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Die herrschenden Gefühle sind die Gefühle der Herrschenden

Im Grunde kann Gefühl nichts anderes sein, als das, was man fühlt. Ob jemand es weiß oder nicht: er fühlt, was und wie ihm geschieht; er verspürt, was ihm getan wird. Gefühle setzen eine Tätigkeit voraus und nehmen diese wahr.

Das ist nicht mehr so klar. Gefühle haben ihre eigene Wesenheit bekommen. Sie gelten inzwischen eher als eine besondere persönliche Qualität, als Begabung, als Offenbarung, als Ausdruck des Innenlebens, als Schimmer und Widerschein der Seele (vgl. Teil 1 im Türspalt 1/82).

Durch solche Gefühle sind sich die Menschen in ihren Empfindungen selbst eine Insel ihres Gemüts, ihrer Stimmungen und Launen und wollen auch als solche sein. Sie ahnen ihre Einsamkeit und wenden sich zugleich hiergegen. Wenn sie wissen, was andere fühlen, dann fühlen sie sich selbst wieder als Mensch. Die Einsamkeit verliert ihren Schrecken, wenn sie menschlich erscheint - die Verlassenheit wird aber umso größer, je näher sich die Menschen darin werden. Und es scheint, als dürfe man gerade dies nicht fühlen.

Das Gefühl soll Nähe schaffen, wo die Entfernung nicht mehr erkannt wird und es schafft Entfernung, wo die Nähe überflüssig geworden ist. Man muß deshalb auch lernen, »mit Gefühlen umzugehen« und »Gefühle zu zeigen«; - so, wie man jemanden zum Beispiel auch seine Wohnung zeigt. Und wer sie nicht zeigt, dem unterstellt man ebenso leicht, daß er gar keine hat.

So haben Gefühle an Wert gewonnen. Das hatten zuallererst die Werbepsychologen erkannt, die es tatsächlich schaffen, eine Zigarette besser zu verkaufen, wenn sie damit verbunden einen Gefühlszauber von Stimmungen und Atmosphären auf der Leinwand abspulen. Das Bild eines Lebens, einer Atmosphäre oder einer Sehnsucht genügt, um dem Geschmack ein Gemüt zu verleihen und einen neuen Kunden an die Leimstange des Profits zu bringen. Der Geschmack, die Empfindung für einen Gegenstand, ist so heruntergekommen, daß er mit Zauberwelten gefüllt werden will. Gefühle haben eben das an Wert gewonnen, was die Empfindungen an Sinn verloren haben.

Inzwischen weiß man Gefühle in fast allen Bereichen der Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie zu nutzen. Eine spezielle Sparte der humanistischen Psychologie, die »personenbezogene Gesprächspsychotherapie«, und die sogenannten Vegetotherapien (z.B. Schreitherapie) stellen diese Nutzbarkeit ausdrücklich vor: Indem man einen »Klienten« mit einer Sphäre des Vertrauens, der Wärme und der Offenheit umgibt, bringt man ihn leichter dahin, »aus sich herauszugehen«.

Und er wird aus sich herausgehen, auch wenn er dabei alles von sich hinter sich lassen muß. Er wird froh sein, diesen Ballast zu verlassen. Denn es ist ebenso abgeschmackt wie tröstlich, doch einen Ort des Leidens zu bekommen, wenn man allem Leiden keinen Sinn ansehen kann. Wer auf Janovs Schoß »Mama« schreien durfte oder wer sich in Rogers Encountergruppen seine Seele auskotzen konnte, der wird wissen, wie wertvoll das Erlebnis des vergemeinschafteten Leids ist, das doch keine andere Gemeinschaft hat, als das (S. II/40) Leben schlechthin, Leben in höchster Abstraktion: Erleben. Hierin allerdings kann das gegenwärtig erscheinen, was so weit zurück oder so tief verborgen gefühlt wird - Hier und Jetzt seist du Mensch ... und dann bist du's auch, weil du's ja immer bist! Sei Beispiel für dich selbst, du arme Wurst!

