dem, was man psychische Krankheit nennt, eine Sache der Verbesserung psychotherapeutischer Einrichtungen; psychische Entwicklungshilfe. Entwicklungsziel: Gesundheit – psychische Gesundheit.

Derweil vervollkommnet man die Grenzziehung zwischen krank und gesund per Gesetz und verschärft die »Unterbringungsbestimmungen« zur Zwangseinweisung (vgl. zum Beispiel Dörners Mitwirken beim Hamburger PsychKG nach Türspalt 3/81 und 4/81 und den Artikel zum neuen »Verwahrgesetz«). Und der Einsatz von therapeutischen Gewaltmitteln wie Isolierzellen, Psychopharmaka und E-Schock ist fragloser denn je (vgl. Türspalt 1/80 und 4/81).

Auch die allgemeine Sorge um den Sinn dieser Lebensverhältnisse ist damit behoben, daß ihre sichtbare Verrücktheit zum Randgeschehen in staatliche Institutionen entrückt wird. Hierfür ist nur nötig, daß man sie zunächst überhaupt zur Sache und dann zur Sache des Staats erklärt.

»Psychische Krankheit« ist ein Begriff, in welchem das Elend von bestimmten Menschen nicht als menschliches Elend, sondern als Sache, als Behandlungsgegenstand aufgefaßt wird. Mit Krankheit ist ja behauptet, daß jemand nicht als der anzusehen ist, der er ist, sondern daß er das (S. I/38) erst wird, wenn er (wieder) »gesund«, wenn er heil (ganz) ist. Und wer in irgendeiner Form fühlt oder handelt, die nicht sachlich begreifbar erscheint, der wird hierdurch selbst unmittelbar sachlich ergriffen. Der sachliche Wahnsinn muß – da er eben so allgemein ist – zur Gewohnheit werden; - wer aber wahnsinnig wird, der wird zur Gefahr für eben diese Allgemeinheit.

So ist das Interesse an seiner Aussonderung und Behütung im Grunde das Interesse, diese Gefahr zu beherrschen. Er soll die Rolle erhalten, die diesem Interesse entspricht: den Status eines selbst schon gefährdeten Menschen. Die Gefahr steckt in ihm und so muß er im Auftrag der Vernunft, der Gesundheit und des Staats in Ruhe leiden, auf daß er wieder gesund werde! Leiden verlangt Geduld und Geduld übt ein Geduldiger: ein Patient.

Diese Begriffe zeigen selbst schon unmittelbar die Rolle, die einem Menschen mit ihnen zugewiesen wird, der im Getriebe des gewohnten Alltags ausrastet. Sie enthalten von dieser Seite her selbst schon Begründungen für das, was mit diesem Menschen zu geschehen hat: »der gehört in Therapie!«. Und die Zuweisung dieser Begriffe erfolgt umso schneller, je größer die Bedrohung erscheint, je größer also seine Nähe zu den herrschenden Verhältnissen ist. Durch die Kasernierung des Ausrastens wird also zu allererst ein Raster gesichert, in welchem eine psychische Krise gefaßt und erfaßt werden muß, damit das Ganze, das ganze gewohnte Fühlen und Denken, gewohnt bleibt. Der Kampf gegensinnigen Erkennens wird zur Krankheit heruntergebügelt und der »Kranke« wird einer »Kur« unterzogen, in welcher er sich seines Kampfes entledigen soll.

»Psychische Krankheit« ist der Begriff einer Rolle, die bestimmte Menschen für ein notwendiges Leiden erhalten, welches die allgemeine und öffentliche Gesundheit der Seele, die psychische Gesundheit, stört.

Was kann das nur für eine psychische Gesundheit sein, für die dies alles nötig ist? Was soll das überhaupt sein, diese gesunde Psyche, die Seele?

