Wolfram Pfreundschuh (1985) aus TÜRSPALT Nr. 11

Bericht vom Bundesarbeitskreis »Gesundheit und Soziales«
der GRUNEN (1.12.84) in Berlin

Der vorstehende Artikel war mit anderen Texten eine der Unterlagen, auf welcher die Diskussion von Bundesgrünen, DGSP, Vertretern der Sozialpsychialrie und Initiativen und Offersiven (Gale-Leute aus Dänemark, Graue Panther, AK »Ohne Psychiatrie« der AL Berlin, Irrenoffensive, einzelnen Betroffenen und dem TÜRSPALT) gründete. Obwohl die DGSP und andere Vertreter der Sozialpsychiatrie bis zuletzt mit allen Tricks der Stimmungsmache und Diskussionsverfremdung dagegen arbeiteten, kam es zum ersten Mal zu einer Zusammenstellung weitgehender Forderungen gegen die Psychiatrie, die im wesentlichen von der Irrenoffensive und dem TÜRSPALT vorgelegt worden Waren und vom Plenum schließlich verabschiedet wurden.

In der Nachbearbeitung dieses antipsychiatrischen Konsens ergab sich der Entwurf des nachfolgend abgedruckten »Sprechervertrags«, der vom TÜRSPALT ausgearbeitet wurde und mit Ergänzungen der Irrenoffensive, der Indianerkommune und der Zustimmung der Grauen Panther schließlich zur Plattform für die Weiterarbeit gegen die Psychiatrie wurde.

Sowohl von den genannten Initiativen als auch von uns wurde er inzwischen auf vielen Veranstaltungen vorgestellt und hat so schon eine umfassende Diskussion über die Psychiatrie auch in den Gremien erzeugt, die sich sonst gerne hinter ihrer »Verantwortung« und ihrem »Versorgungsauftrag« verstecken.

Unser erstes konkret zur Durchsetzung anstehendes Vorhaben ist die Errichtung der ersten Weglaufhäuser. Allein in München gibt es 20 leerstehende Häuser im Besitz der Landeshauptstadt.

 

ENTWURF ZUR VORLAGE BEI DEN GRÜNEN

Sprechervertrag

zwischen den GRÜNEN und dem Verband folgender Initiativen:
Irrenoffensive, TÜRSPALT, Graue Panther (Altenpsychiatrie), Indianerkommune (Jugendpsychiatrie)

Die GRÜNEN werden in allen relevanten politischen Gremien die nachfolgend genannten Forderungen der oben genannten Gruppen vertreten, für deren Verbreitung in ihren Publikationen sorgen und den Gruppen alle geplanten und durchgeführten Verhandlungen zu diesen Forderungen berichten und für weitgehende Mitsprache sorgen. In allen Fragen der Verwirklichung dieser Forderungen bleiben sie im Kontakt mit den Gruppen und werden deren Einwände und Erläuterungen weitertragen. Sollten ihnen so schwerwiegende Zweifel an deren Richtigkeit komrnen, daß sie hiervon abtreten wollen, so werden sie dies den genannten Gruppen unverzüglich mitteilen. Wenn sich Betroffene an Abgeordnete der GRÜNEN wenden, so erhalten sie von dort alle Möglichkeiten zur Kontaktnahme und Diskussion (Kontaktadressen, Informationen).

Forderungen zur Abschaffung der Irrenhäuser

1. Abschaffung aller psychiatrischen Einrichtungen ohne Wenn und Aber und ab sofort

a) jährliche Reduzierung der Finanzierung der Anstaltspsychiatrie um 20 % und ihre zweckgebundene Umleitung auf alternative Hilfeformen (wie 3.) oder Ubergabe dieser Einrichtungen zur vollständigen Selbstverwaltung (wie 4.).

Um den gegenwärtigen oder durch die Einweisung in die Psychiatrie erzeugten Existenzproblernen der Insassen gerecht zu werden, muß beim Abbau der Anstaltspsychiatrie die Zeit berücksichtigt werden, wo diese unterkommen können. Außerdem sind viele Einrichtungen und Häuser von ihrer Bauweise oder Lage her nicht unmittelbar in Selbstverwalturrg zu übernehmen. Zugleich soll auf keinen Fall durch die Abschaffung der Irrenhäuser auf private Strukturen wie Familie, Gemeinde oder nationale Wohlfahiisverbände zurückgegriffen werden. Es rnüssen also viele neue Existenzmöglichkeiten (Wohnungen und Häuser) geschaffen oder anderern Gebrauch entzogen werden. Eine Etatkürzung um 20% pro Jahr mit gleichzeitiger Umwidmung der.Finanzmittel (siehe 3.) erscheint unter diesen Bedingungen dern Übergang gewachsen und auch gegenüber den Möglichkeiten der Insassen realistisch. Erfahrungen der italienischen Psychiatrie können das belegen. Spätestens 1995 darf es keine öffentlich oder privat finanzierte stationäre Bettenpsychiatrie mehr geben!

b) Keine Scheinalternativen! Keine Verlängerung des »psychiatrischen Modellprogramms«!

