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4. Was nötig ist, das fügt sich

Dass sich einzelne Organe gegeneinander verselbständigen und in dieser Trennung beharren, entsteht nicht durch irgendein bestimmtes Trauma oder eine Triebüberflutung (vgl. Freud). Die Trennung entsteht in einem Erkenntnisprozess, der in seinem Werden schon den Zwiespalt einer Liebe zu ertragen hatte, der als Lebensbedingung eines Menschen bestimmend ist. Und dieser besteht fort, wie jeder andere Sinn auch. So wie sich ein Geschmack, eine Fähigkeit, eine Zuneigung oder eine Gewohnheit in dem Sinn entwickelt, der in den Bedingungen seines Entstehens ausgeformt wird, so besteht dieser auch in einem Menschen als seine Neigung, Gewohnheit, Geschmack, Fähigkeit usw. fort, solange sich die Lebensbedingungen nicht wesentlich ändern. Es ist nicht die Erziehung, die das betreibt; es ist die sinnliche Grundlage einer jeden Kultur, ihre schlichte Subjektivität, die sich in ihren Werken auch objektiv ausdrückt und darin auch entwickelt und bestärkt, was für den Menschen als nötig gilt oder als Notwendigkeit gesetzt wird. Und auch in ihrem Fortbestehen wird sich ein großer Teil der so entstanden Sinne bewähren und "wie von selbst“ und ohne jeweilige theoretische oder institutionelle Überprüfungen und Kontrollen einen Großteil des Alltagslebens erfüllen und ausfüllen. Wo die Sinne aneinander gewohnt sind, weil sie sich kennen, sind sie auch frei für neue Erkenntnisse, um hieraus auch neue Fähigkeiten, Neigungen, Geschmäcker usw. zu bilden. Allerdings ist hier unterstellt, dass diese Sinne einfach und eindeutig sind, wenn sie den Kreislauf der Sinnlichkeit so selbstverständlich durchlaufen.

Wenn sie selbst zwiespältig sind, erreichen sie diese Freiheit für neue Entwicklung nicht. Sie haben den Widersinn auszutragen, dass sie sich beflügeln, wo sie sich hemmen, dass sie erzeugen, worin sie auch untergehen. Es ist zunächst einmal ihr Schicksal, in einer schlimmen Unendlichkeit Vergangenes zu vergegenwärtigen, das jede Gegenwart nimmt. Sie werden sich nur selbst so vertraut, wie sie sich auch entfremden. Dieser Kreislauf der Selbstentfremdung spielt sich daher in einem Menschen selbst ab, obwohl er außerhalb von ihm verursacht war und er auch außerhalb von sich bestätigt wird. Die Lebensereignisse, die unter solchem Zwiespalt entstehen können, verlaufen in ihm so, dass er auch durch die Ereignisse, die hieraus entstehen, bestätigt ist. Wie in einem geschlossenen System der Sinne muss er fortbestehen – im Käfig der eigenen Sinnlichkeit. Wir werden später den Aus- und Durchbruch aus diesem Gefängnis angehen; hier soll erst mal beschrieben werden, wie sich das fügt, was zugefügt wurde.

Der Wahnsinn ist durch äußere Einwirkung bestimmt, die er innerlich ausdrückt, wähnt und fortreibt. Für sich ist er absolut ohnmächtig. Ein Mensch im Wahn kennt keine Entfremdung, weil er sich nicht von anderem unterscheidet, weil er anderes in sich erlebt, weil er Fremdes als Eigenes wahrnimmt. Das macht ja gerade das Erkenntnisproblem aus, mit dem ein Mensch um seine Wahrheit kämpft. Der Wahnsinn selbst erkennt, was nötig ist und Not hat, aber dies eben nur in der Form vollständiger Bedrängnis. Auch wenn man über ihn sagen kann, dass er seine eigenen Lebensverhältnisse ausdrückt, so tut er das doch nicht unmittelbar wirklich. Sie stecken im Menschen wie ein Gottesurteil, ein Gericht, ein Bild, eine Stimme usw., verschmolzen in einem permanenten Zwiespalt des Erkenntnisvermögens, zwiespältige Sinnlichkeit zwischen Träumen und Wachen. Der Wahn erscheint als Tücke des Lebens. Er tritt eben meist nicht in den Verhältnissen auf, denen er entstammt, sondern erst jenseits hiervon, nämlich dann, wenn ein Mensch den Lebensraum verlassen hat, der den Wahnsinn keimen ließ. Hier hatte sich der Wahnwitz schon ausgelebt, der sich erst dort als Sinn eines Menschen wirklich macht, wo er sich mit seinen geschlossenen Lebensbedingungen nicht mehr deckt.

Das macht die Verlorenheit des Betroffenen aus. Sich hatte er nicht Leben können in den Lebensräumen, die ihn verrückt gemacht haben, und auf andere kann er sich nicht beziehen, weil er sich selbst in ihnen nicht erkennen kann. Gerade das, was in den geschilderten Lebensräumen und Strukturen als Lebensverhältnis formal vorausgeht, was die Beherrschung seiner Sinne bewirkt hatte, gilt jenseits dieser Verhältnisse als selbstverständliche Lebensgrundlage für jeden Menschen, der seiner Herkunft entwachsen ist und der dann für sich das Leben bilden muss, was ihm subjektiv eben möglich ist. Die "Familienbande" oder die Beziehungen in ähnlichen persönlichkeitsbestimmte Instituitionen (z.B. Heime), diese abgeschiedenen Beziehungsgeflechte ohne wirklichen Austausch von Eindrücken, Gefühlen und Empfindungen, haben sich in ihm als Grundlage seines Selbstgefühls so hinterlassen, dass er keine Gewissheit für seine Wahrnehmung hat, dass alles ungewiss bleibt, was er tut, dass er nichts für sich bilden kann, worin er sich erkennt, womit er sich aber identifiziert, weil er es nötig hat, weil er sein Leben als Lebenszusammenhang der Institution verteidigen muss.

Die eigentliche Macht, die seine Wahrnehmung bedrängt, kommt nicht aus den Menschen und den Widersinn ihrer Beziehung – die mag Lebensinhalt für sie gewesen sein, Arbeit, Irrsinnigkeit. Die Macht kommt aus der Lebensstruktur dieser Beziehungen, die auch den Grund ausmacht, warum sich die Menschen darin voreinander verstecken müssen: Mit den bescheidenen Möglichkeiten ihrer Person sollen sie in der abgeschiedenen Welt voll und ganz Mensch sein, sollen Leben gründen und bezeugen. Ihr Versagen ist so natürlich wie auch formbestimmt. Den isolierten Menschen kann es nicht geben. Und je individualisierter eine Gesellschaft ist, desto mächtiger ist der Druck, der auf den Individuen lastet. Ihm entweichen sie durch ihre Lebensburg, ihrem abgeschotteten Zuhause, einem Geflecht von Selbstbezogenheiten, die sie in einem Gemeinschaftssinn verstecken, in einem Familiensinn oder ähnlichem, der sich zur Erhaltung des Lebensraumes als Pflicht gegen jeden durchsetzen muss.