Solche Vergegenwärtigungen »seelischer Spannungen« sind wie die Selbstvergegenwärtigung für jedermann. Nur die Beliebigkeit und Übertragbarkeit der »Auslöser« verrät, wie grundlos diese »Spannungen« gemacht werden müssen, damit man mit ihnen leben und sie auch zeigen kann. Aber das Ziel ist göttlich: der entspannte Mensch wird jeder Situation ebenso gewachsen sein, wie der Hindu, der die Knechtschaft durch jedes Regime erträgt. Es gehört aber allerhand Reflexion, Schirmherrschaft und Gottesfürchtigkeit dazu, eine solch entspannte Seele zu erhalten. Nicht nur eine komplette Lebensphilosophie, meist auch noch irgendein Guru muß helfen, dem Leben den Sinn zu geben, den die Menschen verloren haben. Es soll eben das gelitten werden, was man leiden kann. Und wer das nicht leid hat, der wird sich vor jeder Äußerlichkeit und Fremdheit bewahren, indem er ihr die Notwendigkeit des Leidens überhaupt, des Leidens in allgemeinster Form entgegenzusetzen versteht. Er wird sich wieder leiden können, weil er alle Leidenschaft dem Gott seiner Gefühle geopfert hat.

Alles, was einem Menschen gewiß sein kann, wird zur reflektiven Form: Das Leben als Erlebnis gefaßt, das Fühlen als Gefühl, das Begreifen als Begrifflichkeit, der Verstand als Verständnishaftigkeit wird zum Attribut des Umgangs und zugleich zu einem Gegenstand, mit dem man umgehen kann.

Je weiter ein Mensch in solcher Selbstreflektion fortgeschritten ist, desto einzigartiger und also großartiger muß er sich auch vorkommen, denn sein Leben erscheint ihm in Gestalt solcher Attribute, solcher Fähigkeiten zum Überleben. Er ist wirklich aus sich herausgegangen und hat alles hinter sich, was andere verstehen, begreifen, leben und fühlen müssen. Ihm ist das Leben zu einer Erfahrungstatsache geworden.

Was die einen erfahren, das widerfährt den anderen. Was dem einen Selbsterlebnis, ist dem andern Selbstentfremdung. Und es ist kein Zufall, daß es ums Gefühl geht. Wo Menschen ihr Leben nicht mehr gestalten können, weil ihnen die Gestaltung schon ab- und vorweggenommen ist, da haben sie ihr Leben auch nurmehr zwischen sich und untereinander. Während sie sich so begegnen und unmittelbar erscheinen, vollziehen sie eine vorgegebene Lebensgestalt, welche nur durch sie selbst zur Wirkung kommt. Um diese zwischenmenschliche Wirklichkeit geht es nun.

Das veranstaltete Leben

Wenn es Gefühle als solche, Gefühle als Gefühle gibt, dann ist nicht das von Bedeutung, was ein Mensch empfindet, sondern wie hierbei seine Befindlichkeit ist. Im Befinden eines Menschen wird so von der Empfindung abgesehen. Das heißt: dem Befinden wird ein anderes Sein als dem Empfinden zugesprochen. Beides wird voneinander getrennt und zu selbständigen Qualitäten gebracht. Allerdings: Wer von einem Zusammenhang absieht, der hat eine Absicht. Er sieht es zugleich auf etwas ab.

Das Befinden wäre wohl auch nur das Gefühl dessen, wo man sich befindet, wenn es darin nicht selbst schon um die Überwundenheit einer Empfindung ginge, einer Empfindung eben jener Isolation, die im Gefühl so beziehungsreich erscheint. Das Ziel des Befindens kann nur Wohlbefinden sein. Und hierzu braucht man andere. Der vorgestellte Beziehungsreichtum muß im Nachhinein eingelöst, verwirklicht werden! Was im Zusammenhang der Menschen so bedingungsreich ist, ist deshalb im Gefühl ein bedingungsloses Verlangen nach anderen Menschen, deren wirkliches Sein jenem Verlangen nach Selbstverwirklichung unterstellt wird. Im Gefühl werden die Menschen als Menschen, als wahrgenommenes Menschsein verlangt. Die Wahrnehmung anderer Menschen ist so zugleich der Gehalt der Beziehung auf andere. Man fühlt sich so, wie man sich unter anderen erlebt, und man hat für andere das Gefühl, welches man auch durch andere bekommt und welches zugleich Gefühl für sich, Selbstgefühl ist. Man hat es auf andere Menschen abgesehen, denn durch ihr Dasein nur kann dieses Gefühl existieren.

