Quelle: Tina Stöckle: "Die Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieüberlebenden", Berlin: Antipsychiatrieverlag, Neuausgabe 2005. Siehe http://www.antipsychiatrieverlag.de/verlag/titel1/stoeckle.htm

Tina Stöckle

Die Irren-Offensive

Möglichkeiten und Grenzen antipsychiatrischer Selbsthilfe

Vorbemerkung

Dieses Kapitel stammt aus Tina Stöckles Buch »Die Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieopfern« (Frankfurt am Main: Extrabuch-Verlag 1983). Die Irren-Offensive ist eine autonome Selbsthilfe-Organisation ausschließlich von Psychiatrie-Betroffenen, die sich 1980 im Westteil Berlins gründete. Tina Stöckle beschrieb den Werdeprozeß und die ersten Aktionen dieser Gruppe. Später dann, ab 1984, bekam die Gruppe von der Westberliner Landesregierung finanzielle Zuwendungen, wodurch sie einen Treffpunkt sowie eine ganze und mit der Zeit eine weitere halbe Stelle für den Betrieb der Einrichtung und für Beratung finanzieren konnte. Die Wohnung, in der sie ihr Domizil aufschlug, erhielt sie über einen Psychiatrie-Betroffenen, der Jahre zuvor eine Reihe von freistehenden Altbauwohnungen zur Weitervermietung an Projekte angemietet hatte. Mit der Öffnung der Beratungs- und Informationstermine auch für nicht persönlich von der Psychiatrie Betroffene waren nur noch das wöchentliche Plenum und die Vereinszugehörigkeit ausschließlich (ehemaligen und aktuellen) Anstaltsinsassinnen und -insassen vorbehalten; auf diese Weise blieb die Entscheidungsbefugnis in den Händen von Betroffenen. Die bald nach Entstehen der Irren-Offensive gegründeten Kleingruppen bestanden immerhin zwei Jahre; Gespräche über persönliche Angelegenheiten konnten später innerhalb des Frauentags, des Beratungstermins oder zum Teil entstandener persönlicher Beziehungen geführt werden. Auch männerspezifische Fragen der Verrücktheit waren Thema — wenn auch nur ein einziges Mal, bei der Vorbereitung zur Teilnahme von vier Mitgliedern der Irren-Offensive an einem Berliner »Männertag« Mitte der 80er Jahre.

Nachdem die erste Auflage ihres Buches vergriffen war, widerstand Tina Stöckle allen Verlockungen eines Nachdrucks. Sie befürchtete, daß ihr Buch in einigen Passagen zur undifferenzierten Verherrlichung von Verrücktheit beitragen könnte. Dies basierte auf ihren persönlichen Erfahrungen, die sie im Lauf der Jahre in der Irren-Offensive Berlin machte: bei Aktionen, in der Beratung im Treffpunkt und in seiner Organisation.

Der Vorstand der Irren-Offensive e.V. kündigte Tina Stöckle ihren Arbeitsplatz zu Ende März 1992. Sie starb am 8. April 1992 an Nierenversagen. Bis zuletzt hatte sie die finanzielle Abrechnung der Treffpunktkosten abgewickelt. Tina Stöckle war das letzte verbliebene aktive Mitglied derjenigen Fraktion, die mit ihrer radikalen Einstellung den antipsychiatrischen Ruf der Irren-Offensive begründet hatte. Vor ihr hatten andere langjährige antipsychiatrisch Aktive, zu denen ich auch mich selbst zähle, nach und nach die Gruppe verlassen, nachdem sie der Erfahrung hatten Tribut zollen müssen, daß auch das Lager der Psychiatrie-Betroffenen nicht frei von Bosheit, Macht- und Geldgier sowie Gewaltausübung ist.

In dieser Situation entschloß sich Tina Stöckle zur Neuauflage ihres Buches — als historisches Dokument von der Periode der Irren-Offensive, in der die Kriterien am ehesten erfüllt waren, die sie als notwendig für anti- und nichtpsychiatrische Selbsthilfe ansah: Solidarität untereinander, kritische Distanz zum Krankheitsbegriff, Befreiung vom psychiatrischen Einfluß sowie Abbau von Machtverhältnissen innerhalb der Gruppe. Die in der real-existierenden Irren-Offensive seit 1989 neu aufgekommenen Strukturen sollten die früheren Ideale nicht dem Vergessen preisgeben.

Ursprünglich hatte Tina Stöckle 13 Psychiatrie-Betroffene ausführlich interviewt: zu ihrem Leben vor der Psychiatrisierung sowie zu ihren Erfahrungen in der Psychiatrie und danach. In ihrem Buch konzentrierte sie sich schließlich auf zehn dieser Interviews. (Eines davon ist in der vorliegenden Anthologie nachgedruckt; s. Ludger Bruckmann: »Rückblick auf zwölf Jahre antipsychiatrische Selbsthilfe«.) Die Kritik der Psychiatrie und die Ansatzpunkte zu Alternativen stellte Tina Stöckle in einen Rahmen, der sowohl die Geschichte der antipsychiatrischen Selbsthilfe wie auch die Distanzierung von angeleiteter gemeindepsychiatrischer 'Selbsthilfe' einschloß.

Ihre Erkenntnisse faßte Tina Stöckle in zwei Abschnitten zusammen: »Wieweit erfüllt die Irren-Offensive die Kriterien?« und »Wo sind die Grenzen?« Mit Kürzungen und kleinen stilistischen Korrekturen verband ich diese zwei Abschnitte zu einem in sich abgeschlossenen Text. Da ich neun Jahre lang mit Tina Stöckle zusammenlebte und -arbeitete, bis zuletzt ein vertrautes Verhältnis zu ihr hatte und zudem das korrigierte Manuskript der von ihr in Erwägung gezogenen Neuauflage besitze, weiß ich weitgehend Bescheid über diejenigen inhaltlichen Aussagen, hinter denen sie zuletzt nicht mehr stand und die sie bei einer Neuauflage gerne überarbeitet hätte:

1. »Die Psychiatrie-Betroffenen« als einheitliche Gruppe von Menschen mit gleichgerichteten Interessen gab es für Tina Stöckle längst nicht mehr. Im ursprünglichen Text hatte sie mehr oder weniger unausgesprochen existentielle Interessen wie Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit (im Sinne von Nichtbehandelt-Werden mit schädlichen psychiatrischen Psychopharmaka) als absolut und ungebrochen vorausgesetzt. In der Realität tauchten bei Psychiatrie-Betroffenen jedoch in unterschiedlicher Ausprägung und Dauer noch andere, z.T. entgegengesetzte Bedürfnisse wie z.B. nach chemischer Ruhigstellung und Abgabe von Verantwortung auf, die ebenfalls ernstzunehmen waren. In ihrem Text sollte deshalb der Begriff »die Psychiatrie-Betroffenen« gelesen werden als »die radikal an zentralen Menschenrechten wie Selbstbestimmung und körperlicher Unversehrtheit orientierten Psychiatrie-Betroffenen«. Diese Einschränkung spiegelt auch die Tatsache wider, daß es eine Reihe Psychiatrie-Betroffener gibt, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht zu einer Gruppe wie der Irren-Offensive kommen: die z.B. davon überzeugt sind, daß ihnen die Psychiatrie mit ihren spezifischen Maßnahmen geholfen hat; die sich vom aggressiv-ironischen Namen der Gruppe abschrecken ließen; die mit dem Komplex Psychiatrie nichts mehr zu tun haben wollen, weil die Erinnerung zu schmerzlich ist oder weil sie inzwischen andere Schwerpunkte gesetzt bzw. sich den 'schönen Dingen des Lebens' zugewandt haben.

2. Die oft idealisierende Darstellung von organisierten Psychiatrie-Betroffenen, die im Laufe der Praxisjahre Kratzer bekommen hatte, hätte Tina Stöckle in Zeiten des inneren Abstands am liebsten in einem »Schwarzbuch Irren-Offensive« revidiert. Schon in ihrem Buch hatte sie vor verinnerlichten Gewaltpotentialen gewarnt. Und damit hatte sie recht: Wieso sollten Psychiatrie-Betroffene von vornherein und ausnahmslos aneinander interessiert sein, solidarisch, mitfühlend, kritikfähig und fähig zu 'echten menschlichen Beziehungen' sowie zu offener Auseinandersetzung? Der Wunsch, die internen Konflikte nicht öffentlich auszutragen und das Idealbild der Irren-Offensive angesichts des Erreichten und der Erfolge anti- und nichtpsychiatrischer Selbsthilfe nicht zynischer Kritik seitens der Sozialpsychiatrie auszusetzen, war Tina Stöckle jedoch wichtiger als ihr gleichzeitig vorhandenes Bedürfnis, mit dem Aussprechen der ungeschminkten Wahrheit Psychiatrie-Betroffene vor möglichen Fehlentwicklungen ihrer Gruppe zu warnen; außerdem hielt sie sich strikt an die Vereinbarung, keine persönlichen Informationen über einzelne Mitglieder publik zu machen.

3. Ihre Behauptung, nur durch Selbsthilfe und Selbstorganisation zum Aufdecken und allmählichen Auflösen der eigenen Konflikte zu gelangen, hielt sie nicht mehr aufrecht. Hintergrund ihrer Meinungsänderung war vermutlich die Erfahrung, daß gelegentlich Mitglieder, Besucher oder Besucherinnen von zumindest zeitweisen positiven Erlebnissen mit Psychotherapeutinnen und -therapeuten berichteten.

4. In der Neuauflage sollte das im Untertitel enthaltene Wort »Psychiatrieopfer« ersetzt werden durch »Psychiatrie-Überlebende«. Hierdurch wollte Tina Stöckle darauf hinweisen, daß nach der Psychiatrisierung, so schrecklich diese auch sein mag, das Leben mit all seinen prinzipiell vorhandenen Möglichkeiten weitergeht; dem Opfer-Begriff stand sie auch deshalb mehr und mehr mißtrauisch gegenüber, da er sämtliche Verantwortung für den Verlauf der eigenen Lebensgeschichte Dritten zuweist und das Subjekt zum ausschließlichen Objekt der äußeren Lebensumstände degradiert.

5. Der Begriff »psychiatrische Drogen« verschwand mit den Jahren völlig aus dem Sprachgebrauch der Irren-Offensive. In Tina Stöckles originalem Sprachstil der frühen 80er Jahre würde heute der Ersatzbegriff »psychiatrische Psychopharmaka« oder »neurotoxische Psychodrogen« als Fremdkörper wirken, weshalb ich auch in diesem Fall häufig die ursprüngliche Formulierung beibehielt.

6. Die Frage, inwieweit Tina Stöckle heute noch die Zweiteilung der Menschheit in »Zwanghaft-Normale« und »Verrückte« in dieser Abstraktion vornehmen würde, kann ich nicht beantworten. Die beiden Pole sah sie eher als Tendenzen und weniger als ausreichende Charakteristik des jeweils einzelnen Menschen an. Das entgrenzte 'Jenseits von Normalität und Verrücktheit' wollte sie nicht beschreiben (und damit wiederum fixieren), sondern leben.