Den letzten beißen die Hunde. Es sind die Kinder. Weil diese Bande der versteckten Selbstbezogenheiten ihr Leben ausmachen und es auch weiterhin an solche Geflechte fesseln, vollzieht sich in ihnen, was für den Erhalt dieses Lebens nötig ist. Es ist ihre Lebensschuld und sie erfahren es auch als Schuldgefühl gegenüber der Generation der Älteren, den Trägern solcher Lebensstruktur. Ein Mensch wird darin wahnsinnig, wenn eine solche Beziehung dann auch noch in sich selbst widersinnig ist (Wahnsinn meint auch "Wahnwitz“), wenn sie einen Sinn hat, der nicht wirklich sein kann, der aber durch Gebrauch der Struktur (z.B. Erziehung durch Lebensangst, Fürsorge als Bindung) wirksam wird (dies ist immer eine Form des Kindesmissbrauchs). Sobald das Kind dieser Scheinwelt entwächst, sobald es ein selbständiger Mensch wird, in dem sich eigenes Leben, Empfindungen und Gefühle für andere regen, hebt sich dessen Selbstwahrnehmung fortwährend in der selben Weise auf, wie sie durch die "erste Welt", durch die Grunderfahrung menschlicher Beziehungen (Familie, Heim, Internat usw.) auch aufgehoben worden war. Jede Regung in seinen Gefühlen wird sogleich von einem Sinn beherrscht, den diese nicht durch sich haben, weil er nur in den Lebensstrukturen hauste. Wie eine übersinnliche Gewalt sticht diese fremde Kraft in die Wahrnehmung des Betroffenen und treibt die Sinne an der Stelle auseinander, wo sie gerade zusammenfinden müssten, genau dort, wo ihre Beziehung Identität haben müsste. Sie haben eine Kluft in sich, die ihr Leben an der Stelle aufteilt, an der es nicht zusammenfinden darf, soll der Lebensraum fortbestehen, gültig bleiben können, dem sie entsprungen sind und der vielleicht auch schon wieder lebensnotwendig wird. Auch wenn es diesen Raum nicht mehr gibt, haben solche Menschen eine zu mächtige Bedrohung in ihrer Geschichte erfahren, als dass sie jetzt ohne Weiteres für die Auffassung einer gänzlich anderen Gegenwart frei wären.

Eine freie Auffassung der Welt aber, eine offene Wahrnehmung dessen, was ein Mensch für sein Leben wahr hat, ist die Grundlage des Erkenntnisvermögens eines Menschen, seiner Fähigkeiten, wahr und falsch zu unterscheiden, sich zu äußern, seine Bedürfnisse zu erkennen und besteht auch in der Beziehung auf andere Menschen als Grund für sein Verlangen, seine Sehnsucht und sein Begehren. In seinem leibhaftigen Organismus wirkt seine körperliche Geschichte ebenso fort, wie seine geistige, und dies macht seine Wahrnehmung, sein Erkenntnisvermögen für alle weitere Geschichte aus. Sie ist von der öffentlichen Welt weit entfernt und hierfür auch nicht gerüstet.

Die vergangenen Lebenstrukturen haben Lebensangst und Zweifel hinterlassen. Und deshalb können sie erst überwunden werden, wenn neue Verhältnisse wirkliches Leben entstehen lassen – und darin liegt das Problem für die weitere Geschichte. Eltern haften nicht mehr für ihre Kinder. Pflicht und Schuld haben ihren Raum verloren. Was in der Familie als Lebensmittel existieren musste, findet gerade deshalb nicht von selbst einen eigenen Lebensgrund, weil die Lebensgeschichte eines abgrundtiefen Schuldverhältnisses in dieser Familie als mächtige Vergangenheit in die Gegenwart greift. Wo ein Mensch sich selbst nicht erreichen konnte, nie als Mensch bestätigt, nie eigen war, da fällt er in jeder Not in das zurück, was er immer schon sein und zugleich fliehen musste.

Solches Familienleben war eben nicht nur ein Verhältnis. Es war ein Lebensverhältnis, worin sich Menschen nicht erkennen konnten, weil sie sich als Lebensträger benutzen mussten. Hierdurch waren sie ihrem eigenen Lebenszusammenhang sinnlich unterworfen. Wer dem Schuldverhältnis der Familie ergeben war, erfährt nun dieses Verhältnis als Verhalten seiner Sinne gegen sich, solange er keine Bestätigung für das findet, was er ist. Das ist die Grundlage seiner Empfindung. Aber er findet sie nicht, solange er sich nur so äußern kann, wie er nicht ist, sondern wie er sein soll. Es ist ein Teufelskreis, weil er keinen Sinn für sich hat und keinen Sinn für sich findet, solange er alles nur durch sich fühlt und außer sich nicht empfinden kann.

Gekränktes Leben

Psychiater und Psychologen und oft auch die Betroffenen selbst nennen es Krankheit, was sich da selbständig gemacht hat. Ein solcher Begriff gibt jedem seine Existenz, indem er behauptet, dass ein Mensch an einem Gebrechen leidet und einziger Grund seiner Krankheit wie Gesundung ist und deshalb auch nur Hilfe von seiten der Gesunden und Gesundmacher als Angebot und Dienst der "öffentlichen Gesundheit“ nötig hat. Deshalb werden ihm von therapeutischer Seite auch überwiegend nur die Mittel gereicht, durch die er "beraten“, "beruhigt“ und "versorgt“ wird. Meist setzen diese Mittel den Zynismus um, den der Krankheitsbegriff schon enthält: Krankheit ist Siechtum und dem muss abgeholfen werden, indem man die Symptome, an denen man es festmachen kann, abschafft, Mittel bereitstellt, die sie verschwinden lassen, und dann der Mensch als wiederhergestellt gilt, wenn sie getilgt sind – egal was die Gründe davon waren und was aus ihm sonst dabei geworden ist. Das nämlich sind dann die "Nebenwirkungen“. Jedenfalls beherrschen die Mittel, also Lebensberatung, Technik, Chemie und Institution, sein Leben. Es wird geplant und eingelöst.

Aber ein Mensch im Wahnsinn hat eine tiefe Kränkung erfahren, die damit nicht aufgehoben werden kann. Im Gegenteil; sie besteht für ihn jetzt doppelt, denn jetzt erfährt er sie auch noch in der Rolle des "Patienten“. Es war ursprünglich nicht eine Kränkung des Gemüts, seines Stolzes oder seiner Seele; aber jetzt wird es dieses. Das deckt sich brutal mit seiner Vergangenheit. Er ist seiner eigenen Sinne unmittelbar enthoben: Sie sind seine, und doch nicht sein Eigen; in ihnen sitzt die Pflicht, die seine Schuld ausmacht; sie können sich nicht äußern, weil sie immer zugleich außer sich sind; sie müssen sein, wie sie sein sollen.

Ging es ursprünglich um eine Liebeskränkung, durch die das Erkenntnisvermögen eines Menschen bedrängt wurde, so ist es jetzt die Unterbrechung seiner Rezeption (Psychopharmaka bedrängen den Stoffwechsel der Rezeptoren an den Synapsen der Nervenzellen). Er erlebt alles nochmal durch die Institutionalisierung von "psychischer Krankheit“: Wenn Eltern ihr Kind einst nicht sein lassen konnten, wie es ist, so betreibt die Institution jetzt die Aufhebung des Menschen durch das, was er sein soll. Waren seine Regungen in der Familie im Brennpunkt des elterlichen Interesses, so werden sie nun durch die Mittel verbrannt, die sie niermachen. Die Egozentrik der Eltern war die Ohnmacht der Kinder – weil sie ihre Eltern lieben. Jetzt wird es die Macht der Institution, die durch Diagnose und Lebensplanung mitteilt, was ein Mensch für die Gesellschaft ist und was er darob werden muss. Der Mensch funktioniert ungebrochen mit seiner Kultur, wenn er den Definitionen der Gesundheitorganisation (und Gesundheitsbehörde) amtsärztlich entspricht. Wo er außer sich gerät, da muss er dahin gebracht werden, dass er bei sich bleibt. Ziel ist eine Reparatur am Menschen, damit seine Lebensbedingungen bleiben können, was sie waren.

Aber ein Sinn kann nur außer sich sein, wenn er keinen Sinn haben darf. Hatte sich die Existenzform der bürgerlichen Gesellschaft schon in der Vereinzelung menschlicher Lebenszusammenhänge durchgesetzt, so wird der Mensch nun final an diese Verhältnisse angeglichen: Sein Leben muss den Sinn haben, mit dem man darin bestehen kann. Entweder er gibt jeden Sinn auf, oder er lebt damit, was ihm an Sinn geboten wird. Es ist, als ob jetzt die Lebensfalle zuschnappt und der große Bruder an die Macht kommt.