Wo sich die Menschen so bedingungslos begegnen, haben sie sich selbst wechselseitig als ihre Lebensbedingung. Ein jeder lebt durch den anderen, weil dieser durch ihn lebt. In der Abwesenheit von anderen Menschen erleben sie sich unvollständig, leben sie die Wesenlosigkeit und Leere, die ihre Wahrnehmung dann hat (Abwesen = ohne Wesen).

Das Verlangen nach der Anwesenheit anderer Menschen gründet also auf der Leere jener Selbstwahrnehmung, die im Wesentlichen das Leiden an der Isolation, an der Gegenstandslosigkeit von Menschen ist und daher als Verlangen nach Menschen überhaupt besteht. Im Gefühl haben sich die einzelnen Menschen selbst als (S. II/41) Mensch schlechthin wahr, indem sie andere Menschen wahrnehmen. Was sie von anderen empfinden, ist ihnen zugleich Bedingung eigener Wahrheit. Was sie voneinander wahrnehmen ist ein Moment dessen, was sie von sich als Mensch wahrhaben. Ihre Wahrnehmung ist der Stoff ihrer Wahrheit, d.i. Identität aller Sinne.

Deshalb ist ihnen ihr Verhältnis zueinander im Gefühl umgekehrt, wie in der Empfindung: Sie sind hierin füreinander zuallererst Anwesenheit des Menschen, menschliche Sinne, Haut und Haar, Geschmack, Geschlecht usw.: bestimmungslose, geschichtslose Wesen, weiche gleichgültig gegenüber jedem besonderen Sinn sind. Durch was sie sich als einzelne Menschen gerade unterscheiden, was sie gebildet haben, Wissen und Können, was ihr Leben, ihre Geschichte hervorgebracht hat und hervorbringt, das gilt in dieser Wahrnehmung eben als Besonderung des Menschseins, wie etwa Gottes Sohn als Besonderung Gottes gilt. Im Gefühl ist sich der Mensch in der Tat selbst zum Gott geworden: Vorweggenommener Mensch.

Diesen Menschen aber gibt es nicht. Er ist allein die Abstraktion von dem, was die Menschen wirklich voneinander haben. Im Gefühl wird ja das eigene Leben so erkannt, wie es im anderen aufgefunden, vorgefunden und empfunden wird. Die Abstraktion von dem Inhalt dieser Beziehung ist aber der Sinn ihres Verlangens nacheinander.

So gründen die Gefühle auf Empfindungen, welche ja der Stoff und Sinn jeder Erkenntnis sind. Sie selbst sind aber bloße Form dessen, was ihrer Beziehung auf andere Menschen vorausgesetzt ist; sie sind die Form abstrakter Erkenntnis.

Indem sich die Menschen in dieser Wahrnehmung aufeinander beziehen, wird ihnen ihre Wahrheit auch wirklich genommen. Ihre Sinne wie z.B. ihr Geschmack, ihr Gehör, ihr Geschlecht werden selbst zum Mittel dieser Bezogenheit, wenn sie sich als Menschen selbst benötigen. Sie haben sich eben abstrakt als Mensch wahr, wenn sie sich wahrnehmen, und deshalb abstrahieren sie auch notwendig von ihrem wirklichen Menschsein, indem sie ihre Wirkungen aufeinander, ihre Tätigkeit als Wirkung, ihre Wirklichkeit zum Gefühl bringen und also zum Inhalt der Sinne selbst werden lassen. Sie verzehren sozusagen ihre eigene Tätigkeit, ihre sinnliche Äußerung, in ihren Sinnen selbst, in jener Innenwelt (vergl. Türspalt 1/82), die umso unermeßlicher wird, je vielseitiger ihre Wahrnehmungen, also die Beziehungen sind, welche sie im und durch das Gefühl hatten. Was sie als Mensch wahrhaben, das tritt in Gegensatz zum Sinn ihrer Wahrnehmungen, in den Gegensatz zu jedweder Sinnlichkeit. Man fragt nach dem Sinn des Lebens, während man das Leben der Sinne genießt. Das Gefühl begeistert sich geradezu an den vielen Wahrnehmungen, weil es darin den Sinn hat, aus welchem es seinen Geist schöpft: seine Seele.