Peter Lehmann, Oktober 1992

 

Möglichkeiten der Irren-Offensive

Wenn ich nun die Selbstaussagen der Interviewten und die Aktivitäten der Irren-Offensive an den in meinem Buch entwickelten und hier als Kapitelüberschriften wiederholten Kriterien einer antipsychiatrischen Alternative messe, stelle ich deutlich unterschiedliche Meinungstendenzen und manchmal auch konträre Standpunkte fest. Deshalb gebe ich meistens Tendenzen wieder und schreibe nur selten in Wir-Form.

Zusammenschluß der Betroffenen

Die Aussagen machen deutlich, daß die Verrückten zur Genüge erfahren haben, was es heißt, ganz allein, ohnmächtig, isoliert dazustehen, im besten Fall als Exot geduldet zu werden. Die Motivation zur Mitarbeit in der Irren-Offensive ist im Prinzip nicht unterschiedlich, ihr Schwerpunkt ist an Interessen und Bedürfnissen individuell ausgerichtet. Wenn Werner sagt: »Ich habe gemerkt, daß ich als Alleinstehender vollkommen ohnmächtig bin«, dann drückt er das aus, was alle aufbrechen möchten: die Ohnmacht, die Vereinzelung, die Isolation. Für viele Irren-Offensiv-Mitglieder ist es zunächst einmal wichtig, Kontakt zu anderen Betroffenen zu knüpfen, auf Menschen zu treffen, die ähnliches erfahren haben, mit denen sie gemeinsam etwas tun möchten. Andere Interviewte sprechen von Irren-Solidarität, die sie gesucht und gefunden haben, von einer Solidarität mit Menschen, die auch anpassungsunfähig bzw. anpassungsunwillig sind: »Flippies, Outsider, Randtypen« (Bernd).

Hier kann man Solidarität lernen. Das ist leichter bei Betroffenen, die die Erfahrung gemacht haben, daß man wie ein armes Schwein behandelt wird, da man auch aufeinander angewiesen ist. Ich weiß von vielen Leuten, daß sie mich als Irre völlig abschreiben. (Vera)

Viele sehen die gemeinsame Erfahrung als Voraussetzung dafür, daß sie Verständnis, Einfühlungsvermögen und Angenommenwerden vorfinden. Der Zusammenschluß bedeutet für die meisten, daß sie einen gewissen Gruppenzusammenhalt erwarten, daß sie auf gegenseitige Hilfe hoffen, daß sie — wenn sie sich schlecht fühlen — entsprechend unterstützt und nicht, wie sie es bisher erfahren haben, im Stich gelassen werden.

Im Namen »Irren-Offensive« ist enthalten, daß Betroffene sich nicht nur zusammenschließen, sondern zugleich offensiv werden, Widerstand leisten: Tendenziell zeigen die Aussagen, daß gerade dieses Offensiv-Werden für viele Betroffene von wesentlicher Bedeutung ist bzw. die Motivation war, sich für diese Gruppe zu entscheiden. »Ich bin am bürgerlichen Leben zerbrochen. Soll ich mich jetzt auch noch schämen, in einer Klapsmühle gewesen zu sein, die das Werk eben dieser Bürger ist?« (Peter) Durch den Offensivcharakter wird das Sich-Verstecken, das Anonymsein aufgebrochen. Die Betroffenen zeigen in den Interviews, daß sie ihre Scham, ihre Ängste überwunden haben, daß sie nicht mehr bereit sind zu schweigen, zu dulden, zu leiden, sondern sich gegen die Diskriminierung wehren, die auf ihnen lastet.

Ich glaube, daß es unheimlich wichtig ist, nach außen zu gehen und zu zeigen, wie 'normal' das ist, verrückt zu sein. Einfach auch anderen zu zeigen, wie schnell so was geht, daß man in eine Klinik kommt, wie die Bedingungen das verursachen. (Claudia)

Kampf gegen psychiatrische Menschenrechtsverletzungen

Die Psychiater scheuen das Licht der Öffentlichkeit, deshalb erfordert der Kampf gegen die Psychiatrie Öffentlichkeitsarbeit. Das Schweigen der Betroffenen ist — wie die Irren-Offensiv-Leute meinen — mit ein Grund, daß sich an diesen Zuständen nichts geändert hat. Die Verrückten sind sich einig, daß Öffentlichkeitsarbeit die Voraussetzung dafür ist, daß überhaupt etwas in Bewegung kommt.

Denn gerade dadurch, daß es ja eigentlich immer totgeschwiegen wird, ist es so, wie es ist (Vera);

... daß man, bevor man etwas hat, an die Öffentlichkeit muß. Sonst wirkst du irgendwo im Busch rum, und keiner weiß, was du überhaupt willst. (Werner)

Das Engagement, die Kraft dazu schöpfen die Verrückten aus ihrer eigenen Betroffenheit; denn einmal ist das, was ihnen in den Anstalten angetan wurde, nicht vergessen, und zum anderen fühlen sich die meisten immer noch bedroht; sie haben ja mindestens schon einmal erfahren, wie schnell und wie brutal die Psychiatrie zuschlägt. Öffentlichkeitsarbeit bedeutet für Psychiatrie-Betroffene, das Ohnmachtsgefühl aufzubrechen, endlich etwas sowohl für sich selbst zu tun als auch gegen das Unrecht der Psychiatrie und das, was in neuer Form auf uns zugekommen ist, die Gemeindepsychiatrie.

Nach Meinung der Irren-Offensiv-Leute soll die Öffentlichkeit informiert, aufgeklärt werden. Die Leute sollen mit der Realität, was inner- und außerhalb der Anstalten passiert, konfrontiert werden. Sie sollen nicht mehr, wie im Faschismus, die Möglichkeit haben, sich vor der Wahrnehmung der Realität zu drücken bzw. die Ausrede benützen zu können, sie hätten von nichts gewußt. Durch eine Gegendarstellung sollen die Menschen so weit informiert werden, daß sie Verständnis für Verrücktsein gewinnen, daß sie erkennen, welche Ursachen das 'Ausrasten' hat, daß sie bei sich selbst Betroffenheit zulassen und entwickeln können. »Nicht der Schizophrene ist schizophren, sondern die Gesellschaft ist es. Das muß ganz deutlich gemacht werden.« (Claudia)

Dazu muß die Psychiatrie als das dargestellt werden, was sie in Wirklichkeit ist:

... als ein Abgrenzungsmittel für die Leute, die vor all dem Angst haben, was anders ist, nicht 'normal' ist; als eine Möglichkeit, eine bestimmte Art von Denken, Gesinnung von der Gesellschaft fernzuhalten. (Bernd)

Einige Betroffene haben erkannt, daß es wichtig ist, sich auch theoretisch mit Psychiatrie auseinanderzusetzen, um im Kampf gegen sie und ihre Ausweitung souverän sein und die Kritik zu fundieren zu können.

Die Interviewten haben auch dargestellt, wie sie in die Öffentlichkeit gehen wollen. Voraussetzung dafür ist, daß die einzelnen für sich selbst offensiv werden, daß sie offen über ihre Anstaltserfahrung sprechen, erklären, warum sie verrückt geworden sind und wie sie jetzt mit ihrer Verrücktheit leben. »Ganz klar offensiv vorgehen und zeigen, hier ist etwas faul.« (Ludger) In der Irren-Offensive können alle so viel tun, wie sie wollen und was sie wollen. Die Aktionen sollten den Leuten Spaß machen, das ist ganz wichtig. Die einen gehen gerne mit Flugblättern in Anstalten. Andere sprechen von »Scheiß-Flugblatt-Aktionen« und geben dafür lieber Interviews, nicht nur für dieses Buch, sondern für Rundfunk und Presse. Wieder andere bevorzugen es, Gedichte, Artikel, Kurzgeschichten für sich und auch für Zeitungen zu schreiben. In der Irren-Offensive sind sehr kreative Leute. Da gibt es Künstler in allen Bereichen; sie machen Lieder, spielen Theater oder zeichnen Plakate. In dieser Gruppe herrschen keine Regeln, wie Öffentlichkeitsarbeit auszusehen hat; das hängt von den Leuten ab, wie sie Lust haben, etwas zu tun.

Ein Teil der Irren-Offensivler arbeitet auch im Beschwerdezentrum mit. Das sind die, die sehr aktiv sind, die merken, daß die Irren-Offensive zu schwach ist, allein diesen Kampf aufzunehmen. Das Beschwerdezentrum verfolgt ähnliche Interessen und Ziele. Im Frühjahr 1981 formulierte die Irren-Offensive gemeinsam mit der Bürgerinitiative Festes Haus1 und dem Beschwerdezentrum den Psychiatrieteil des Wahlprogramms der Alternativen Liste, das Antipsychiatrie-Programm, in dem heißt es u.a.:

Die einzige Alternative ist für uns die vollständige Abschaffung der kompletten Psychiatrie! (... Es, T.S.) ist bereits im Ansatz zu verhindern, daß die psychiatrische Unterdrückung und Mystifizierung modernisiert, technisiert, sozialpsychiatrisiert, gemeindepsychiatrisiert, also mit neuen Kleidern durchs Fenster wieder hereinkommt... (»Antipsychiatrie« 1981)

Im Antipsychiatrie-Programm wird u.a. gefordert:

Die Gewährung der Einsicht in sämtliche Anstaltsunterlagen einschließlich der 'Krankenblätter' ist gesetzlich zu verankern... Die Entmündigung und der rechtlose Status der Betroffenen sind aufzuheben, ihnen ist volle Rehabilitation zu gewähren. Den Entlassenen müssen finanzielle Entschädigung und Starthilfe gewährt werden...

Laut Selbstdarstellung ist ein Ziel der Irren-Offensive der gemeinsame Kampf gegen die Diskriminierung in allen Lebensbereichen; ein Arbeitsschwerpunkt ist die Erarbeitung der eigenen Rechte (z.B. Einsichtnahme in die 'Krankenakte').

Die Betroffenen haben erkannt, daß nur sie selbst es sind, die für ihre Rechte kämpfen können;

... daß wir gegen die Diskriminierung angehen, die auf uns lastet, diese Diskriminierung und Isolation aufbrechen, an die Öffentlichkeit gehen und genauso wie andere Minderheiten unsere Sachen öffentlich vertreten. (Manfred)

Die Verrückten haben keine Lobby; wenn sie selbst nichts tun, dann wird nichts geschehen. Erst wenn sie selbst wissen, wofür sie kämpfen, können sie sich solidarisieren mit denen, die sie in diesem Kampf unterstützen möchten.

