Wolfram Pfreundschuh (1986)

Wider die Erziehung

Kinder werden in Liebe gezeugt und geboren und wachsen auch nur in Liebe gut auf. Selbst in der bürgerlichen Psychologie gibt es eindeutige Forschungsresultate, daß Entwicklungen, die unter Strafe, Strafandrohung, physischer, psychischer, moralischer oder religiöser Gewalt entstehen, eindeutig schwächere, dümmere, unflexiblere also insgesamt lebens- und liebesunfähigere Menschen hervorbringt, als Verhältnisse, in denen Kinder ihr Leben frei empfinden und entwickeln und ergreifen können und das Leben der Erwachsenen nach ihren Möglichkeiten und ohne Druck nachvollziehen und hieraus eigenes Sein entwickeln können.

Erwachsene vermitteln ihren Kindern immer und in jeder Form ihr Dasein, ihre bisherigen Geschichte, ihr Wissen und Begehren, ihre Ohmacht, ihr Versagen, ihr Geschick, ihre Liebe und ihre Konflikte und Ängste. Erziehung hat damit nicht viel zu tun; sie will nicht vermitteln, sie will "ziehen". Erziehung stellt an das Kind eine Anforderung an seine Entwicklung und abstrahiert vor allem von dem wirklichen Verhältnis, von dem tätigen Miteinander von Erwachsenen und Kindern in ihren unterschiedlichen Welten. Erziehung meint "groß-ziehen". Kinder sollen dahin gezogen werden, wo das bestehende Erwachsensein als Lebensgröße vorgestellt wird, und wohin ein Kind gezogen werden muß. Erziehung beinhaltet somit alle Vorstellung der überkommenen Existenz und Lebensweise als Maßstab für die kindliche und benötigt Sanktionsmittel, um das Kind dahin zu bringen. Stammverwandte Begriffe zur Erziehung sind daher auch Zucht (Erzogen-sein als Selbstdisziplin) und Züchtigung (Nötigung zur Zucht).

Der Raum, in welchem Erziehung stattfindet, ist im Allgemeinen die Familie. Dort trifft Liebe und Existenz zusammen. Existenz ist in der kapitalistischen Gesellschaft nicht gesellschaftliche Lebensgestaltung, das Zusammentragen von Kraft und Geist von Menschen zur allseitigen Entfaltung ihres eigenen und ihres sozialen Lebens, sondern die Notwendigkeit zur individuellen Selbsterhaltung, der Zwang zur Teilnahme an einem entfremdeten Arbeitsprozeß, um ausschließlich die Mittel zum individualisierten Leben zu ergattern.

Die Familie überträgt diesen Zwang auf die Menschen, welche sich in ihr voraussetzungslos erscheinen dürfen. Sie setzt ihn nicht unmittelbar gegen ihre Mitglieder als gesellschaftliche Gewalt durch, sie teilt ihn aber durch die familiären Rollen an jeden ihrer Mitglieder durch eine gesellschaftlich – und das heißt hier vor allem existentiell – bestimmte Rollenerwartung mit. Die Menschen müssen die Rollen ihrer äußerlich bestimmten Existenz erfüllen, ob allein- oder gemeinschaftlich erziehend; der Mann als Mann ebenso, wie die Frau als Frau, und die Kinder müssen das werden, was gesellschaftlich erwartet wird, weil es existentiell nötig erscheint. Die Familie als Ganzes besteht als Haushaltungsgemeinschaft zwar nur durch die Erfüllung dieser existentiellen Aufgabe, ist aber unmittelbar als soziale Gemeinschaft ein ausschließlich wechselseitiges persönliches Verhältnis ihrer Mitglieder. Sie enthält den Widerspruch bürgerlicher Lebensgewalt und persönlicher Zuneigung in der Einheit der Menschen, die damit ihre Existenz, ihren Haushalt, ihre Lebensplanung und ihre Altersversorgung erwerben und vollziehen.