Die sozialpsychiatrischen oder gemeindepsychiatrischen Modelle und Einrichtungen sind ohne das Selbstbestimrnungs- und Hausrecht der Betroffenen (siehe 4.) und ohne Abschaffung der therapeutischen Gewalt (siehe 2.) nur Verdopplung der Psychiatrie von der »intrarnuralen Psychiatrie« zur »extramuralen Psychiatrie«. Das Modellprogramm der DGSP, das diese Interessen eindeutig verfolgt, soll mit dem Jahr 1985 auslaufen; die Finanzmittel sollen an das Altemativprogramrn (siehe 3.) überschrieben werden. Sollten einzelne sogenannte Modelleinrichtungen eine Entsprechung zu den hier dargestellten Forderungen behaupten, so können sie follbestehen, wenn sie je einzeln den Beweis hierfür erbringen.

c) Keine Neufinanzierung, sondern tendenzieller Abbau der sogenannten Rehabilitationseinrichtungen in dem Maße ihres »Unnötigwerdens« durch Alternativprojekte. Selbstbestimmung der Betroffenen darin und Übernahme dieser Einrichtungen in Selbstverwaltung der Betroffenen (wie 3.).

»Rehabillitation« oder »Wiedereingliederung« soll den Betroffenen an die untersten Ebenen der abstrakten »Arbeitswelt«, das heißt: an Hilfs- und Handlangerarbeiten der Industrie, an leere Funktionstüchtigkeit bei endlos stupiden Tätigkeiten gewöhnen. Obwohl diese Reha-Einrichtungen absolute Chancengleichheit behaupten, ist es nur ein sehr kleiner und mit unwürdigen Methoden ausgewählter Teil der Betroffenen, die hierdurch eine »Chance« haben, mit den bürgerlichen Berufen gleichzuziehen. Aber auch dann wird der Betroffene allein schon über die Form der »Förderung« (Kontrolle und unterbezahlte Tätigkeit) nur in seiner Abhängigkeit und dem Gefühl seiner Unweiligkeit bestärkt und zugleich durch weitgehende Bedingungen (Psychiatrisches Gutachten, Psychiatrische Therapie, kontrollierte Psychopharmaka-Einnahme, arbeitsabhängiges Wohnrecht) zur Ohnmacht und Unterwerfung an ein ungewolltes Leben gezwungen. Diesen Verhältnissen war er ja auch schon vor seiner Intemierung unterlegen! An die Stelle solcher diskrirn'nierenden und totalisierenden Einrichtungen müssen möglichst schnell selbstverwaltete Arbeitskooperativen von Betroffenen durch Umwidmung der hier verwendeten Gelder treten (siehe 3.).

2. Sofortige Unterbindung unmittelbarer oder mittelbarer therapeutischer Gewalt!

a) Verbot und Unterbindung jedweder Zwangsbehandlung innerhalb und außerhalb der psychiatrischen Anstalten.

Gesundheit kann man nicht verschreiben, Normalität aber wird erzwungen. Die Behauptung der Überwindung einer Not ohne Willen oder gegen den Willen des Betroffenen (»zum Zwecke seiner Gesundheit« - so die Unterbringungsgesetze), soll kaschieren, daß man mit seiner Ohnmacht operiert: Zwangsbehandlung ist immer Staatsgewalt, auch wenn sie mit der vielzitierten Lebensgefahr begründet wird (die man z.B. bei den »Zeugen Jehovas« ohne Zwangsbehandlung bestehen läßt). In allen Unterbringungsgesetzen rnüssen die Paragraphen zur Zwangsbehandlung ersatzlos gestrichen we rden. jede Anwendung von Gewalt bei der »Therapeutischen Behandlung« wird damit als Körperverletzung verfolgt. Persönlichkeitsverändernde bzw. -zerstörende »Maßnahmen« wie Zwangssterilisation, Lobotomie, Elektroschock, Insulinschock, Cardiazol-Schock und Spritzung von Neuroleptika gegen den Willen des Betroffenen sind als Verbrechen irn Sinne der Menschenrechte und der Grundrechte der BRD einzustufen und weltweit zu ächten. jede Ermunterung hierzu (z.B. in der Psychiatrie-Enquöte) unterliegt daher dem Verbot der Aufforderung zur Gewalt (§ 128, § 128a).

b) Generelles Verbot von persönlichkeitsverändernden bzw. - zerstörenden »Therapeutische Maßnahmen« wie z.B. Sterilisation, Lobotomie, Elektroschock, Insulinschock, Cardiazolschock, Neuroleptika, chemische Kastration durch Androcur und Verbot der produktiven Forschung für solche »Therapien«.