Es kommen Leute zur Irren-Offensive, denen bewußt ist oder bewußt wurde, daß sie als Einzelkämpfer keine Chance haben, und die inzwischen ihre Wiederbemündigung zu erkämpfen oder eine Pflegschaft loszuwerden versuchen, mit Unterstützung von anderen Betroffenen, vom Beschwerdezentrum, von engagierten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten. An solchen positiven Beispielen sehen auch die anderen Verrückten, daß Widerstand möglich ist: »... daß ich sehe, man kann was machen, denn der Peter ist ein gutes Beispiel für mich, seine Klage, die er geführt hat.« (Claudia) Peter versucht seit 1978, Einblick in seine eigene Verwahrakte zu nehmen. Er war 1977 in zwei Psychiatrischen Anstalten, zuletzt in der Psychiatrischen Anstalt der Freien Universität Berlin. Er will nicht aus materiellem Interesse in die Akten gucken, sondern:

Ich will mich nach meinem Anstaltsaufenthalt selbstbestimmt mit meiner Lebensgeschichte auseinandersetzen, meine Vergangenheit aufarbeiten. Ich will wissen, was die Psychiater, die Angehörigen, die Freunde damals über mich gedacht und gesagt haben. Ich will nachlesen, wie die Psychiater meinen 'psychotischen' und 'schizophrenen' und 'paranoiden' und 'hebephrenen' und 'halluzinatorischen' und 'logorrhoeischen' und 'katatonen' und 'stuporösen' Zustand beschrieben haben. Ich will verhindern, daß mich der Wahnsinn noch einmal total packt und ich mich plötzlich im Irrenhaus angeschnallt, grün und blau geschlagen, eingesperrt und vollgespritzt wiederfinde. (Lehmann 1981, S. 36)

Die Öffentlichkeit, die durch den Prozeß geschaffen wurde, bewirkte, daß die Irren-Offensive bekannter wurde und daß einige Mitglieder neu dazukamen.

Kollektive Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen

Daß ich konkreter die Verbindung zwischen der Unterdrückung in der Gesellschaft und der Unterdrückung, die in der Psychiatrie läuft, anstellen kann; daß ich auch so zum ersten Mal politischen Anspruch stärker verbinden kann mit dem, was läuft... (Claudia)

Viele der Betroffenen erkennen ihre Ängste und lernen, ihre Aggressionen und ihre Wut nicht mehr gegen sich zu wenden und sich selbst damit zu zerstören, sondern sie nach außen gegen die kaputtmachenden Verhältnisse zu richten, diese zum Gegner zu machen. Wesentlich bei den Betroffenen ist, daß sie bei sich ansetzen und einsehen, wie die Lebensumstände verursacht haben, daß sie 'ausgerastet' sind; daß dies kein Einzelschicksal und keine Individualschuld ist, erfahren sie durch ähnliche Lebensgeschichten ihrer Leidensgenossinnen und -genossen. Es kommen Menschen zur Irren-Offensive, die vorher schon erkannt haben, daß sie sich wehren müssen, daß sie sich — anstatt sich selbst zu zerstören — mit den Lebensbedingungen auseinandersetzen und andere Menschen suchen müssen, die mit ihnen kämpfen. »Mein Anspruch war, mit den Leuten aktiv was zu machen, echt was zu tun gegen die Gesellschaft, gegen das, was uns bindet und uns kaputtmacht.« (Werner)

Die Suche nach Freiräumen wurde uns durch die Enge aufgedrängt, der wir bei unseren wöchentlichen Treffen in einem kleinen Raum des KommRum, einem Kommunikations- und Therapiezentrum, in dem wir uns 1980 gegründet hatten, ausgesetzt waren. Ein Teil der Verrückten wollte vom KommRum unabhängig werden, wollte ei-gene Räume haben, der andere Teil wäre ganz gerne geblieben, bekam aber auch die Raumnot zu spüren.

In dieser Zeit redeten wir viel vom Häuser-Besetzen. Bei Diskussionen zeigte sich, daß die Leute große Angst hatten, bei der Besetzungsaktion nicht in den Knast, sondern sofort in die Anstalt gebracht zu werden. Diese Angst war berechtigt; sie konnte mit Argumenten nicht vertrieben werden. Einige Leute waren zwar für Häuserbesetzung:

Ich wollte eigentlich nach Portugal fahren, aber das andere ist wichtiger, auch die Häuserbesetzung, die ansteht. Weil ich merke, da ist zum ersten Mal ein Punkt, wo ich mich engagieren kann, da will ich jetzt nicht wegrennen, diese Chance hatte ich noch nie in meinem Leben, mich wirklich zu engagieren, weil ich da auch hinterstehe. (Claudia)

...

— aber die Mehrheit war dagegen. Trotzdem war allen bewußt, daß wir als Irren-Offensive auf legalem Wege nie oder nur sehr schwer Räume erhalten würden, und die heißen Diskussion ...

Die Irren-Offensive hatte bald Verbündete, die in die gleiche antipsychiatrische Richtung mitmarschierten, sich punktuell solidarisierten und beteiligten. Da war das Beschwerdezentrum, in dem auch Betroffene mitarbeiten, und die Bürgerinitiative Festes Haus — zwei Gruppen mit teilweise ähnlichen Ziele wie die Irren-Offensive.

Für die Alternative Liste (AL) Berlin hatten wir zwar den Wahlprogrammteil Psychiatrie entworfen, aber die einzelnen Irren-Offensiv-Leute standen völlig unterschiedlich zur AL. Manche wollten damit überhaupt nichts zu tun haben, hatten Angst, dort 'untergebuttert' zu werden; andere befürchteten, daß damit noch mehr Aktionen und Verpflichtungen auf sie zukommen würden; nur ein einziger arbeitete aktiv bei der AL mit. Die Einstellung zu ihr war jedoch tendenziell positiv.

Auf einer Beschwerdezentrum-Sitzung im Frühjahr '81 (ich war auch eine Zeitlang Mitglied im Beschwerdezentrum) planten wir, gemeinsam ein Haus zu besetzen: die Irren-Offensive und das Beschwerdezentrum zusammen. Statt ein Haus neu zu besetzen, hatten wir die Idee, in ein bereits besetztes Haus einzuziehen.

Der 'Wahn' ist die Sache, die Tradition und Konvention durchbricht. Deshalb ist darin die Chance, das Unmenschli-che wieder menschlich zu machen, neue Wege zu beschreiten. (Bernd)

Die Irren-Offensiv-Leute hatten viele Ideen, wie sie diese Chance verwirklichen könnten. Es war aber klar, daß eine Voraussetzung, um gemeinsame Lebenszusammenhänge zu entwickeln, entsprechende Räumlichkeiten sind. Den meisten Verrückten ist bewußt, daß die Entwicklung neuer Formen des Zusammenlebens gerade für sie von wesent-licher Bedeutung, ja der Punkt ist, an dem die Gefahr, wieder 'auszurasten' und deshalb in die Anstalt gebracht zu werden, in den Griff zu bekommen wäre.

Ich glaube, daß, wenn man die alternativen Lebensformen ausbaut, daß dann Therapie gar nicht mehr so notwendig ist, weil man im täglichen Leben trainieren kann, was man im früheren Leben versäumt hat, mit Leuten, die Verständnis, Erfahrungen haben; wo man dann versuchen kann, gemeinsam diese Schwierigkeiten aufzuarbeiten. (Manfred)

Viele haben als Zielvorstellung den Aufbau gemeinsamer Lebens- und Arbeitsstrukturen: zusammen die Schwierigkeiten im täglichen Leben angehen, die Bedürfnisse auszuleben versuchen, sich wehren.

Selbstorganisation und Selbsthilfe

Alle haben individuell verschiedene Bedürfnisse, Probleme, Schwierigkeiten; deshalb ist das Verständnis von Selbsthilfe unterschiedlich. Die Leute sind auf verschiedenen Entwicklungs- und Bewußtseinsebenen: die einen können dies besser, die anderen jenes; deshalb braucht der eine mehr Hilfe hier und die andere dort. Deshalb setzen alle unterschiedliche Schwerpunkte, was sie unter Hilfe zur Selbsthilfe verstehen.

Viele sehen als ersten Schritt hierzu, daß sie Kontakt zu anderen Betroffenen und dadurch das Gefühl kriegen, nicht mehr so isoliert, nicht mehr ganz so außenstehend, nicht mehr ganz so hilflos zu sein; daß sie wieder von sich aus aktiv werden, unter Menschen gehen und dort Unterstützung, Halt finden. »Das Gefühl, neben den anderen zu stehen, ist weg, wenn ich in die Irren-Offensive gehe.« (Vera)

Für alle Verrückten ist es sehr wichtig und für manche neu, daß sie außerhalb der Anstalt mit anderen Betroffenen reden können, daß die anderen zuhören, daß sie sich gegenseitig ernst nehmen, sich verstehen.

Ich habe noch nicht einmal erlebt, daß irgend jemand gelacht hat, wenn jemand was Peinliches oder Verrücktes erzählt. (Christa)

Ich fühle mich bestätigt. Gerade Gespräch ist wichtig, daß man so 'ne Art Gegenüber findet und nicht isoliert ist. (Andreas)

Einmal kam eine Frau zur Irren-Offensive, die schon mit dem Gedanken an eine Hirnoperation spielte, da 'in ihrem Kopf etwas nicht in Ordnung' sei. Sie konnte es kaum glauben, daß alle Mitglieder der Irren-Offensive auch schon in der Anstalt gewesen waren, denn sie hatte von sich den Eindruck, als würde man es ihr im Gesicht ansehen, daß sie 'irre' sei. Die Tatsache, daß wir als ehemalige Anstaltsinsassinnen und -insassen jedoch 'völlig normal' aussahen, überzeugte sie von ihrem unverdächtigen Äußeren und brachte sie von ihrem Vorhaben ab.

Voraussetzungen für einen gegenseitigen Austausch sind Offenheit, Vertrauen, echte menschliche Beziehungen. Erst dann ist eine intensive Begegnung möglich, wodurch sich die Leute bei der Selbstbefreiung gegenseitig unterstützen können. Die Interviewten sprechen je nach ihren individuellen Bedürfnissen von den verschiedensten Möglichkeiten dazu.

Manche haben verlernt, mit Menschen zu reden, und wollen dies wieder lernen. Andere kommen in die Irren-Offensive und sind noch mit Drogen vollgeknallt. Für sie ist es eine wesentliche Hilfe, wenn sie sehen, daß andere positiv über das Absetzen berichten, und wenn sie merken, daß die Leute, obwohl sie die Pillen weggeschmissen haben, nicht wieder in der Anstalt gelandet sind; daß zum ersten Mal ein positives Bild von Verrücktsein entsteht und daß sie einen Weg sehen gegen die Angst, die die Psychiater erzeugt haben. Für diejenigen, die bisher nur ertragen, erduldet, gelitten haben, die sich unterdrücken, diskriminieren, zerstören ließen, ist es ein ganz neues und einschneidendes Erlebnis, wenn sie den Mut finden, sich zu wehren. Es sind viele Leute in der Irren-Offensive, die hier zum ersten Mal gewagt haben, laut zu werden, zu brüllen, sich massiv zu wehren.

Claudia schildert, was sie von den anderen lernen möchte:

Ich kann das ganz deutlich an euch festmachen: Was ich an Tina gut finde, daß sie ihre Aggressionen rauslassen kann, das will ich lernen. Was ich an Bernd gut finde, daß er seinen Egoismus voll leben kann, das will ich lernen; daß Annedore ihr Verrücktsein rauslassen kann, das finde ich unheimlich toll; daß Manfred engagiert, aktiv wird daß Peter sich intensiv mit Sachen, die abgelaufen sind, auseinandersetzt, daß er das auch in die Öffentlichkeit führt, so wie den Prozeß, den er gemacht hat.

