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3. Wenn einem Hören und Sehen vergeht

Dass Maria Stimmen hört, war nicht nur eine Eigenschaft von ihr, es war auch sie selbst. Man hört nicht einfach Stimmen, wie man Radio hört, sondern nimmt voller Angst etwas wahr, das irgendwoher spricht. Maria gerät dadurch zuerst immer in eine Turbulenz von Ungewissheiten, worin ihr ein Organ, das Gehör, etwas mitteilt, dem alle anderen Organe, z.B. die Augen, die Nase, der Tastsinn usw. widersprechen. Die Organe scheinen im Widerstreit – manche (z.B. der Geruchsinn) geben sich hierbei sogar mehr oder weniger auf, versagen sich ihrer Fähigkeiten, andere nicht. Sie stehen zueinander, wie sie selbst vor sich steht und sie steht vor allem vor der Wahrheitsfrage ihrer Wahrnehmung, wenn sie sagt, dass etwas in ihr verrückt ist, dass sie sich von sich ver-rückt hat. Ihr Kampf um ihre eigene Gewissheit war überhaupt das Treibende unseres Verhältnisses. Und der Trost darin, war der Sinn, den es hat, einen Unsinn zu befragen und hie und da auch wirklich zu bezweifeln. Aber natürlich ist eine Geschichte, die im Wahnsinn angelangt ist, nicht einfach zu ändern durch kluge Einsichten, durch Erkenntnisse oder Wissen. Aber auch nur als Trost haben Einsichten eine wichtige Bedeutung: Sie begleiten die Geschichte, in der hier und da auch mal Gewissheit sich zum Wissen gesellt und erste Momente des Bewusstseins bilden, mit dem sich die Geschichten nicht mehr fortwährend und immer nur wiederholen müssen. Auch lebende Widersprüche erhalten damit einen Sinn, der über ihr "Schicksal“ hinausweist.

Mir schien es so zu sein, dass der Widerstreit ihrer Sinne und die Verselbständigung des Gehörs so etwas wie eine Selbstrettung war, also die Selbstvergewisserung einer Bezogenheit auf andere, die in einer zentralen Gefühlsverwirrung als ganzer Mensch nicht mehr möglich war. Da sie sonst in ihren Gefühlen "zerfallen" würde, also pure Identitätsangst hätte, war das Gehör ihre Rettung, eine Form ihrer Bemühung um Selbstgewissheit. Wenn es Gefühle für sie gab, die sie nicht leben konnte, so verlagerte sie sozusagen ihre Beziehung auf ein Organ, das sie "noch offen ließ" wie ein Nadelöhr ihrer Wahrheit bei all den Wahrnehmungen, die nicht zu ertragen waren. Die Stimmen, die sie hörte, waren wirkliche Stimmungen, Zustände ihrer Befindlichkeit, die ihre Beziehungen in der Wirrnis in sich trugen und sie zugleich "auf einen Nenner“ brachte: Die Verurteilung ihrer Gefühle. So blieb in der Verwirrung der Bezug zur Außenwelt als dieses Urteil erhalten, das sie zugleich auch beruhigte, weil es auch so etwas wie eine "Erklärung" für ihre Verwirrung war – und zugleich war es die Wahrheit ihrer Befindlichkeit.

War sie im Zweifel über ihre Wahrnehmung, so war sie völlig anders auf mich bezogen, als wenn sie "umgekippt" war in jene Welt, die ihrem Ohr Recht gab und zu einem Zusammenhang wurde, in welchem sie sich als Mensch von der im Ohr gewähnten Stimmung so beherrscht fühlte, wie sie sich sonst eben wirklich fühlen müsste, wäre sie noch so, wie sie früher war. So hörte sie die vergangene Macht sprechen, die sie in sich trug und der sie insgeheim immer noch gehorchen musste, wenn bestimmte Gefühle in ihr aufkamen. Die Verwirrungen zwischen Realität, Zweifel und Wahn waren für mich und für sie kein kategoriales Problem der sogenannten Wahrheit, sondern wirkliche, angstmachende, tötliche Gefahren für die Lebensmöglichkeit von Maria, für ihr eigenes Leben. Die Ungewissheiten der Sinne, der wirkliche Zweifel in den Organen selbst, der Kampf, der Streit und die Angst darin, die Verselbständigungen einzelner Organe gegen die andern, das war ihr wirkliches Lebensproblem. Hiergegen wäre es zynisch, den Wahnsinn zu einer aparten Tiefsinnigkeit zu verklären, der gegenüber die profanen Gewissheiten des täglichen Lebens triste Einfachheit zugesprochen würde. So kann nur denken, wer den Wahnsinn nicht begreifen muss oder will. Er ist genauso ein Lebenskampf wie jeder andere. Nur ist er aufs Fatalste in der Klippe zwischen Lebendigkeit und Untergang zur Emanzipation gezwungen. Denn Emanzipation kann auch hier nur das sein, was sie überhaupt nur sein kann, nämlich dass ein Verhältnis fremder Mächte auf den Menschen zurückgeführt wird und er hierdurch seine eigene Macht über sein Leben findet.

Wie aber kann das Gehör eines Menschen zur fremden Macht über ihn werden? Wie kann es sein, dass er Stimmen hört, die ihn nicht wirklich, wohl aber in seinem Ohr und in der Gewalt Ihrer Urteile beherrschen, wo alle andern Organe zeigen, dass es diese Stimmen nicht wirklich, nicht organisch existent als sprechende Münder gibt? Die erste Bedingung hierfür ist doch, dass es einen Gefühlszustand geben muss, dass eine innere Stimme mächtig werden kann, dass sie sich gegen die Angst errichtet wie ein Signal oder wie eine Botschaft, die so übermächtig ist, dass sie das überwältigte Wirklichkeitsvermögen der wirklichen Organe mit dem zu beherrschen vermag, was sie sagt. Es muss die Angst das erste, das Hören das Zweite sein. Umgekehrt aber muss man auch feststellen, dass vor jeder inneren Stimme es das Gehör und die Sprache und die Stimme gab und ein wirkliches Hören die Voraussetzung dafür ist, dass es überhaupt eine innere Stimme geben kann. Demzufolge ist es konsequent, die Überlegung umzukehren und festzustellen, dass die wirklichen Organe zu schwach sind, ihre eigene Gewissheit gegen das zu erhalten, gegen das, was in den Ungewissheiten bestimmter Beziehungen mächtig geworden ist. Es ist also einmal eine negative Bestimmung im Zusammenhang von Gefühl und Gehöhr: Das Gehör muss einen Zustand der Selbstaufhebung retten und betreibt dies durch seine Abkapselung. Zum anderen ist darin eine positive Bestimmung, dass sich im Gehör die Gesamtheit des inneren Zustandes ausdrückt, die Stimmen sich sozusagen mit dem "Problem" auseinandersetzen, dass da Gefühle sind, die in der Selbstwahrnehmung keinen Platz haben. Die Stimmen halten also den betroffenen Menschen tatsächlich in beiderlei Hinsicht zusammen: Sie trennen seine Gefühle auf, damit sie bestehen können, und sie bedrängen diese, damit ein Kontakt zu eigenen Geschichte und Selbstwahrnehmung erhalten bleibt. Aber warum ist es nun gerade im Gehör, wo dies alles stattfindet? Vielleicht hilft uns da eine altes Wissen etwas weiter, das in keinem Buch steht, das wir aber täglich nutzen: Die Sprache, das älteste Bewusstsein, das die Menschen überhaupt haben.

Wenn man über das Gehör nachdenkt, wird man schnell viele Sprachwendungen finden, die über Zusammenhänge Auskunft geben, die uns nicht mehr geläufig sind. Sagt man nicht, jemand ist hörig, ohne dass man dabei meint, er sei ganz Ohr? Sprachgeschichtlich hängt das Wort Gehorsam (aus welchem das Hörigsein abgeleitet ist) mit dem Gehör zusammen. Auch Besitzzuschreibungen erfüllt diese ursprüngliche Sinnesbezeichnung, wenn festgestellt wird, dass etwas jemandem gehört. Aus dieser Folge ergibt sich auch die abgewandelte Bedeutung des Gehorsams im Sinne von angehören, zugehören, gehörig sein. Hier kommen wir auf einen interessant Zusammenhang, der für Maria wichtig ist: Was sich gehört und was sich nicht gehört. Ist es nicht folgerichtig, dass man auch ihm Ohr hat, wogegen man verstößt? Was sich nicht gehört, das hört man dann. Ist es nicht einfach nur die Abgeschlossenheit, die Abtrennung des Gehörs vom ganzen Menschen, das ihn hörend hörig macht?

Die deutsche Sprache also weiß einen Zusammenhang zwischen einem Wort, das menschliche Verhältnisse beschreibt, und einem Wort, das menschliche Sinnestätigkeit ausdrückt. Der Sinn des Gehörs ist in ihm selbst schon als Beziehung, als Zugehörigkeit mit allen dabei auftretenden Verbindungen (Gehorsam, Hörigsein, gehören, gehörigsein) gefasst. Was aber hat der Gehorsam mit dem Gehör zu tun?