Das wichtigste Werkzeug der Psychiatrie zur Menschenbeherrschung und zur Kontrolle und Sanktionierung der Norrnalität, das wichtigste Mittel, Menschen unter für sie unsinnig gewordene Lebensverhältnisse zu unterwerfen sind die genannten »Therapeutischen Maßnahmen«. Diese können von den Betroffenen durchaus »gewollt« sein - etwa wie ein Suchtmittel in unerträglichen Lebenssituationen »gewollt« sein kann. Hieraus ihre Anwendung aber zu begründen ist höchster Zynismus gegen jedes Leben und eindeutig politisches Machtinteresse. Wenn zur »Lösung«von Problemen die Ausrottung der Fähigkeit zur ProblerrLerkennung oder die Vernichtung lebendiger Organe oder die Erzeugung von »Zweitkrankheiten«(z.B. durch die systematische »Symptomprovokation« nach Haase oder die Funktionsstörung der Nerven durch Neuroleptika, die einem verdeckten Parkinsonismus entspricht) betrieben wird, so kann dies nur einem unbeschränkten Machtinteresse über alles Leben und über jedwede menschliche Identität hinweg entspringen.

Zu alledem - will man darauf noch eingehen - zeigt die in großen Zügen unwahre und schon wissenschaftlich unhaltbare Begründung zur Anwendung von Schocktherapie und Sterilisation die Gewalttätigkeit des Anwendungsinteresses: weder die »Schocktherapien« noch die »freiwillige Sterilisation von Triebtätern« haben erwiesen, daß sich eindeutig faßbare »Besserungen« ergeben, was immer dies heißen mag. Die Forschung ist auch inhaltlich auf keinerlei »Problemerkennung« - weder im genauesten noch im weitesten Sinn des Wortes - ausgerichtet, sondern praktisch nur auf die Niedermachung von »Störverhalten« und ideologischer Absicherung brutaler chemischen, elektrischer und chirurgischer Kastration und zum Teil auch Folter. In den Versuchslabors, den Tierquälanstalten der Pharmaindustrie wird anschaulich vorexerzleil, was hierbei herauskommen soll: Beherrschung von Menschen durch Schädigung ihrer Organe; - Fixierung und Lähmung des >>Problempotentials«.

c) Gleichstellung der Neuroleptika mit allen »harten Drogen«

Auch wo die "persönlichkeitsverändernde Wirkung" von Neuroleptika nicht gegeben ist, haben diese keinerlei "heilende Wirkung". Sie enthalten fast nur Stör- und Hemmsubstanzen, welche die ursprüngliche »Krankheit« überlagern, irritieren und unkenntlich machen sollen, die Nervenübeilragung blockieren bzw. iritieren (Übertragungsstörungen der Synapsen) oder die Drüsentätigkeiten und den Zellstoffwechsel (Emährung der Nervenzellen) bis hin zur vollständigen Lährnung und zur totalen Organstörung disfunktionalisieren. Sie bewirken Sinnesstörungen, die als Heilung ausgegeben werden, für den Betroffenen aber oft fatale Folgen haben: schwere »Funktionsstörungen« der Muskulatur, der Wahrnehmungsorgane, der Drüsenaussonderungen, der Geschlechtsorgane, der Verdauung, Erkrankung von Leber, Milz und Blutkörperchen und häufig Selbsttötungen wegen nachfolgenden Depressionen oder weil die Organlähmung im Gegensatz zur inneren-Erregtheit nicht auszuhalten ist. Um ihre Anwendung zu verhindern und um den therapeutischen Mythos der Psychiatrie zu entschleiern sind sie als harte, gesundheitsschädliche und zurn Teil besonders lebensbedrohende Drogen einzustuten und dem Betäubungsmittelgesetz in diesem Sinne zu unterstellen. Damit wird ihre Verteilung bzw. Verschreibung, ihre Empfehlung oder die Verführung zur Einnahme untersagt und ihre Vergabe höchstlens zum Zwecke der Entwöhnung ermöglicht. Den Neuroleptika-Abhängigen sind die bekannten Möglichkeiten zum Entzug zu gewähren und altemative Entziehungskuren zu finanzieren. Das Betäubungsmittelgesetz ist dahingehend zu entschärfen, daß nur die Herstellung und Verbreitung von Drogen, nicht aber ihre Einnahme bestraft werden kann.

d) Ersatzlose Abschaffung von Fixierungen und Isolierungen (Käfigbetten, Gurten, Aussonderungen, Isolierzellen)