Die Seele ist das Geschöpf der Wahrnehmung, geronnene Geschichte ihrer Sinne. Während der gute Christ sich selbst als Geschöpf Gottes betrachtet, wenn er sich als Lamm seiner Herde fühlt, läßt sich hier seine Schafsnatur leicht als Produkt seiner Selbstvergegenständlichung erkennen. Die Selbstgefühle, welche man als Gestaltungen des Seelenlebens ansieht, sind nichts anderes als das Resultat des Verlangens nach Menschen, sind die Gefühle, die man unter Menschen eben hat. Der Lebensraum, den er durch andere Menschen hat, ist die Einlösung der Welt, die seinen Gefühlen nötig ist, wenn und weil er sich darin den Allgemeinplatz des Menschlichen erworben hat.

In seinen Wahrnehmungen wird er nichts mehr von dem wissen, was er hierbei voraussetzt, was er wahrhat. Ihm ist dieses selbstverständliche Lebensgrundlage, Sinn seines Lebens geworden und was Verlangen war ist jetzt die Forderung, daß es so sein und so werden soll, wie es ihm auch geworden war. Sein Verlangen ist jetzt (S. II/42) Wille. Er verlangt das bestimmte Sein anderer Menschen, bestimmte Wahrnehmung und erwirbt Ihre Beziehung so, wie er sich ihnen auch gibt, wie er sich ihnen selbst vergegenständlicht. Die wechselseitige Selbstvergegenständlichung macht jeden für sich selbst zum Willensträger und den anderen zum Inhalt des eigenen Wollens. Wo nämlich jeder sich für andere vergegenständlicht, da ist er sich selbst auch Gegenstand. Er weiß es nicht, aber er fühlt es. Und je nach Situation kann er sich als Herr seiner Gefühle oder auch als ihr Knecht finden. Gefühle wirken auf ihn, – manchmal wie ein Rausch, manchmal wie ein Vorschlaghammer. Sie sind so objektiv wie seine vier Wände oder sein Berufsalltag; – Lebensumstände.

So müssen eben auch bestimmte Beziehungen erworben werden. Ohne es zu wissen wird jeder, der diesem Willen folgt, zum Menschenhändler, der eben jene Menschen braucht, die dem Gestalt verleihen, was er im Sinn hat. Ihre Regungen sind Gestalt seiner Erregung; ihr Fühlen ist Gestalt seines Gefühls.

Dies ist ein doppelsinniges Verhältnis: Ihre Äußerung ist als ihre Vergegenständlichung zugleich das Mittel ihres Zusammenseins. Was dem einzelnen zu äußern nötig ist, gilt für die andern eben nur als daseiende Äußerung. So wird Ihnen ihre Äußerung zugleich äußerlich. Dem einzelnen ist das zueigen, was ihm in der Beziehung auf andere fremd ist. Was er für sich bildet, ist ihm durch andere zugleich genommen. Alles, was er dem Sinn nach für sich ist, ist er ohne Sinn für andere; – die Frau für den Mann, die Kinder für die Eltern usw. Deshalb ist für den einzelnen seine Selbstvergegenständlichung zugleich die Entgegenständlichung seiner Sinne.

Dies wechselseitige Verhalten bildet ein Verhältnis, in welchem jeder wirkliche Sinn schon da zurückgenommen ist, wo er hervortritt. Er wird gerade dort auf sich verwiesen, wo er sich äußert und wird in den Körper gebannt, dem er entspringt. Das sinnliche Verlangen nach einem Verhältnis besteht deshalb auch in seiner Wirkung als Mangelgefühl, welches reiner Drang ist, als Hunger in der Abstraktion von seinem Gegenstand: Trieb.