Hierüber gibt es viele Geschichten. Zum Beispiel jene von van Gogh, der nach einem Streit mit seinem ursprünglichen Freund Gauguin sein Ohr abgeschnitten hatte, weil er zu sehr auf ihn gehört hatte, ihm also nicht mehr zugehören wollte und dieses Ohr einer Prostituierten schickte, weil er mit ihr seine eigene Prostitution verband. Auch Freud hatte eine Beobachtung über eine sogenannte hysterische Blindheit gemacht, worin er den Schlüssel zu einer Erkrankung darin gefunden haben wollte, dass ein Mädchen sich in einen Mann verliebt hatte, und Freud hatte das damit verbunden, dass er ihr die Augen verdreht hat (gebräuchliche, sprichwörtliche Bezeichnung für das Verlieben).

Die Sprache ist schon seit Menschengedenken ein praktisches Wissen, ein Bewusstsein des Sinnlichseins und verrät eine allgemeine Wahrheit über Sinnesbeziehungen, die zu befragen manchmal hilfreich ist. Es ist so, als ob bei derlei Vereinigungen von Wort und Tat das Sein einer Wortbedeutung und das Sinnlichsein einer Beziehung identisch geworden sind und im Sinnesorgan selbst die Ununterschiedenheit einer sinnlichen Beziehung zwischen Menschen und dem Sinn, den ein Mensch in einer Beziehung hat, entwickelt worden ist. Es ist so, als ob ein Mensch all das in sich und aus sich heraus verspürt, was außer ihm und mit ihm geschehen war, bevor er es verspüren konnte: Seine Zugehörigkeit. Er hört die Stimmen, die ihm zugehören, und denen er hörig ist, weil er durch die Stimme zugleich frei ist von seiner Stimmung und damit nicht mehr tun muss, was sich gehört. Es ist der bewahrte Bezug zur eigenen Welt, die den Betroffenen nicht in dem sein lassen muss, was er fühlt. Und das bestätigen auch die Inhalte des Wahnsinns, die – wie bereits angedeutet – etwas durchaus Wirkliches repräsentieren, das allerdings nicht wirklich sinnlich existieren durfte, sondern sozusagen ohne Sinn in die Sinne eingegangen war. Die Stimmen sprechen die zugehörigen Meinungen aus, die im Verlauf seiner seelischen Entwicklung gegenwärtig waren und sich noch jetzt vergegenwärtigen, um die Seele in ihrer Verwirrung zusammenzuhalten, weil sie immerhin wissen wollen, was sich gehört, und somit lebendig bleiben kann, was sich nicht gehört.

Was jedenfalls die Sprache verrät, ist ein enger Zusammenhang von Beziehungen und Organen, der im Wahnsinn besteht. Denn dieser ist die Lebensform entwirklichter Sinne und die Erkenntnisform unsinnlicher Wirklichkeit. Das Hörigsein ist das Leiden an der Unerkennbarkeit eines wirklichen Verhältnisses und zugleich die Erkenntnis unwirklicher, ungelebter Sinne. Und so wie die Nase das Gespür, die Richtung, die Herkunft etc., das Auge die Kraft und Schärfe weiß, so weiß das Ohr die Beziehung, hört es die seelische Verbindung, hat es die Aufmerksamkeit für Zusammenhänge (Geräusche), die umnachtet sind, aber durch das gehör sich spürbar machen. In der Nacht hören wir vieles von dem, was wir sehen und sehen es nur, weil wir es hören. Für blinde Menscxhen gibt es nichts schöneres als Regen, weil er die Welt plastisch macht, weil sie dann hören, was wir sehen: Die Bäume, das Laub, das Kopfsteinpflaster usw.. Und wo die Organe (Aug. Nase, Ohr etc.) keine Einigkeit gefunden haben, wo also die Identität eines Menschen bei bestimmten Verhältnissen unmöglich war, da wissen die je einzelnen Organe immerhin etwas für sich, wenn auch im Ausschluss von einander. So kann eine Stimme im Ohr durchaus etwas von der Seelenstimmung und auch der seelischen Bestimmung wissen, der das Auge nicht zu folgen vermag. Das Geheimnis liegt also nur in der bestimmten Verselbständigung der einzelnen Organe, die auf Zusamennhänge lauschen, die sonst garnicht zu vernehmen wären.

Organe können sich nur verselbständigen, wo ihre Selbständigkeit einen Sinn hat, wo die eine Hand nicht wissen darf, was die andere tut und wo es für den Organismus als natürliche und geistige Einheit zum Überleben nötig ist, seine Organe den gegensätzlichen Zwecken zu überlassen. Ein Mensch muss von ungeheuerlichen Lebenskräften als ganzer beherrscht sein, bevor er seine Besinnung so aufgibt, dass ihm seine Sinne zur einzelnen Macht werden. Und er muss in seinem Lebenssinn auch vereinzelt und isoliert sein, dass ihm nichts anderes übrigbleibt.

In diesem Menschen kommt nicht sein eigener Organismus zum Leben ohne dass fremdes Leben die Organe beherrscht. Es ist die Macht fremder Lebensgründe, die zur Ohnmacht des eigenen Lebens führt, denn ein Mensch kann nur Objekt seines eigenen Lebens werden, wenn er sich auch als Objekt fremden Lebens fühlt, sich also selbst nicht hiervon unterscheiden kann. Um den Unterschied von Subjekt und Objekt in dieser Entfremdung zu finden, um die Subjektivität des Eigenen zu erkennen, muss man sich erst mal auf seine Spur begeben. Das geht nicht ganz so einfach über Gefühle und Empfindungen, wenn die sich in der Seele so verschlungen haben, dass sie selbst objektiv wirken. Dass sich die Organe der Wahrnehmung überhaupt beherrschen lassen, weißt auf eine Selbstentfremdung hin, die sie ihrer Wahrheit enthoben hat. Dieser auf die Spur zu kommen ist aber nicht ganz einfach. Eigenes kann man im Verhältnis zu sich selbst nur erkennen, indem man die Bedingungen herausfindet, unter denen es abgegeben wird und in die Fremde und hierdurch in die Irre geht. Indem man die Welten rekonstruiert, in denen sich Scheinwelten geltend machen können, vollzieht man nach, wie den Organen der Wahrnehmung ihre einfache Wahrheit (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken usw.) genommen werden kann. Dem nachzugehen verlangt, über das Verhältnis von Macht und Ohnmacht nachzudenken, das sich in den Gefühlen abspielt.

Spurensuche

Die Sprache als kollektives Wissen der Menschen verrät schon selbst, dass es möglich ist, dass Organe von Menschen beherrscht und dass sie hörig gemacht werden können. Um die Macht zu verstehen, die dies bewirken kann, muss auf einen etwas umfangreichen Gedankengang eingegangen werden, mit dem ich auf den Zusammenhang erläutern will, wie er in den Organen der Wahrnehmung ebenso besteht, wie außer ihnen. Es ist der Zusammenhang von Sinn und Tat, Leiden und Tätigkeit, Leben erkennen und Leben äußern. "Der Mensch erkennt sich nur im Menschen“, weil "der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ (Marx) ist. Und wenn in solche Selbsterkenntnis eine Lebensbedingung eingeht, durch die Menschen Macht über Menschen haben, da wird auch die Macht über die Organe von Menschen zum Bestandteil des Lebens.

Der Sinn von Herrschaft kann nur der Besitz von Lebensäußerungen, von Reichtum, Leben, Hab und Gut sein. Was hat das mit Seele zu tun? Zunächst einmal sagt dies lediglich, dass Herrschaft sinnliche Abhängigkeit voraussetzt. Die seelische Abhängigkeit ist nichts anderes als die individuelle und in dieser Individualisierung reduzierte wesenhafte Gestalt der sinnlichen Abhängigkeit der Menschen. Was Menschen als ihr Leben erzeugen, das besteht zunächst allgemein als produziertes Leben sachlich wie menschlich als ihr Gattungswesen, also als das, was sie in langer Geschichte geworden sind und was ihre Sinne gebildet hat und wodurch sie sich auch fortbilden – so auch in der Erzeugung und Zeugung der nachwachsenden Generationen.

Es mag zwar so scheinen, als ob ein Mensch, wenn er gezeugt und geboren wurde, mit Haut und Haaren und daher als vollständig lebendiger Mensch existiert. Sein bestimmtes Leben aber, nämlich das, was sein Leben ausmacht, was ihn erfüllt, was er liebt und was er als einzelnes Wesen leidet und hervorbringt, ist nicht allein in der Zeugung eines einzelnen Menschen begründet, sondern in dem, was Menschen als menschliches Leben überhaupt bilden und bezeugen, was sie als Ganzes ihres Lebens erzeugt haben und was sie in diesem Ganzen zusammenhält. Der Begriff der Gattung wird zwar altertümlich klingen, aber hierin verrät die Sprache immerhin noch die wesentliche Identität von Individuum und Gesellschaft: Im Begattungsakt zweier Menschen vollzieht sich die ganze menschliche Gattung, die Bildung der menschlicher Sinne als individuelles wie auch gesellschaftliches Wesen, ein Wesen mit allen Sinnen, die sich in Gesellschaft verhalten als Zusammenhang von Mann und Frau und Kind. Es gibt keine jeweiligen Gesellschaften der Kinder, der Männer oder der Frauen – Gesellschaft gibt es nur in ihrem Zusammenhang als Gattungswesen der Menschen, als lebendiges Zusammenwirken ihrer unterschiedlichen Bestimmungen und Arbeiten, als lebendige Arbeitsteilung und Verwirklichung des Menschseins und der menschlichen Geschichte und Bildung. In diesem Gattungsverhältnis ist auch das Verhältnis der Begattung enthalten, alles was die Menschen mit Haut und Haar ausmacht.