Im Verhältnis der Generationen ist der Begriff "Erziehung" der Ausdruck dieses Widerspruchs. Er besagt dem Kind die gesellschaftliche Notwendigkeit eines bestimmten Seins, die ihm zugleich die Ohnmacht seiner Liebe in einem isolierten gesellschaftlichen Raum bedeutet. Es kann daran nichts ändern. Es steht in der Notwendigkeit, das zu werden, was die Gesellschaft an Erwartungen und Fähigkeiten dort schon abverlangt, wo es diese Existenzgewalt noch garnicht erkennen kann. Es muß also erzogen werden, damit es "etwas wird", und indem es etwas wird, verliert es das, was es ist: Ein erwartungsfroher Mensch mit allen Strebungen der Neugier, des Erfahrens, der Wißbegierde und des Lernens. Der Boden der Erziehung ist nicht die wirkliche Auseinandersetzung mit dem Leben und seiner Gewalten, sondern die in Liebe bereits aufgelöste Gewalt, bevor sie überhaupt erfahrbar werden kann.

Eltern haben in diesem Verhältnis vor allem eines im Sinn: Daß ihr Kind das tut, was sie für richtig halten. Und es tut dies, weil es ihre Liebe sucht. Erziehung ist von daher in erster Linie nicht Eröffnung des Lebens und seiner Möglichkeiten, sondern die Reduktion der Lebensmöglichkeiten auf die Notwendigkeiten eines Lebens, welches nur dem Erwachsenen zugänglich ist, in der Liebe und Seele des Kindes. Sie ist die Durchsetzung vorweggenommener existentieller Gewalt als seelische Selbstbeschränkung der Kinder.

Gewalt ist Gewalt, auch wenn sie in zärtlicher Form auftritt. Durch die Form der Gewalt ist nichts anders; die Form kann lediglich den Schein ändern und damit – im friedlichen Gehabe – zur Falle werden. Änderbar aber sind die Gründe für Gewalttätigkeit, die Lebensformen. Man kann sich Familie oder andere Entwicklungs- und Beziehungsräume als einfaches Zusammenleben der Generationen vorstellen, man kann ihre Form ändern, sofern es die äußeren Bedingungen des Lebens zulassen, sofern es also die gesellschaftliche Form der Lebensbedingungen zuläßt. Sowohl die Kleinfamilie wie auch das Kinderhaus stehen unter dem Druck einer Gesellschaftsform, die über den Existenzdruck zur Indiviadualisierung, zur Zerstörung von Gesellschaftlichkeit, zur Anpassung an diesen Druck, zur Erziehung zwingt. Die Kritik der Erziehung beeinhaltet so auch unmittelbar Gesellschaftskritik.

Es ist daher nötig, die Erziehung und die darin vermittelten Verhältnisse und Rollen und die dort vermittelte Gewalt genauer anzusehen.

 

1. Gewalt und Gebot des Bestehenden

Die "Sorgeberechtigten", die verehelichten oder unehelichen gemeinsam oder alleine erziehenden Älteren, die Eltern, Mütter und/oder Väter, die Familien, haben durch bürgerliches Recht ungeheuerliche Gewalten über ihr Kind:

Sie können jederzeit über ihr Kind bestimmen,
• ob und welche seiner Bedürfnisse anerkannt oder disqualifiziert werden sollen,
• was ihm als gut und was als böse gelten soll,
• ob es "normal" empfunden wird oder als therapiebedürftig gilt,
• wo es sich aufhalten darf,
• mit wem es verkehren darf,
• in welche Schule es geht,
• welcher Religion es zugehören soll,
• ob es zu Hause leben "darf" oder ins Heim oder ins Internat kommt,
• ob es gezüchtigt oder belohnt wird,
und so weiter...

Die "Elterliche Gewalt" gilt als eines der wichtigsten Werkzeuge für das Wachstum der Kinder in unserem Land. Staatspolitisch gesprochen handelt sich bei der Sicherstellung der elterlichen Gewalten um "Familienschutz", worin "Verantwortung, Aufgaben und Pflichten" der Eltern festgestellt und über das "Scheidungsrecht" und den sogenannten "Jugendschutz" durchgesetzt werden. Eltern mit wesentlich anderen Auffassungen können z.B. ihre Kinder entzogen bekommen, indem ihre Familie einfach als verwahrlost eingestuft wird.