Durch solche Form von "Therapie“ wird die Kränkung total. Die doppelte Bedeutung des Wortes Sinn, der körperliche wie geistige Wortsinn, der Sinn des Lebens, wie die lebenden Sinne, existieren darin wie von Sinnen. Der widersinnige Wortsinn existiert ja tatsächlich längst schon als Widerspruch der Selbstwahrnehmung eines Menschen, der persönliche Macht total erfahren hatte: in den Sinnen haust fortan ein Sinn, der seelisch begründet erscheint, ein übersinnlicher Sinn, der die eigene Nichtigkeit solange betreibt, solange sich Empfindungen und Gefühle nicht treffen. Die Gefühle enthalten solange die Macht vergangener Lebensbedingungen, solange diese sich auch weiterhin als notwendige Lebensstruktur bestätigen. Solange in den Gefühlen die Kraft der Nichtigkeit sinnlicher Gegenwart haust, kann eine Therapie, welche diese Gefühle nur bedrängt, kein Leben entstehen lassen. Die Vergangenheit beherrscht als Selbstgefühl die Gegenwart der Empfindungen auch in ihrer abgestumpften Form – je stumpfer, desto unbeholfener und unlösbar. Sie verlangt ein Leben, dessen Wirklichkeit notwendig immer unmöglicher wird für den, der solche Bedingung gelebt hatte und seine Sinnesschärfe genommen bekommt. Durch solche Psychotherapie versichert sich die Kultur ihrer Selbsterhaltung jenseits der Menschen. An der Behandlung des Wahnsinns zeigt sich ihr innerster Zweck. Nur wenn und wo sie ihn freilassen kann, beginnt sie ihre Menschwerdung.

Die Menschwerdung der Kultur beginnt mit der Kritik der bürgerlichen Kultur auf all den Ebenen, auf denen sie ihre Macht vollstreckt. Es sind die Lebensstrukturen, die sich nicht ökonomisch, sondern zwischenmenschlich aus ihr ergeben. Die Familie oder vergleichbare Formen struktureller Individualisierung von Kultur müssen auf das zurückgeführt werden, was sie für eine gegebene Kultur auch wirklich sind – was sie sich als Scheinwelt vormachen, um eine Existenz zu bewahren, die menschlich gar nicht funktionieren kann.

Die Familie hatte in unserem Fall ein Leben erzeugt, das seine Wirkung zum einen nur als Sinnesmacht ausführte in einem Übersinn, einer Familienseele, welche die wirklichen Verhältnisse überdeckte. Zum anderen enthielt die Hintersinnigkeit der isolierten und bedrängten Sinnlichkeiten ein Leben in verrückter Gestalt. Ohne die Erkenntnis dieses Lebens bliebe man man hiervon intelektuell entrückt – es macht keinen Sinn, etwas mit großem theoretischen Aufwand abzustoßen, das sich durch ein paar Worte erledigen ließe. Es ist wichtig, die Macht und Gewalt darin als Lebensform eines Unvermögens zu sehen, menschliche Sinnlichkeit gesellschaftlich leben. Eigene Beziehung auf andere Menschen wird dadurch fremd, dass sie sich in der Struktur nur erfüllt, in welcher sich Menschen als Lebensträger benutzen. Eine Vergewaltigung der Menschen findet auch schon statt, wenn ihnen eine Liebe abverlangt ist, die sie ihren Lebensverhältnissen unterwirft. Umgekehrt ist der Missbrauch von Kindern vor allem deshalb so folgenschwer, weil die Kinder zu ihrem Vergewaltiger auch eine Beziehung haben, deren Verleugnung sie von sich selbst wegtreiben würde und dessen Anerkenntnis sie zugleich niedermacht.

Auch der Missbrauch von Kindern besteht schon lange vor jeder sexuellen Manifestation in den familiären Verhältnissen, an denen alle beteiligt sind, auch wenn er keinen sexuellen Ausdruck bekommt. Die eigentliche Brutalität hierbei ist die Ausnutzung der ursprünglichsten Liebe eines Menschen für einen hinterhältigen Sinn, für einen Hintersinn, der das Leben bedrängt, und der nicht dort verarbeitet, aufgelöst, erfüllt oder verneint wird, wo er entsteht und vergehen kann. Um diese Gewalt zu erkennen, genügt nicht die Abweisung oder Wegsperrung des Gewalttäters. Es sind die Geschichten dieser Liebesbeziehungen, die eine Verstrickung von Regungen hinterlässt, die schuldig machen und unheimlich scheinen. Bedrohlich an ihnen ist vor allem die Bindung an das Seelenhafte, das Übersinnliche, das Übermächtige, das die Erkenntnis dieses Lebens verstellt und endlosen Selbstzweifel und Ohnmacht hinterlässt. Die Hintersinnigkeit von Macht in personenstrukturierten Verhältnisse muss unwirksam gemacht werden, um den Menschen entgegenzutreten, die darin ihre menschliche Selbstverlorenheit als Eltern gewalttätig gegen Kinder umsetzen und Gewalt dort fortpflanzen, wo keine Entgegnung möglich ist. Hierin steckt für die Kinder die Bedingung, eine Gewissheit des eigenen Lebens zu finden und lebend zu empfinden. Das aber ist nur durch Veränderung familiarer Verhältnisse möglich (gleichberechtigtes Arbeiten und Freizeitgestalten von Erwachsenen beiderlei Geschlecht, selbstorganisierte Kinderbetreuung mit eigenem Kinderrecht, erweiteres Selbstbestimmungsrecht der Kinder gegenüber Erwachsenen durch Anzeige von elterlicher Gewalt usw.).

Die seelische Gewalt könnte damit vielleicht vorzeitig schon hie und da blockiert werden. Aber eigentlich vermittelt sie sich ja sublimer aus der Kultivation menschlicher Sinnlichkeit, aus dem Kulturverhältnis abstrakt menschlicher Sinne. Von dieser Seite her zeigt sich, dass der seelische Zustand nicht einfach determinierte fremde Macht, vollständige Fremdbestimmung ist, wodurch er reine Objektivität, eine einfache Frage zwischen Macht und Gewalt wäre und sich sozusagen über einen Menschen stülpt wie eine fremde Haut, sondern es wirkliches Leben im Zustand eines Kampfes zwischen Hintersinn und Liebe, Fremdem und Eigentum gibt.

So kann man das "Krankheitssymptom", das Psychiater wie einen Schaden an der öffentlichen Gesundheit beheben wollen, jetzt als sinnvolle Überlebenskunst ansehen. In ihm erscheint zwar das wirkliche Leben negiert, unwirklich, entsinnlicht, aber gerade von da her ist das beherrschte Sinnesorgan zugleich wirklich sinnliches, verborgenes Leben in der einzig möglichen Gestalt, eine menschliche Erkenntnis, die noch ihren Sinn hat, auch wenn der bedrängt ist. Die Erkenntnis jenes Verhältnisses und jener Menschen, die in Wirklichkeit nicht zu erkennen sind, hebt die Bedrängnis auf, weil alleine die Trennung zwischen beidem die Trennung des eigenen Lebenszusammenhangs ausmacht und als Spaltung der Selbstwahrnehmung fortwirkt. Es ist die Erkenntnis einer geschlossenen Lebenswelt, einer Familie, die gegensinnige Lebensinhalte formiert hatte, um als Gesamtheit, als ein unmöglicher Liebeszusammenhang zu existieren, der vielleicht erst im Leben der Kinder als großes Unglück wahr wird. Um sich selbst zu begreifen müssen sie das verkapselte Leben ihrer Familie, die Versteinerungen und Bedürftigkeiten erkennen und somit auch die Menschen in einem gewissen Abstand anerkennen, die ihre Geschichte ausgefüllt haben. Denn das darin vergangene, vereinsamte, weil eingeschlossene Leben enthält die Erkenntnis der Gefangenschaft gegenwärtiger Sinne – wie auch das Leben des gegenwärtigen Menschseins überhaupt.