Und Werner: »Was ich lernen kann, ist das, was ich fühle, denke, so mitzuteilen, daß die anderen es auch so aufnehmen, wie ich das sage: 'den Spiegel entzerren'.« Die eigenen Gefühle kennenzulernen und versuchen, diese auch auszudrücken und auszuleben, das ist vielen sehr wichtig. Voraussetzung dafür ist, daß wir alle lernen, »... uns so zu akzeptieren, wie wir sind, nicht mehr irgendwelche Rollen zu spielen.« (Ludger) Dann werden die Betroffenen auch fähig, ihre Minderwertigkeitsgefühle über Bord zu werfen, sich von ihrer Selbstdiskriminierung und verinnerlichten Gewalt zu befreien, sich in ihrem ganzen Sein sicherer zu fühlen und neues Selbstvertrauen zu gewinnen.

Die Betroffenen haben alle ein gemeinsames Ziel, worin sie sich gegenseitig unterstützen: die Wiedereinweisung in die 'Klinik' zu verhindern. In der Irren-Offensive sind Leute dabei, deren Anstaltsaufenthalt schon Jahre zurückliegt, andere kommen gerade 'frisch' aus dem Irrenhaus. Trotzdem haben alle Angst, erneut den Psychiatern ausgeliefert zu sein.

Kurz bevor die Interviews stattfanden, hatte die gesamte Irren-Offensive 'versagt'. Wir hatten nicht bemerkt, wie es einer Frau immer schlechter ging, bis sie für drei Tage in der Anstalt landete. Sie wurde zwar sofort besucht, kam auch kurz danach wieder in Freiheit, aber uns wurde bewußt, daß etwas schief gelaufen war. Wir erkannten, daß die Organisationsform der Irren-Offensive als Plenum — 20 bis 25 Leute — inzwischen viel zu groß war, als daß dort Probleme der einzelnen Leute angesprochen, geschweige denn angegangen werden konnten. Wer in dieser großen Gruppe zu Wort kam, waren die Leute, die keine Schwierigkeiten hatten, vor so vielen Menschen zu reden, sowie diejenigen, die sich selbst gerne reden hörten. Daraufhin beschlossen die Irren-Offensiv-Mitglieder, zusätzlich zur Großgruppe Kleingruppen zu bilden, in denen fünf bis acht Leute ihre Erfahrungen aufarbeiten und ihre Probleme und Schwierigkeiten angehen wollen.

Wir haben inzwischen auch erkannt, daß wir Einweisungen ins Irrenhaus nicht völlig verhindern können. Nur wer regelmäßig in der Irren-Offensive erscheint, wer sich mit sich selbst und den anderen auseinandersetzt, kann darauf vertrauen, daß die Leute auch dann für ihn da sein werden, wenn es ihm oder ihr 'dreckig' geht — denn wir sind kein Samariterverein oder ein Verein, der auf Abruf Leute wieder so weit bringen könnte, daß sie gegen die Gefahr gefeit sind, in die Anstalt gesperrt zu werden. Dieses Problembewußtsein bestand von Anfang an in der Irren-Offensive; schon in der ersten Selbstdarstellung steht:

Das heißt aber nicht, daß bei uns angerufen werden kann nach dem Motto: »Anruf genügt und wir kommen.« Nur durch eine Mitarbeit können die eigenen Probleme gelöst werden, wobei wir selbstverständlich von der jeweiligen Verfassung der einzelnen Menschen ausgehen.

Wichtig ist, daß echte menschliche Beziehungen eingegangen werden, daß sich die Leute mögen, daß sie aneinander Interesse haben und dadurch dann auch bereit sind, diejenigen, die 'wegrutschen', zu unterstützen. Manche Betroffene meinen im Interview, daß sie, auch wenn sie in die Klapsmühle kämen, jetzt nicht mehr die Angst wie früher hätten, denn da hat sich etwas geändert: Sie würden sich nicht allein fühlen, draußen wäre eine Gruppe, die sich einsetzen kann, die versteht, die mitfühlen kann, die auch nach dem Anstaltsaufenthalt noch vorhanden ist.

Es gibt auch Betroffene, die es mit Hilfe der Irren-Offensiv-Leute geschafft haben, ohne Einweisung eine Krise durchzustehen und zu überwinden. Wer einmal ohne Psychodrogen das 'Ausrasten' durchleben kann, wer da durchgehen kann, der wird auch nicht mehr so schnell total verrückt werden, daß alle hilflos zusehen müssen, wie sie ihn oder sie nicht auffangen können.

Außerdem sind die gesellschaftlichen Verhältnisse so, daß die Gefahr des 'Ausrastens', groß ist. Deshalb ist es notwendig, daß Betroffene lernen, auch individuell offensiv zu werden, sich zu wehren und durchzusetzen gegen die Normalen und die gesellschaftlichen Machtträger. »Es hat mich befreit, dazu zu stehen, im Geschäft zu sagen: 'Ich bin in der Irren-Offensive.' Diesen Mut hab ich durch die Irren-Offensive gekriegt.« (Ludger)

Wichtig für das individuelle Offensiv-Werden ist, daß sich Betroffene auch wirklich stark genug fühlen, daß sie sich gegenseitig unterstützen. Zum Beispiel gehen Mitglieder der Irren-Offensive nie allein zum Sozialpsychiatrischen Dienst, zur Polizei, zum Arbeits- oder Sozialamt. Sie werden dabei unterstützt von anderen Betroffenen und von Leuten, die ihre Kenntnisse und Fähigkeiten bereitstellen, ohne daß sie den Anspruch, Leute bevormunden zu können, daraus ableiten.

Voraussetzung, um mit sich selbst weiterzukommen, um sich von den eigenen Zwängen zu befreien, ist, daß die Betroffenen zu ihrem Verrücktsein stehen.

Ich fühl mich gut dabei, ich brauch mich nicht zu verstecken, ich brauch nichts verheimlichen, brauch nicht lügen. Ich nehm das als einen Teil meines Lebens, das will ich nicht wegstreichen, ich finde, das muß man akzeptieren. (Christa)

Viele erzählen allen und überall ganz selbstverständlich, daß sie in der Klapsmühle waren und was sie dort erlebt haben. Manche sind stolz darauf, verrückt zu sein. Wenn sie in der Gruppe lernen, sich selbst in ihrer Verrücktheit zu akzeptieren, dann werden sie auch fähig, das nach außen zu tragen, auch außerhalb der Irren-Offensive ihre Meinung offensiv zu vertreten. Dieses Nach-außen-Gehen ist für das Selbstwertgefühl außerordentlich wichtig und bewirkt, daß sich die Leute gut und stark dabei fühlen. Sie unterstützen sich gegenseitig, damit sie fähig werden, die Kräfte, die sie sonst gegen sich selbst powern, nach außen zu richten, damit sie lernen, ihren Haß zu erkennen, zu bestimmen und dann, statt ohnmächtig dazustehen, diesen produktiv umzusetzen gegen die zerstörerische Umwelt.

Das erfolgreiche Ausleben der Wut befreit, macht Spaß mit anderen zusammen, steigert das Kräftepotential, bringt neue Energie und Anerkennung.

Befreiung vom psychiatrischen Einfluß

Solange sie unter dem Einfluß der Psychiatrie und speziell unter pharmakologischer Dämmerwirkung stehen, ist es den Betroffenen grundsätzlich nicht möglich, die eigenen Gefühle kennenzulernen. Die verheerende, zerstörende Wirkung der psychiatrischen Psychopharmaka habe ich in meinem Buch (S. 133 — 139) angesprochen. Ich habe die Interviewten nicht gefragt, ob sie noch welche nehmen, ich weiß aber, daß die meisten inzwischen abgesetzt haben. Einzelne Betroffene beschreiben, welche Wirkung die 'Medikamente' auf sie hatten: Sie werden zu Robotern, passiv, werden depressiv, weil sie sich nicht mehr fühlen, nicht mehr kreativ sein, sich nicht mehr bewegen, nicht mehr reden können. Was bleibt, ist trotz der äußeren ruhigen Erscheinung ein inneres Chaos, ein totales Minderwertigkeitsgefühl.

Ich war halt minderwertig. Daß ich von all den Sachen, die ich vorher gerne gemacht hatte, was ich vorher an Lebensgefühl hatte, nichts machen konnte. Ich konnte nicht arbeiten, nicht allein in Urlaub fahren, nicht mal allein in meine Wohnung, ich konnte nicht schreiben, nicht lesen, nicht denken, mich nicht vernünftig unterhalten, mein Selbstwertgefühl war absolut auf Null, weil ich nichts mehr machen konnte, bei meinen Eltern wohnte. Ich spürte ganz klar, daß ich in einem tiefen Loch sitze. (Bernd)

Weil die derart Behandelten keinen Ausweg aus ihrem Leiden sehen können, haben viele Selbsttötungsgedanken, die von denjenigen, die noch in der Lage dazu sind, oft auch ausgeführt werden; alle in der Irren-Offensive kannten Leute, die keinen anderen Ausweg mehr gewußt hatten, als sich selbst zu töten.

Auf die Idee, 'einfach' die Psychopharmaka abzusetzen, kommen die meisten von sich aus nicht; dazu funktioniert die psychiatrische Gehirnwäsche zu gut. Viele Psychiatrie-Opfer haben starke Ängste vor dem Absetzen, denn sie werden nur von einem Gedanken, der ihnen eingetrichtert wurde, beherrscht: daß dann der nächste 'Rückfall' und die Einweisung in die Psychiatrie folgen müssen. Andererseits kann das durch die Chemie Unterdrückte nicht einfach verschwinden, sondern rumort im Innern weiter, ohne daß es zum Ausbruch kommen kann, denn ihnen ist ja der 'chemische Knebel' verabreicht. Allein die Erfahrung mit dem Absetzen kann hier dem Teufelskreis ein Ende setzen und neue Wege aufzeigen.

Ich habe mich viel mit Pharmaforschung beschäftigt und eine unheimlich negative Einstellung gegenüber der Pharma-'Behandlung' gekriegt. Ich habe selber gute Erfahrungen mit dem Absetzen gemacht und deshalb großes Interesse, das anderen Leuten weiterzuvermitteln. (Peter)

Die Irren-Offensiv-Leute haben erkannt, daß vor allem Aufklärung über die zerstörerischen Drogen wichtig ist, daß die meisten noch zu wenig darüber wissen, daß sie sich informieren müssen; manche möchten eine Arbeitsgruppe dazu bilden, einiges wurde schon getan.

Die Gleichgültigkeit der Psychiater und ihrer Handlanger, der Psychologen, gegenüber dem Leben ihrer Opfer zeigte sich beispielhaft, nachdem in der Irren-Offensive die Zeitungsmeldung über eine möglicherweise krebsfördernde Wirkung des Neuroleptikums Penfluridol (Semap) bekanntgemacht und besprochen wurde: Als Claudia daraufhin ihre Psychologin bat, die Semap-Tabletten abzusetzen, willigte diese erst ein, als Claudia die Psychologin, die mit der Psychiatrie zusammenarbeitete, auf die Zeitungsmeldung hinwies. Mit den Worten »Ach, Sie wissen es ja schon« war die 'Sache' schnell erledigt. Kein einziger Semap-Konsument war von seinem Psychiater oder sonst einem 'Fachmann' auf die bekanntgewordene Gefahr hingewiesen worden. Erst als diese in der Irren-Offensive bekannt wurde, setzten die Leute das 'Medikament' ab.

In der Irren-Offensive wird öfters über die Funktion speziell der Neuroleptika diskutiert, wie Menschen durch deren stumpfsinnig machende Wirkung in die moderne Form der Sklaverei, die Arbeit in den sogenannten beschützenden Behindertenwerkstätten, gezwungen werden sollen.