Erziehung soll bewirken, daß die "nachwachsende Generation" jene Fähigkeiten erwirbt, die hierzulande zur Existenzbeschaffung und -erhaltung geboten sind; – und sie soll dies nicht als eben dieses Gebot, also als äußerliche Notwendigkeit, weitergeben, sondern vor allem die schlichte Intimität der Geburtsstätte, die einfachste und innigste Beziehung von Eltern zu ihren Kindern nutzen, um dies zu erreichen. Wo Gebote und Verbote nötig sind, da wäre die Auseinandersetzung über das Nötige geboten oder der Hinweis des Erwachsenen auf die existentielle Notwendigkeit, auch wenn sie dem Kind (noch) nicht zugänglich ist. Die Gebote und Verbote des Erziehers aber verlangen schlichten Gehorsam und hierfür wäre der Aufwand an Kontrolle und Strafe zu hoch. Wo ein Mensch dem Gebot aber in Liebe folgt, vollstreckt er das Gebotene wie von selbst. So können eben vor allem die Eltern garantieren, daß ihre Kinder das werden, was sie werden müssen, und deshalb sollen sie auch möglichst ungestört über das Werden ihrer Kinder verfügen können – jedenfalls solange sie es tun.

Nur die Eltern und Familien, in denen die Verfügungsgewalt aus verschiedenen Gründen nicht oder nicht mehr ausgeübt wird, werden von Jugendämtern aufgesucht und im einfachsten Fall mit einer "Erziehungsbeistandschaft" bedacht, oft auch durch gewaltsamen Entzug des Kindes gemaßregelt.

Staatlich geschützt werden soll ein Ort, wo das Müssen als Wollen erscheinen kann, wo das Gewordene sich zum Werdenden mächtig und liebend zugleich verhalten kann, wo Eltern ihre Kinder zu etwas machen, was sie sein sollen, – wo sie diese also erziehen können sollen. Ein Recht des Kindes auf seine Selbstfindung, auf eigenes Sein und Werden, gibt es nicht; – es ist hierzulande gerade mal gegen Verkrüppelung, Prügel und wirtschaftliche Ausbeutung einigermaßen geschützt. Stattdessen gesteht das bürgerliche Recht den Erziehenden ungewöhnlich viel Willkür zu, denn das wesentliche ist, daß sie ihr Kind "nach ihrem Bilde" gestalten, welches sie aus ihrer Existenz heraus und nach ihrem gelebten Leben entwickelt haben. Die kleinen Götter in der Familie sollen das Sagen haben, denn der große Gott, der Staat, kann ihren Bildern ruhig vertrauen, weil sie auf der Bemühung gründen, "aus einem Menschen was zu machen".

Das klappt meist auch wunderbar und fast unwidersprochen. Nur am Rande, in den Krippen, den Heimen, den pädagogischen oder psychiatrischen Anstalten und den Horten wird hier und da Verweigerung erkennbar. Um so größer ist dort die Macht der Erziehung als Profession, die es versteht, Disfunktionen auszubügeln. Aber auch das geht schier reibungslos. Ein Blick z.B. in die Jugendpsychiatrie genügt, um zu zeigen, wieviele und welche Kinder die Urteile und Bilder ihrer Eltern nicht einzulösen vermögen, welche Kinder von ihren Eltern oder den Allgemeinvorstellungen einfach "anders" gehabt werden wollen: Kinder mit "religiösen Vorstellungen", Kinder mit Angst, Kinder, die bettnässen, Schule schwänzen, Nägel beißen, einscheißen oder einfach von zu Hause abhauen. Letzteres ist die häufigste "Krankheit" für die Jugendpsychiater.