Der Wahnsinn hinterlässt tiefe Spuren. Die Kosten der Trennung von der Familie ist hoch. Die Freiheit von der Beziehung zu den Eltern und Geschwistern lässt eine tiefe Kluft zwischen sich und der Welt spürbar werden. Sie muss fortwährend übersprungen sein, um einen in dieser beschriebenen Weise gekränkten Menschen zusammenzuhalten. Aber in der Bewegung, in dem springpunktartigen hin und her der Selbsterfahrung steckt die Chance der Menschwerdung aus unmenschlicher Geschichte. Aber auch hierfür müssen die Bedingungen gegeben sein, muss es möglich sein, Menschen zu treffen und Verbindungen zu knüpfen, Liebe und Argwohn zu finden, abzustoßen und anzuziehen – kurz: Sich kennen zu lernen.

So konkret dies alles ist, so abstrakt ist der Sinn, der dies beständig stört. Nur in kleinen Schritten entstehen neue Gefühle, die sich langsam und allmählich auch als Gedächtnis von Empfindungen einrichten, die alte Gefühle überlagern, ihnen ihre Ausschließlichkeit nehmen und kleinste Inseln der Selbstvertrauens bilden – die auch schlagartig wieder überflutet werden können, wo sich ein Misstrauen auch nur im Geringsten bestätigt.

Die Entwicklung, die schon im einzelnen ansteht ist gewaltig. Was hier zunächst gezeigt werden soll, dass es hierfür keiner Mittel außer Existenzmittel bedarf. Die "psychische Krankheit“ ist eine Krankheit kultureller Existenz. Wo die herrschenden Existenzformen der Kultur verlassen werden können, wo keine altbekannten Gewalten dazwischen treten können, hört sie auch so nach und nach auf. Leben geht auch anders und braucht innerhalb der Kultur manchmal auch einfach nur ein paar Alternativen. Dafür braucht man zwar Geld, aber spart so die großen Kosten der Institution; dafür braucht es zwar Menschen, die frei sind, dafür spart man aber auch die Psychopharmaka, die abhängig machen.

Erst mal erfüllt eigenes Leben schon unerkannt einen Sinn, der sich von der Lebensbedingung der Familie löst. Das in die Welt treten des Wahnsinns ist mit unzähligen Ängsten verbunden und erzeugt auch schon durch seine Ungewissheit und Richtungslosigkeit Angst. Aber es enthält auch Angst durch die eigene Zwiespältigkeit und vor allem die Angst des Widersinns in der Liebe. Es ist Angst rundum, ununterscheidbare Angst, welche die ersten Schritte umgibt. Aber gerade in dieser Angst steckt das Eigene, das sich von Fremdem noch nicht unterscheiden kann, das bedrängt wird, ohne seine Bedrängnis im Einzelnen zu erkennen, Es ist ein großer und wichtiger Schritt, in der Angst einen eigenen Sinn zu erkennen, also nicht ängstlich zur Angst zu sein, sondern sie als eigene Wahrnehmung anzuerkennen, die Sinneslähmung oder das Grabenspringen zu einer eigenen Not werden zu lassen, die sich nicht einfach abwenden, notwenden lässt. Die Angst ist diese Not und wenn sie zu einem Sinneszustand geronnen war, so tritt sie in dieser lebenden Erkenntnis daraus heraus.

In den Zuständen von Angst lebt die Lebensfrage, Liebe und Verzweiflung in einem. Das kann man nicht reflektieren, es ist keine Reflektion von anderem. Es ist unmittelbares Leben. Wer in seiner Angst alleine gelassen ist, ist wirklich verlassen und verloren. An dieser Stelle entsteht das Leben, wie es auch verloren werden kann. Aber ein Bewusstsein zu dieser Angst erzeugt Aufmerksamkeit an Ort und Stelle und kann von diesem Lebenskampf wissen und ihn als solchen auch hoffnungsvoll sehen, die Gründe der Entfremdung suchen und Hintersinnigkeiten und Übersinnlichkeiten erkennen. So verhilft es zu einer Arbeit an der Gewissheit, an dem Herausstellen von Empfindungen, die in einer Gefühlswelt der Seele alleine verloren wären.

Es gilt daher jetzt, die einzelnen "Symptome“ mal auf ihren Sinn zu befragen, um die Gewissheiten herauszustellen, die in ihnen verborgen sind. Wir werden dabei beispielhaft den Orten seelischen Kulturgeschehens begegnen. Von da her kehre ich auf die Geschichte mit Maria zurück und später darüber berichten, wie es ihr ergangen ist.

 

Verfolgungsangst

Wenn eine Stimme im Ohr ertönt, so spricht sie jene Meinung aus, mit der die Seele eines Menschen ihn verfolgt und gefangen nimmt. Sie spricht diese Geschichte der Verfolgung und Gefangenschaft aus wie ein Gefängniswärter, der die Tagespolitik in die Zelle bringt und damit bestätigt, dass die Verfolgung gerechtfertigt war, weil sie durch die Gefangenschaft bestätigt ist und die Politik dies auch heute noch so würdigt, wie es vordem schon gewesen war. Die Vergangenheit ist gegenwärtig in den Bedeutungen, die nur in der Form gegenwärtiger Wahrnehmungen erscheinen. Sie unterscheiden sich darin nicht von den "normalen“, den gewöhnlichen Wahrnehmungen, wie wir sie täglich haben und wie sie auch objektiv in den Gestaltungen unserer Kultur sich ausdrücken.

Wer diese Wahrnehmungen kennt, wird sich darauf ebenso beziehen können, wie er sich auf "das private und öffentliche Leben" überhaupt beziehen kann. Wenn Maria ohne irgendeinen anderen Anlass während eines Spaziergangs Stimmen hörte, konnte ich für mich leicht nachvollziehen, was an den Stimmen stimmt, für mich wie für sie. Die Bestimmungen, welche in den Formen des Alltags Stimmungen verursachen, findet sich dann als "innere Stimme". Der Anlass der Stimmen, die Maria hörte, war für mich zumindest gefühlsmäßig verstehbar, auch wenn ich den Anlass nicht gehört, sondern eher gefühlt hätte. Die Klatschweiber, die da in ihr sprachen, passten auch wirklich zu der Umgebung, in der gerne geklatscht wird und in der wir uns dann befanden. Die Architektur der Bürgerhäuser, an denen wir vorbeigingen, wenn Maria Stimmen hörte, entsprachen der Stimmung, in die ich bei ihrem Anblick kommen kann. Es waren diese strengen biederen Vorstadthäuser, in denen sich feste Familienstrukturen, hinterhältige Nachbarschaft und rigide Hausordnung anmuten lassen.

Der Unterschied zu Maria bestand vordergründig lediglich darin, dass sie zu diesen Gefühlen nur über ihr Gehör Zugang hatte, wenn sie am "Flippen" war. Der Unterschied zwischen ihr und mir bestand nur im Ort der Wahrnehmung. In den Stimmen wirkte die bedrohte Wahrnehmung hindurch. Das bedrohliche war die Gegenwärtigkeit solcher Wahrnehmungen in einer Situation, wo sie nicht mehr alle Sinne beisammen hatte. In ihrem isolierten Selbstwahrnehmungen war das, was sie gewöhnlich leicht "wegsteckte" in einer wahnsinnigen Öffentlichkeit. Weil sie dieser nicht als ganzer Mensch begegnen konnte, weil also ihre Sinne gespalten waren, und sie waren gespalten, weil sie in ihrem Selbstgefühl bedroht war. Sie fühlte sich beobachtet, verfolgt, als zentrales Objekt einer Welt, die nur hinter ihr her war, sie überall wahrnahm und ihr sogar Gift in die Zigarette tat, weil sie sich von der Welt getrennt hatte. Sie hatte sich getrennt, weil sie eigene Wahrnehmungen hatte, weil sie Regungen hatte, die sie nicht durchhalten konnte. Und sie konnte sie nicht durchhalten, weil sie ihre Gefühle sofort verlor, wenn sie welche hatte, weil sie die schon als Kind abgeben musste, aufschreiben musste, damit sie der Vater kontrollieren und wohl auch beherrschen konnte. Sie war einfach noch zu schwach für sich selbst, um sich auszuhalten und zu äußern. So gesehen ist das trivial.