Wenn eine Betroffene erzählt, 'ihr' Nervenarzt habe gesagt, daß bei ihr eine Therapie nichts nütze, weil die 'Krankheit' ja mit dem Lithiumgehalt im Blut zusammenhinge, dann heißt das, daß die Psychiater die Leute nicht nur volldröhnen, sondern sie zugleich auch als unheilbar Kranke diagnostizieren.

Wir haben in der Irren-Offensive einmal die Etikettierungen, die uns verpaßt wurden (alle wußten sie nicht, sie wurden ihnen »in ihrem eigenen Interesse« verschwiegen), zusammengestellt und lernten dabei die verschiedensten Form der Psyc-Hosen und Neu-Rosen kennen, aber auch diagnostische Zuschreibungen wie 'notorischer Querulantenwahn' oder 'Hang zum alternativen Leben'.

Die Aussagen der Betroffenen zeigen, daß sie erkannt haben, daß sie durch solche Etikettierungen entmündigt, unter psychiatrische 'Hilfe und Obhut' gestellt werden sollten mit dem Ziel, sie wieder 'gesund' und damit verwertbar, anpassungsfähig, kontrollierbar, normal zu machen. Der Krankheitsbegriff beinhaltet, daß zum einen die Schuld bei den 'Kranken' selbst liegt und zum anderen die 'Behandlung' eine medizinische Aufgabe darstellt und medizinische Fachleute und medizinische Hilfsmittel erfordert — eben Psychopharmaka, Elektroschocks, Gehirnoperationen.

In der Irren-Offensive erkennen die Leute mit Hilfe von anderen Betroffenen, daß sie nicht krank sind, sondern sich als Individuen sehen, die z.B. etwas durchmachen müssen, eine gewisse Zeit brauchen, bis sie sich wieder o.k. fühlen, oder im Moment mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung nötig haben. Sie lernen, das 'Durchdrehen' als Teil ihres Lebensprozesses, ihrer Lebensentwicklung zu sehen, sich als Irre im Sinn von Umherirrende und Suchende zu bezeichnen und zu ihrem Verrücktsein im Sinne von Weggerücktsein (von der Norm) zu stehen.

Es kommen auch Menschen zur Irren-Offensive, die noch 'krankheitseinsichtig' sind. Die Meinungen der Interviewten gehen tendenziell in die Richtung, daß sie sich von diesen Leuten, den 'Krankheitseinsichtigen', genervt fühlen.

Wenn sie sich als krank bezeichnen, beschränken sie das nicht nur auf ihre eigene Person, sondern sehen auch in mir ebenfalls den Kranken, Verrückten — denjenigen, der sich ändern muß, der geheilt oder therapiert werden muß. Sie tragen diesen Anspruch voll in die Gruppe rein; dies gibt dann jedesmal Clinch. Da sag ich, daß diese Leute nicht nur nichts begriffen haben, sondern in der Irren-Offensive völlig fehl am Platz sind. Sie müßten in eine Therapiegruppe, Gruppengesprächstherapie oder sonstwas machen. (Peter)

Die 'Krankheitseinsichtigen' bringen den Konflikt — was ist psychisch krank, was psychisch gesund? — mit; viele dieser Leute bleiben bald wieder weg — was sollen sie mit Verrückten? Andere bleiben, und dann passiert etwas: Sie sehen und erleben, daß sich ehemalige Anstaltsinsassinnen und -insassen nicht mehr verstecken, zu ihrem Verrücktsein offensiv stehen, daß sie sich von Psychodrogen und psychiatrischem Einfluß befreit haben und dafür die Normalität hinterfragen. Sie merken, daß diese Verrückten sich dabei wohl fühlen, nicht mehr in die Psychiatrie müssen; sie finden sich in diesen Erfahrungen und Erlebnissen wieder, daß sie sich selbst irgendwann fragen, warum sie denn nun eigentlich 'krank' und 'behandlungsbedürftig' sein sollen, so daß sie dann auch Konsequenzen ziehen und sich von dem Krankheitsbegriff befreien.

Leute, die in die Irren-Offensive kommen und dort Hilfe, Unterstützung finden, haben es nicht mehr nötig, sich an den Krankheitsglauben zu klammern.

Früher hab ich mich in so ein Kranksein reingesteigert, wollte psychisch krank sein — da hab ich Bücher drüber gelesen. Weil ich auch keine Hilfe bekam, dachte ich, wenn ich krank bin, dann bekomme ich Hilfe. (Andreas)

Selbstfindung und Selbstbefreiung

Intensive Gruppenprozesse laufen ab, seit sich in der Irren-Offensive zusätzlich zum Plenum (Großgruppe) Kleingruppen gebildet haben. Dort versuchen die Leute ohne erzieherischen Anspruch, ohne Maßregelung, sich selbst mit Hilfe von anderen weiterzubringen. In der Kleingruppe besteht die Chance zu lernen, Hemmungen abzule-gen, sich zu öffnen, Gefühle und Gedanken auszusprechen, Neues zu probieren, sich selbst zu helfen, weil andere Betroffene da sind, die mitfühlen können, verstehen, keine Angst haben vor verrückten Ideen oder Taten, nicht abblocken.

Voraussetzung dafür, daß die Leute aufnahmefähig und bereit sind, sich zu öffnen, ist eine bestimmte Vertrau-ensebene. Dieses Vertrauensverhältnis kann sich nicht von heute auf morgen entwickeln. Gerade bei Menschen, deren Vertrauensfähigkeit derart überstrapaziert und mißbraucht wurde, ist es nur konsequent, wenn sie mißtrauisch sind, und auf der anderen Seite ist es gerade für sie ein 'unheimlich' starkes Erlebnis, wenn es ihnen gelingt, Vertrauen zu jemandem zu entwickeln. Es ist individuell verschieden, wann Betroffene für sich entscheiden, ob sie anderen vertrauen können. Da spielt die Zeit eine Rolle, wie lange sich die Mitglieder kennen; dann, wie sich die einzelnen verhalten, ob sie bereit sind, sich zu öffnen; und zudem liegt es bei jedem und jeder einzelnen, wie stark die Ängste sind, wie schnell sie die negativen Erfahrungen überwinden und die erworbenen Ängste, Zweifel und Blockaden aufbrechen können.

Wenn die Irren-Offensiv-Leute ihr Ziel, nicht mehr in der Klapsmühle zu landen, verwirklichen wollen, sind sie gezwungen, das Verrücktsein ernstzunehmen. In der Kleingruppe besteht die Möglichkeit, sich damit auseinanderzusetzen.

Außerhalb der Irren-Offensive haben sie kaum die Gelegenheit, sich darauf einzulassen, nur unter Betroffenen treffen sie auf Experten, auf Erfahrene im Verrücktsein, und können mit deren Unterstützung bei sich selbst versuchen, Inhalt, Form und Ausmaß des Wahnsinns als Signale und Botschaften zu entschlüsseln, also den Konflikt, wie er im 'Wahn' ausgedrückt wird, zu verstehen.

Im »Antipsychiatrie-Programm« haben die Irren-Offensiv-Leute geschrieben:

Die Verrückten — auch diskriminierend 'psychisch Kranke' genannt — sind Menschen, die geschädigt sind durch Kleinfamilie, autoritätsgeprägte und sexualfeindliche Erziehung, Schule, Berufsausbildung, Militär, Ehe, menschen-feindliche Arbeitsplatzsituation, Wohnbedingungen und Umwelt. Dadurch sind sie anpassungsunfähig bzw. anpassungsunwillig in der bürgerlichen Gesellschaft geworden.

Auch in den Interviews zeigen manche Betroffene, daß es ihnen inzwischen bewußt ist, warum sie 'ausgerastet' sind oder wo ihre verletzlichen Stellen liegen. Einige haben erkannt, welche Folgen die kleinbürgerliche Erziehung für sie hatte — die Gefühls- und Sexualverklemmtheit, der Zwang, immer lieb und artig sein zu müssen, nie aggressiv werden zu dürfen. Eine Betroffene sieht ihren Wahnsinn als den einzigen Selbstschutz, den sie noch hatte und worin sie sich flüchten konnte, weil alle anderen Schutzmechanismen wie z.B. Verdrängen nicht mehr da waren. Andere werten das Verrücktwerden als ein positives, einschneidendes, produktives Moment.

Die Interviewten sprechen von 'bewußt zum Verrücktsein stehen', 'das Verrücktsein rauslassen'. Sie haben erkannt, daß sie überall und immer bestimmte Rollen spielen mußten, daß sie nie so sein durften, wie sie sich fühlten, daß ihnen sogar die eigenen Gefühle fremd wurden. »Mein Anspruch an die Irren ist, daß ich dort so sein kann, wie ich mich gerade fühle, daß ich dort lernen kann, immer mehr zu mir selber zu finden und mich zu leben.« (Tina) In der Irren-Offensive besteht die Möglichkeit, daß die Betroffenen (manche auch im Plenum, andere bis jetzt nur in der Kleingruppe) ihr Bedürfnis, nichts spielen und nichts vorzeigen zu müssen, verwirklichen können. Tendenziell wollen die Leute lernen, das, was sie denken und fühlen, ohne Abstriche einzubringen, eben so zu sein, wie sie gerade sind mit all ihren Macken, Ängsten, Zwängen, Unfähigkeiten und auch in ihren Stärken. Hier ist ein Übungsplatz, sich selbst zu erleben, sich bewußt wahrzunehmen, sich damit auseinanderzusetzen, sich in anderen wiederzufinden, Neues zu probieren, um so langsam zu sich selbst zu finden, bewußt zu leben und auf der anderen Seite ebenso offen zu werden für das, was andere fühlen, mitteilen und zeigen. Dabei geht es den Leuten nicht nur darum, sich gut zu fühlen, sondern sie wollen auch lernen, den Schwierigkeiten entgegenzutreten und nicht mehr vor Dingen, die sie belasten, die Augen zu verschließen.

Wenn die Verrückten die Normalität hinterfragen und sagen, daß die 'Zwanghaft-Normalen' auf Sparflamme leben, dann bedeutet das, daß sie selbst dazu stehen, wenn sie emotional, spontan, phantasievoll, träumerisch, chaotisch, aggressiv, wütend sind, daß sie ihre Anpassungsunfähigkeit und -unwilligkeit als positives Moment erkennen, ihre eigenen Minderwertigkeitsgefühle abbauen und sich ihrer eigentlichen Stärke bewußt werden.

In der Irren-Offensive, da knallt es richtig, wir tragen das richtig aus! (Ludger)

Ich habe mir gestattet, in der Irren-Offensive rumzubrüllen, meine Aggressionen rauszulassen. Ich hab mir so was früher nie gestattet: »So was macht man eben nicht!« »Beherrschen!« Jetzt schaff ich das auch schon am Arbeitsplatz. Jedesmal wenn ich brülle und schreie, das tut mir gut, da geht's mir gut, ich weiß, daß ich das brauche. (Werner)

In der Irren-Offensive ist der Platz, wo die Leute lernen können, sich endlich zu wehren — statt wegzugehen, einzustecken, sich zu verleugnen. Statt auf sich selber sauer sein, sich selber zerstören, gelingt es den Betroffenen Schritt für Schritt, die Wut, den Haß zu bestimmen und produktiv umzusetzen.