1. Die Psyche und die Psychologie

Ursprünglich bedeutet das Wort Seele so etwas wie wesenhaftes Sein. Selig ist auch heute noch der, der in einem bestimmten Sein vollständig inbegriffen ist: Armselig, feindselig, glückselig usw. Indem aber im Verlauf des letzten Jahrhunderts Sein und Wesen im öffentlichen Bewußtsein immer mehr voneinander getrennt wurden, kommt ihm jetzt eher die Bedeutung eines geistigen Wesens zu, dem eine eigene materielle Substanz abgesprochen wird. Die Seele wird heute als ein inneres Wesen der Menschen angesehen, welches durch die geistige Kraft seines Willens und im Zweck seiner Bedürfnisse sich das materielle Leben unterwirft, kontrolliert und nutzbar machen soll. Sie gilt somit als die schöpferische Substanz der Indvidualität, der Kern der »Persönlichkeit«, worin alle deren materielle Eigenschaften und Eigenheiten aufeinander bezogen sein sollen.

Besonders der Bürger sieht sich hierin am besten erfaßt. Ihm erscheint sein Leben und Existieren ja von vornherein, nämlich angesichts der allgemeinen Lebensbedingungen der Privatexistenz, als Produkt seines privaten Geschicks, seiner persönlichen Talente, seiner Persönlichkeit. So ist ihm auch nichts einleuchtender, als daß die menschliche Gesellschaft überhaupt nur aus der Ansammlung solcher Talente besteht, die im Zwecke ihrer individuellen Bedürftigkeit allerhand Eigenheiten bilden und somit auch das Menschliche schlechthin in ihrer Person verkörpern. Und da ist Seele eben der Begriff für: das menschliche Wesen in jedem einzelnen, individuelles Wesen des Menschseins.

Wo das individuelle Sein zum persönlichen Wesen erhoben ist, gilt alles andere eben auch als unpersönlich, die Welt als fremd, sachlich, materiell. Schon die Habsucht zeigt ja, wie gering das Materielle ist, – und da erscheint eben gerade die Seelenwelt als das Überleben des Menschlichen über der Sachlichkeit.

Diese wird aber dadurch auch zur Lebensnotwendigkeit festgeschrieben. Denn ohne Sache kann keine Seele sein. Und was als solche fremde Welt, als »Außenwelt« so ungut empfunden wird, wird zugleich umso nötiger anerkannt als Lebensmittel der Innenwelt. Deshalb muß das Innere eines Menschen, sie sog. Seele, mit der Außenwelt auskommen.

Der Begriff der Seele führt also selbst schon mit Notwendigkeit dazu, daß die Menschen ihre Lebensverhältnisse als notwendigen und übergeschichtlichen Umstand anerkennen müssen, an dem vom Grund her nichts zu ändern ist. Um sich mit diesen so unmittelbar erscheinenden Tatsachen zu arrangieren, bedarf es daher auch der Garanten, die sowohl praktisch dafür sorgen, daß bei Störungen des Verhältnisses von Seele und Welt diese erstens zum Wohle des Bürgers behoben und zweitens auch die Notwendigkeit des Arrangements von »Innenwelt und Außenwelt« zur allgemeinen Naturtatsache erklärt werden muß. Dadurch wird die Gesundheit der Bürger und Ihrer Verhältnisse gesichert.(S. I/39)

Der Beruf der Psychologen gründet hierauf: Der Psycholog muß die Störungen dieses Arrangements lindern, muß zwischen der Feindschaft von seelischem und sachlichem (inneren und äußeren) Leben vermitteln und den Verkehr der Menschen in Funktion halten. Er muß dem seelischen Leiden zu Hilfe eilen und seelische Übermacht eindämmen (für die er zudem selbst sehr bestechlich ist! - vergl. Herrn Ammon!). Der Psycholog ist der Polizist des zwischenmenschlichen Verkehrs!