Während das Sinnesleben somit zur wirklichen Privatsphäre wird, zur Welt des Körpers in jener Heimlichkeit, die für das öffentliche Leben unheimlich ist, schließt es zugleich jeden anderen wirklichen Sinn aus. Jeder einzelne Sinn, wie z.B. Tasten, Fühlen, Hören, Geschlecht, ist für sich und ausschließlicher Sinn, so wie jede Kunst hierdurch zur ausschließlichen Kunst wird (z.B. Musik, Malerei, Dichten). Das Sinnenleben hat nur eigene Wirkung, wo andere Sinne keine haben und hat zugleich nur Sinn, wo es sinnliche Wirklichkeit gibt.

Dieser Widerspruch kann sich nur dadurch auflösen, daß sich jeder Sinn, Geschmack, Geschlecht, Gehör usw. an dem bemißt, was auch allgemein Sinn Sinn, ohne daß es selbst Sinn wäre: Gemeinsinn. Darin kultivieren sich die Sinne zu einer Form, der ihre Entstehung und Bildung nicht mehr anzusehen ist: Kultur. Die bestehende Kultur zeigt jene Kultivation menschlicher Beziehungen in jedem Medium, jeder Art (vergl. Pfreundschuh: Die Kultur, 1. Teil: Der Entstehungsprozeß der Privatperson). In ihr ist das abstrakten Geschlecht ebenso dargestellt wie der abstrakte Geschmack, die abstrakte Schönheit, der abstrakte Geist: abstrakter Sinn.

Aber die Kultur ist die Sinnesform menschlicher Geschichte, also objektive Gestalt jener Sinnlichkeit, die Menschen in einer bestimmten Gesellschaft haben. Und deshalb ist auch hier die Kultur jene Welt, worin sich die Wahrnehmungen, die die Menschen voneinander haben und durch welche sie sich aufeinander beziehen, entwickeln und verwirklichen. An ihr zeigen sich deshalb auch die Krisen, welche solche Beziehungen notwendig in sich haben.(S. II/43)

Daß diese Lebensgestalt aber so getrennt von allen anderen Lebensäußerungen, von der Arbeit und der Befriedigung, vom wirklichen Stoffwechsel der Menschen existiert, und daß menschliches Elend allein als kulturelle Verelendung auftritt, das setzt eine ganz bestimmte Existenz voraus. Bevor wir die Krisen zwischenmenschlicher Beziehungen erklären können (im Türspalt 3/82), müssen wir deshalb erst die Frage verfolgen, wie es überhaupt sein kann, daß die Menschen ihre Sinne selbst zum Mittel ihrer Beziehung machen können, daß sie also sich selbst als Gegenstand und Mittel ihrer Vergegenständlichung haben.

Kultur und Imperialismus

Wo Menschen arbeiten, ihr Leben gestalten, sich äußern, da haben sie ihre Äußerungen auch als ihren Gegenstand und Stoff ihrer Geschichte. Die Arbeit ist somit selbst Sinnesäußerung als sinnliche Wirklichkeit. Wirklichkeit und Leben, Arbeit und Kultur sind im Grunde identisch. Erst wo sich diese Lebensgestalt von dem Sinn, den die Menschen darin äußern, entfernt hat, da können sie sich einbilden, selbst Sinn für sich zu sein. Und wenn ihnen die Arbeit nurmehr als ein ihnen fremdes Arbeitsprodukt begegnet, dann müssen sie es sein.

Wo weniger Arbeit ist als Geld, da gilt das Arbeitsprodukt eben auch mehr als die Arbeit. Und da muß die Abwesenheit gegenständlicher Sinne durch die Anwesenheit menschlicher Sinnlichkeit ersetzt werden! Was die Kultur voraussetzt und wovon sie zugleich absieht, das ist die wirkliche Bedingung ihrer verselbständigten Existenz. Und diese enthält selbst Selbständigkeit: Geld.

Wer Geld hat, der kann von allen lebendigen Lebenszusammenhängen, von allem stofflichen Leben absehen, weil er sich jeden Stoff, gleichgültig seiner besonderen Beschaffenheit und Erzeugtheit, aneignen kann. Nur wo Geld herrscht, kann sich ein Mensch auch durch sich und sein unmittelbares Wahrnehmen begründet fühlen. Denn mit Geld braucht man sich auf nichts zu beziehen, weil man alles auf sich beziehen kann. Geld ist die letztendliche Selbstbezogenheit. Zugleich ist Geld auch die Macht, durch welche die Produkte anderer Menschen zur Sensation der eigenen Gelüste werden.