Die Erzieher und Psychiater sind dort die Sorgeberechtigten und sorgen mit oder ohne Drogen (Psychopharmaka) dafür, daß sich das Kind fügt, worein es sich fügen muß. Aus der Verweigerung des Kindes machen sie einen psychologisch/medizinisch/psychiatrischen Befund und begründen damit, was sie tun: Einsperren, Beruhigen, Strafen, chemisch/psychologisches Vernichten von Empfindungen und Gefühlen und Anpassung durch Angsterzeugung. Das abweichende Kind kann nirgendwo als Mensch existieren, – es ist alleine und ausschließlich ein Problem für die "Sorgeberechtigten". Und wer "Probleme" mit seinem Kind hat, kann sie jederzeit in solchen Anstalten abliefern – auch wenn es so ohne weiteres keinen "Befund" gibt. Dann geschieht es eben mal aus "Verständnis für die Eltern" – und deshalb ist die häufigste Diagnose in der Jugendpsychiatrie eine Diagnose die praktisch nicht überprüfbar ist und die schon viele Kinder für Jahrzehnte hinter die Anstaltsmauern gebracht hat: Hebephrenie, jugendliche Form der Schizophrenie. Hier und da wird auch diese "Ordnung" unterbrochen, und dann zeigt sich der Umfang und die Totalität der bürgerlichen Gewalt schlagartig. Wo Kinder aus Heimen oder aus der Psychiatrie abhauen und nicht nach Hause wollen oder kein Zuhause haben, soll es für sie nichts mehr geben.

So ist z.B Ulli R. aus der Indianerkommune in Nürnberg wegen "Kindesentziehung" mit 3 anderen Kommunenmitgliedern seit 1981 bereits 13 1/2 Monate in U-Haft gewesen und hat jetzt neuerdings 1 Jahr Knast auf Bewährung und 1.600,– DM Geldstrafe bekommen, weil die Indianer Kinder aufnehmen, die von zu Hause abhauen und nicht mehr zurück wollen. Die Fratzen der Kinderseelsorge werden dann deutlich: Die Situation der Kinder wurde nur unter bitteren Hohn zur Kenntnis genommen. Die Indianer veröffentlichen zur Genüge ohne Wirkung:

"Nur ein Beispiel für den Geist dieses Familienschutzprozesses. Als Ulli darstellte, wie Patrizia aus Angst vor ihrem Stiefvater zitterte, mit den Zähnen klapperte und 'fiepste', meinte Staatsanwalt Henner: 'Klar doch, wenn Sie nicht heizen'. Firnkorn meinte noch, daß wir Kinder auf den Strich brächten, weil wir sie nicht zur Schule schicken. Doch von uns aus besuchten immer wieder Kinder die Schule. Schon früher einmal hatte das Jugendamt einen Ausreißerjungen von der Schulbank weggeholt."

 

2. Leben unter Existenzzwang

Eine Gesellschaft, die den Menschen nicht als Ensemble gesellschaftlicher Existenz, Arbeit und Stoffwechsel, sondern als Gewalt begegnet, als formalisierter Existenzzwang, als Existieren-können-müssen, als Staatsmacht, als Träger einer den Menschen bedrohenden Wertbildung und Weltzerstörung, hat vor allem das Problem mit den Menschen selbst. Wo sich das Leben der Menschen nicht gesellschaftlich gestalten kann, da muß die Gesellschaft den Menschen gestalten; sie muß ihn in ihre Verhältnisse einfügen, damit sie insgesamt funktioniert. Die Menschen müssen darin zusammenwirken, ohne den Grund ihres Zusammenwirkens verwirklichen zu können. Sie sind in ihrem körperlichen und geistigen Sein, in ihrer ganzen Wirklichkeit, von einer Macht beherrscht, die ihre ungeheuerliche wirtschaftliche Eigengesetzlichkeit als einzige Existenzgestaltung hat, die alles Lebende, Mensch und Natur als ihr Mittel vernutzt, als Moment einer Ökonomie, die in sich selbst nur reine Gewalt ist: sich selbst verwertender Wert, sich selbst verwirklichendes Geld, weltwirtschaftliche Macht. Und diese Gewalt verschleißt nicht nur das Leben der Menschen, sondern bedroht inzwischen auch ihre ganzen Lebensbedingungen.