In unserer Gesellschaft existiert das Begattungsverhältnis vorwiegend als Familie oder in familienähnlichen Zusammenschlüssen von einzelnen Personen. Auch in dieser Form des Gattungswesens drückt sich menschliche Wesenhaftigkeit vielfältig aus: In der Liebe der Gatten zueinander und zu ihren Kindern, im zwischenmenschlichen Zusammenhalt, in ihrem Streit, ihrer Abstoßung und in den Eigensinnigkeiten der Familienmitglieder. Diese Form der Gattungstätigkeit ist nicht nur ökonomisch durch die Notwendigkeit der privaten Haushaltung bestimmt, sondern auch kulturell und hat hierdurch unmittelbare Wirkung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und der darauf gegründeten Selbstwahrnehmung der Menschen. Sie wirkt in allem mit, was die Geschichten der Gefühle und Seelen ausmacht, worin sich die Menschen erkennen, anerkennen, verstehen und missverstehen, sich lieben und hassen, sich entwickeln und bedrängen. Hier besteht die innigste Abhängigkeit der Menschen, die tiefste Verwurzelung mit ihrer Zeit, ihrem Organismus im gesellschaftlichen Stoffwechsel und ihrem Geist, wie er unter sich ist.

Wie sich Menschen als Mensch verstehen können, wie sie sich erkennen und worauf menschliche Selbsterkenntnis gründet, das ist dieses Ganze der Sinne, das nicht in einem Menschen alleine sein kann. Das ließe schon die menschliche Natur nicht zu, die schon ganz äußerlich zeigt, dass sie gesellschaftlich ist, dass Menschen nicht alleine und in ihrer Privatheit als Einzelwesen Geschlecht haben, dass sie nicht denkbar sind ohne ihre Geschlechtsorgane und Geschlechtseigenschaften, durch welche sie eine ebenso natürliche gesellschaftliche Beziehung haben, wie auch die Gesellschaft nichts anderes als ihre gewordene Natur ist, die aus dem Erzeugnis ihrer Arbeit und als Organismus ihrer Arbeitsteilung ist. Das Leben besteht durch das Leben der Sinne und was die Menschen damit machen, was sie arbeiten und leiden. Es ist ihr wirkliches sinnliches Sein, wodurch es als solches Leben auch Wirkung auf sie hat, wie es auch ihre Wirklichkeit verursacht. Es besteht nicht einfach in ihren Empfindungen und Gefühlen füreinander, sondern in der Gestaltung ihres Lebens selbst, in ihrer Liebe und der Erzeugung ihrer Kinder. So individuell dies erscheint, so gesellschaftlich ist es bestimmt. Unsere Sprache kündet hiervon, weil sie unmittelbar praktisches wie gesellschaftliches Bewusstsein ist und vieles von der gesellschaftlichen Entwicklung der Individuen weiß, was die oft nicht mehr wissen, aber aussprechen.

Je unabhängiger sich die Menschen fühlen und geben, desto hinterhältiger wirkt ihr gesellschaftlicher Zusammenhang. Nach wie vor sind Menschen nicht wirklich Einzelwesen, die sich zu einer Gesellschaft aufsummieren. Sie sind nur darin Menschen, worin sie sich erkennen und anerkennen. Was sie ausmacht, ist das, was sie durch ihre Gesellschaft sind und was sie in ihr tun, was sie in dieser als Lebensbedingung vorfinden und was sie dort auch als Lebensbedingung erzeugen. Auch wenn sie den ganzen Tag mit einem Computerspiel verbringen, bezeugen sie ihre Gesellschaftlichkeit. Sie sind verstanden, bevor sie das Spiel verstehen, genutzt, bevor sie sich verausgaben können. So auch in ihrer sachlichen Existenz. Was ihre Lebensbedingung ausmacht, das leben sie, auch wenn sie dies nicht wissen.

Dass Kinder für sich nicht sein können, ist trivial; nicht nur, weil sie keinen eigenen Haushalt führen können, sondern auch, weil sie sich nur im Verhältnis der Menschen selbst als Mensch bilden, anerkennen und erkennen. Dass dieses Verhältnis – wie oben erschlossen – zur Herrschaft von Menschen über Menschen führen kann, drückt aus, dass in diesem Verhältnis das Leben der Menschen nicht nur voneinander abhängt, sondern dass diese Abhängigkeit selbst zum Lebensmittel der herrschenden Generation werden kann. Wenn die Kinder als das Lebenszeugnis ihrer Eltern sich nicht als wirkliche gesellschaftliche Menschen ansehen können, weil sie nur individualisierte Objekte vergangener Generationen sein dürfen, so kehrt sich die Entwicklung des weiteren Lebens um in die erzieherische Macht der Älteren (Eltern) und die Ohnmacht der Jüngeren: Die Eltern sehen in den Kindern ihre Liebe an, die Kinder sich als Gegebenheit eines ihnen fremden Begattungsaktes. Nicht dass sie sich in dieser Tatsache wüssten – aber sie spüren sehr wohl, dass sie nicht für ihr Leben, sondern für andere geschaffen worden sind. Ihnen erscheint die Liebe ihrer Eltern als Lebensbedingung, weil sie ihr eigenes Wesen nur als gesetztes Wesen auffassen können. Das aber sind sie von zweierlei Seiten her: Als Objekte der Erziehung sollen sie sich an die bestehende Gesellschaft so angleichen, dass sie darin ihre Existenz sichern können. Und als Objekte der Familienkultur sollen sie die Lebenswünsche erfüllen, die ohne sie für ihre Eltern unerfüllbar sind. Sowohl die existentielle Macht der Gesellschaft, wie auch die Liebeshoffnung ihrer Eltern fällt im Verhätnis der Eltern zu ihren Kindern innerhalb der bürgerlichen Familie zusammen und bestimmt die Einseitigkeit der Entwicklung in diesem Lebensraum. Die Kinder müssen als einzelne Menschen das Loch füllen, das die bürgerlichen Kultur in das gesellschaftliche Leben ihrer Eltern gerissen hat.

Doch ihnen erscheint dies umgekehrt. Sie sind ja auch wirkliche Einzelwesen und erleben unter solcher Bedingung ihr Leben selbst als von ihren Eltern gegeben, erleben sich selbst den Eltern gegenüber in der Lebensschuld. Diese ist nicht nur ein Akt des Bewusstseins, sondern gestaltet sich auch in der wirklich sinnlichen Abhängigkeit von Kind und Eltern innerhalb der Familie existenziell. Vergangenes Leben bestimmt über die Macht, die den Eltern durch die Form der bürgerlichen Familie zuteil wird, die Gegenwart der Kinder. Und innerhalb dieser Gestaltungkraft, dieser fremden Macht, die sich oft nur hintersinnig, mal heftig, mal begierig mitteilt, sind die Kinder auch abhängig von den Bedeutungen, die ihre Beziehungen zu den Eltern und der Eltern unter sich haben. Die wechselseitigen Abhängigkeit in der Familie weißt jedem eine Rolle für den Familiensinn zu: der Eltern zueinander und der Eltern zu ihren Kindern und der Kinder unter einander. Ob gewollt oder nicht: Die seelische Abhängigkeit der Eheleute wird so zur Macht über das Seelenleben der Kinder. Zum einen werden sie in ihrer Selbsterkenntnis sinnlich abhängig von der Art und Weise, in der sie als Mensch bestätigt werden und als Mensch zu sich kommen, zum andern sind sie es im Sinn der Beziehungen, den die Eltern zueinander und zu ihren Kindern haben, dem Sinn den ihre Familie für sich hat und in welchem jeder sein Menschsein bewahrt und bewährt.

Es ist daher das ursprünglichste Verhältnis, das die Kinder zu sich selbst haben, jenes, das die Eltern auch zu ihrem eigenen Leben und hierdurch zu ihren Kindern haben; denn innerhalb der Familie teilen sich die Bedeutungen so mit, wie sie jedem zuteil werden. Allein die Eltern können die Teilung dieses Lebens in der Familie erkennen, denn diese ist die Antwort und Form ihrer Lebensnot in der bestehenden Kultur. Den Kindern teilt sich dies nur in dem Gefühl mit, was sie für ihre Eltern sind, wie sie sich also in der Familie fühlen können. Was die Kinder von sich überhaupt als Leben und Selbstgefühl verspüren, das ist das, was sie überhaupt in der Familie nur von sich wissen können. Nur in dem Maße, wie ihre Selbstbestätigung als Mensch über den familiären Raum hinausgreifen kann (z.B. Kindergarten, Schule usw.), können sie sich aus dem Familiensystem heraus entwickeln – sofern dieses keine sytematische Entwicklungsbestimmung enthält. Diese erst bewirkt die Verselbständigung ihrer Sinne.