Fixierungen und Isolierungen existieren aus dem einzigen Grund, den stationären Tagesablauf zu sichern und die Pflegeschlüssel bei »unruhigen Patienten« oder jugendlichen in Heimen billig zu halten. Oft werden Menschen auf Station tage- oder wochenlang in Isolierzellen eingeschlossen oder ans Bett gefesselt oder Alte und Kinder in Käfige eingesperrt, angeschnallt und an der Leine zusammengebunden, um durch »Freiheitsentzug« sie zum willenlosen Ergehenlassen des Anstalts»lebens« zu bringen. Fixierung und Isolation sind reine Zuchtmittel und wenn dabei - was eben fast immer so ist - die Insassen mit Neuroleptika niedergespritzt werden, sind sie nichts anderes als Folterkammern der Technokratie von Recht und Ordnung. Schon die Fensterlosigkeit und Kunstlichtbeleuchtung der Isolierzellen (sensorische Deprivation) zeigt, wes Geistes Kind die »Ruhigstellungsmaßnahmen« sind: Keirnzellenbeherrschung.

Sie sollen ab sofort, nicht mehr benutzt werden durten. Unruhe soll dorthin können, wo sie herkommt - und wo Auseinandersetzungen absurd verlaufen, da sind die Bedingungen hiervon zu,hinterfragen und zu ändern!

Ein oft angewendetes Druckmittel zur Entkräftung der Insassen von Anstalten und Heimen ist die Drohung und Durchführung einer Trennung von Insassen, die sich angefreundet oder zur gemeinsamen Beschäftigung gefunden haben. Durch Zwangsverlegung auf andere Stationen, Zimmerabschließen zu bestimmten Tageszeiten oder Besuchsperren soll erreicht werden, daß in brutalen Anstalten keinerlei Fähigkeit zur Kritik und Artikulation von Widerstand möglich ist. Solche Maßnahmen müssen gesetzlich untersagt werden!

e) Aufhebung der rechtlichen und ideellen Entmündigung (Vormundschaft und Aufenthaltsbestimmung)

Politisch faßt sich die therapeutische Gewalt als Entmündigung der Betroffenen zusammen: Dadurch, daß Menschen, die der Norm nicht gehorchen können oder wollen und deshalb für die herrschenden StrLikturen und Verhältnisse disfunktional werden, als »krank«, »wahnsinnig« »psychotisch« oder »senilx( bezeichnet werden, macht man diese Strukturen zum Maßstab gegen Menschen: zur Norrnalität schlechthin. Es gibt keine Normalität und es ist auch nicht normal, daß wer nicht normal ist, krank sein soll: Wo Menschen ver-rückt werden oder nicht mehr leben und arbeiten wollen oder können, da können sie eben nicht leben und arbeiten wollen, d.h. da sind die Bedingungen ihres Lebens die Gewalten gegen ihr Leben.

Wenn rnan jemanden, der diese Normalität nicht mehr teilt, zum Wahnsinnigen im üblen Sinn dieses Begiiffs erkläil, will man ihn behandeln, beherrschen und sich somit eines politischen Gegners entledigen; - er soll Sache der therapeutschen Gewalt, Insasse von hierfür errichtete Anstalten und Gefängnisse sein. Die Aussonderung bringt dann eben auch die Vorteile für die Nutznießer dieser Verhältnisse: für den Staat, den Arbeitgeber, den Lehrherrn, die Farnilie, die Anverwandten, die Eltem oder die Erben.

Alte Menschen werden in Heime gezwungen, weil in einem pnvatwirtschaftlichen Wohlfahrts- und Rentenstaat keine Arbeit für sie mehr da ist, jugendliche und Kinder werden in Heimen abgeschoben, wenn die Kleinfamilie als einzig anerkannter, als normaler Ort ihrer Geburt ihnen keine Lebensmöglichkeit bietet und Ver-rückte kommeri in die Psychiatrie, weil ihre Gefühle keinen Platz in den gewohnten Institutionen der Ehe und der Arbeit haben dürfen. Kinder und jugendliche werden im Alltag immer durch Minderjährigkeit entmündigt. Sie werden bereits bei der geringsten Auflehnung (Schuleschwänzen, Ausreißen oder Klauen) als verhaltensgestört oder mit angeblichen Pubertätsstörungen in spezielle jugendpsychiatrische Abteilungen von Bezirks- und Landeskrankenhäusern eingesperrt. Oftmals werden sie zwangsweise mit Medikamenten behandelt und im Interesse der Normalität (norrnales Verhalten, normales Fühlen, normale Sexualität) therapiert. Alte Menschen werden bei den geringsten »Sonderbarkeiten« (Stimmen hören, Bettnässen, Widerspenstigkeit gegen Nachbarn) gefürchtet und deshalb entweder in die Psychiatrie oder in »therapeutisch ausgerichtete Altenheime« abgeschoben. Überall ist es Gang und Gebe, sie mit starken Neuröleptika »ruhig zu stellen« und sie so zu Tode zu pflegen.