In Deutschland hat man Geld, viel Geld. Dieses Land ist die drittstärkste Wirtschaftsmacht auf der Welt. Und das heißt, daß man viel eingehandelt hat, weil man viel von dem hat, was für andere lebensnotwendig ist: Maschinen. Wenn man in Deutschland 100 Stunden zur Herstellung einer Maschine arbeitet, kann man gut und gern damit Lebensmittel einkaufen, die in der Dritten Welt durch 1000 Arbeitsstunden erzeugt werden. Das heißt, daß man das Geld recht gut verwerten kann.(S. II/44)

Während der größere Teil der Menschheft noch am Verhungern ist und deshalb zu jedem Dienst bereit sein muß, der ihm die einfachsten Mittel zum Arbeiten und Leben verspricht, eignet man sich in Deutschland nicht nur Bodenschätze und Lebensmittel von ärmeren Ländern an, sondern entzieht ihnen auch das einzige, was sie zur eigenen Entwicklung brauchten: ihre Arbeitskräfte und ihre Kultur. Während die Ländern Lateinamerikas und Afrikas durch das Diktat des »internationalen Markts« zu Monokulturen herunterkommen, während ganze Städte und Dörfer in der Türkei, in Süditalien und in Spanien veröden, weil die Männer fehlen, die Äcker bestellen, Vieh aufziehen und Häuser bauen, hat man hierzulande mehr das Problem, wie man sein Geld richtig anlegt und wie man die Wirtschaft im Wachstum - und das heißt: Erwirtschaftung von mehr Geld - hält.

Der Arbeitsprozeß in der Bundesrepublik hat eben seinen vorwiegenden Sinn in der Haltung und Weiterentwicklung der Vormachtstellung auf dem Weltmarkt. Dort ist der Ort, wo das meiste zu gewinnen ist. Deshalb arbeitet man auch hauptsächlich für den Export (jeder 3. Deutsche ist unmittelbar an der Exportproduktion beteiligt). Das ist die einfachste Art, sich mit wenig Aufwand viele Lebensmittel zu erwerben. Und man hat in Deutschland auch viel zu leben; - so viel, daß manch einer in seiner Hobbywerkstatt eine Maschine stehen hat, die für Menschen in der Dritten Welt lebenswichtig wäre. Die BRD ist eine Industriemacht. Und das heißt: ein Land der Exportarbeiter, der Angestellten, der Beamten, der Techniker, Verwalter und Gesundmacher. Jenseits hiervon bleibt das Ausland: Gastarbeiter, Fischer und Bauern fremder Nationalität. Für die Deutschen hat sich das Verhältnis von Arbeit und Verwaltung auch in der Bevölkerung selbst umgekehrt: die Mehrheit der deutschen »Beschäftigten« sind nicht mehr Arbeiter sondern Angestellte!

Indem es hierzulande mehr Arbeitsprodukte als Arbeit gibt, hat die Arbeit selbst auch nur den Sinn, den Menschen Geld zu verschaffen, um schließlich auf dem Markt einen Anteil dieses Mehrprodukt zu erwerben. Während so fast jeder zu seinem Fernseher, seiner Waschmaschine und seinem Urlaub in der Sonne kommt, ist längst eine allgemeine Verarmung der Menschen an dem Sinn entstanden, der ihr Leben fundamental ausmacht. Was nämlich wirkliches und wesentliches Lebensmittel ist, Wohnraum, Rohstoff und Werkzeug, Landarbeit und Werkarbeit, das geht in diesem Land zunehmend unter.

Und grotesk ist in der Tat, daß das Leben umso bunter erscheint, je ausgehöhlter es ist (die Farbmittelproduktion ist in der BRD in den letzten 20 Jahren um ein zigfaches schneller gewachsen als die Lebensmittelproduktion!). Die Fassaden werden umso wichtiger, je leerer der Raum dahinter ist. Fast jeder größere Ort hat inzwischen seine »Fußgängerzone« und die Denkmalpflege ist der Augapfel jeder lokalen Administration geworden.