Aber diese Entäußerung der eigenen Gefühle, diese Abgabe in fremde Hand, diese offizielle Form der Wahrnehmung hat auch ihre allgemeine Wahrheit. Sie widerfährt jedem Menschen, der sich erklären muss, wo er beobachtet wird, der sich "zu erkennen geben muss", wo er eine Beziehung zu fremdem sich. Es zeigt sich die eine Identität zwischen Selbstentfremdung und Lebensverhältnissen, in denen sich die Menschen notwendig fremd sind. Die Fremdheit muss nicht immer Isoliertheit sein. Aber die Isolation macht die Brücke des Erkennens unbegehbar.

In jedem Angstzustand erfährt man die Bedrängnis einer eigenen Wahrheit, die nicht leben darf. Das ist aber etwas anderes, als wenn man wirklich isoliert ist. In der Isolation wird das Ungelebte nicht durch übermächtige Wahrnehmungen bedrängt, sondern zur äußeren Lebensmacht selbst. Bei Maria war es vor allem die Verfolgungsangst, die ihre Sinne schwinden ließen, und daran erkannte sie die überlebensgroße Macht fremder Gefühle. Sie hat diese fremden Gefühle noch nie erreichen können, obwohl sie darin aufgewachsen ist. Sie kennt die Klatschweiber und all diese Stimmen sehr gut – aber sie kann sie nicht erkennen. Sie weiß nicht, welcher Mensch dahinter steckt. Es ist die Sphäre und Atmosphäre einer Umwelt, die sie gewohnt war und in der sie leben gelernt hat – sprichwörtlich gelernt – in der sie aber nicht leben konnte.

Die Verbindung dieser Sphäre zu sich selbst ging auf Kosten ihrer eigenen Wahrheit, auf Identität ihrer Sinne. Sie hat sie aufgeteilt, um leben zu können und sie teilt sie auf, wenn sie nicht leben kann. Der Kreis trägt sich weiter fort, wenn er nicht unterbrochen wir, wenn kein Schutz für sie entsteht, durch den sie "sich fangen" kann.

Dem Gehalt nach kennt vielleicht jeder Mensch solche Verfolgungsgefühle in irgendeiner Form, wenn er sich in einem ihm völlig undurchschaubaren, aber permanent einwirkenden System befindet. Dessen Wirkungen haben oft übersinnliche Dimensionen und Fratzen. Sie haben den Charakter eines vollständig abstrakten Sinns, wie er etwa von Kafka in seinem Buch "Der Prozess" beschrieben worden ist. Der Wahn ist von seinem Inhalt her wirklich überall, wo es keinerlei sinnliche und gegenständliche Wirklichkeit gibt, wo aber zugleich Macht über das Leben von Menschen besteht, die sich auch gegen alle Sinne, alles Leben forttreibt. Im Verfolgungswahn wird dies lediglich mit dem eigenen Leben identifiziert, gerät unmittelbar unter die Haut, weil die eigenen Gefühle sich nur vollständig isoliert regen können. Die Bedrohung ist keine Bedrohung mehr, sondern Selbstaufhebung.

Hier wird isoliert vollzogen, was es jenseits des Wahnsinns auch gibt: Der Zweifel, wer da verrückt spielt, der Unverstand, welches Interesse sich hier durchsetzt, die Ahnung, um was es vielleicht dabei geht und das sichere Empfinden, dass ein System wirksam ist, welches Macht über Leben und Tod hat. Solche Selbstwahrnehmung ist einzig ein ungelöstes Rätsel für den, der darin befangen ist und die Feststellung einer "Unzurechnungsfähigkeit" wird vor allem der betreiben, der keine Wirklichkeit dieser Verfolgung für erkennbar halten will, weil er an der Gesundheit entfremdeter Lebensverhältnisse interessiert ist.

Ansonsten handelt es sich um bei diesem Selbstzweifel um einen Widerspruch des Lebens, wie ihn jeder kennt, der in zwischenmenschlichen Beziehungen um seine Gefühle kämpfen muss und daher auch eine nach innen gewendete Form von Entfremdung, von entäußerter Wirklichkeit begreifen kann. Die Grenze, an der man sich selbst bezweifelt, sich also selbst aufgibt, ist bei Maria allerdings eine Kluft, die sie unter Lebensgefahr überspringen muss, um beide Seiten erkennen zu können. Das macht ihre Verfolgungsangst zu einem Zustand, zu einer geschlossenen Wahrnehmungswelt, in die sie sich immer mehr hinein verlässt, damit sie der permanenten Gefahr einen Sinn geben kann, damit sie diese Gefahr nicht in sich, sondern wirklich außer sich hat.

Obwohl also die Inhalte sinniger und wahnsinniger Wahrnehmung identisch sind, werden die Gegenstände der Verfolgung verschieden sein: Zum einen ist er ein wirklicher Zweifel um das eigene Erkenntnisvermögen, um das, was einem gewiss ist oder nicht. Zum andern stellt die Verfolgung seelische Verfolgung dar, stellt Kräfte dar, die jenseits der Sinne wirken, weil sie seelisch, also übersinnlich herrschen. Aber beides ist Verfolgung innerhalb eines ungewissen, weil abstrakten Systems, Verfolgung durch Verhältnisse, in denen kein Mensch erscheint und die deshalb nur in der Angst existieren, unwirkliche Verfolgung wie auch Wirklichkeit des Verfolgtwerdens durch Unwirklichkeit. Allein der Ort ist verschieden, ob im Gefühl oder in der Existenz eines Menschen. Wo die Verfolgung seelisch erfahren wird, da ist der Seele ihr Gefühl für sich abhanden gekommen.

In einer abstrakten Welt bestehen also die Unterschiede allein im Ort der Wahrnehmung, wo ein abstraktes Verhältnis seine Wirkung hat: Der Wahn drückt die Seelenangst zu dem aus, was eine Wirklichkeit an systematisierter Sinnlichkeit hat. Im Verfolgungsgefühl erkennen sich Menschen gegen abstrakte Existenzzusammenhänge ausgeschlossen als äußeres Objekt fremder Macht. Aber in jedem Fall steckt ihr Leben auch wirklich da drin. Subjekte einer abstrakten Wirklichkeit sind sie allemal, wenn sie sich als Objekte einer fremden Macht erkennen.

Sie erkennen den Sinn aber als Sinn des Unwirklichen, der Sinn, der wirklich wirkt, ohne wirklich zu sein. Im Wahnsinn sind seine Gestaltungen überdeutlich ausgeprägt, besser, genauer und treffender wahrgenommen als sonst irgendwo. Der Wahnsinn ist die Verdichtung einer Wahrheit, die nicht wirklich erkenbar ist. Seine Dichtkunst macht konkret und praktisch, was zugleich nur Hintersinnig ist. Der Wahnsinnige betreibt ohnmächtig die Kunst, Hintersinn zu offenbaren, ohne ihrer Macht entgegentreten zu müssen. Das ist seine Leistung. Aber er kann diese nur als Selbstaufopferung leben. Das ist grausam und da muss er heraus!