Alten- oder jugendheime, Institutionen, Amter und Familien sollen zu keinerlei therapeutischen Disziplinierungen mehr fähig sein. Ihren Überwachungsfunktionen soll der rechtlichen Boden entzogen werden (Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Eltern, des Vormunds oder des Pflegepersonals). Vormundschaft soll vollständig abgeschafft werden. Für den Fall, daß ein Mensch selbst einen Beistand zur Erledigung seiner Amtsgeschäfte und Existenzsicherung verlangt, ist ihm dieser ohne Verfügungsrecht zu gewähren.

f) Rechtliche Absicherting des Psychiatrischen Testaments

Um den Willen eines Betroffenen für den Fall festzuhalten, wo er zu einer Willensäußerung nicht in der Lage ist, soll die zuvor schriftlich niedergelegte Willensäußerung für jede Handlung Dritter, speziell in Hinsicht auf die Ablehnung psychiatrischer Behandlung, bindend sein und rechtlich wie das Testament im Falle des Todes geschützt werden.

3. Beschaffung und Finanzierung von Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten für Betroffene

a) Verfügbarmachen oder Errichten und Legalisierung von Weglaufhäusern in jeder Stadt, in deren Umkreis psychiatrische Anstalten sind mit einer Kapazität von mindestens 10% der gegenwärtigen Bettenzahl in den Anstalten.

Damit Versorgungs- oder Hilfeeinrichtungen keine existentielle Gewalt über Betroffene behalten, sind Häuser zur Verfügung zu stellen oder zu erbauen, welche ihnen für Übergangszeiten bis zu einem Jahr Lebensmöglichkeiten und Möglichkeiten zur Auseinandersetung über die eigene Lage und das eigene Fortkommen - ähnlich den breits teilweise vorhandenen Frauenhäusern - bieten.

Schon bestehende Häuser ähnlicher Art, wohin Betroffene flüchten können,werden zur Zeit irnmer noch vom Staat oder anderen Interessensaruppen (Familien und deren Organisationen und Interessensvertretungen) verfolgt und kriminalisiert (vergl. die "Recht"-Sprechuiig gegen die Indianerkommune), sobald sie sich den Wohlfahilsverbänden oder dem, Samariterdienst entziehen und politische Befreiung suchen. Solche Kriminalisierung die durch einschlägige Paragraphen des Arbeits- und Familienrechts rnöglich ist, soll dürch Änderung dieser Gesetzestexte verunrnbglich werden.

b) Wohnräume und Wohngemeinschaften für ehemalige Psychiatrieinsassen

Entsprechend der Bettenzahl der gegenwärtigen Psychiatrie sollen Wohriplätze und Wohngemeinschaften mittels eines hierfür aus den Anstaltspsychiatrie-Einsparungen gebildeten Fonds errichtet werden. Diese sollen frei von jeglichen therapeutischen oder administrativen Bedingungen bleiben (siehe 4.) und Wohnrecht auf bestimmte Zeit garantieren. Sie sollen außerdern Selbstverwaltungsorgane (Sprecher oder ähnliche politische Strukturen) bilder, und hierfür alle nötigen Rechte und Mittel erhalten.

Die Betroffenen sollen ferner das im Grundgesetz zugesicherie Recht ("Eigentum verpflichtet") zugesprochen bekommen, alle Häuser, die länger als ein halbes Jahr leerstehen, zurn Wohnen und Arbeiten frei benutzen zu können.

c) Aufbau und Förderung von Arbeiter- und Handwerkerkooperativen

Um das eigene Arbeitsvermögen nach längerer Arbeitslosigkeit (wieder) zu erproben sind die bekannteii sogenannten Rehabillitationseinrichtungen nicht nur ungeeignet sondern vor allem zur Erziehung zur Arbeitsdisziplin ausgestattet (vergl. 1.). Nur unter der Bedingung, daß Arbeit in der Auseinandersetzung mit anderen arbeitenden Menschen und mit eigener Sinnstiftung entwickelt wird, kann ein Mensch den bodenlosen Verfremdungen des Arbeitsmarkts entgegentreten. Für eine Startzeit sind Bedingungen zu schaffen, durch welche gegründete Arbeiter- und Handwerkerkooperativen ohne frühzeitigen Konkurrenzdruck ihre Arbeitsweise und -zusamrnenhänge entwickeln können. Notwendig sind kostenlose Räume, Startfinanzierung und Betriebsgründungsdarlehen sowie eine dreijährige Begleitfinanzierung.