Alle Psychologen sind sich deshalb darin einig, daß psychische Gesundheit so etwas ist wie die Intaktheit einer Persönlichkeit, welche den Gegensatz zwischen Innenweit und Außenwelt, zwischen Organismus und Stimulanz, zwischen sich und den andern oder sich in der Harmonie der Individualentwicklung zur Weltentwicklung versöhnen kann. Gesund ist, wer alle Widersprüche und Zweifel in sich, alle gegensätzlichen Regungen und Strebungen in seiner Person auflösen kann; – gesund ist also, wer als »intaktes Individualwesen« trotz all der Wirrnisse seines Herzens und der Unendlichkeit seiner Gefühle existieren und mit anderen verkehren kann.

Der Gesunde ist somit über die wirklichen Beschränkungen des Lebens schon hinweg. Sein Leben wird ja gerade gefüllt durch diese Welt und in der fortwährenden Bewegung zwischen sich und anderen hat er den Sinn seines Lebens und das Leben seiner Sinne zugleich beisammen. Deshalb bezieht er sich eben im Grunde auf sich selbst, wenn er sich auf andere bezieht. Und seine Selbstbeziehung erkennt die anderen als sein Lebensmittel an, wodurch diese ihn eben auch als Mittel für sich ansehen müssen. Indem er sein individuelles Wesen verwirklicht, verwirklicht er somit Sinn und Kraft eines wechselseitig vermittelten Verhältnisses von Menschen, das ihm als sein unmittelbares Leben, als Leben seiner Individualität erscheinen mag.

Ein solches Individualwesen ist ein Wesen, das über die konkreten Inhalte der Existenz und des Verkehrens bereits hinweg ist. Es ist ein Wesen, das die Widersprüche seines Lebens zu Gegensätzen seiner Erfahrung herausgesetzt hat und darin seine »Zeit« erlebt. Es meint sich dort am ehesten drin, wo es doch gerade völlig äußerlich Ist. Wo es selbst überhaupt nur drauf beruht, da fühlt es sich wesentlich und wo es selbst etwas sein müßte, da fühlt es sich nicht berufen.

Die Psychologen und die Psychiater sind die hervorragenden Verfechter dieser Ideologie vom individuellen Wesen, vom inneren Privatwesen der Menschen, von der Innenwelt. Indem sie das menschliche Leben als einen Akt der Persönlichkeit ansehen, welche aus einem inneren Willen heraus, aus einer Seele, ihr Leben gestaltet, erklären sie den Grund dieses Willens zu einer persönlichen Tatsache. Die Person Ist für sie der in und durch seinen Willen seiende Mensch. Und deren Sein sehen sie eben auch nur in Personen gegründet: Personen erzeugen Personen.

In diesem Verhältnis gilt ein Mensch allein als Produkt und Resultat persönlichen Lebens. Und was er bildet, bildet er nur hierin: Ich. Seine Geschichte gilt als Geschichte seines Ichs und seine Entwicklung ist die »Ich-Entwicklung«! So auch die »Stufen«, die er hinter sich bringt: Jede Phase seiner Persönlichkeitsbildung ist so objektiv von Personen abhängig, daß man hierin auch jeden »Schritt« bemessen kann und jeder Schritt wird gesehen als das »natürliche Fortschreiten« des menschlichen Lebens, wie es sich in jedem Menschen zuträgt.

Wer im Fortschreiten dieses Naturlebens an äußeren Bedingungen hängenbleibt, der kommt in den persönlichen Beziehungen auch notwendig nicht mehr mit. Er gilt für die anderen als anders: als seelisch gestört, und das heißt: unangepaßt, realitätsuntüchtig, Ich-Schwach usw.

Demzufolge ist »psychische Krankheit« ein »innerindividuelles Leiden«, ein Leiden in der Innenwelt eines Menschen, das keine Beziehung mehr zu seiner »Außenwelt« findet. Der »psychisch Kranke« ist für dese Sicht weise ein mit sich selbst beschäftigtes, an und durch sich selbst leidendes Individuum, welches nicht mehr auf dem Boden der vielgepriesenen Realität steht, welches also das nicht kann, was die »Gesunden« können, nämlich den »Gegensatz von Innenwelt und Außenwelt durch die Leistungen ihres Ichs miteinander zu versöhnen« (Freud) .(S. I/40)