Solche Bestimmung ist nicht allein durch Familiensinn und Selbstgefühl der Familienmitglieder erzeugt (wiewohl dies vorausgesetzt ist, dass es überhaupt dazu kommen kann), sondern vor allem durch etwas, was Kinder von sich nicht wissen, nicht fühlen und nicht erkennen können, weil sie die Lebensbedeutung ausfüllen müssen, die ihre Familie nötig hat. Dies ist etwas, was sie für den Zusammenhalt des Familienlebens sind, ohne es sein zu können: Der Sinn der Liebe, welche Eltern in diesen Lebensraum eingebracht haben und darin erfüllt wissen müssen, die Bedeutung, die sie für ihr Leben haben. Wenn dieser widersinnig ist, so müssen die Kinder ihn als ihre Lebensangst aushalten, fremde Bedeutungen erfüllen, um sich unter diesen bedingungen auch etwas zu bedeuten – manchmal über mehrere Generationen hinweg. Ein mächtiger Widersinn erzeugt Ohnmacht der Erkenntnis und kränkt das Wahrheitsvermögen eines Menschen, den es dadurch verneint, dass es nur seine Widersinnigkeit in ihm bestätigt wissen will. Es sind die hierdurch in ihrer Wirklichkeit verneinten, die zur Unwirklichkeit gezwungenen Kinder, die in ihrer Seele gekränkt werden und die diese Kränkung erst verspüren, sobald sie selbst erwachsen sein sollen.

Von da her habe ich mir Gedanken über den Lebenszusammenhang in Maria's Familie gemacht. Was bedeuten unter dieser Bedingung ihre "Symptome“ (54)?

Familiengeschichten

Kinder kommen dort auf die Welt, wo sie gezeugt und geboren werden. Ist eine Familie ihre Geburtsstätte, so erfüllen sie auch sogleich in diesem Lebensraum ihren Sinn und vermitteln das Leben ihrer Eltern. Natürlich erzeugen Eltern ihre Kinder nicht unmittelbar als Lebensmittel; oft aber als Erfüllung – oder besser Füllung – ihres Lebens. Je öder es ist, desto schwerer haben die Kinder daran zu tragen.

Marias Eltern haben von ihren Kindern viel gehabt. Maria war ein ausgesprochenes Wunschkind, das 3. Kind der Mutter, die nach der Geburt von 2 Kindern über lange Zeit unfruchtbar gewesen war und nach vielerlei Kuren ein Kind hervorgebracht hatte, in welches sie ihre ganze Angst und Sorge hineingab. Es ist sicherlich immer so, dass, wenn ein Kind krank oder verrückt wird, die Eltern besorgt sind. Vielleicht könnte man auch verstehen, dass sie jeden Schritt ihrer Kinder wissen wollen.

Die Besorgnis aber, welche Marias Mutter für ihre Tochter äußerte war sonderbar und eigenmächtig. Als sie von mir verlangte – da ich nun schon mal ihre Tochter betreute – ihr bei aller Krankheit auch zugleich das Rauchen abzugewöhnen, sah ich darin keine Sorge, sondern eine Macht, die sie "durch Sorge regelte“. Das ziemlich mäßige Rauchen von Maria war so etwas ähnliches, wie eine Infragestellung der mütterlichen Lebensvorstellung und Rolle. Sie sprach darüber so objektiv, wie von einem Schulproblem oder der "schiefen Bahn“, die Eltern ja oft befürchten. Bei genauerem Nachfragen stellte sich heraus, dass diese Sorge für sie schon lange tragend war, wichtiger als die Angst, die sie um eine Tochter haben müsste, die im Irrenhaus war, mit Psychopharmaka vollgepumpt wurde, Selbsttötungsversuche hinter sich hatte und noch vieles mehr. Die Psychopharmaka stellten für sie kein Gift, sondern ein Heilmittel höherer Ordnung da – egal, wie ihre Tochter hierauf reagiert, sich verändert oder zu verblöden drohte. Schädlich waren für die Mutter praktisch nur die Zigaretten, das Gift schlechthin – Gift, weil auch Genussmittel, dachte ich mir. Und gegen dieses Gift sollte sozusagen in einem Aufwasch aufgeräumt werden. Es war so platt, dass ich es zuerst für einen Witz gehalten hatte: Sie wollte ja schon immer die Gesundheit ihrer Tochter, und an deren "Krankheit" könne man ja sehen, wie ihre Bemühungen von ihrer Tochter missachtet worden seien. Sie solle deshalb eben gleich mal "ganz und gar gesund gemacht" werden. Für ihre "Krankheit" war sie ja schließlich deshalb selber Schuld und jetzt bestand die Chance, endlich all das aus ihr zu machen, was sich die Mutter schon immer wünschte. Das sei sie ihr jetzt quasi schuldig!

Maria war immer Rechenschaft schuldig. Als Kind musste sie nicht nur zu jedem Schritt, den sie selbständig ging, zu Hause Rechenschaft ablegen – sie musste über all ihre Gefühle, die sie Tags hatte, abends Aufzeichnungen machen und diese ihrem Vater vorlegen. Wie seine Frau sich um ihre körperliche Gesundheit sorgte, war er um die Reinheit ihrer Gefühle besorgt. Es waren beide Lehrer und sie setzten auch zu Hause durch, was sie für eine bessere Welt an Erziehungsmaßnahmen beisteuern wollten. Jede Regung, jeder Hass, jede Liebe, wurde in die elterliche Obhut, sprich: in die Macht einer Lebensordnung gerissen, die die Eltern als Ordnung der Familie, des Staates und des Lebens schlechthin vorgesehen hatten. Diese Vorsehung brachte es dahin, dass Maria zu jeder Regung, jedem Gefühl, allem, was ihr hätte zu eigen sein können, wirklich das Verhältnis eines Journalisten zu sich hatte, der dies sofort aufzeichnen musste. Sie hatte auch nicht die Kraft, ihre Eltern zu belügen, und das kann ja auch kein Kind so ohne weiteres, wenn es seine Eltern liebt. Wenn Maria heute die Vorstellung hat, von Journalisten verfolgt zu werden, äußert sie eine schlichte und schreckliche Wahrheit als Gewohnheit ihres bisherigen Lebens.

Auch ihr Vater hat viel von seinen Kindern gehabt. Als Religionslehrer und Turnveteran des Tausendjährigen Reiches hatte sich sein Sinnenleben versteinert zu einer steifen Häuslichkeit mit hohem Wert. Seine bleiig-gläsernen Physiognomie verriet mir eine Starre, hinter der sich unbändige Erregungen verstecken mussten. Und tatsächlich hatte Maria seltsame Erfahrungen mit ihm gemacht: Sie erzählte mir, dass ihr Vater beim Gutenachtkuss der Kinder nicht nur wie ein Vater geküsst hätte und dass er, als er einmal mit ihr getanzt hätte, spürbar erregt und sehr verwirrt geworden sei. Ihre Schwester durfte keine Bluse anziehen, bei welcher der Busen mehr als nur zu ahnen gewesen wäre. Und die Tagebuchaufzeichnungen über die Gefühle, die Maria jeden Abend abgeben musste, waren sicherlich nicht nur für den Vater aus Sorge nötig. Es war ihm ein Liebesbeweis. Er verlangte, dass sie es "aus Liebe zu ihrem Vater" und im Vertrauen auf seine pädagogische Fürsorglichkeit geben sollte. Man kann annehmen, dass die Aufzeichnungen für ihn eine nötige Mitteilung war, durch welche er sein totes Leben mit dem Leben seiner Tochter füllen wollte. Durch sie wollte er vielleicht haben oder an dem teilnehmen, was er nicht selbst konnte, wollte ihre Gefühle nachempfinden, miterleben und spüren – und kontrollieren. Die Kontrolle war seine Aneignungsform von ihm fremd gewordenen Leben und zugleich dessen Bestimmung und Beeinflussung. Sein mühsam unterdrücktes Ansinnen, seine Tochter auch als Frau zu lieben, hat er in einen pädagogischen Eros gekleidet. Es kann sogar sein, dass ihm das nicht mal bewusst war – dafür wohl aber seiner Tochter, die ihre sexuellen Regungen als Heranwachsende sehr mit ihm in Beziehung sah.

Mit 14 Jahren hatte sie regelmäßige Vergewaltigungsträume. Und die ähnelten auch im Detail den Fantasien, die heute noch in ihrem Wahnsinn auftreten. Man muss annehmen, dass sie als gegenwärtiges Gefühl immer auch noch Ausdruck eines Verhältnisses waren, das ihr Vater zu ihr wirklich hatte. Der Hintersinn seiner Beziehung zu Maria war gewaltig und für Maria eine fürsorglich gekleidete Lebensbedrohung, die vor allem deshalb bedrohlich war, weil sie zu durchbrechen den ganzen Lebensraum und die Selbstachtung ihrer Eltern in Frage ghestellt hätte. So eben funktioniert ja auch Familie.

Natürlich wollten ihre Eltern für sie nur das Beste. Deshalb waren sie auch besonders streng, gottesfürchtig und hygienebewusst. Gesundheit stand an allerhöchster Stelle. Liebe konnte krank machen, das wussten sie, und darauf gaben sie acht. So konnte wohl auch keine Ahnung von der Krankheit ihrer Liebesbeziehung aufkommen. Das Menschenopfer, das jede bürgerliche Familie abverlangt, hatten die Eltern schon im Vorgriff veranstaltet: Es war ihre Selbstaufopferung. Sie taten es für ihre Kinder. Das sollte die Kinder zwar nicht bestimmen, aber es erlegte ihnen vermutlich doch eine ungeheuerliche Pflicht in der Nachfolge auf, die nur durch ein Leben als pflichbewusster Bürger einzulösen war.