4. Volles Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen

a) Selbstbestimmtes Wohnen

In den Wohn- oder Unterhaltseinrichtungen, die zur Hilfe oder Stütze von Betroffenen gemeint sind, müssen diese selbst über die Gestaltung ihres Wohnens und Lebens bestimmen können. Über alle Verhältnisse und Beziehungen sollen sie selbst verfügen; - alle selbstgewählten Formen von Sexualität müssen möglich sein (viele Betroffene werden wegen verbotener Liebesbeziehungen psychiatrisiert).

Die Bewohner müssen deshalb volles Hausrecht haben, ihre Hausordnung selbst entwerfen und ihre Verwaltung selbst bestimmen können. Es darf keinerlei Therapie oder Supervision zur Bedingung des Wohnens gemacht werden. Bewohnerversamrnlungen sollen die notwendigen Entscheidungen herbeiführen.

b) Autonomie in allen Fragen der Hilfeleistungen

Wer urd was hilft, das können nur die erkennen und bestimmen, die Hilfe benötigen, Sie sind bei allen professionellen "Dienstleistungen ", die eigentlichen "Auftraggeber" und sollen daher unmittelbar und mittelbar (durch eigene Selbstbestimmungsorgane) Notwendigkeit, Durchführ-ung und Erfolg solcher Hilfestellungen beurteilen und kontrollieren. Alle sogenannten "therapeutischen Maßnahmen« müssen von den Betroffenen und ihren Selbstbestimmungsorganen verlangt worden sein. jede »therapeutische Maßnahme" ist somit eine auf ein bestirnmtes Problem beschränkte Hilfeleistungen und keine Einrichtung.

c) Schutz und Garantie für alle politischen Strukturen der Selbstbestimmung von Betroffenen

Die Lähmung der Insassen der Psychiatrie ist systematisch und durch viele ineinandergreifende Einwirkungen erzeugt worden: durch die forinale und inhaltliche Entrnündigung, durch die Entwertung der Äußerungen und Tätigkeiten des Betroffenen, durch die Entstellung seiner Organe rnittels chirurgischer, chernischer oder elektrischer Manipulationen, durch die Ausbeutung seiner Arbeit mit für ihn sinnlosen und so gut wie unbezahlten»Beschäftigungen« für die Industrie und durch die existentielle und rechtliche Beherrschung seines Wohnens. Dieses System psychiatrischer Unterdrückung hinterläßt schwere Verletzungen im Selbstbewußtsein und Selbstgefühl des einzelnen. Deshalb muß in jedem Bereich dieser psychiatrischen Unterdrückung und Menschenführung Selbstbestimmung schon ermöglicht werden, bevor andere Änderungen vollzogen sind. Der Betroffene kann sich von seinem Unterdrücker nur befreien, wenn er sich befreien kann. Es müssen außer den materiellen Änderungen vor allern politische Strukturen geschaffen und geschützt werden, welche diesen Prozeß erlauben. Die Betroffenen müssen in ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte, bei ihrer Arbeit und beirn Wohnen Strukturen entwickeln können, die es jedem einzelnen garantieren, daß seine Einwände und Äußerungen gehört und berücksichtigt werden, daß seine Tätigkeit und Meinung die.anteilige Wirkung hat und daß seine Welt über seine momentane Lage und Räumlichkeit hinausgeht.

Deshalb sind überall, wo Betroffene auf Stütze und Hilfe angewiesen sind, nicht nur Selbstveriretungen »gestattet«, - es müssen vielmehr zusamrnenhängende Rechtsformen (ähnlich den politische Körperschaften) gebildet werden, welche die Selbstbestimmung von der stationären, der lokalen, der regionalen und der nationalen Auseinandersetzung bis zur Bestimmung der Betroffenen über die Psychiatrie überhaupt treiben kann. Insbesondeie bei den politischen und medizinischen Gremien, wo es um Rechte der Psychiatrieinsassen geht, rnüssen sie durch Sprecher und in der Kornrnune mindestens durch einen Ombudsmann vertreten sein.

Insassen einer noch nicht aufgelösten Irrenanstalt oder ähnlicher Einrichtungen müssen wöchentlich eine Stationsversammlung und monatlich eine Gesamtversammlung abhalten können, auch wenn sie zu deren Organisation nicht in der Lage sind. Sie müssen ihre Sprecher wählen können, die ihnen Kontakt zu anderen politischen Initiativen verschaffen. Vom Sprecher einer Wohngemeinschaft, über den Sprecher eines Arbeitskollektivs bis hin zum Ombudsmann in den politischen Gremien muß eine durchsichtige und durchlässige Auseinandersetzung möglich sein und deren Darstellung und Wirkung garantiert werden. Wir schlagen hierfür die Unterstützung einer örtlich autonomen, aber überregional verbundenen »Vereinigung der Psychiatrieinsassen« vor, wie sie z.Z. vom Netzwerk Psychiatrie vorbereitet wird.