Die Grundlage des Urteils über die »psychisch Kranken« ist die Gesundheit der »Ich-Fuktionen«, der Ich-Bezogenheit, in welcher eine »Persönlichkeit entfaltet« ist, d.h. in welcher eine »gesunde Innenwelt« leben kann. Der »Gesunde« hat immer etwas in und hinter sich, wodurch er nicht zu irritieren ist. Die Welt kann sein, wie sie will, sie ist prinzipiell zu bejahen. Der Zweifel um ihr Wesen muß dem Faktum ihrer Existenz geopfert werden. Denn nur so kann sie als Mittel für das individualisierte Leben erhalten bleiben und nur so kann sie überhaupt als solches Mittel gelten.

Das Urteil über Krankheit ist also nicht nur ein Urteil, sondern vor allem ein Wille des Bestehenden: Die herrschende Existenz soll Maßstab für das darin ohnmächtige Leben sein. Die Macht des Faktums wird über das Leben und Erkennen der Menschen gesetzt, indem ihre nicht mehr heimlichen, ihre unheimlich gewordenen Regungen zur Krankheit, zu einem Mangelzustand an Selbstgewißheit herabgesetzt werden. Der »Kranke« gilt nicht mehr als wirklicher Mensch, der eine besondere Arbeit zu verrichten hat, – er gilt als Objekt der ihm dann auch zugestellten Hilfe, mit der er das bestehende Leben zu erreichen hat. Sein Kampf mag zwar verloren gewesen sein; – jetzt aber muß er auch nicht mehr erkannt werden. Seine Liebe mag unglücklich gewesen sein, – jetzt aber wird sie vollständig ausgeschlossen.

Im Begriff der »psychischen Krankheit« wird die Wirklichkeit menschlicher Not innerhalb der herrschenden Lebensverhältnisse versteckt. Er vollstreckt ein Verhältnis, worin die Vorstellungen der gesunden Menschen von ihrem Leben aufgehen können, wenn und solange die kranken Menschen auch einfach als Kranke gelten. Und es ist ihnen deshalb auch ein solcher Begriff existentiell notwendig: er verweist jede Wirklichkeit in die Schranken des Gesundheitswillens, des Gesund-sein-müssens für diese Welt.

So wird einer Welt das Wort geredet, für welche menschliches Leiden gleichgültig zu sein hat, – einer Welt, die sich gerade trotz und wegen dieses Leidens durchsetzt. Es gibt für den Psychologen kein Leiden an und in dieser Welt (er spricht bestenfalls von pathogenen Faktoren in den Umständen eines individuellen Lebens), sondern ein Leiden von Individuen, die es in der Welt nicht schaffen, so zu sein wie die andern. Seelisches gilt von vornherein als unwirklich und Wirkliches als seelenlos. Menschliches Empfinden ist von menschlichem Wirken, vom wirklichen Mensch-Sein abgetrennt und zu einer voraussetzungslosen Tatsache herabgesetzt worden. Umso mehr müssen dann auch die Gefühle und Launen und andere innere Befindlichkeiten über die Welt erhöht werden.

Die Trennung von Mensch und Wirklichkeit, von seinem Empfinden und Wirken, welche zu erklären wäre, wird zur Notwendigkeit gebracht, herrschende Wirklichkeit zunächst als Maßstab des Selbsterkennens und schließlich überhaupt anzuerkennen. So wird verunmöglicht, daß ein Mensch die Trennung von sich und der Welt der andern überhaupt begreifen, daß er ein Wissen über sich als Wissen seiner ihm auch fremden Welt bilden kann. Und es wird die Macht der (S. I/41) Wirklichkeit besinnungslos vollstreckt. Es geht los: Auf die Seele, aufs Gefühl oder auf die Nervenzellen. Irren ist menschlich! – Aber wehe du bist dabei ohne Macht!