Dennoch war es augenscheinlich eine ganz normale Familie, in der die Kinder das höchste "Geschenk" sind, das Eltern bekommen können und die sie deshalb auch hüteten wie das gute Porzellan in der Wohnzimmervitrine. Dass dabei die elterliche Liebe auch in absonderlichen Gestalten auftreten konnte, war ihnen wahrscheinlich nicht bewusst. Der pädagogische Eros oder die selbstlose Fürsorge hielt schließlich alles zusammen. Von einem Streit der Eltern kam mir nichts zu Ohren. Sie sorgten sich vielleicht fast übermenschlich um das "Gleichgewicht der Seelenkräfte" in ihrer Familie. Übermenschliches hatte diese Generation ja sowieso schon prächtig geleistet und es auch verstanden, einen pflichtbewussten Volkskörper zu schaffen – der Krieg war verloren und man hatte wieder von vorne angefangen. Liebe war immer auch Pflichterfüllung! Die Hintersinnigkeiten darin ließen sich vielleicht spüren, aber niemand konnte ihnen wirklich begegnen. Die Lebensaufgabe der Eltern war die "Erziehung" der Kinder. Als elterliche Pflicht verstanden war dies der Freibrief für jede Einmischung und Bedrängung der Kinder. Es gibt keinen eindeutigen Beweis für die damit einhergehenden Begehrlichkeiten; aber Marias Träume sprachen doch eindeutig von heftigen Erregungen durch ihren Vater und einer völlig uneindeutigen Empfindung von ihr ihm gegenüber. Wo alles mit übermenschlicher Anstrengung befördert wird, da dürfen solche Sinnlichkeiten, solche "ungereimten“ Gefühle nichts bedeuten. Wie praktisch!

Diese klammheimliche Sinnlichkeit oder, wie Maria sagte, die "Schwüle" in ihrer Familie, die sie schon immer empfunden habe, hatte sie auch dazu getrieben, dieser Familie entfliehen zu wollen. Aber hätte sie sich z.B. an eine öffentliche Stelle gewandt, so wäre das für sie zu einer totalen Lebens- und Liebesbedrohung geworden. Dazu ist kein Kind fähig, weil es dann selbst an seiner Lebenszerstörung beteiligt wäre. Dass die Familie auch insgesamt einen permanenten Angriff auf ihr Leben darstellte, hat sie schon früh – zumindest in ihren Träumen – gespürt. Aber andere Verhältnisse kannte sie ja nicht; und so waren ihre ganzen Lebensgefühle, die Selbstgefühle ihres Lebens, von einer massiven Lebensangst ausgefüllt und auch voller sexueller Bedrohlichkeit, die sie in ihrem Umfang nicht ganz verstehen konnte. Spekulativ würde ich sagen: Die Familie war eine Art Gefängnis, voll mit hintergründigen Begierden und allerhöchster Moral, ein Stall, in dem die Menschen mit ungeheuer hohen Lebensansprüchen fast tierisch vegetierten (2).

Jede Familie hat einen Sinn und dieser ist meist auch der Grund für das Leben oder die Leblosigkeit, die sie als Ganzes erzeugt (3). Geht man davon aus, dass sie aus einer Liebesbeziehung hervorgegangen ist, so ist die Liebesgeschichte darin gebunden – oft in der fatalen Stringenz, dass die Familienmitglieder darin zu Surrogaten der Liebe werden. Soll eine Familie, die nicht leben kann, dennoch fortbestehen, so geht das gar nicht anders. Da ist die Frau ebenso beteiligt, wie der Mann, auch wenn er dabei vordergründigere Begehren entwickelt, die sie im Hintergrund mit erzeugt – und sei es auch durch ihre "Disziplin“. Mit der Pflichtschuldigkeit ihrer Lebensaufgabe haben ja beide ihr Leben aufgegeben. Und im Streit um die Erfüllung dieser Aufgabe nehmen sich die Eltern die Liebe, die sie einmal füreinander hatten und machen ihre Pflichterfüllung zum Liebesdienst. Der Missbrauch der Kinder ist ihnen daher auch gemein, wenn er auch nicht bei jedem und immer in einem sexuellen Sinn erfolgen muss.

In Maria’s Familie gab es einen wirklich verrückten Lebenszusammenhang. Der Familiensinn schien so etwas wie ein Komplott jeweils für sich ängstlicher Menschen zu sein, die sich in einer Weise aneinander festhielten, in welcher jeder durch den andern zu einem Funktionträger wurde, um das Ganze mit einer etwas seltsamen Art von Liebesgemeinschaft zu füllen: Jeder bezeugte sein Leben, indem er es durch die Unfähigkeit des anderen begründete, die er auszugleichen hatte. Es konnte nicht sein, dass sich darin irgendwer in seinem Dasein, Können und Lieben anerkannt fühlte. Aber auch Verachtung kam nicht auf; sie wurde vielleicht stilll betrieben. Schließlich hatte man ja etwas von einander. Die Mutter bezeichnete den Vater als tot, krank und verrückt, hatte aber durch seine Härte und durch seine leblose Stabilität einen Mann, neben dem sie gerade stehen und "ihre Kinder" zu einem "sauberen Leben" erziehen, aufziehen konnte. Ihr offensichtliches Bedürfnis, Gesundheit im Sinne von Reinheit gegen alles, was sich da rührt, auch mit einiger Gewalt durchzusetzen, war sicherlich auch eine Art von Abwehr gegen das Leben und die Begehrlichkeiten ihres Mannes, die sich zwischen dem Ehepaar wohl nicht mehr gestalten ließ. Aber es war vor allem der Sinn ihrer Macht über das Leben "ihrer Liebsten", den sie als ein ästhetisches Körperprinzip aufgebaut hatte. Ästhetik ist immer ein Mittel der Durchsetzung abgeschotteter Lebensgewohnheit und eine Grenzziehung für das mächtigere Selbstgefühl. Mann und Kinder waren wahrscheinlich gleichermaßen Objekte hierfür. Um diesem Prinzip zu folgen, durften sie für sich keinen Sinn haben.

Daraus folgerte ich, dass der Mann in seiner Frau seine eigene Lebensangst gewärtig haben muss. Er war wohl in diese Familie eingebunden wie ein notwendiger Mann, ein Mann, der dem ästhetisierten Fürsorgeprinzip zu genügen hat und dem nichts entgegenstellen kann, weil er die Familie auch nur für sich zum Leben braucht und nutzt. Ich denke, dass er sich nicht als Mitgestalter des Familienlebens ansehen kann, wenn er sich in dieser Weise einordnet. Als eifriger Pflichterfüller wird er zugleich in den Augen seiner Frau zum Versager, wird das, zu was er von ihr auch gesetzt ist. Ihr Verhältnis zu sich wird den Familiensinn wesentlich getragen haben, ihre Art der Fürsorglichkeit war wohl allgemein bestimmend. So führte er mit seinen Kindern und mit ihr ein Leben, dem er aus sich heraus nichts geben konnte, in dem also auch kein Sinn von ihm war, und wofür er vielleicht sogar die Ehe geschlossen hatte, weil sie so Sinn für ihn bot. Während der Mann seine Autorität und seine Härte als Lebensgröße der Disziplin aufbaute, wurde er den Kindern gegenüber "unschädlich" gemacht, indem die Mutter über ihn spottete. Und indem die Kinder – wie Maria erinnerte – sich hierin mit ihrer Mutter verbündeten, verbündeten sie sich zugleich gegen sich als Unterworfene ihrer Prinzipien. Mütterliche Ästhetik, verbunden mit erzieherischer Selbstgerechtigkeit lässt nichts mehr aufkommen, was sich frei bewegen kann. Solche Bedrängung macht jeden für den Familienzusammenhang so nötig wie sinnlos: Nötig, weil Grundlage jedes Pflichtverhältnisses, sinnlos, weil pädagpgische Ästhetik keinen Sinn sein lassen kann. Auch den Kindern war ihr Leben schon vorweggenommen, ohne dass sie merken konnten. So habe ich mir den Familienzusammenhang spekulativ erschlossen. Zugegeben: Für sich kann das weit gegriffen sein; aber im Ganzen der Geschichten, die ich erfahren habe und die ich für wahr erzählt halte, kann es eigentlich nur so gewesen sein. Wichtig ist dabei, dass der Vater die klassische Rolle des Scheinpartriarchen bekommt, dem das Geschlecht längst entnommen ist und dessen Gezappele zum Familienärgernis aufgebaut wird. Jedenfalls vermute ich eine im Grunde vollständig heimliche Parteinahme von Maria für ihren Vater und vielleicht auch eine ebenso heimliche Zuneigung zu ihm, die im Familienenzusammenhang ebenso total von der Mutter gebeugt ist. So etwa kann man ihre Vergewaltigungsträume ja auch verstehen: Sie erlebt darin die Gewalt, die dem Geschlecht überhaupt angetan wird, als Gewalt (auch) gegen sich. Doch das ist natürlich alles Spekulation, wie das Meiste über solche Zusammenhänge Spekulation ist, auch wenn es offen ausgesprochen oder therapeutisch exploriert wird. Das liegt daran, dass die Betroffenen selbst meist keine eigene Auffassungen zu solchen totalen Theorien haben können; sie stecken ja mitten drin. Eine Beweisführung wäre demnach auch absurd.