d) Unterstützung von Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit gegen die Psychiatrie

Damit die Öffentlichkeit und Betroffene von seiten der Betroffenen iiber Einrichtungen und Mittel, über Vorgehensweise und Funktion der Psychiatrie und gegen deren »medizinisch-wissenschaftlichen« Verbrärnungen informiert und über Alternativen zur Psychiatrie aufgeklärt werden können, ist auch ein spezieller Etat hierfür zur Verfügung zu stellen. Aus ihm sind alle Arbeitskreise und Publikationen zu finanzieren, die in diesem Sinne arbeiten.

Die Verwaltung und Veileilung dieses Fonds soll ebenfalls von dem Verband der Initiativen überregional übernommen werden.

 

WAS BISHER GESCHAH:

Die vorstehenden Forderungen wurden von uns verbreitet und vertreten, wo es nur ging: beim Landesarbeitskreis der GRÜNEN »Soziales und Gesundheit«, beim Mühchner Kongreß vom internationalen Netzwerk Psychiatrie (Röseau), bei verschiedenen Veranstaltungen (z.B. Mannheimer-Kreis-Tagung, Vorbereitungstreffen der blauen Karawane) und durch eine eigene Einladung zu einer Veranstaltung hierüber. Die AG SPAK, DGSP, BayGSP und die Sozialpsychiatrischen Dienste wurden informiert. In Nürnberg hat das dortige Beschwerdezentrum, in Berlin die Irrenoffensive das ihre getan.

Reaktion: NULL. Bei den bayerischen GRÜNEN vorwiegend Abwiegelei, beim Räseau - nach mehreren Versuchen, eine Antwort zu bekommen - Ablehnung der zentralen Inhalte mit Teilzustimmung in Einzelheiten, DGSP sowieso nichts, BayGSP: niemand weiß Bescheid und als man Bescheid wußte, war auch nichts anders. Zu unserer Einladung kam kein einziger der geladenen Münchner Psychiatrieleute oder -gruppen. Frust auf jeder Ebene!

Eines ist dadurch auf jeden Fall klar geworden: von der Seite professioneller Psychiatrie-»Mitarbeiter« und der Lobby der Betreuer ist wenig zu erwarten. Da weiß man sehr schnell (ohne daß man darüber überhaupt noch diskutieren will), daß das alles »idealistische Utopien« sind. Dort werden in aller Regel die schmerzensreichen Litaneien der Berufserfahrung abgespult und fertig. Offenbar handelt es sich um zwei gegensätzliche »Erfahrungswelten«, von denen eine nicht mehr wahr sein darf: die der Betroffenen. Die sehen doch in ihrer Umwelt und am eigenen Leib, daß sie durch die Psychiatrie (inclusive Sozialpsychiatrie) in einen Apparat der »öffentlichen Ordnung« geraten, der sie nicht nur formell entmündigt, sondern ihnen auch den eigenen Boden, die einfachsten Formen und Inhalte der Selbstbestimmung, die Möglichkeit zu einer eigenen Geschichte mit oder ohne Gewalt nimmt und ihnen letztlich - ohne es selber zu wollen - die Geschichte des ewig Psychiatrieabhängigen zuweißt. Dagegen soll die große Chance des Sozialapparats gestellt werden - auch wenn es sie garnicht gibt. Schaut man sich eben nur die Resultate an (weil man wohl nichts anderes kennt), dann argumentiert man auch geme als Sachwalter für Leib und Leben mit der Not, der Willlenlosigkeit, der Lethargie usw. »der Klienten«, denen man alles wunscht, solange sie das bleiben, was man sich von ihnen auch in Fachkreisen vorstellt. Einziger Ausweg hier: der Profipatient - der neue Patiententyp der Profipsychiatrie.

Ihr Hauptproblem mit unseren Forderungen ist, daß darin das Veisorgungsgebot, dieses Hilfsmittel- und Kiückenbereitstellen, nicht maßgeblich ist, sondem daß dort das Leben der Betroffenen, Selbstbestimmung in eigener Wirklichkeit ausdrücklich als Bedingung jeder Hilfeleistung gefordert wird. Da hat man sie doch vor Augen: nicht diese Emanzenpatienten, sondern die »wirklich Not leidenden«, die erwachsenen Unterschichtenkinder, die einen starken Arm (mit oder ohne Spritze in der Hand) brauchen, die von Selbstbestimmung gar keine Ahnung haben, weil »sie die garnicht kennen« usw. »Man darf die Betroffenen nicht einfach über einen Kamm scheren!« - Nein, das darf man nicht! Der Kamm, über den geschert werden muß, soll der alte, bewährte medizinische und sozialpsychiatrische bleiben - mit einigen Abstrichen vielleicht: alles etwas kleiner, keine Großkrankenhäuser, etwas mehr Überblick, etwas genauere Dosierungen, etwas weniger von den harlen Sachen (Elektroschocks, Haldol, Zwangsunterbringung, gewältsame MedikamiBntierung, Einsperrungen, Isolierungen etc.) und ein paar neuere Wohltaten (vielleich die »basisdemokratisch« abgestimmte Dosis Haldol?).