Auf Schritt und Tritt

Wo man umzingelt ist, da blickt man nicht dahinter und muss sich eben mit Vorstellungen behelfen, was dahinter steht. Die Gründe, warum ein Mensch in ganz bestimmte Vorstellungen gerät, die er wähnt, sind so vielfältig wie sein Leben begründet ist. Im Einzelnen drücken sie jeweils eine ganz bestimmte Umzingelung seiner Seele aus. Nur für sie ist der Wahnsinn not wendend, also notwendig. Das haben wir daraus entnommen, dass sie der Ort des Wahnsinns ist. An diesem Ort will ich kurz verweilen und ihn wie einen wirklichen Ort beschreiben, weil hierdurch die Wirkung, welche die Seele haben kann, leicht zu zeigen ist.

Es ist, wie bei jedem unbestimmten Gewaltverhältnis. Wenn dir jemand so erscheint, als ob er dir eins über den Schädel hauen will, dann fürchtest du dich wahrscheinlich vor ihm. Du wirst ihm ausweichen oder sonst irgendetwas tun, damit die Bedrohung abgewendet werden kann. Wenn dir jemand nachrennt und dich verfolgt, dann überlegst du dir vielleicht, was da los sein könnte, stellst Irrwege auf oder bleibst stehen, um zu testen, ob eine Gefahr von ihm ausgeht oder du tust irgendetwas ganz anderes. Jedenfalls tust du alles, dass du keine Angst mehr vor ihm haben musst. Eigentlich ist das ja nur eine Furcht vor der Bedrohlichkeit, die er für dich hat, die Bedrohung, die du ihm unterstellst. Du bist nicht beengt, solange du besser rennen kannst, wie er. Und solange du ihn gut beobachten kannst, hält sich deine Bedrängnis auch in Grenzen. Wenn das Ganze aber nachts in völliger Dunkelheit passiert und du vielleicht gar nicht gut rennen kannst, dann hast du eben wirklich Angst. Die Welt ist in der Nacht allgemein undurchsichtiger, du bist schutzloser, deine Kräfte sind bedeutungsloser. Hinter dem Angreifer kann sich viel verbergen. Du wirst umsichtiger ohne wirklich zu sehen, hellhöriger und deine Aufmerksamkeit bekommt einen konzentrischen Sinn. Solche Wahrnehmung ist in der Verfolgungsangst überspitz. Sie gibt es nur durch etwas in sich geschlossenes Allgemeines, das für sich undurchsichtig ist.

In der Angst macht man einiges, was man sonst nicht macht. Vielleicht ist man beflissener, vielleicht härter, vielleicht heftiger, vielleicht weicher. In der Angst gilt es, abzuwägen, zu sondieren oder auch gleich abzuhauen. Wenn man dabei aber nichts tun kann, wenn die Bedrohung allgemein und allseitig und dunkel ist, und nur die ganz alllgemeine Gefahr zu spüren ist, dann kann man ihr nur entgehen, indem man sich ihr anpasst, ihr gehorcht. Man "hört das Gras wachsen", um herauszubekommen, wie man sich in der Situation richtig verhalten kann und um zu erfahren, was der Sinn der Verfolgung ist.

Das einzige Organ, das die Verfolgung für sich alleine empfinden kann, ist das Gehör. Es hat, wie bereits erwähnt, sehr viel mit Gehorchen und Hörigsein im Sinn. Es lauscht sozusagen auf die Wirklichkeit dessen, was angehörig, bezogen ist. Wer schon nächtelang wachgelegen hat, weil er in schier verrückter Aufmerksamkeit die Geräusche der Nacht verfolgen musste, wird wissen, dass er darin etwas vermutet und gesucht hatte, das ihm aus dem Tag heraus nicht erkennbar war. Die Unruhe im Gehör kommt nicht durch die Nacht – sie bekommt aber oft dann erst ihre Wirkung, sie wird erst wach, wenn die anderen schlafen. In dir wird manches gewärtig, wozu du tags keine Gegenwart gefunden hattest. Aber in der Nacht hat es auch eine andere Gegenwart und ist anders als das, was tags nicht vergegenwärtigt war. Du bist dadurch auch gegenüber dem Sinn dieser Unruhe unsicher und von daher unbestimmter, unausgerichtet und schutzlos. Du lauschst auf jedes Geräusch. Dich erschreckt jede Bewegung, und sei es nur der Wind. Je nachdem, was dir die Gegenwart genommen hatte, wirst du vielleicht ins Grübeln kommen oder ins Wähnen. Dann verspürst du irgendeine Bewegung, die aus dem Dunkel huscht und darin immer den Charakter von Heimlichkeit hat. Sofort wähnst du eine Verheimlichung und die wirkt auf dich wie eine unheimliche Wirklichkeit. Du suchst den Gehalt dessen, was hinter dem steht, was vor dir da eigentlich passiert ist. Unheimlich ist, dass vor dir ist, was dir widerfährt und hinter dir der Grund von alledem. Was du nicht gegenwärtig genug hattest, das bestimmt dich mit unheimlicher Gegenwart. Solche Unheimlichkeiten können sich in dich hineinbrennen. Sie können einen Menschen Tag und Nacht beschäftigen und ein beständiges Gefühl sein, das dich zu irgendeinem Anlass, bei dem es auf deine Wachheit ankommt, in einen Strudel, in einen endlosen Kreislauf bringt und dich in unendlichen Tiefen reißt, so dass alles über dir zusammenschlägt. Die Unendlichkeit der Kreise beherrscht dich, denn alles hat darin unendliche oder unendlich viele Gründe. So kann die Tiefe der Nacht zum Abgrund des Tages werden. Und wenn die Nacht die Wirklichkeitsschärfe der Sinne umhüllt, so beginnen sie zu Raunen. Dir "schwant" etwas, vielleicht träumst du es nur, vielleicht bist du noch wach, vielleicht beides. Wahn ist also "ganz normal".

Wirst du aber gerade dann geweckt, wo du tief damit befasst bist, dann erschrickst du besonders heftig. Es ist, als ob dir etwas Wichtiges durch diese schreckliche Vergegenwärtigung genommen wird. Du wirst nicht nur unterbrochen – so, als ob du an der unterbrochenen Stelle irgendwann mal wieder "weitermachen" könntest. Du wirst abgebrochen. Es wird dir nicht mehr möglich sein, den nächtlichen Wahn, der so wichtig für dich war, zu Ende zu bringen und hierdurch in deiner Selbstgewissheit erneuert dem neuen Tag zu begegnen.

So etwa muss auch der Wahnsinn als eigener Sinn entstehen, als ein Gefühl, das seinen Sinn nur wähnen kann: Er entsteht nicht durch vorzeitiges Wecken von außen, sondern durch permanente Unterbrechung des Wähnens durch heftige Empfindungen, die gerade dann hochkommen, wenn die wähnenden Gefühle eine bestimmte Stelle erreichen, die nicht sein kann und nicht sein darf. Die eigenen Empfindungen machen sie wach. Durch das Wähnen von Gründen würdest du weiterkommen. Du würdest deine Ahnungen vertiefen oder sie verwerfen können. Jetzt aber kommst Du gar nicht mehr so richtig ins Wähnen: Was dich ahnen ließ das verfolgt dich nun. Deine Ahnungen verfolgen dich, weil du sie nicht annehmen kannst, weil sie dich niedermachen, bedrängen, sich über dich stellen und dich beherrschen. Du bleibst dir selbst deine Empfindung schuldig, wenn du dich von dem mächtigen Gefühl, in welchem sich deine Ahnungen zusammenfassen, niedermachen lässt. Und du lässt dich von ihm niedermachen, weil du ihm keine eigene Empfindung mehr entgegenstellen kannst, weil du also dem nicht begegnen kannst, was du empfindest, weil du also auch wirklich niedergemacht wirst – ob gewollt oder auch nicht, das ist hierbei noch gleichgültig. Es kann an dir liegen oder an deiner Umwelt, an deiner Wahrnehmung oder an der Wahrnehmnung der anderen, dass du dich niedermachen lässt – in jedem Fall liegt es an der Unwirklichkeit der darin wahrgehabten Beziehung. Nur in Verhältnissen, denen du nicht entkommen kannst, wird dies zu einer eigenen Machtfrage. Wer sich darin durchsetzen kann, der hat das "Recht des Stärkeren". Wenn er dieses auch noch weiß und damit dich niederhält, dann kann er dich in jeder Weise nutzen und gebrauchen (Missbrauch ist kein gutes Wort hierfür, weil es zugleich für einen rechten Gebrauch eintritt – der Missbrauch ist im Gebrauch schon enthalten).