Jedenfalls erklärt sich mir hieraus die doppelte Beziehung zur Bedrohlichkeit von geschlechtlicher Liebe: erstens darf sie nicht sein und zweitens wird sie permanent in der Verneinung hervorgerufen, geweckt im Käfig ihrer Bedrängnis, begehrlich ohne Frieden zu finden, Begierde, die nicht gestillt werden kann, weil sie immer schon still sein muss. Es ist das geistige Geflecht der Inzucht, das vielleicht die Verrücktheit der Beziehungen von Väter und Töchter erzeugt. Sie wiederum erzeugt die permanente Angst um ein Leben, das gar nicht leben kann, das geradezu daraus besteht, nirgendwo existent zu sein. Maria wurde für das geliebt, was ihre Eltern für sich nicht sein konnten und was sie als hochgradiges Wunschkind mit Leben füllte, das zugleich vollständig kontrolliert sein musste, um den in ihr angelegten Bruch der Familie nicht wirklich werden zu lassen. In ihr gipfelte das Liebesproblem ihrer Eltern und sie hatte in sich, was außer ihr keinen Sinn machte. Verkürzt könnte man auch sagen, dass sie der tragende Mensch der Familie geworden war – vielleicht auch erst, nachdem sich ihre Schwester umgebracht hatte. Das gemeinsame Lebensglück der Familie bestand darin, dass man im Ganzen etwas leben konnte, was es für jeden einzelnen nicht gab. Jeder für sich litt an etwas, was durch die Anwesenheit des andern aufgehoben schien, was aber als Sinn der Bindung die Gefühle füreinander vollständig beherrscht hatte: Jeder war der Helfer des andern und zugleich durch den bedroht, dem er helfen musste. Die Gemeinschaft bestand daher in einem unendlichen Schuldgefühl, das durch die permanente Bedrohung, dass ein solcher Zusammenhang jederzeit versagen kann, in Gang gehalten wurde. Mit dem Selbstmord der Schwester ist das Ganze dann zum Durchdrehen gekommen.

Maria hätte die Familie liebend gerne verlassen; sie hätte gerne an einem wirklichen Streit, einer wirklichen Sorge oder an einem wirklichen Kampf teilgenommen, um dem vernichtenden Familienwohlwollen zu entfliehen. Ein Traum von Maria verriet mir diese Situation.

Sie träumte, dass sie in einem Haus in einem Keller mit ihren Eltern lebte. Während sie wahrnahm, dass draußen um das Haus herum, in der Welt, gekämpft wird, erkannte sie, dass sie eigentlich an dem Kampf teilnehmen müsste, dass es ihr Kampf war, weil es darin um das ging, was ihr wichtig war. Sie aber musste ihren Eltern Essen geben, denn sie wären sonst verhungert; sie waren nämlich Gefangene des Kellers. Sie kochte und sorgte für ihre Eltern, weil ihre Eltern ohne sie gestorben wären, und sie verzichtete auf den Kampf, der nötig ist, um sein Leben zu verteidigen. Die Schuld am Sterben ihrer Eltern wäre sofort wirklich aufgetreten, wenn sie etwas Eigenes gewesen wäre. Sie hatte aber keine Schuld an dem, was sie getan hatte, sondern Schuld dem gegenüber, was sie tun würde, wenn sie dem Zwang der Familie nicht gehorcht. Dass die Kinder das Leben ihrer Eltern zu tragen hatten, war also in dem Traum wahr in der Form, wie es auch wirklich ist: Die Kinder müssen für ihre Eltern da sein, bevor sie überhaupt für sich sein können, weil ansonsten der Tod der Ehe und des Lebens der Eltern und der Familie als Ganzes droht.

Was also diese Familie ausmachte, war, dass jede Regung, jedes Gefühl bestimmt, und zwar negativ bestimmt war. Das heißt, dass alles, was von den Kindern kommen konnte, für andere da war, bevor es für sie da sein konnte. Wundert es da, dass sie ihre eigenen Regungen selbst nur negativ erleben konnten? Und die Fatalität dieser Familienbeziehung stellt auch die weitere Entwicklung der Kinder dar: Die älteste Schwester übernahm den Zwang der Familie gegen sich; sie wurde zwangskrank und nach langjähriger Therapie selbst Psychoanalytikerin. Die mittlere Schwester fand keine Beziehung zur eigenen Generation und verliebte sich in einen Mann, der so alt war wie ihr Vater und sie neben Frau und Kindern als Geliebte hatte. Daran war sie zerbrochen und brachte sich nach einer längeren Depression um. Maria selbst blieb in dem doppelten Verhältnis zu ihren Eltern, in der untergründlichen Sinnlichkeit zu ihrem Vater und in den Schuldgefühlen um das Leben ihrer Eltern gefangen und wurde in genau diesem Sinn wahnsinnig. In ihr lebt diese Beziehung fort, weil sie keinen Sinn hierfür bilden und keine andere Beziehung finden konnte.

Und so ist es auch heute noch. Als 27 Jahre alte Frau ist sie immer noch vollkommen auf ihre Eltern bezogen. Zwar begründet sich das jetzt auch durch ihre "Krankheit". Aber Gründe gab es ja auch schon immer. Ihre Mutter hat nicht Angst um oder vor ihrer "Krankheit", sie sorgt sich auch nicht um ein Problem, sondern sie hat Angst davor, dass Maria vom Leben wie von einem Krankheitserreger überrascht werden könnte, dass sie sich verlieben könnte, dass sie ihre Wohnung selbständig einrichten könnte, dass sie eine "Dummheit" machen könnte usw. Sie verlangte selbst von mir, dass ich aufpassen sollte, dass Maria nicht mit Männern zusammenkam. Ihr Vater lässt sich nicht sehen, wenn sich im Wahnsinn ihre Sinne regen, und meidet sie wie ein Ungeheuer, das eine versteckte Wahrheit über ihn verraten könnte; nicht destotrotz verhandelt er aber massiv mit den Ärzten, wie das Ungeheuer zu bändigen sei. Eine so fürsorgliche Ignoranz wie bei diesen Eltern ist mir noch nirgendwo begegnet; und sie ist mir nur begegnet, weil ich in den Gesamtplan der Familie als Heilungsschaffender, als Heilsbringer von jeder Seite einbezogen werden sollte.

Was die Familie von Maria bestimmt hatte, war eine Ehe der Eltern, welche sich nur in der wechselseitigen Herabsetzung der Ehegatten erhalten konnte. Demnach galt in der Ehe kein einzelner als wirklich existenter Mensch und in wirklich existierender Beziehung, sondern nur als Teil eines ganzen Verhältnisses, zu dessen Wohl er dann beitragen kann, wenn er seine Lebensbedürfnisse als partikulare Wünsche an das Glück der Familie empfindet und sich in dieser Beschränktheit hintan stellt. Da aber ein solches Ganzes nur von Menschen gemacht wird, die es nötig haben, werden auch die Beschränktheiten hierin zur wirklichen Selbstbeschränkung. Das Wesentliche hieran ist, dass sich diese Selbstbeschränkungen nicht nur auf die Familie beziehen, sondern hauptsächlich auf den Rest der Welt, der als Bedrohung der familiären Eigenheit aufgefasst wird und dies ja auch tatsächlich ist. Erst dieses Verhältnis lässt die seelische Unterworfenheit, welche die Familie erzeugt, zu einer Lebensbestimmung werden. Erst in diesem Verhältnis wird die in der Familie noch als Lebensbedingung gesetzte Reduktion der Familienmitglieder zu einer subjektiven Grundlage des Erkenntnisvermögens, der Wahrnehmung, des Welterlebens und der Verarbeitung von eigenen Lebensverhältnissen.

Die Selbstentwertung

Innerhalb der Familie waren die Verhältnisse der Familienmitglieder wirklich existent. So wie diese unter den Bedingungen zueinander waren, so existierten sie auch. Jenseits der Familie ist dass alles vergangen. Die vergangenen Bedingungen begründen kein Verhalten, kein Verhältnis usw. wirklich, sondern bestehen als leibhaftiges Erkenntnisvermögen eines in der Familie gewordenen Menschen, der noch nichts von sich kennt, weil er der Familie erzeugt und in seinem Verhältnis zu den anderen durch die enge Welt des Familiensinns bedingt war. Jetzt erst wird sein geistiges Vermögen materiell.

Jede Beziehung zwischen Menschen ist nicht nur existentiell durch Raum und Zeit, durch die Momente der Anwesenheit und Abwesenheit bedingt, sondern als liebende Beziehung, wie immer die Liebe darin auch sei, eine Beziehung der Erkenntnis des Menschen vom Menschen. Das Erkenntnisinteresse, das aus einer solchen Familie hervorgeht, ist zwiespältig. Um diesen Zwiespalt soll es jetzt gehen. Hierzu will ich zuerst nochmal die Liebesbeziehung der Familie zusammenfassen, um danach das Erkenntnisinteresse als das letztlich lebensbildende Interesse und das wichtigste Resultat der Menschwerdung in diesem Rahmen zu beschreiben. Nur hieraus erst wird sich die Erkenntnisnot begreifen lassen, die der Wahnsinn leben muss.