Derweil ist das Leben in Deutschland sehr triste. Alle Strukturen, die ein Land hätte, worin nicht das Wertwachstum bestimmend ist, sondern das Wachstum des Landes und der Menschen, ihrer Arbeit, ihrer Natur und ihrer Wohnung, sind hier weitgehend zerstört oder stehen kurz vor ihrer Zerstörung. Weite Landstriche sind zu Straßen, Kanälen oder Flughäfen geworden, weil in diesem Land die Masse und Geschwindigkeit des Transports und der Connection höchsten Rang haben. Die Bauern und Fischer können kaum(S. II/45)mehr existieren, weil ihre Produkte gegenüber den Importierten nicht mehr standhalten können und weil deshalb die Erhaltung ihres Berufsstands, ihrer Ernährung in diesem Land zu teuer geworden ist. Die Infrastrukturen der Städte und Dörfern werden beherrscht von Spekulanten, Banken, Versicherungen und Kulturagenturen, weil die Bevölkerung selber keine autonomen und eigenen Arbeits- und Lebenszusammenhänge haben kann, die den Bodenpreisen und Tourismusinteressen standhalten können. Das Leben selbst wird bedroht durch Energieerzeuger, die einem Energiebedürfnis entwachsen, das die große, die Exportindustrie, mit sich bringt und die in keinem natürlichen Verhältnis zur Bevölkerung und zu den Möglichkeiten der Landschaft stehen, die den Wärmehaushalt und die Strahlung in ganzen Landstrichen auf den Kopf stellen und damit Wachstum und Anbau in diesen Gebieten denaturieren. Die Abwässer der Kunststoffproduktion, der Waschmittel, Kosmetika und Konsumartikel können von dem kleinen Land und seiner Natur nicht mehr aufgearbeitet werden; Seen und Meere sterben. Und schließlich läßt sich die Vormachtstellung auf dem Weltmarkt, die Sicherung der Bodenschätze im Ausland nur durch ein ausgetüfteltes Militärsystem erhalten, das schon weit über ein Drittel des Bundeshaushaltes benötigt.

Auch die Arbeitsplätze selbst sind nicht dadurch schöner geworden, daß sie technisiert wurden. Abgesehen davon, daß die Technik viele Arbeitskräfte unnötig macht, ohne daß das Land noch andere Arbeit hätte, vollstrecken die Verwaltungshallen, die Fließbänder und die Computer nur noch die Abstraktion von Arbeit. Inzwischen haben die Freizeitforscher auch per Statistik herausgefunden, daß der Großteil der Bevölkerung in Deutschland in der Arbeit keinen Sinn mehr sieht.

Umso mehr in der Freizeit. Hier kann sich jeder für den entstellten großen Teil seines Lebensalltags rächen. Hier will er aber auch Sinn finden, – Sinn für sich.

Dafür gibt es auch eine eigene Sparte von Spielzeug, die ihm die Freizeitindustrie zur Verfügung stellt und wofür er genügend viel Lohn erhält. Es ist dies der Teil seines Lohns, der ihm als Entschädigung für die Sinnlosigkeit seines Alltags gilt und die subjektiv zugleich seine Teilhabe am Güterreichtum seiner Nation ist. Da hat sich eine ganze Freizeitindustrie entwickelt, die allerhand zu bieten hat. Das echte Freizeitauto oder einen »richtigen Abenteuerurlaub« werden zwar wenige erreichen, aber ein Spielcomputer, eine Hobbywerkstatt, ein Surfbrett, ein Walkman oder ein Skateboard ist für jedermann erschwinglich. Und schließlich gibt es auch noch die Palette der Kultur- und Unterhaltungsindustrie, die ihm freitags seinen Krimi, samstags seine Sportschau und Sonntags seine Erbauung frei Haus liefert. Außerdem bleiben ihm auch noch die »freien Betätigungen«, die ihm wieder zu körperlichem (S. II/46) Gleichgewicht und vor allem zu körperlichem Selbstgefühl verhelfen wie z.B. der »Spaziergang in der Natur«, Jogging, Sauna oder Trimmübungen.