Wo die Menschen nicht ihre Beziehungen und Verhältnisse gesellschaftlich verwirklichen, wo sie sich nicht in ihrer Ganzheit existentiell wiederfinden und erkennen können, da werden sie selbst zu einer geteilten Ganzheit, zu isolierten Individuen, die vom Wohl und Wehe eines Ganzen abhängen, das sie weder durchschauen noch als ihre eigentliche Lebensgrundlage ansehen können. Als Einzelzellen in dieser Welt, als Paare, Familien oder Subkulturen müssen sie damit auskommen, das zu bleiben, wozu sie bestimmt sind. Sie sollen auf sich selbst gegründet leben, auf ihrer Einzelheit und ihrem Stoffwechsel, um durch ihre auf sich selbst reduzierte Notwendigkeit dieses schiere nur fremde Objektive zumindest als Arbeitskräfte und Konsumenten, am besten auch als Gehilfen objektivierter Lebenspläne und Moral zu erfüllen. Das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft kann solange unbeschadet erhalten bleiben, solange die Menschen ihr das geben, was ihnen abverlangt wird. Und die wirtschaftlichen Einrichtungen dieser Gesellschaft geben ihnen dafür das als Mittel zurück, was sie ihnen als Substanz nehmen: ihre Lebenskraft als Lebensmittel, ihre Arbeit als Broterwerb.

Mit der Lüge der Individualität, der Abgetrenntheit kleiner Menschen, hält sich dieses System in Gang. Was diese bringen müssen, ist die Erhaltung dieser vereinzelten Zellen des Lebens – ohne gesellschaftliches Organ. Die Gesellschaft verweigert sich ihrer eigenen Lebensgründe und zwingt die Menschen zu ihrer puren Selbsterhaltung. Dieser Zwang des ganzen Systems auf die voneinander getrennte Individualität der Menschen, die darin existieren müssen, ist nicht nur rein materiell. Sie ist allgegenwärtige buergherrliche Gewalt des Ganz-Sein-Sollens über das Nicht-Teil-Sein-Könnens. Die bürgerlichen Rechte und Gewalten haben darin ihren höheren Sinn. Sie gründen nicht auf einem gesellschaftlichen Wissen über menschliches Leben, welches Menschen miteinander entwickeln und verwirklichen, sondern auf der Notwendigkeit des Existieren-müssens, dem Gebot der Selbsterhaltung individualisierter Menschen.

Die Agenten des moralischen und sozialen Ganzen dieser Gesellschaft, die Pädagogen, Psychologen und Psychiater, regeln den Verkehr und stopfen die Löcher, wo etwas ausbrechen könnte. Sie sehen den einzelnen Menschen, der sich diesem System in irgendeiner Form verweigert, als beschränkt an. Indem sie die Beschränktheit der Individuen zu ihrem Gegenstand machen, vertuschen sie deren gesellschaftliche Schranken. Der Mangel des Ganzen stellt sich an den Menschen dar; aber es soll nicht das Ganze seiner Mängel entblößt werden. Deshalb sollen es eben die Menschen sein, die versagen. Um sie "existenzfähig" zu machen, müssen sie funktional werden.

Es gibt von staatlicher Seite einen gigantischen Apparat für das soziale "Überbau"-Management, der eingreifen soll, wenn Menschen nicht funtionieren. Es wird sich aber wohl kaum ein Agent dieser Gewalt so bewußt seinen Zielen widmen, wie es z.B. die Militärforscher tun, die Militärmediziner, die Militärpsychiater, die Militärpsychologen oder die Militärpädagogen; nein – es soll ganz im Gegenteil hierzu um die Behandlung der Menschen gehen, um ihr Versagen, ihr Abweichen, ihr nicht sein können usw. Denn schließlich hilft es ihnen selbst, wenn sie das können, was sie können müssen – jedenfalls da, wo es außer dieser Existenz nichts anderes gibt.

So treten die Funktionalisten und Technopragmatiker vor allem als Menschenfreunde auf, die viel von der Art und Weise des menschlichen Leidens verstehen – und sie verstehen sich auch wirklich so human, wie sie in ihrer Tätigkeit allgemein erscheinen. Ihre Mittel erfassen deshalb weniger die Bedingung und Notwendigkeit dieses wohlverstandenen Leidens; sie greifen in den vereinzelten Menschen selbst ein. Sie entwickeln Wissenschaften und Sozialberufe, die vor allem eines bringen müssen: die Anpassung der Menschen an eine Welt, die den Menschen selbst keinen Sinn macht, weil sie ohne Sinn für die Menschen ist. Während sie in ihrer Vorstellung "nur" das beste für diese Menschen wollen, wollen sie durch ihr Tun, daß diese Welt so bleibt wie sie ist. Sie sind durch ihre Tätigkeit selbst stumpf (tumb) und können gar nicht begreifen, daß Menschen überhaupt nur in ihrem ursprünglichen und wirklichen Leben – auch wenn sie darin verrückt oder hilflos erscheinen – im Begriff sind, eine Kraft gegen diese Welt zu entwickeln.