So wirklich die Familie von Maria existierte, so unwirklich war sie für die Menschen darin. Jeder wirkte darin, aber niemand war in irgendeinem bestimmten Sinn wirklich. In der Marias Familie wirkten die Menschen für das Familienganze und ihrer kulturelle Bestimmung (als Keimzelle des Volkskörpers). Alles hat hierdurch einen nur unbestimmten Sinn. Weder hatte die Selbstbeschränkung innerhalb der Familie einen bestimmten Sinn, etwa durch den Lebenserhalt eines Ganzen, das Sinn hat oder stiftet, noch für den Einzelnen in der Welt, da deren Gefahren ja nicht für ihn, sondern nur für die Familie wirklich bestanden. Es konnte sich also niemand innerhalb der "offiziellen Familie" als ganz einzelner Mensch verstehen oder verwirklichen. Und er konnte auch nicht die Familie verlassen, weil er ihr zu dienen hatte. Die hierin gebrochenen Menschen beugten sich daher dem Diktat der familialen Öffentlichkeit, die weder für das Leben in der Welt ein Rückhalt noch Welt für sich war.

Dies aber kann nur Beziehungen enthalten, die nicht wirklich existieren, aber sehr viele Wirkungen haben. Die erste ist die, dass dort, wo sich Menschen quasi nur öffentlich verständigen, sie sich subjektiv belauern und sich auf einer Ebene beantworten, die niemandem zu Gesicht steht. Die Eheleute wussten offenbar ziemlich viel voneinander, was sie zum Zwecke eines harmonischen Lebens mit den Kindern nicht zeigen wollten. Zugleich aber sind sie für die Kinder ganze Menschen und beziehen sich in Wahrheit auch mit allen ihren Eigenheiten auf diese – wenn auch durch ihre öffentlichen Zwecke getarnt. Was aber den Kindern sogar – wie bereits dargestellt – auch unter der Gürtellinie von der Eigenheit ihrer Eltern bewusst geworden war, war zugleich das heimliche Negativ zum öffentlichen Familienzweck.

Diese Trennung von Privatpersonen und Familienzweck mag zwar in jeder Familie vorkommen, ist aber nicht notwendig ein wirklicher Gegensatz in den Beziehungen, sondern meist eher der Widerspruch im Lebensprozess der Eltern selbst. Hier aber wurden die Kinder, die an und für sich nicht Subjekte eines Familienzusammenhangs sind, zu den heimlichen Trägern der Ehe zweier je einzelner Privatpersonen, die sich ohne weitere Folgen wechselseitig für verrückt hielten. Die Kinder wussten also von einem Sinnesleben, das jenseits des "öffentlichen Lebens" der Familien grenzenlos von statten ging und unendliche Folgerungen möglich machte; und sie selbst waren die einzigen Lebensträger hiervon. Ein Kind in diesem Rahmen musste jede Möglichkeit in der inneren Willkür seiner Eltern fürchten. Zugleich aber war es Träger und Subjekt dessen, was so heimlich geschah. Es stand objektiv gegen sich. Das muss für die Kinder verheerend gewesen sein, denn sie blieben sich selbst ihr Leben schuldig – und zwar genau dann, wenn es sich zu regen begann.

Die Schuldgefühle als Lebensbedingung der Kinder in der Familie haben somit im Leben von Maria nicht nur abhängiges Liebesvermögen erzeugt, sondern zugleich eine beklommene Mittäterschaft am Leben ihrer Eltern, deren Macht und Willkür sie daher auch nicht nur passiv, sondern aktiv fürchten musste. Sie war ja nicht nur mitleidend, sondern mithandelnd. Mit den Äußerungen ihrer Mutter musste sie ihrem Vater gegenübertreten und mit der Liebe ihres Vaters musste sie ihrer Mutter ins Auge sehen. Und zugleich war sie Lebensgenosse von beiden sich über und durch ihre Kinder bekämpfenden Eheleuten. Sie verspürte in sich selbst den Zwiespalt der Ehe ihrer Eltern und konnte nichts anderes tun, als sich zugleich mit beiden zu verbinden; denn letztlich musste sie ein Familienleben tragen, das ohne sie zerbrochen wäre und worin sie genauso eingeschlossen war wie ihre Eltern. Nur dadurch hatte die Ehe ihrer Eltern auch ihr ganzes Sinnenleben bestimmen können.

Als Partner ihres Vaters fürchtete sie ihre eigenen Sinnesregungen, denn diese waren ihm gegenüber zu schützen, obwohl sie keine wirkliche Beziehung gegen die Familienbeziehung bilden konnte. Jede eigene Regung wurde somit ungegenständlich, unwirklich und dennoch durch die Macht des Vaters bedroht, obwohl sie noch gar keinen wirklichen Sinn hatte. Ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Geschlecht war somit ein Zwiespalt über nicht vorhandene Beziehungen, welcher jeder sich bildenden Beziehung bereits so entgegentrat, wie es im Verhältnis zum Vater gegründet war. Und ein Grund jenseits eines wirklich gegründeten Verhältnisses muss dieses zerstören, bevor es beginnen kann.

Als Freund ihrer Mutter war sie Kind ihrer Sorge um das Gemeinwohl der Familie, von welchem sie ausgeschlossen war, sobald es sich zu verwirklichen drohte. Das Glück einer Beziehung zur Mutter bestand im Unglück ihres Verhältnisses zu ihrem Vater und das Glück der Beziehung der Mutter auf den Vater bestand im Unglück ihrer Beziehung auf die Mutter.

Die Kindheit entwickelt in einem Menschen die Grundlagen seines Erkenntnisinteresses und macht somit den grundlegenden Sinn eines Lebens aus, der sich auch in der Welt verhält. Auch wenn er sich dort weiterentwickelt, geht er nur schwerlich und nur mit großem Umstand hinter diese Grundlagen zurück. Zunächst erkennt ein Mensch in dem Sinn, den er im Lebensraum seiner Familie gefunden hat. Als erkennender Mensch interessieren ihn die Menschen und ihre Kultur so, wie er darin sich weiterbilden und entwickeln kann, wie er Zuneigung, Liebe, Sinn und Leben darin findet. Zugleich drückt sich in dem, was er sucht, auch seine in seinem Erkenntnisinteresse schon angelegte Angst aus: Die Bedrohung seiner selbst, die durch das entstehen kann, was er hier an Sinn findet. Die Bedrohung ist ja sc hon bekannt: So hintersinnig die Beziehungen in der Familie waren, so sehr muss auch der Hintersinn in der Welt gefürchtet werden: Alles, was hinter dem Erfahrbaren liegt.

Die Gegenstände der Erkenntnis sind für den Menschen daher nur so frei zu erkennen, wie er seine Erfahrung auch frei lassen kann. Die Angst, die er somit als Lebensangst aus seiner Familie mitbekommen hat, ist ein wesentlicher Anteil seines Erkenntnisinteresses. So offen oder verstockt ihm die Gegenstände der Erfahrung sind, so wird er sie auch wahrnehmen und sich daran weiterentwickeln. Die Wahrnehmung enthält somit subjektiv bereits ein bestimmtes Interesse, das sie auch in ihrem objektiven Sinn für die Erkenntnis dessen öffnet oder beschränkt, was sie wahr hat. Die Gegenstände der Wahrnehmung werden also auch schon in einem bestimmten Sinn gesucht, und was darin wahr gehabt wird, enthält immer die Möglichkeit, zugleich auch anderes zu sein, als das, was interessiert. Der Zwiespalt des Erkenntnisinteresses wirkt sich also in der Befassung mit Menschen und Sachen so aus, das sie als Gegenstände der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung gewollt werden, aber als wirklich existente Gegenstände der Welt in ihrer eigenen Bestimmtheit auch gefürchtet werden müssen. Die Wahrnehmung ist so frei für die Erkenntnis der Eigenheiten in der Welt, wie sie selbst auch eigen gewesen war in der Selbstbildung, wie sie die Familie ermöglicht hatte. In dem Maße, wie dort Lebensangst entstanden war, "klebt“ die Wahrnehmung auch an der Erscheinung der weltlichen Wahrnehmungsgegenstände und fürchtet deren eigene Sinnlichkeit.

Ich nahm das auch an Maria wahr. Sie freute sich über jedes Ereignis, jede Sache, jede Beziehung, die ihr entgegenstrahlte und erlebte das alles in einem sehr vordergründigen Sinn. Sobald daraus etwas entstand, was Eigenheit verriet oder ahnen ließ, die sich auf sie bezog, wurde sie starr. Sie stierte voller Angst auf alles, was da kommen kann und fürchtete, wieder als Mittel fremder Zwecke ihr Opfer zu werden. Sie wiederholte durch den Zwiespalt ihres eigenen Erkenntnisinteresses fast zwangsläufig, was sie schon gelebt hatte.

Sie war ja auch in ihrer Familie von den Beziehungen, die sie zu ihren Eltern hatte, unmittelbares Objekt ihrer Willkür. Sie war als ein eigenständiger Mensch mit eigenem Sinn und eigener Liebe wirklich von denen ausgeschlossen, um die sie sich sorgen musste. Und zugleich war sie der einzige "Ort" der Verständigung, das wirkliche Vermittlungsorgan ihrer Eltern. In ihr vollzog sich also ein Leben, das ihr Leben wirklich und vollständig ausschloss und versagte, ein fremdes Leben, das sie hören konnte, ohne es zu spüren. Sie musste einer Fremdheit gehorchen, die sich nirgendwo erkennen ließ. Und deshalb hatte diese Macht über ihre Organe. In Todesangst hört man schon das Klicken der Entsicherung. Sie hörte die Weiber klatschen, was ihr alles abzuverlangen ist, was in ihrer Welt Moral wäre, was sie zu sein hätte, wenn sie eben sein könnte.