Wir wollen deshalb den Nachweis antreten, daß »seelisches Geschehen« so sinnlich wie auch wirklich ist und daß »seelische Krankheit« eine Krankheit dieser Welt ist, auch wenn sie sich im einzelnen zuträgt. Die wirkliche Grundlage einer Kritik der Psychologie und Psychiatrie ist der Beweis, daß seelische Wirklichkeit und sinnliche Wirklichkeit sich nicht unterscheiden. Das heißt aber nicht, daß die Seele selbst Sinn wäre oder daß das Wirkliche Seele hätte. Das heißt, daß in seelischer Form sinnliche Wirklichkeit erscheint und daß es die Seele überhaupt nur in ganz bestimmter Wirklichkeit, nur unter ganz bestimmten wirklichen Bedingungen als selbständiges Wesen gibt.

 

2. Zustände des Gefühls

 

Jemandem, der ein Magengeschwür hat, gesteht man heutzutage ohne weiteres zu, daß er damit auf Streit, Angst und Existenznot reagiert, daß also ihm und seinem Leiden bestimmte Bedingungen vorausgesetzt sind. Ein Wahnsinniger jedoch hat kaum eine Chance, solchem Verständnis zu begegnen. Er stellt ja auch ein viel wesentlicheres Leiden dar! Es geht da nicht um solche Aufregungen und Sorgen, die jeder schnell wiedererkennt und wovon jeder weiß, daß man das irgendwie packen kann, sondern es geht da um die Gestörtheit der Seele, des Privatwesens, welche immerhin den Zweifel mit sich bringt, ob die Menschen tatsächlich von Haus aus ein intaktes Privatwesen haben, ob der Mensch also von Natur aus eine »Identität« für die private Existenz hat. Denn dann müßte er ja auch die Sinne beisammen haben, mit denen er auf die Welt gekommen ist.

Deshalb sind die »psychisch Kranken« für die andern gar nicht so einfach und unbestimmt krank. Sie lassen Zweifel über das herrschende Leben aufkommen, indem sie eben das leben, was andere aus ihrem Leben ausgegrenzt haben, was diese kennen, auch empfinden und deshalb fürchten, weil sie es nicht begreifen dürfen. Wo andere ihrem Leben einen Halt gegeben haben, sind sie zwischen den Existenzen und Beziehungen geblieben und haben dabei tatsächlich keinen Boden gefunden. Wo ein Boden ist, auch wenn er keinen Grund hat, ist alles fest. Hier aber ist es irre: da überkommen einen Gefühlszustände, die Gewalt über das ganze Wahrnehmungsvermögen von Menschen haben, Anfälle von Panikgefühlen, Angstgefühle, Umnachtungsgefühle, Selbstverfremdungsgefühle, Sinnestäuschungen, Verfolgungsängste und anderes.

Weil sie sich darin selbst fremd empfinden und sich nicht erklären können, was geschehen ist, stimmen viele dem zu, daß sie seelisch krank seien. Und so wird das, was sie in ihren Gefühlen bereits ohnmächtig empfunden haben, zum Urteil über ihre Mangelhaftigkeit gebracht: Unfähigkeit für das herrschende Leben. Daß sie in der Irre sind, heißt jetzt für die andern, daß sie irre sind. Sie haben eine Störung: ein Symptom. Und damit ist die Unsicherheit überwunden!

Was Symptom genannt und so behandelt wird, ist aber nichts anderes als ein Gefühlszustand, an dem jemand leidet. Er empfindet darin seine Situation, ohne aus ihr herauszufinden; - das heißt: Zu-Stand. Wenn jemand z.B. Umnachtung empfindet und hierauf in Panik gerät, dann ist er auch in Beziehungen, die ihm das Licht nehmen, die seine Lebenskraft aufzehren und nicht zurückgeben. Und die Panik ist die Angst vor dem endlosen Selbstverlust, den er dabei empfinden muß. Oder wenn jemand panische Platzangst hat, dann empfindet er auch wirklich sein Leben als einen Zustand, in welchem er allseits und unendlich eingeengt ist und keine Bewegung nach außen findet. Oder wenn jemand (S. I/42) Stimmen hört, dann hört er auch nicht irgendetwas wie fremde Radiomusik, sondern das, was er als Verhältnis der andern zu sich nur im Ohr erfassen kann, weil ihm andere Organe versperrt wurden. All das sind Empfindungen einer Situation, die in den Gefühlen selbst erlitten wird.