Wichtig ist, daß die Verrückten sich allmählich von den Zwängen befreien, daß sie weinen, lachen, schwach und stark sein dürfen, daß sie Angst haben dürfen, aggressiv, geil, euphorisch und zärtlich sein dürfen; daß sie lernen, ihre Stärken auszuleben, Kreativität und Spontaneität rauszulassen, Verrücktsein produktiv umzusetzen in Gedichte, Artikel, Kurzgeschichten, Presseerklärungen, Lieder, neue Spiele und Theater, Malen, Comics, Collagen, Filme-Machen oder Feste-Feiern — alles, was die Leute in der Irren-Offensive schon praktizieren. »Ich habe in meinen schlechtesten Momenten Gedichte geschrieben, das war für mich wie so 'ne Art Lebensrettung gewesen.« (Andreas) Dadurch können die Verrückten ein ganz neues Selbstwertgefühl entwickeln, indem sie explizit das, was als verrückt, unnormal, krank abgewertet wird, als positives Moment erkennen und entsprechend handeln. Ausschlaggebend dabei ist, daß sie die Balance zwischen der äußeren, normalen Realität und der inneren, verrückten Realität halten können, daß sie fähig werden, beides zu leben: das Normale und das Verrückte.

Ich kann ausflippen, mit dem Gefühl rauskommen, aber auch wieder ruhig sein. (Andreas)

Daß ich versuche, meinen Wahn und das, was man mir als normal anlastet, unter eine Glocke zu bringen, das heißt zwei Möglichkeiten zu leben, zwei Möglichkeiten, die Welt zu sehen und für mich aus dieser Polarität eine Kraft rauszuziehen. Ich merk, daß das für mich 'ne Kraft ist. (Bernd)

Dadurch entsteht ein ganz neues Selbstwertgefühl — das Bewußtsein, beides zu können: verrückt sein und arbeiten zu können, verrückt sein und Verantwortung übernehmen zu können, verrückt sein und sich trotzdem anderen mitteilen zu können, verrückt sein und Kraft zu haben, verrückt sein und mit anderen leben zu können, verrückt und selbstbewußt, verrückt und glücklich sein zu können.

Autonomie und persönliche Entfaltung

Die Meinungen der Interviewten zu der Frage, ob in der Irren-Offensive die einzelnen für sich sprechen und ihre Individualität entwickeln können, sind unterschiedlich. Manche sehen das sehr positiv und sagen, daß sich dort niemand wie ein Therapeut verhalte, sondern daß die Gruppenmitglieder gleichberechtigt handeln. Andere berichten von Leuten, die versuchen, die Therapeutenrolle zu übernehmen, die ausfragen und gute Ratschläge geben möchten, ohne daß sie bereit wären, sich selbst einzubringen. Manche erzählen von sich, daß sie in der Irren-Offensive inzwischen gelernt hätten, sich gegen solche 'Therapeuten' zu wehren. Tendenziell zeigen die Aussagen, daß es den Betroffenen bewußt ist, daß nur sie selbst ihre Interessen und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen können; daß aber dafür Voraussetzung ist, daß sich alle frei entfalten und bewegen können, daß sie eben so sein dürfen, wie sie gerade sind, ohne daß ein fremdbestimmter Anspruch gilt.

Andererseits kommt in den Interviews zum Ausdruck, daß die Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung und Autonomie noch nicht ausreichend vorhanden ist, wie es sich die Betroffenen eigentlich wünschen. Sie haben aber die Schwierigkeiten erkannt und wissen, was zu tun ist: Die Gruppensensibilität muß sich stärker entwickeln gegen Leute, die über andere bestimmen möchten. Erst wenn sich die Gruppe gemeinsam wehrt, wird es möglich sein, dieses ungleiche Verhältnis aufzubrechen. Wichtig ist auch, daß die Leute das eigene Verhalten und das der anderen reflektieren, um somit eine Voraussetzung für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zu schaffen.

Manche haben schon gelernt, ihre Meinung nicht nur innerhalb der Irren-Offensive, sondern auch außerhalb zu vertreten. Es sind auch Leute dabei, die kaum oder garnicht sprechen, die einfach nur anwesend sind. Auch das muß nach Meinung der Interviewten möglich sein, daß die Menschen nicht gedrängt werden, sondern daß sie so viel Zeit haben, sich zu öffnen, wie sie es individuell benötigen. Die Meinungen und Einstellungen zu dem Prinzip »Betroffene unter sich« sind unterschiedlich. Für viele ist es sehr wichtig und eine ganz neue Erfahrung, außerhalb der Irrenanstalt unter Verrückten zu sein. Wenn sie dort selbstbewußte Verrückte erleben, sind sie oft zunächst überrascht, daß diese Leute in der Anstalt gewesen sein sollen. Sie hielten sich bis zu dieser Erfahrung oft für irgendwie aussätzig. Dadurch, daß die Leute schon alle mindestens einmal in der Anstalt waren, entsteht eine gemeinsame Erfahrungsebene, die den einzelnen das Gefühl gibt, keine Angst haben zu müssen, nicht bloßgestellt zu werden, nicht so viel Erklärungen abgeben zu müssen, verstanden zu werden.

Für einige Irren-Offensiv-Mitglieder ist das Wort 'Betroffene' sehr widersprüchlich, wenn darunter nur die Menschen fallen, die in der Anstalt waren. Sie vertreten die Meinung, daß es genügend Leute gebe, die — auch wenn sie nicht im Irrenhaus waren — ähnliches erlebt hätten; oder die sehr gefährdet seien, denen wir eine große Unterstützung sein könnten, weil sie vielleicht auch so empfindsam seien, daß sie mit sogenannten Normalen nicht mehr umgehen könnten. Diese Frage »Wer ist Betroffener?« ist in der Irren-Offensive noch nicht endgültig ausdiskutiert. Es wurde und wird darüber lange und oft gesprochen. Die Mehrheit hat sich immer wieder dafür entschieden, daß in die Irren-Offensive nur Leute zugelassen werden, die im Irrenhaus waren oder sind.

Einig sind sich alle Mitglieder darin, daß sie eine Art Freiraum ohne Professionelle und andere Nicht-Betroffene wie Familienangehörige, Freundinnen und Freunde brauchen.

Weil nämlich gerade Leute, die mal in der Klapse waren, oft sehr abhängig sind von den Freunden oder den Familienangehörigen und sich dann wirklich nicht so äußern könnten, wie sie eigentlich sollten. Also die Irren-Offensive sollte da ein Stück für sich selbst sein. (Vera)

Dies ist nach Meinung der Betroffenen einfach auch deshalb wichtig, weil sie gezwungen sind, Tag für Tag und überall mit und unter Normalen zu leben.

Also, ich glaube, daß dieses Irresein, Verrücktsein ein Zustand ist, der unnormal ist, vom Normalen so weit entfernt ist, daß dieser Durchblick nur möglich ist, wenn man schon mal verrückt gewesen ist. Deshalb sind Normale in der Irren-Offensive fehl am Platz, weil sie mit der ganzen Problematik, mit diesem Unterschied leben zu müssen, nichts anfangen können, weil sie nur die eine Polarität haben. (Bernd)

Die interviewten Betroffenen sprechen auch noch von einem anderen Grund, warum sie unter sich sein möchten: Sie haben Angst, ausgebeutet, zum Lernobjekt gemacht zu werden. Viele haben erfahren, daß die Normalen zwar Interesse zeigen, daß sie sogar nachfragen, daß aber das Verständnis fehlt, daß es für sie mehr eine Faszination oder ein Bedürfnis ist, sich mangels eigenem Erleben und Leben durch Anhören fremder Erlebnisse Befriedigung zu verschaffen; oder daß sie ihre eigenen Probleme verdrängen und sich auf Kosten der vermeintlich Schwachen, Irren stabilisieren möchten.

Kritische Auseinandersetzung mit den 'Experten' und 'Expertinnen'

In den Interviews kommt klar zum Ausdruck, daß die sogenannten Experten in der Irren-Offensive nichts zu su-chen haben. Es gibt zwar Betroffene, die außer-halb der Irren-Offensive noch eine Therapie machen, aber einig sind sich alle darin, daß die Irren-Offensive als Selbsthilfegruppe die Professionellen ausschließen muß. Viele der Interviewten zeigen auf, daß und warum sie sich von den 'Fachmännern und -frauen' sowie ihren Therapien befreit haben bzw. befreien wollen. Denn wenn das Krankheitsurteil, das über die Verrückten gesprochen wird, von diesen selbst abgelehnt wird, dann stellt sich die Frage, warum sie sich noch behandeln oder therapieren lassen sol-len.

Vielen Betroffenen ist inzwischen bewußt, daß sie selbst die Erfahrenen, die Experten, die Fachfrauen, -männer für Verrücktsein sind, weil nur sie das Verrücktwerden erfahren haben, weil nur sie wissen, was es heißt, als Verrückte von Psychiatern mißhandelt zu werden, weil nur sie selbst erkennen können, wie sie leben möchten. Deshalb gibt es in der Irren-Offensive Leute, die sich gegen Therapien mit ihrem Renormalisierungsziel und dem ungleichwertigen Verhältnis zwischen 'Patient' und Therapeut wehren, die den Expertenanspruch der Professionellen nicht mehr akzeptieren.

Da brauchen wir keinen Psychofachmann, da sind wir viel zu sehr Fachmänner für uns selber, da sich jeder in der Kleingruppe bewußt wahrnimmt. Bewußtheit ist eigentlich alles, mehr brauchste nicht, Fachmänner brauchste nicht. (Claudia)

Vorher hielt ich es noch für möglich, daß eine qualifizierte Hilfe was für mich sein könnte. Aber durch die Irren-Offensive, durch die Bestätigung, jetzt würde ich das nicht mehr machen, würde mich nicht bei so einem Typen ausquatschen. Glaube, das würde mich von mir wegbringen. (Bernd)

Tendenziell haben die Betroffenen den Glauben an die Professionellen verloren, indem sie für sich herausgefunden haben, daß Therapien Fremdbestimmung beinhalten, daß sie an dem vorbeigehen, was die Leute eigentlich möchten, und als Ziel haben, die einzelnen wieder an die normalen gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen, wobei der Veränderungsprozeß allein beim Therapieobjekt stattfinden soll.

Ich hab mir noch zwei Monate gesetzt, wo ich dann sage: So, jetzt mache ich das, was ich für richtig finde, und nicht das, was der Fachmann mir vorschreibt. (Werner)

Nach der Verhaltenstherapie, da haben sich eine Reihe von Leuten umgebracht — dieser total individualisierende Ansatz, der die gesellschaftliche Umwelt ausklammert und das Verhalten an die beschissenen Bedingungen anpaßt. (Tina)

Die Mehrheit der Irren-Offensiv-Mitglieder ist auch nicht mehr bereit, sich einer Therapie zu unterziehen, in der der Therapeut als der große Durchblicker und Könner dasitzt und zuhört, also nicht bereit ist, sich selbst mit seinem eigenen Leben einzubringen. Manche bezeichnen im Interview die Therapie als Ersatz für fehlende, echte, menschliche Beziehungen. Es besteht auch die Angst, daß in dem Moment, wenn die Therapie beendet wird, die Therapierten plötzlich allein dastehen, ganz auf sich gestellt sind und alles wieder zusammenbricht.