Die Verselbständigung des Körpers zeigt sich besonders an dem, was sich Sport nennt. War das, was man da macht, früher Ertüchtigung des Kriegers in Friedenszeiten (z.B. Speerwerfen, Ringen, Boxen, Weitspringen, Wettlaufen, Kugelstoßen usw.), so dient das heute vorwiegend dazu, überhaupt Ereignisse und Erlebnisse herzustellen, in welchen der Körper selbst wieder Wert hat und auch einen praktischen, spürbaren Rang im Land, in der Nation oder in der Welt bekommt. Aber er ist nicht mehr angespornt (Sport kommt von Sporn, Spurt) durch die Notwendigkeit zu bestimmten Fähigkeiten, sondern durch das Verlangen nach Selbsterleben, das sich steigern kann bis zum Erleben der eigenen Nationalität im Rang der Weltlisten. Subjektiv ist es für die Deutschen deshalb schlimmer zu ertragen, daß sie die Weltmeisterschaft im Fußball verlieren, als daß sie der Teilhabe am Völkermord bezichtigt werden.

Das Selbsterlebnis ist überhaupt die Form, welche die Kultur jetzt abgetrennt und ohne Sinn für die Arbeit hat. Alle Bereiche sind vom Verlangen nach Selbsterlebnissen dahingetrieben worden, Mittel hierfür zu sein: Musik, Geschlecht, Religion, Kunst, Psychologie usw. Fast kann man sie deshalb nicht mehr unterscheiden.

Die Menschen erkennen sich nurmehr in ihren ästhetischen Merkmalen und veröffentlichen darin, was sie selbst im Sinn haben. Die Mode ist nicht nur eine Lockung und Verlockung, sondern vor allem auch Darstellung eigener Ausgerichtetheit. Der Gartenzaun zum Nachbarn ist nicht nur ein juristisches Merkmal des Besitztums, sondern zugleich die ästhetische Grenze zweier Welten. Bei jedem ist ein anderer, ein exklusiver, ein ausschließlicher Geschmack verwirklicht; in jedem Haus ist eine andere Ordnung und in jeder Liebe ein anderes Geschlecht. Das treibt seltsame Blüten – im Garten wie im Bett. Die Betonung des Besonderen verliert das Auge des Allgemeinen und die Hervorhebung der verschrobensten Besonderheiten sind die Stilblüten allgemeinster Trivialitäten. Das Körperliche zeigt seine Privatheit in seiner Abgetrenntheit, seiner Exklusivität eben auch gerade dort, wo es sein Verlangen nach anderen Menschen verwirklicht.

Durch ihr körperliches und einzelnes Dasein treiben sich die Menschen, die ja schon eh als Personen privat existieren, zu unterschiedlichen Persönlichkeiten, die – jeder für sich – einen ausschließlichen und ausschließenden Lebensraum repräsentieren. Hierin verwirklicht jeder seinen aparten Sinn, den er seiner Existenz abgerungen hat und um den sich zu streiten lohnt. Denn das ist die Gestalt der Liebe, die er zum Leben gefunden hat und die er in seiner Person und Persönlichkeit verwirklicht sehen will. Es liegt allseits das Besondere Augenmerk auf diesem Raum der Persönlichkeit, in welchem die Menschen ihrem Verlangen, ihrem Körper und sich selbst noch folgen dürfen. Es ist auch der Raum, wo sie ihre Persönlichkeit erzeugen: die Familie.

 

Literatur zu diesem Teil:

Marx, Karl: Die philosophisch-ökonomischen Manuskripte (MEW Ergänzungsband I)

Marx, Karl: Das Kapital, MEW 23

Falk, Gerhard: Entäußerung und Entfremdung in den Pariser Manuskripten (A.G.Psychologie)

Pfreundschuh, Wolfram: Die Kultur l. Teil: Der Entstehungsprozeß der Privatperson, (A.G. Psychologie)

Pfreundschuh, Wolfram: Der Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft (A.G. Psychologie)

Pfreundschuh, Wolfram: Arbeit am Wahnsinn (unveröffentlicht)

 

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