Allerdings ist dieses Leid in einem Menschen geronnen. Das heißt, ihm ist keine Befreiung mehr gewahr. Das Geheimnis dabei bleibt eben, warum diese Empfindungen, die in einen solchen Zustand geraten sind, so getrennt von dem sind, was sie bewirkt hat, was zum Beispiel Licht nimmt oder eng macht. Man hat ja keine Angst vor einer bestimmten Gewalt eines anderen Menschen, wenn man in Angstzuständen ist. Man kann zwar Furcht vor der Macht eines anderen haben; - aber eine Angst, die einem dabei alle Lebenskräfte entzieht, ist das nicht. Man erleidet auch keine bestimmte Trauer in der Depression, sondern fühlt sich erdrückt von seinen eigenen Lebenskräften. Und man folgt keinen bestimmten Empfindungen oder einem Gebot, wenn man sich den ganzen Tag waschen muß und man erkennt auch keinen Sprecher, wenn man Stimmen hört. Die Gründe für solche Zustände sind nicht unmittelbar und offenkundig durch äußere Kräfte gegeben. Deshalb scheinen sie zunächst einmal getrennt von diesen zu sein, abstrakt. Dieses Leiden existiert scheinbar nur in der Abstraktion.

Aber an und für sich kann es das gar nicht geben: ein abstraktes Leiden. Jeder Mensch existiert konkret, auch wenn es abstrakte Formen sind, die ihn umgeben. Jeder Mensch ist so konkret wie der andere, der »Kranke« wie der »Gesunde«. Wenn jemand in Zustände gerät, aus denen er alleine nicht herausfindet, dann heißt das eben nicht, daß er an einer Abstraktion, an einer Seele erkrankt sei. Dann heißt das, daß die herrschenden Zustände für die nicht alleine zu verkraften sind, die fremdes Leben anderer zu tragen haben, die gesellschaftliche Macht wirklich und durch sich selbst leiden müssen.

Wenn ein Mensch seine Situation fremd empfindet, kann das eben nur heißen, daß sie ihm fremd ist, und wenn ihn seine Gefühle in einem Sinneszustand wie eine fremde Macht überkommen, dann sind ihm seine Sinne eben auch zur fremden Macht geworden. Man kann sich aber nicht fremd sein, ohne sich eigen zu sein. Empfindungen der Fremdheit sind immer zugleich eigene Empfindungen. Menschen können deshalb den Sinn ihrer Gefühle nur als fremd empfinden, wenn er ihnen in äußere, fremde Welten auch wirklich entzogen worden war - wenn ihre eigene Äußerung, ihr lebendiges Wirken in Verhältnissen aufgegangen ist, die ihnen fremd sind und Macht über sie haben; Verhältnisse, die alles eigentümliche menschlicher Regungen zu ihrem Fortbestand aufsaugen: die ihnen Ihre Eigentümlichkeit entziehen, die sie enteignen.

Solche Verhältnisse fallen aber auch nicht vom Himmel. Sie werden von Menschen in wechselseitiger Beziehung geschaffen und erhalten sich aus der Notwendigkeit ihres Fortbestehens. Die Menschen gründen sie zwar, aber sie leben nicht darin, sondern durch sie. Sie erzeugen ihr Leben, ihre Bildung und Äußerung in Verhältnissen, die ihnen wie eine unwandelbare Lebensbedingung erscheinen. Aber die Verhältnisse bestehen auch nur solange, solange die Menschen sie als Ihre Lebensbedingung anerkennen. Untersuchen wir deshalb die Verhältnisse selbst und ihre Macht, die sie durch das Tun der Menschen erhalten. Wir werden dann auch erkennen, wie und warum man darin verrückt wird, was also Verrücktheit in Wirklichkeit ist (und was daraus werden kann!).

  

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