Die menschlichen Gewalttäter, die Psychologen, Pädagogen, Eltern usw. suchen schlicht und einfach und im guten Glauben an sich nach Mitteln, wie sie andere dazu bringen können, wohlbefriedet zu existieren, weil sie für sich die Frage längst ausgeschaltet (beantwortet) haben, warum man das nicht unbedingt will, sondern eben einfach muß. Um etwas zu werden, muß man erst mal das sein können, was man sein soll!

 

3. Erziehungsziel Selbststeuerung durch Strukturierung der Selbstgefühle

Die bürgerlichen Gewalten enthalten deshalb auch das Wissen um den Trick, wie Menschen in dieser Gesellschaft am besten und widerstandslos existieren können: durch Selbststeuerungsmechanismen. Wenn Menschen aus sich heraus tun, was sie tun müssen, um existieren zu können, dann können sie auch nicht empfinden, wofür sie existieren müssen.

Seit es Psychologie und Pädagogik gibt, beschäftigen sich diese Wissenschaften und Berufszweige mit der Selbststeuerung der Menschen: wie läßt sich der individualisierte Mensch so einrichten, daß er seine Vereinzelung und gesellschaftliche Verödung akzeptiert; wie kann man einen Menschen dazu bringen (beherrschen), sich in eine Welt zu fügen, die ihm nicht menschliche Welt sein kann, aber als Welt voller weltloser Menschen ist.

Die Antwort ist eindeutig: Man muß die Menschen selbst zur Welt machen, ihre weltlosen Verhältnisse zueinander als ihre voraussetzungslose Lebenswelt ausgeben. Man muß ihr Verhalten an diese Verhältnisse anpassen, so daß sie ihnen als eigenes Verhältnis, als Produkt ihres Verhaltens, erscheinen können, worin sie sich so wahrnehmen und empfinden, wie sie auch selbst wahrgenommen werden. Und so, wie sie sich darin schließlich ohne eigenen Grund und Sinn erleben, so verhalten sie sich auch, so steuern sie ihr Verhalten, denn nur dieses bildet dann ihre Wahrnehmungswirklichkeit, ihr zwischenmenschliches Verhältnis.

Das gelingt aber nur in Verhältnissen, in denen Menschen ihre Wahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen, ihre Gefühle und Bedürfnisse auf sich und ihre Nächsten beschränken und zugleich durch sich und ihre Nächsten entwickeln können: in dem Verhältnis individualisierter Menschen, die ihre Individualität als Auszeichnung durch andere Menschen erleben. Nur Familien oder familienähnliche Gruppen können einen Menschen wirklich zur Selbststeuerung bringen, zu Gefühlen, die ihn nicht einfach nur überkommen, sondern regeln. Sie können Liebe einsetzen oder verweigern, um ihn dahin zu bringen, wo er hin soll. Sie können die Zuwendung geben, die seine Verlassenheit übertölpt, weil er schon verlassen ist und deshalb Zuwendung sucht.

Erziehung ist die gezielte und meist sogar bewußte Erzeugung von Selbstwahrnehmungen und damit Grundlage und Inhalt jeder Selbststeuerung als anerzogenes Selbstgefühl, welches Selbstwert und Unwert des Kindes ohne erfahrbare fremde Gewalten bestimmt und eigenes Handeln vom Gefühl her schon besser steuert, als es ein Staatsanwalt oder Polizist mit aufwendigsten Verhaltensvorschriften vermöchte.