Auf eine ganz perfide Art bist du dir selbst gegenüber schuldig geworden, wenn du dich so gebrauchen lassen musst. Deine Empfindungen bleiben in dir "stecken" und du musst ihnen gehorchen. Sie verfolgen dich Tag und Nacht und machen deine ganze Grundstimmung aus. Sie unterbrechen deinen Schlaf und deine Träume und lassen dich nicht mehr zur Ruhe kommen. Verfolgung ist die Wirklichkeit einer Verschuldung an einem abstrakten Lebensverhältnis, das sich seiner eigenen Wirkung zu entziehen versteht und jetzt tief in dir steckt. Dem Wahnsinn gehen meist viele durchwachte Nächte voraus.

Beim Wahnsinn geht es um die Macht, welche die Wahrnehmung des betroffenen Menschen bedrängt, eine Bedrängung, die ihn nicht erkennen lässt, dass er sie gerade dort wahr hat, wo er in seiner Wahrnehmung bestimmt ist. Er ist hierin bestimmt, weil seine Beziehung einen anderen Grund hat, als seine Wahrnehmung. Das Erkenntnisvermögen ist dadurch gelähmt, dass sich wahrgehabtes über die Wahrnehmung stellt, Gefühl über Empfindung (37). Seine Macht entspringt letztlich der Lebensbedingung, in welcher sich Menschen in ihrer Wahrnehmung subjektiv bestimmen, weil sie ihrer objektiven Bestimmtheit auch entspricht (z.B. als Eltern und Kinder). So teilt sich subjektiv die Geschlossenheit eines Systems mit – meist ist es die Familie –, das seinen Grund außer sich hat, wie sie ihn auch in sich trägt. Die Geschlossenheit erscheint dadurch total, dass sie von Menschen als zwischenmenschliches Verhältnis gelebt werden, dass objektive Bestimmung also als persönliche Macht vollstreckt wird.

Es wäre fast gut, wenn das in dieser Form auch erfahrbar wäre. Aber es ist sehr viel komlexer und daher komplizierter. Alle Beziehungen in einem solchen System, sind auf diese Weise bestimmt – sowohl ihre offenen, wie auch ihre heimlichen und unheimlichen. Und sie sind auch nicht so offen determiniert, wie es nach dieser Aussage erscheinen mag. Das Durcheinander von objktiven und subjektiven Substanzen macht eben gerade die Familie als Lebensform aus. Weil sie eine weit vermittelte Unmittelbarkeit im Gegenübertreten der Familienmitglieder hat, wirkt auch in ihnen, wodurch sie rein äußerlich bestimmt sind. Ihre Empfindungen und Gefühle sind unmittelbar identische Wahrnehmung, weil sie sich auch tatsächlich als das Wahrnehmen, als was sie sich wahr haben: Als wirkliche Lebensträger.

Es ist der scheinbaren Geschlossenheit des Familiensystems geschuldet, dass ihre äußere Bestimmtheit nur als Mangelgefühl an Außenwelt, als innere Regungen ohne irgeneine äußere Gegenständlichkeit empfunden wird. So entsteht einersetzt ein Familiensinn, in welchem sich die Familienmitglieder gegen ihre Außenwelt abgrenzen und es entstehen viele Eigensinnigkeiten, die jeder in der Abgrenzung zum Familiensinn haben muss. Die gesellschaftlich bestimmte Mangelempfindung der Familie hat unter ihren Mitgliedern Beziehungen zur Folge, in denen sie doppelbödig miteinander verkehren müssen: Als Träger der Lebensform, als Objekte wie Subjekte des Familienzusammenhalts. Die Gefühle, die sie darin füreinander haben, haben sie zugleich auch in der Form der Nutzbarkeit und Gestaltung ihres gemeinschaftlichen Zweckes (z.B. Erziehung, Haushaltung, Hygiene, Geschlecht). Die Menschen haben sich in dieser doppelten Bestimmung ihrer Lebenspraxis wahr, fühlen sich, wie sie sich wahrnehmen, wie sie sich eben auch Empfinden. Der Familiensinn hält Gefühle dadurch am Leben, dass er die darin lebenden Menschen zum Leben nutzt. Meist und letztendlich sind es die Kinder, die Objekte dieses lamiliären Vampirismus werden. Sie alleine halten zu allerletzt noch "die Familie zusammen".

Nichts kann darin natürlich sein, obwohl alles darin natürlich erscheint: Kinder werden geboren, die Existenz wird betrieben und gehaushaltet und die generationen haben ihren Zusammenhang bis zum Tod. Nur die Rollen verraten, dass es sich bei der Familie um eine gesellschaftlich bestimmte Lebensform handelt, die nicht aus ihrer Natur heraus funktioniert. Oft tritt der Vater als Träger lustvoller Verantwortungsgefühle auf, die Mutter an als die Bewahrerin der Familie – er im Gewinn objektiver Zuneigung und Allgemeinheit, sie mit der Macht und Ideologie ihrer Gebär- und Fürsorgenatur. In der Rollenaufteilung entzieht und beherrscht der Familiensinn die letzte Wahrheit der Kinder. Das System Familie funktioniert nur durch den Zusammenschluss und dem systemerhaltenden Ineinandergreifen aller Funktionen, die Familienmitglieder darin bekommen können – nicht unbedingt so, wie es gemeinhin verstanden wird als Verhältnis der Geschlechter in der Gemeinschaft der Generationen, sondern als System voller Hintersinnigkeiten, die sich insgesamt so aufheben, dass sie als Existenz erscheinen können, weil sie als Lebensträger funktionieren.

Der Wahnsinn ist die Empfindung einer Familie, die nicht als Familie existiert, die nicht ganz so funktioniert, wie sie soll, weil ihre Hintersinnigkeiten nicht voll ineinandergreifen, weil also der Sinn eines ihrer Glieder sich nicht integrieren lässt. Dies muss ein Sinn sein, der eine familienfremde Herkunft verrät und bedroht (es bestünde sonst keine Notwendigkeit, Sinn zu integrieren). Nur um die Familie zu erhalten, wird er unerkennbar gehalten. Er ist die Bedingung des Wahnsinn, denn nur der enthält die Empfindung dessen, was diese Beziehung innerhalb der Familie im Sinn hat. Es ist ein Sinn, der darin nie wirklich wahr werden darf, weil er ihre volle Wahrheit aufzeigt und betreibt, die Wahrheit ihres Mangelgefühls. Er ist daher kein materieller Sinn. Er ist eine Regung der Seele die sinnlich wirkt wie ein Trieb, ein innerer Drang, der auch nur unwirkliche Beziehung hervorbringen kann. Der Familiensinn selbst hat hierdurch eine Übersinnlichkeit, die dadurch entsteht, dass der Sinnzusammenhang keiner ist, aber alles bewirkt, was sein kann.