Viele der Betroffenen haben erkannt, daß sie, auch wenn sie noch Therapie machen, auf Menschen zugehen und versuchen müssen, zu diesen eine Vertrauensebene aufzubauen, damit die Therapie allmählich überflüssig wird. Einigen ist bewußt, daß die Arbeit an sich selbst nicht genügt, sondern daß es gilt, die kaputtmachenden Lebensumstände zu verändern.

Die Irren-Offensiv-Leute setzen sich nicht nur innerhalb der Gruppe und individuell mit Professionellen kritisch auseinander, sondern sie sind auch ständig in dem Rahmen, wie sie sich treffen, gezwungen, sich mit der Außenwelt zu beschäftigen.

Für sich spricht, daß wir im KommRum als Selbsthilfegruppe von 20 bis 25 Leuten in einem winzigen Raum, im sogenannten Glaskasten, eingepfercht waren, während in einem fünfmal größeren Raum fünf bis acht Leute mit ihren 'Experten' therapierten.

Abbau von Machtverhältnissen

Die Interviewten sprechen einerseits von einem gewissen Gruppenzusammenhalt, andererseits von dem 'Chaos', das alle in sich haben und sich in der Gruppe widerspiegelt, das für viele aber das besondere dieser Gruppe darstellt, weil sie nicht — wie andernorts üblich — autoritär oder streng strukturiert ist.

Die meisten sehen die Auseinandersetzungen, die Streitereien, die harten Diskussionen, das 'Chaos', das dort herrscht, nicht negativ, sondern als Gruppenbildungsprozeß, der sich in vielen Auseinandersetzungen stärker entwickelt, die Gruppe immer mehr zusammenwachsen läßt.

Wenn die Irren-Offensiv-Leute die Gruppe genauer ansehen, über sich selbst und andere Mitglieder sprechen, dann stellen die meisten fest, daß es ganz verschiedene Rollen gibt, die aber nicht statisch bleiben, sondern wechseln können, je nachdem, was gerade besprochen oder angegangen wird, wie die einzelnen Leute sich fühlen, wer anwesend ist und wer nicht. Von vielen wird kritisiert, daß manche zu viel reden, 'quatschen', sich immer in den Mittelpunkt stellen müssen; andere sehen das wiederum nicht so negativ und meinen, daß das bei jeder und jedem einzelnen ein notwendiger Prozeß sei.

Wichtig und auch neu ist für viele, daß ihnen offen gesagt wird, was die anderen an ihnen zu kritisieren haben. Gerade dieses offene Austragen von Konflikten ist außerordentlich wichtig für Menschen, die meist an der Unaufrichtigkeit und Unoffenheit ihrer Umwelt 'ausgerastet' sind. Manche Interviewte haben den Eindruck, daß die Leute zum Teil in der Irren-Offensive völlig aufgehen, »daß sie das, was sie brauchen, gefunden haben« (Vera) und daß sie sich in der Irren-Offensive insgesamt wohl fühlen, daß sie ehrlich und offen zueinander sind. Andere erleben nur einen Teil der Mitglieder als engagiert, den anderen Teil als sehr zurückgezogen und distanziert, einzelne so, daß diese nur über sich selbst reden wollen. Einer bezeichnet die Rollen als Rollenspiele und sieht darin einen Teil Selbsterfahrung:

Das hängt auch wieder damit zusammen, daß die Leute alle verrückt sind, daß alle genau spüren, daß das ganze Mackertum, das Vorne-, Oben-, Untensein Rollen sind, daß die jeder spielen kann. (Bernd)

Bestimmte Irren-Offensiv-Leute werden oder wurden zeitweise von manchen anderen Mitgliedern als sehr dominant empfunden; andere Interviewaussagen zeigen, daß auch die Dominanz sich ständig ändert.

Eine unterschwellige, aber sehr starke Form der Machtausübung ist die Sprache. Manche Interviewte zeigen Schwierigkeiten mit der Kommunikation auf. Sie fühlen sich allein, unverstanden, weil sie oft die Sprache nicht verstehen, sei es, daß sie zu abgehoben, zu theoretisch ist, daß die Leute sich nicht klar ausdrücken können oder mit Fremdwörtern wild um sich werfen. Das bewirkt, daß manche, die sich noch nicht wehren können, sich selbst dadurch als minderwertig erleben, weil sie nicht so 'gebildet' sind, daß sie nicht nachfragen und kritisieren, sondern abschalten oder sogar weggehen.

Das Gefühl hab ich unheimlich oft, daß wir so 'ne Scheinkommunikation führen, die überhaupt nicht die wirklichen Punkte berührt, sondern nur an der Oberfläche dahinrast. Das stört mich dann auch, aber ich bin nicht fähig, das aufzudecken und aufzuknacken, weil ich befürchte, dann in eine feste Rolle reinzukommen. (Claudia)

Einerseits wünschen sich manche Betroffene, daß in der Irren-Offensive die Leute ihr Verhalten gegenseitig reflektieren, andererseits haben sie Angst vor dem Aussprechen der Kritik, weil sie befürchten, in eine feste Rolle (z.B. Therapeutenrolle) gedrängt oder von anderen dafür angegriffen zu werden. Wir haben dies in der Irren-Offensive schon oft problematisiert und darüber gesprochen, wie leicht jemand in so eine Rolle kommt, wie schwierig es aber ist, sich davon wieder zu befreien, eben auch die anderen Mitglieder so weit zu bringen, daß sie einen aus dieser Rolle wieder 'rauslassen'.

Den Interviewten ist zum Teil bewußt, daß es in einer Selbsthilfegruppe notwendig ist, daß die Mitglieder gleichberechtigt und selbständig zusammenarbeiten. »Da sollte jeder versuchen, sich so einzubringen, daß die anderen auch zum Zug kommen.« (Manfred) Auf der anderen Seite sehen sie, wie bestimmte Mitglieder versuchen, andere als Macher herauszufordern, so daß diese gezwungen sind, sich dagegen zu wehren oder, wie Claudia sagt: »Der Peter hat nur seine Rolle dadurch abbauen können, daß er sich total zurückzieht, er hat's nicht anders geschafft.« Dieser meint dazu:

Es hilft mir auch, wenn noch andere Leute da sind, die mir sagen, was ich mache, die mich auch kritisieren, die aber von sich aus ganz bestimmte Impulse in die Gruppe reintragen können oder müssen, wenn's total bescheuert läuft.«

Tendenziell meinen die Betroffenen, daß die Rollen des Mackers, Machers, Anführers, Antreibers, auch die des Theoretikers, Beobachters, des Distanzierten nur abgebaut werden können, wenn die Leute das Verhalten bei sich selbst und auch gegenseitig reflektieren, daß sie sich einen Spiegel vorhalten und zunächst einmal erkennen, was abläuft. Wichtig ist, damit auch andere Mitglieder von sich aus Impulse in die Gruppe einbringen können, daß die Aktiven sich zurücknehmen, damit andere aktiver werden können. Das kann bedeuten, daß eine Zeitlang weniger geschieht, daß Frust und Chaos herrschen, daß aber dafür allmählich andere, bisher passive Leute etwas tun und somit auch ein Stück Verantwortung übernehmen werden.

Am Anfang war ich total ruhig. Jetzt bin ich aufgelebt, ich gehöre zu denjenigen, die am meisten sagen. Diese Entwicklung kann jeder durchmachen, wenn er seine Schwierigkeiten erkennt und versucht, diese in der Gruppe zu überwinden. (Manfred)

Ungeschriebenes Gesetz ist in der Irren-Offensive, daß die Mitglieder Informationen, die sie von anderen Betroffenen erhalten, nicht nach außen tragen. Wird dennoch ein solcher Fall bekannt, wird er offen diskutiert; meist ahnden die Irren-Offensiv-Leute den Verstoß so, daß sie vor dem 'Plappermaul' nichts mehr sagen. In der Kleingruppe, wo das Vertrauensverhältnis und die Intimität besonders wichtig sind, führte dies im bislang einzigen Konfliktfall zum sofortigen Ausschluß — nicht aus der Irren-Offensive, aber aus der Kleingruppe.

Ein anderer Anlaß, an dem immer klar wird, daß die Betroffenen befürchten, unter Fremdkontrolle und in den alten Objektstatus zu geraten, ist die Geld- bzw. Finanzierungsfrage. Tendenziell ist den Irren-Offensiv-Mitgliedern bewußt, daß es für sie als Gruppe sich langsam emanzipierender Personen den Todesstoß bedeuten würde, würde sie von Institutionen abhängig. Andererseits haben wir schon immer über Selbstausbeutung und darüber diskutiert, daß die Arbeit, die wir leisten, eigentlich bezahlt werden müßte, weil wir diejenigen Schäden unbezahlt zu beheben versuchen, die andere bezahlt verursachen. Einige der Interviewten zeigen auf, wie wenig Zeit ihnen bleibt, wirklich das zu tun, was sie möchten und was wichtig und notwendig wäre, weil sie täglich acht Stunden arbeiten müssen.

1980 erfuhren wir von der Möglichkeit, bei der Berliner Senatsverwaltung über den autonomen Arbeitskreis 'Finanzierung von Alternativprojekten Berlin' Finanzmittel zu beantragen: pauschal, ohne Auflagen. Gerade für die Irren-Offensiv-Mitglieder wäre eine derartige Finanzierung die Chance, da sie als Verrückte 'anders' leben möchten und in herkömmlichen Betrieben und Einrichtungen aufgrund ihrer Vergangenheit und ihrer jetzigen Art zu leben ohnehin selten unterkommen.

Die erste 'Krönung' in der Geschichte der Diskriminierung der Irren-Offensive war die Aufnahme in die sogenannte »Behindertenliste«: In der »Anschriftenliste von Behinderteninitiativen«, herausgegeben von der 'Stiftung für staatsbürgerliche Mitverantwortung Die Mitarbeit' in Heiligenhaus bei Düsseldorf im März 1981, fanden wir uns wieder neben dem »Block Deutscher Hirnbeschädigter« und anderen Initiativen für Menschen, die als geistig behindert gelten. Ohne daß je ein Mitglied gefragt worden wäre, wurden wir einfach in diese Liste aufgenommen. Manfred protestierte sofort im Namen der Irren-Offensive, aber die Initiatoren hielten es nicht für nötig, uns zu antworten.

Wenn wir uns dagegen wehren, daß wir derart diskriminiert werden, dann soll das nicht heißen, daß wir uns von Menschen distanzieren, die auch als Behinderte etikettiert werden, im Gegenteil: Wir solidarisieren uns mit diesen (z.B. mit der Krüppelgruppe), die ebenfalls gegen ihre Entmündigung und Diskriminierung kämpfen. Aber bezeichnend ist, daß wir in einen Topf mit Hirngeschädigten geworfen werden, daß unser Verrücktsein mit organischer Hirnschädigung gleichgesetzt wird.