In einer weltlosen Gruppe, die alleine von der wechselseitigen Wahrnehmung der Menschen, also insgesamt von ihrer Selbstwahrnehmung getragen wird, ist jedes Verhalten nur moralisch – nicht als fremde Moral einer fremden Macht, sondern als Moral, die im Selbstgefühl der Menschen ist, und die ihnen als seelisches Selbstwertgefühl, als Gefühl der Zuneigung, Schuld oder Ächtung, vertraut ist. Hier kann alles in Liebe geschehen, denn alle sollen ja nur und ausschließlich füreinander da sein. Gewalt tritt darin in verkehrtem Sinn auf: als Selbstdarstellung der Kränkung durch das Verhalten anderer. Gewalt ist darin die Abwehr der Wirklichkeit des anderen, die Erniedrigung seines wirklichen Verhaltens, in der Form des Be-Leidigt seins, des Leidens durch die Liebesschuld, die ihm angetragen wird. Wer gegen diese Schuld verstößt, dem wird in einer solchen Gruppe die eigene Wirklichkeit zur Ohnmacht: Er steht außerhalb der Achtung der Gemeinschaft und ist – solange er diese Liebesgemeinschaft nicht infrage stellen kann – auch für sich selbst verächtlich. Ein wirklicher Mensch, ein Mensch mit Wirkung stört hier das Verhältnis selbst, weil dieses keinen Grund außer durch sich selbst hat, – weil es eben unwirklich ist, sein soll und sein will.

Menschen sollen sich nicht mit den Schranken und Zwängen ihrer Gemeinschaft und ihrer Lebensbedingungen befassen; – sie sollen diese aus Liebe auf sich nehmen. Sie sollen nicht Kraft aus der Ohnmacht ihrer Individualisierung entwickeln sondern Selbsterfahrungen hiergegen erwerben, Bewegungen zwischen Lust und Leiden, Schmerz und Freuden, schrankenloses Selbstvertrauen und Selbstgefühl ad ultimo. Selbststeuerung ist das Ordnungssystem innerer Bewegung, mit denen Menschen ihre Welt um sich ausgleichen und "bewältigen"; – Gefühle, mit denen man bei sich bleiben kann, mit denen man sich überall wiederfindet, weil man überall vor allem sich selbst empfindet.

Der Bürger (althochdeutsch: Buergherr), diese Burg der Selbstwahrnehmung, weiß dies sowieso als seinen Lebensinhalt, seinen Sinn für sich selbst. Was er zu fürchten hat ist alleine die Bodenlosigkeit seiner Selbstwahrnehmungen und hiergegen ist er deshalb emsig bemüht, Psyche zu entwickeln, die als Produkt der Selbsterfahrung, als Selbstgefühl, das vorweist, was sonst aus gegenständlicher Erfahrung und Auseinandersetzung entstehen müßte (Vertrauen in sich, Solidarität mit bestimmten anderen Menschen, Sozietät usw.). Wer seine gegenständliche Welt nur als Selbstgefühl erlebt, kann nicht wissen, was er damit in Wirklichkeit ist, und im Selbstgefühl zehrt er die wirkliche Auseinandersetzung anderer Menschen auf.

Die bürgerliche Welt besteht vor allem aus diesen Eingegrenztheiten der abstrakten Eigensinnigkeit und des eigentumslosen Besitzes, aus Schutzwällen vor der Wirklichkeit, der wirklichen Beziehung der Menschen aufeinander und zu ihrer Arbeit und ihren Gütern. Deshalb ist es der Sinn jeder bürgerlichen Erziehung, dem Kind eine bestimmte Art der Selbstwahrnehmung zuzuweisen, die seine Beziehung auf sich und andere bestimmt und als diese Selbststeuerung sein Selbstgefühl belebt, seine Sinne beseelt und sein Ego begründet.

Erziehung übermittelt Selbstgefühl und vermittelt sich darin. Wo sich ein Kind böse fühlt, weil es sich so verhält, wie es die anderen nicht wollen, da kann es über die Gründe seines Verhaltens nichts mehr wissen; – es ist gut erzogen. Im Unterschied zum Lernen findet Erziehung deshalb auch nur zwischen Menschen selbst statt, immer in Abwesenheit gegenständlicher Probleme; – am und im Menschen selbst, in seinen Empfindungen und Bedürfnissen, seiner Zuneigung und Angst. Der Erzieher, welcher die inneren Bewegungen und Erregungen eines Kindes am besten kennt und in seinem Verhalten zu ihm umsetzen kann, ist der beste Erzieher.

Selbstgefühl kann man nicht erzeugen, indem man es vorstellt und propagiert; – es muß sich ereignen, "von selbst entstehen". Das ist schwer; da muß viel überschaut werden, die Mittel dürfen nicht fehlen und der Fragen gibt's überviele. Eine liegt unter allen anderen: "Wie bringe ich mein Kind dazu, daß es ....?". So wird jeder erziehende Erwachsene zum kleinen Psychologen, denn die Antwort kann nur psychologisch sein.