Aber auch ausgeschlossenes Leben lebt. Obwohl es sich nicht in einem Menschen und durch einen Menschen verwirklicht, hat es seine Wirkung im Verhältnis zu allen Menschen als eben dieses Interesse, gerade dorthin zu geraten, wo es sich fürchten muss. Es fürchtet sich und liebt, es hasst und verliert sich in unbegrenzter Vielfalt, es leidet und arbeitet sich fort. Die Männer, die ihren Wahn auslösten, waren nach meinem Gefühl auch wirklich vordergründig gestandene bayerische Mannbilder, vor denen sich unsereiner sowie so schon fürchten muss, weil sie alles Niedermachen, was sich gegen sie wehrt. Für Maria bedeuteten sie das Glück derber Direktheit und Liebestracht, die sich verschwenderisch ausleben will. Eigentlich auch ein objektiver Grund, sich zu fürchten, doch den hatte Maria nicht.

In ihr bildeten sich dagegen Kräfte, Organe, die sie aufhören ließen, die ihr einflüsterten, dass sie aufpassen muss und die wurden so mächtig, weil sie ja auch durch die Erfahrungen bestärkt wurden. Sie waren aber vor allem mächtig, weil sie die "andere Seite“ ihrer Wahrheit formulierten. So widersprüchlich ihr Interesse war an dem, was sie liebte, so gegensätzlich mussten ihre Wahrnehmungen werden, weil ihr Interesse zugleich Lebensangst enthielt, ihre Erkenntnis Selbstentfremdung, die sich vollständig voneinander getrennt hatte, um zu bestehen. Die Fähigkeit, zu hören, was geboten ist, ist der letzte Zugang zu einem Leben, das sich in den wirklichen Stimmen unhörbar darbietet.

Wenn die Stimmen hervorbrechen, dann spricht die Welt in Maria so, wie sie diese Welt empfindet. Und wenn sie sich verfolgt weiß, dann verspürt sie das Interesse anderer Menschen an ihr so, wie sie es auffassen muss, wenn alles gegen sie steht, weil sie nicht dafür stehen kann, was sie lebt. Ein Körper, der sich tags verleugnet, wird erst in der Nacht wissen, wie ihm geschah. Und wenn er tags auch nichts an oder in den Menschen erkennen kann, was seine Selbstentfremdung bewirkt, so wird er nachts um so ferner von allem sein, worauf er sich in Wirklichkeit bezieht. Verfolgungsangst ist nichts anderes als die Einheit dieses Gegensatzes, welcher sich als seelische Vernichtung abspielt: Sinn wurde aufgehoben durch Bedrängung der eigenen Wahrheit und Wirklichkeit, durch Beherrschung ihrer Wahrnehmungsorgane. Maria's Wahrheit und ihre Wirklichkeit sind sich zum Feind geworden, weil sie in Wirklichkeit nicht wahr und in Wahrheit nicht wirklich sein konnte. Die Wahrheit ihrer Sinne gestaltete sich in ihrem Wahn, ihre Wirklichkeit in ihrem Verlangen nach anderen Menschen. Sie wurde unter Menschen euphorisch und selbstvergessen, indem sie ihre eigene Wahrheit diesem Menschsein unterwarf. Es gab sie nicht mehr, wenn sie da war; das Dasein war ihr Widespruch. Das machte sie paranoid.

Wenn in dem Geraune der Organe Stimmen wie eine objektive Gewalt entstehen, wenn in Form von Wähnungen eine "andere Gewissheit" hervortritt, so macht sich darin die Abspaltung eines inneren Menschenlebens bemerkbar, das nicht zur Welt finden kann, weil ein Überlebensproblem darin eingebunden ist, das nicht zum Leben gefunden hat. Das sogenannte psychotische Symptom ist nichts anderes als das Dasein eines in sich verharrenden Lebensproblems, das an die Überlebensräume gebunden bleibt, die ihm seine Henker nur deshalb anbieten, damit es keinen eigenen Lebensraum finden kann. Aber es findet auch keinen Raum für eigenes Leben, solange es in seiner Angst verharren muss, weil es seinen Henker nicht erkennt.

Die Selbstentfremdung geschieht an Ort und Stelle und wird erst im Nachhinein empfunden, weil der Ort und die Stelle übersinnliche Notwendigkeit zu haben scheint. Solange sie diese Notwendigkeit auch mit betrieb und bestätigte, trug Maria auch selbst daran. Sie machte sich wirklich auch schuldig an ihrem Dasein, weil sie es an Ort und Stelle so ließ, wie es war und wie sie am Geschehen ja auch beteiligt war. Hier fürchtete sie nichts, weil ihr klar war, dass es hier nur fürchterlich sein kann. Deshalb konnte sie nicht um sich selbst kämpfen. Das verriet ihr Traum vom Keller. Die letztendliche Bindung an ihre Eltern bestand in einer anderen Schuld, die sie von ihrer Schuld nicht unterscheiden konnte: In der Pflicht, das Leben ihrer Eltern zu retten. Natürlich kann sie das nicht, weil es eine doppelte Fremdbestimmung ist: Das objektiv Notwendige ihrer Familie ist ihr genauso fremd wie die Lebensverpflichtung der Kinder. Da kann sie sich nur opfern. Sie fühlt, dass ihre Eltern seelisch vollständig untergingen, wenn sie diese Wahrheit vertreten, wenn sie aufbegehren würde. Aber genau das konnte Maria nicht umsetzen, nicht mal erkennen; es gab zuviel Verstand hiergegen, zuviel Schutz und zuviel Fürsorge. Und überhaupt ist der Lebensraum Familie eine Welt persönlicher Allmächtigkeiten.

Die Familie verhält sich zum Rest der Welt neben ihrer Funktion als Privathaushalt vor allem über die sittlichen Werte, die Ethik und den Glauben an die Gesellschaft der Menschen im Himmel wie auf Erden, über die bürgerliche Kultur. Sie will die Kinder auf diese vorbereiten und betreibt dies über die Persönlichkeiten der Erziehung, als welche Eltern hierbei gesetzt sind. Die Selbstentfremdung entsteht an der Entwertung, die ein Mensch im Wertesystem einer Familie persönlich erfährt, also über die Person der Eltern als Person der Familie. Das ganze als Liebesverhältnis bestimmt daher auch das Erkenntnisvermögen. Sie macht die Selbsterkenntnis widersinnig, wenn durch die Lebensstruktur der Familie nicht der Widerspruch der Liebe erkannt werden kann. Dieser Widersinn hat daher keine rein geistige Substanz, wie es durch die Verwendung des Begriffs Erkenntnis im christlichen Denken nahe liegen würde; er hat materielle Substanz und wird daher körperlich ebenso gewiss, wie das Leben eben auch körperlich ist. Der Mensch fühlt sich selbst so, wie er sich und andere erkennt. Es kommt aus seinem Körper, was ihm geistig genommen ist. Nicht was ihm anerzogen wurde, hat Bestand, sondern was er nicht leben durfte. Darin äußert sich sein Leben jenseits der Familie. Wo es nicht gelingt, sich in dieser Eigenheit zu gründen, weil das Erkenntnisvermögen schon durch die Familie beherrscht ist, da fühlt er sich auch dem weltlichen Leben solange unterworfen, bis er diese Herrschaft durchbrechen kann. Das ist oft mit heftiger Angst verbunden, weil es ein Schritt über die eigene Identität hinaus ist. Aber ohne diesen Schritt bleibt er lebenslang an sein "Elternhaus“ gebunden und muss dem Widerspruch eines Erkenntnisinteresses folgen, das nicht zu einem eigenen Sinn finden kann, der sich weltlich bestätigt weiß. So können sich Generationen eines Elternhauses fortpflanzen und sich wundern, warum sie alle gleiche "Probleme“ haben.

Aber zwiespältiges Erkenntnisinteresse hat auch in der "gewöhnlichen Welt“ immer ein zwiespältiges Dasein zur Folge. So pflanzt sich die Selbstentwertung, die ein Mensch in der Familie erfährt, auch in seinem Leben fort – nicht weil es in der Welt selbst keine Zwiespältigkeit geben würde, sondern weil sich beides entspricht. Was die Erkenntnis der zwiespältigen Welt aber völlig verunmöglicht, ist das zwiespältige Erkenntnisinteresse, das ihr entspricht. So findet sich hier auch das zusammen, was das Bürgertum zusammenhält: Der Lebenszwiespalt einer warenproduzierenden Gesellschaft wird mit dem Zwiespalt des Erkenntnisvermögens dadurch in Einklang gebracht, dass beides als unüberwindbare Lebensnotwendigkeit hingenommen wird. Dass dies jeden einzelnen zum Zuhälter der Barbarei macht, den solche Widersprüche entwickelt, wird über Generationen hinweg vertrödelt, weil es nicht immer in der einzelnen Lebenszeit bemerkt wird. Wer die Geschichte anschaut, sieht in das Antlitz des menschlichen Barbaren, der sich immer mächtiger macht und sich seiner Gewalttätigkeit immer sicherer sein kann. Wer will ihn noch hinterfragen oder ihm gar entgegentreten, wenn er sein Lebensinteresse in ihm aufgehoben weiß?

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