In der Familie von Maria bestand der Familiensinn selbst schon gegensinnig, eben als widersprüchliche Ehe der Eltern, die Kinder nicht aus ihrer Liebe gezeugt, sondern erzeugt hatten, um "ihrem Leben einen Sinn zu geben“, um sich von deren Leben tragen zu lassen, um ihre Funktionen als Erzieher und Fürsorger richtig auszukosten und um damit ihr Lebensverständnis, das in diesem Fall zudem noch aus der Nazizeit kam, dergestalt umzusetzen. Es war ein sehr objektiv bestimmtes Leben. Dass sich die Eltern sinnlich bekämpft hatten, war aber für die Kinder nicht gewärtig, weil dies auch nur beiläufig spürbar war. Von Wichtigkeit war der Erhalt des Ganzen und damit die Niederhaltung eines Jeden. Die Kinder waren so als Lebensträger zugleich absolute Objekte des Familiensinns, und dieser Widersinn bestand in der Angst vor jedem Sinn.

Ohne dass ich erkennen kann, welche einzelnen Gründe dieser Widersinn hatte, so lässt sich sehr leicht erkennen, dass er als Macht gegen jedes Sinnenleben bestanden hat. Das teilte sich darin mit, dass die Eltern, obwohl sie – wie bereits besprochen in einem wirklichen Lebenszusammenhang standen, die Kinder vor jedem Sinn in diesem Leben zu warnen hatten und jede Regung ihrer Kinder aufs Peinlichste beobachteten und kontrollierten. Und erst dadurch, dass der Widersinn im Leben der Eltern als eine einzige und damit unwidersprüchliche und unwidersprechbare Macht auftrat, wurde das, was als Widersinn zu spüren ist, als Macht gegen die Sinne wahr. Denn jedes der Kinder hätte durch die Wahrheit seiner Empfindungen die Ehe der Eltern und damit die ganze Familie wirklich gesprengt. Man könnte sagen: Hätte es auch nur den Hauch einer Ahnung gegeben, was der Vater für seine Töchter wirklich empfand und was die Mutter wirklich zu einer Hygiene bis zur Übersinnlichkeit trieb, dann wäre in der Familie wahrscheinlich nichts mehr gegangen. Aber man muss es auch umgekehrt sehen: Weil das wohl jedem irgendwie klar war und weil die Familie funktionieren musste, musste alles so sein, wie es war. Verlorene Liebessehnsucht war es wohl eher nicht, wohl aber Liebeseifer, der sich in der ganzen Breite der Egomanie als unheimliche Regungen ausbreitete und sich als Eifer in jeder Art allem überstülpte, das dem wachsamen Auge der Familiensinnigkeit in den Sinn kam. Man kann die Fürsorge als ein Allgemeinprinzip ansehen, in dem alles verschwand, was darunter "hochzukommen drohte“ – hygienische Übungen, Ästhetik, Pedanterie wie auch der pädagogische Eros überhaupt taugen hierzu gleichermaßen. Je weiter die Eltern hierbei "auseinanderkamen“, weil sie sonst in der Konkurrenz um die Bewahrung des Familiensinns "aneinandergeraten“ würden, desto unterschiedlicher und gegensinniger wurde ihre Beziehung. Die Kinder als die Lebensträger des Ganzen wurden – jedes auf seine Art – so verrückt, wie sich die Eltern voneinander in ihrem Zusammensein entrückt hatten.

Somit waren die Empfindungen der Kinder wirklich in dem gebrochen, was sie von ihren Eltern empfingen und zugleich beherrscht durch das, was sie für die Eltern sein mussten. Die Eltern setzten sich gegenseitig herab, waren im Grunde füreinander hinterhältig, und luden hierdurch den Kindern einen permanente Lebenszweifel auf. Was soll das sein, was da diesen Lebens- und Liebesraum beherrschte? Was mit den Eltern selbst eigentlich los war, konnte man nicht sagen, weil es nicht aussprechlich war, weil die Eltern es betrieben, um die Familie zusammen zu halten. Erkenntnis macht man ja sowieso nicht durch Worte. Irgendeinen Hintersinn hatte das Ganze wohl, aber der war nicht herauszufinden und auch nicht zu hören. Aber zu Fühlen war er hinter aller Empfindung.

Für Maria hatte das zur Folge, dass sie jeden Doppelsinn nicht erkennen konnte. Die "Tour", die läuft, wenn sich die Geschlechter abtasten, das Hin und Her von Liebe, Lust und Zweifel, die Selbstvergessenheit und Selbstüberhebung, all diese Bewegungen konnte sie nicht ertragen. Sie hatte schon genug zu tragen, und so hatte dies für sie auch keine mögliche Gegenwärtigkeit. Sie musste ihre seelischen Beziehungen auftrennen, indem sie entweder Empfindungen von jemanden hatte, oder dass sie im Gefühl war – in einem schlimmen Gefühl. Wo beides aufeinander prallte, konnte sie nicht mehr schlafen. Auf längere Zeit ist das wie eine Folter. Irgendwann wurde sie dabei wahnsinnig.

Ihr Verhältnis zu anderen war eigentlich nur dadurch möglich, dass sie sich mit ihnen in einem dritten, in einem Übersinn verbinden konnte. Hierdurch hat sie sich auf andere bezogen, ohne selbst darin gegenwärtig zu sein, wohl aber Gegenwart durch andere zu haben. Die Trennung zwischen sich und "der Beziehung" war für sie von vornherein selbstverständlich, eben weil sie wie jedes Kind kein anderes Leben hatte. Sie musste sich dort um ihr Leben sorgen, wo sie sich liebend verhielt, sie musste als Kind zugleich Frau und als Frau Kind sein. Das heißt: Sie konnte sich nicht als ganzer Mensch voller Sinn und Liebe verhalten. Sie musste in dem Geschlecht, das ihr gegeben war, zugleich sich als geschlechtlicher Mensch, als Frau erzeugen. Sie war geboren und doch nicht auf der Welt, gezeugt, und doch nicht geschaffen – oder: für etwas geschaffen, was sie nicht sein konnte.

Maria war gerne mit allen Menschen gut. Was sie nicht wusste, das war der Gegensatz, die Feindschaft zwischen der Übersinnlichkeit des Verhältnisses, das sie einging, und dem, was sie darin wirklich von andern Menschen wahrnahm. Sie nahm vieles wahr, was sie nicht in diesem Augenblick wahr haben durfte, und das sie dann an ganz anderer Stelle "überfiel". Und hierdurch war sie an dem übersinnlichen Verhältnis sowohl beteiligt wie auch vernichtet, solange sie das nicht unterscheiden konnte. Sie stand in weiter Ferne zu der Macht "der Beziehung" wie auch in ungeschützter Nähe zu den Menschen, den sie liebte. Sie erlebte diese Trennung nicht wirklich, sondern als die Entfernung, wie ich sie zuvor als Trennung von Tag und Nacht beschrieben hatte: Sobald die Sinnesschärfe verging, erstand die Wahrnehmung der Seele, die vor der Ungeheuerlichkeit einer übersinnlichen Beziehung fürchtete, die sie auf Schritt und Tritt erlebte. Und diese Angst beherrschte jede Sinnesschärfe so, wie der übersinnliche Grund der Beziehungen mit dem, was sie darin sinnlich wahr hatte, verfeindet war. Diese Feindschaft war somit auch in ihr selbst.

Und dann, wenn die seelische Wahrnehmung, welche von der sinnlichen Wahrnehmung nun völlig getrennt war, durch die Angst, die in ihr war, übermächtig wurde, wurde jede sinnliche Wahrnehmung unmittelbar zur seelischen Wahrnehmung. Was die Welt wollte, was die Nachbarn sagten, wie andere mit ihr umgingen, waren Wahrnehmungen, die viele Menschen kennen, aber sie kamen nicht als diese Wahrnehmung "bei ihr an", sondern sie hörte zugleich den Grund dessen, was sie in der Form nur sah. Ihre Seele hörte, was sie wahrnahm, ohne es zu empfinden, und sie fühlte sich deshalb verfolgt, weil sie sich dagegen nicht zur Wehr setzen konnte.

 

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