Wenn man besonders wohlmeinend ist, empfindet man oft das als Gefahr, was überhaupt mit dem »Klienten« los sein könnte, wenn der wieder einen eigenen Weg sehen kann - und sei's auch nur die Möglichkeit hierzu -, wenn der von den chemischen Nebeln und Krämpfen runterkommt, wenn ihm keine Versorgungshierarchie das eintrichtert, was ihm guttun soll, wenn die Menschen das Leben miteinander erarbeiten und erkämpfen können, das sie mit sich verbinden können. Das umfaßt eben vor allem eigenes Handeln, bei dem äs auch so oder so flippig zugeht und das eine »Gefahr« auf jeden Fall enthält: Man weiß nicht, was dabei rauskommt. Und das Produkt will man doch allemal beherrschen: es soll ein guter Weg werden, den der Klient zu betreten hat! Vielleicht macht Arbeit nicht doch ein bißchen frei? Da ist man gerade von der Seite der Psychiatriereformer schnell bei der Hand, jeden Änderungsversuch, der an die existenziellen Wurzeln geht, als »wilde Spekulation« abzuqualifizieren und ihm meist noch - im Selbstgefühl des erfahrenen Versorgungsathleten - das Prädikat der Unverantwortlichkeit anzuhängen.

Ein italienischer Reformprofessor vom Röseau hat sich darin ganz gut zu erkennen gegeben, als er zu den Forderungen nach Abschaffung therapeutischer Gewalt und Zwangsmedikation äußerte: »Ihr müßt Euch endlich darüber im klaren sein, daß die Gewalt dort, wo die Patienten herkommen, einfach viel größer ist als in den meisten Psychiatrischen Anstalten. Deshalb wende ich lieber diese Gewalt im Mindestmaß an, als daß ich meine Patienten in die Gosse schicke!«

Jawohl! Die moderne Gewalt ist die aufgeklärte Gewalt, die Gewalt zum »Wohle des Patienten«, so wie die Eltern die Züchtigung ihrer Kinder als lebensnotwendig erachtet haben, weil es in der Welt noch häiler zugeht. Modeme Psychiatile als Familylife im Großformat! Dort ist man sich sicher, was Selbstbestimmung der Betroffenen über ihre Existenzgrundlagen und über ihr Leben bewirkt: Verwahrlosung und Verwilderung. Zynischer kann man *ohl nicht mehr sein!

Wir wissen sehr wohl, welche »Erfahrungen« dahinter stehen, worin sich diese Leute »im Recht« fühlen. Das fortschrittliche Rumgezerre am Wohl des »Klienten« hat schon viel Geschichte und es ist wohl eher die Geschichte dieser Herren, die sich jetzt damit brüsten, noch besseres zu tun, indem sie die totale Versorgung betreiben. Sich einfach vorzustellen, daß man einem Menschen nur gutes Tun muß, daß er seine »Mitmenschlichkeit« wiederfindet war nie unsere Sache. Wir haben immer darauf hingewiesen, daß es nicht um einzelne Erleichterung in einzelnen Situationen oder um bessere Versorungskapazitäten in einzelnen Notfällen geht. Es geht auch nicht darum, die sichtbaren Gitter zu entfernen und geschlossene Stationen zu öffnen, damit chemisch verschlossene Menschen im Radius ihrer geschwächten Körperkraft freien Auslauf bekommen. Und es geht schon garnicht darum, liebe Versprechungen über gut gemeinte Hilfe zu verbreiten. Es geht nicht um die große Freiheit - es geht um die Selbstbefreiung der Menschen in einem schier endlosen Gestriipp von Stützapparaturen, die alle zusammen systematisch und fast lückenlose ineinandergreifen und darin überhaupt nur Kunststoff, Chemie für jede Lebens(not)lage produzieren. Staat und Gemeinde gehen immer von der Versorgung und vom Stützsystem aus, weil sie im Grunde gamicht helfen können und weil sie den Kern ihrer Menschenlosigkeit nicht mehr berührt haben wollen. Wir müssen den Weg finden und gehen, den die Menschen schon lange suchen. Die Forderungen sollen der erste Schritt gegen das ganze Wohlfahrtsarrangement sein!

Wolfram Pfreundschuh