Im Rahmen der Überarbeitung des AL-Wahlprogramms für die Neuwahlen im Mai '81 wurde die Irren-Offensive zur Mitarbeit an einem Psychiatrie-Reformprogramm eingeladen. Wir schrieben ein radikales antipsychiatrisches Programm. Mit allerlei hanebüchenen Tricks versuchten daraufhin psychiatrisch Tätige, unsere Aussagen zu verwässern oder in ihrem Sinne umzubiegen. Die Irren-Offensiv-Mitglieder fanden es bezeichnend, daß — als Betroffene zum ersten Mal in der deutschen Psychiatrie-Geschichte ihre Psychiatriepolitischen Vorstellungen formulierten — prompt 'fortschrittliche' Sozialpsychiater, Mediziner und Psychologen zur Stelle waren, um zu verhindern, daß Betroffene ungehindert zu Wort kommen konnten. Bezeichnend war auch das Argument, mit dem sie in der Hauptdiskussion der AL-Mitgliederversammlung versuchen wollten, einen Stimmungsumschwung herbeizuführen: »Mit einem solchen Psychiatrie-Programm, wie es die Irren-Offensive entworfen hat, wird man keinen der Psychiatrie-Beschäftigten dazu bringen, die AL zu wählen.«

 

Wo sind die Grenzen?

Ludger, ein Mitbegründer, meint auf die Frage, ob es Grenzen für die Irren-Offensive gäbe: »Bisher sind wir so weit gekommen, wie wir überhaupt nicht erwarten durften.« Es gibt auch Interviewaussagen, die zeigen, daß Betroffene nicht nur über Möglichkeiten und Perspektiven sprechen, sondern daß sie an bestimmten Punkten Grenzen sehen. Diese werden gemäß dem Bewußtsein, den Erwartungen, Bedürfnissen und Ansprüchen der Irren-Offensiv-Leute verschieden bestimmt. Ich werde die in den Aussagen benannten Grenzen nach denselben Kriterien wie im vorigen Kapitel zusammenfassen.

Zusammenschluß der Betroffenen

Ein Hauptproblem sehen die Mitglieder in der starken Fluktuation: daß in dem Grad, wie die Irren-Offensive bekannter wird, immer mehr Leute dazukommen, daß aber auch zugleich Leute wegbleiben, wobei die Gruppe den Grund für das Wegbleiben nicht erfährt; daß dieses ewige Kommen und Gehen die Gruppe keine Ruhe finden läßt, daß sie sich deshalb nur unter schwierigsten Bedingungen festigen kann.

Ja, was zur Zeit nicht herrscht, ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Es fehlt die Harmonie; da sehe ich auch ziemlich schwarz für die nächste Zeit, weil dazu die ganze Sache zu zerfahren ist. (Manfred)

Die Gruppenmitglieder wissen, daß die Neuen von sich erzählen wollen, daß sie eigentlich besonders viel Zuwendung, Entgegenkommen, Verständnis brauchen, daß sie aber auf eine Gruppe treffen, in der für solche Bedürfnisse momentan nicht genügend Platz ist. Wenn jemand zum erstenmal in die Irren-Offensive kommt und erzählt, warum er oder sie in dieser Gruppe mitmachen möchte oder was er oder sie erlebt hat, dann bleiben die anderen Gruppenmitglieder zunächst anonym. Denn es ist eine schlichte Überforderung für alle, wenn sie bei jedem Treffen immer wieder ihre Geschichte und ihre Interessen darstellen sollen. So wie es sich momentan in der Irren-Offensive verhält, können sich Neue nicht angenommen fühlen, denn nach dem Plenum verschwindet ein Großteil der Leute in Kleingruppen. Unter diesen Bedingungen bleiben eigentlich nur solche, die ein entsprechendes Durchhaltevermögen haben, die einen bestimmten Frust ertragen können. Viele Interviewte meinen, daß es eigentlich notwendig wäre, ein Extratreffen für Neue zu planen, weil wir in der Irren-Offensive auch nicht mehr so vorsichtig miteinander umgehen, weil im Plenum viel Organisatorisches besprochen werden muß, was zunächst einmal Neue, denen das alles fremd ist, abstoßen muß.

Kampf gegen psychiatrische Menschenrechtsverletzungen

Sowohl das individuelle Offensiv-Werden als auch die Kraft und der Mut, sich zu wehren, hängen davon ab, wie weit die Betroffenen in ihrer Entwicklung sind. Manche Interviewte sehen zwar die Öffentlichkeitsarbeit und die Offensive grundsätzlich als positiv und notwendig an, zeigen aber auf, daß sie sich selber dazu noch nicht in der Lage sehen: »Ich habe mit mir selber soviel zu tun.« Menschen, die erst schrittweise wieder lernen müssen, Selbstverantwortung zu übernehmen, die mit ihren eigenen Problemen so stark beschäftigt sind, daß sie sich auf andere nicht einlassen können, sind in dieser Situation überfordert, wenn sie auch noch politisch aktiv werden sollen. Die Frage, wohin sie dann ihre Aggressionen, ihre Wut, ihre Ängste steuern, wenn nicht gegen sich selbst oder 'Unschuldige', bleibt offen.

Einige Betroffene beklagen sich, daß wir eigentlich zu viel reden und zu wenig tun, daß wir zu wenig an die Öffentlichkeit treten, zu wenig Aktionen machen, daß wir zwar viel planen, aber kaum etwas verwirklichen. Sie sehen die Grenze u.a. momentan darin, daß die Gruppe sich einfach noch nicht genügend stabilisiert hat, daß viele Kräfte, die man sonst aktiv einsetzen könnte, beim Gruppenbildungsprozeß und der internen Konfliktbearbeitung verbraucht werden. Andererseits gibt es so viel zu tun, daß wir alleine damit überfordert sind; daß wir uns bis jetzt zum gemeinsamen Kampf nur mit wenigen Gruppen zusammengeschlossen haben, liegt nicht nur an uns, sondern an der Begrenztheit der politischen Bewegung, sowohl quantitativ als auch qualitativ: an der relativen Schwäche der fortschrittlichen Kräfte, die sich zudem häufig in Diffamierungskampagnen der Verrückten als psychisch Kranke und Behinderte einspannen lassen. Wir können nicht als Grüppchen die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern, deshalb sind auch Aktionen wie z.B. eine Wiederbemündigung sehr aufwendig, ja fast aussichtslos. Dazu benötigen die Betroffenen Gegengutachten, doch gerade an diesem Punkt stoßen sie an Grenzen, denn 'eine Krähe (sprich: Psychiater) hackt der anderen kein Auge aus'. Es passiert, daß sie ewig und überall gegen Mauern rennen und daß ein Gutachten, das einmal ein Psychiater erstellt hat, die 'Betreuten' weiterhin in allen Lebensbereichen bevormundet und aller Rechte beraubt.

Noch schwieriger und aussichtsloser wird der Wiederbemündigungsversuch, wenn sich die Betroffenen zu ihrer Verrücktheit bekennen, wenn sie nicht bereit sind, sich von verrückten Ideen und Zielen zu trennen. Es gibt zwar engagierte Leute unter den Nicht-Betroffenen, z.B. einige Rechtsanwälte, aber solange diese auch nur vereinzelt aktiv werden, ist es möglich, daß weiterhin die Entmündigung und Diskriminierung der Verrückten betrieben wird, daß sich die Psychiatrie in Form der Gemeindepsychiatrie ausweitet und daß sich die Präventivstrategie, die Früherkennung der Andersartigen, immer mehr verschärft.

Kollektive Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen

Auch hier bestehen momentan ähnliche Grenzen. Manche Gruppenmitglieder sind mit ihren eigenen Problemen und Schwierigkeiten so beschäftigt, daß sie unfähig sind, aktiv gemeinsam mit anderen und und für andere etwas zu tun. Die Gruppe wurde zwar immer größer; dadurch nahmen aber auch die Konflikte und Probleme zu, so daß die einzelnen sich zunächst einmal als Gruppe zusammenraufen müssen, bevor sie Ziele wie den Aufbau gemeinsamer Lebenszusammenhänge oder das Schaffen von Freiräumen und Perspektiven angehen können.

Durch die Chaosgeschichten, die manchmal da sind, wenn irgendwelche Leute sich nicht gut fühlen und nicht darüber sprechen und dann Aggressionen haben und mit Worten boxen, geht 'ne Menge verloren, was man erarbeiten könnte. (Christa)

Die Interviewten zeigen auch, daß für sie die Wohnsituation ein ungelöstes Problem ist, daß sie nicht alleine wohnen möchten, aber keine Alternative sehen. Hier liegt die Grenze in den gesellschaftlichen Verhältnissen, daß es auf dem normalen Wohnungsmarkt inzwischen für Menschen mit geringem Einkommen unmöglich geworden ist, große Wohnungen zu mieten, da diese nicht mehr an Wohngemeinschaften und schon gar nicht an Verrückte vergeben werden. Dasselbe gilt für die Irren-Offensive als Gruppe, die sich im KommRum auf engstem Raum treffen muß und dort keine Möglichkeit hat, sich weiter zu entfalten. Die Grenze liegt hier momentan auch in der Angst vieler Betroffener, ein Haus zu besetzen; sie kann aber auch in der Angst davor liegen, selbständig, unabhängig, eigenverantwortlich zu werden.

Die Suche nach Verbündeten und der Zusammenschluß mit ihnen ist dadurch derzeit begrenzt, da erst eine in sich geschlossene Gruppe, die weiß, was sie möchte, nach außen gehen und Verbündete um sich scharen kann; ansonsten läuft sie Gefahr, wiederum verobjektiviert und benutzt zu werden. Außerdem haben die Irren-Offensivler bisher schon mehrmals erfahren, wie sie auf der Hut sein müssen vor Leuten, die vorgeben, im Interesse von Betroffenen zu handeln, in Wirklichkeit diese aber nur wieder befrieden und hintergehen möchten.

Selbstorganisation und Selbsthilfe

Die Grenzen liegen im Selbsthilfeprinzip an sich: »Das passiert einfach nicht, daß irgendeinem geholfen wird, bloß weil er die Forderung stellt. Da macht jeder was für sich, egal was er macht.« (Bernd) In der Irren-Offensive besteht kein Helfzwang, sondern die Leute unterstützen sich gegenseitig dann, wenn sie selber das Bedürfnis dazu haben, wenn ein echter persönlicher Bezug zwischen den einzelnen besteht. Hier zeichnet sich klar die Grenze ab, was in der Irren-Offensive möglich ist und was nicht. Wieweit eine Person unterstützt wird, hängt individuell davon ab, wie weit sich andere darauf einlassen; das ist von Fall zu Fall verschieden.

Manche Betroffene äußern im Interview, daß sie noch nicht das nötige Vertrauen besitzen; daß sie Angst haben, die anderen könnten ihre Probleme nicht verstehen und nicht ernstnehmen; daß sie andere damit zu sehr belasten; daß sie zu viel Zeit beanspruchen könnten und die anderen dann zu kurz kämen; daß sie überhaupt noch Angst haben, sich in einer Gruppe zu öffnen, oder daß sie befürchten, abgeblockt und abgelehnt zu werden, wenn sie von sich erzählen; daß sie Angst haben, zu viel von sich preiszugeben. Deshalb gibt es Leute in der Irren-Offensive, für die Einzeltherapie noch wichtig ist, die Therapie als hilfreiche Unterstützung sehen, weil sie dort Vertrauen gewonnen haben, weil der Therapeut ihnen alleine zur Verfügung steht, weil sie sich dort nicht auch noch mit Problemen anderer Leute.