Sie liegt in der Beziehung der Empfindungen auf die Bedürfnisse des Kindes: Die natürlichen Bedürfnisse des Kindes müssen in der Weise und mit den Mitteln befriedigt werden, die die Älteren als Inhalt seiner Empfindung setzen. Das Resultat des Bedarfs muß vorweggenommen werden, damit das Kind dessen bedarf, was es werden soll. Es soll nicht erfahren, wer oder was Gegenstand seines Bedürfnisses ist, sondern soll das geboten bekommen, dessen es bedürfen darf – und anderes eben nicht. Und da muß natürlich allerhand geboten werden, denn nur im Angebot läßt sich die Entstehung der Selbstgewißheit des Kindes schon im Ansatz vernichten.

Wenn ein Kind sich bewegen will, erfahren will, lernen will, dann entwickelt es seine Welt, die Gegenstände seines Seins und Werdens an allen vorgefundenen Dingen, Menschen, Tieren oder Pflanzen. In der Erziehung durch Angebote kommt es aber darauf an, diese Welt zu bestimmen, zu füllen, die Kinder um die Welt der Erwachsenen zu scharen; es kommt drauf an, daß ihnen diese Welt in erwachsener Form geboten wird, daß sie das vorfinden, was der Erziehende als richtigen Inhalt ihres Bedürfnisses ansieht. Wer sein Kind liebt, der gibt ihm, was ihm gut tut! – Und was ihm gut tut, das weiß dann eben eigentlich nur der Erzieher.

In der Art und Weise, wie er dem Kind die ihm nötigen Sachen und Lebensmittel zuwendet, schließt er den Kreislauf zwischen Verlangen und Welt (Bedürfnis und Gegenstand) und bestimmt somit die Inhalte des Selbstgefühls auch stofflich. Wahrnehmung und Verlangen werden zu einer vom Erzieher bestimmten Befriedigung gebracht, weil hierin der von ihm gewollte Friede mit der Welt geschlossen werden muß. Solche Befriedigung erzeugt wiederum bedingte Empfindung. Und weil dies durch nichts unterbrochen ist und lückenlos in das Verhältnis zum Erwachsenen eingeht, fühlt sich das Kind in diesem Beziehungsraum auch zeitweise wohl, ja, geborgen. Das Ungeborgene erscheint ihm nicht nur als fremde, äußere Welt, sondern als Liebesbedrohung durch alle äußere Weltlichkeit. Die Erwachsenenwelt und die Welt der Kinder erscheinen in diesem Verhältnis als eine, und die Einigkeit versöhnt und verschleiert den Gegensatz, der in Wirklichkeit zwischen dem Leben der Kinder und dem der Erwachsenen ist.

Zugleich ist das Kind hierdurch von seiner Welt und der Welt überhaupt abgeschirmt. Die Lüge dieser Einheit kann nurmehr von außen gestört werden, wenn nämlich etwas so ist, wie es das Kind nicht oder nicht mehr aufnehmen kann. Und es wird um so mehr Erfahrungen geben, die es einfach nicht mehr aufnimmt, nicht aufnehmen kann, wenn diese Erziehung gelingt.

Der Eifer, der hier allerdings von den Erwachsenen aufgewendet werden muß, ist enorm. Die Kinder müssen praktisch ununterbrochen von den Erwachsenen beobachtet werden, denn allseits lauert das Problem, was dem Kind gut, und was ihm schlecht tut. Das ist kompliziert genug: Der Raum muß lückenlos sein, die Verhältnisse darüber überschaubar; die richtigen Freunde müssen von den falschen getrennt werden, die rechte Antwort auf das rechte Gefühl muß zur rechten Zeit am rechten Platz fallen. – Und daß manche Kinder hierüber immer wilder werden und sich für den Erwachsenen immer unverstehbarer verweigern, das wird der Erwachsene und die Existenzgaranten seiner Generation dann wohl nicht mehr so schnell begreifen können. Die Irrenhäuser sind voll von dieser Geschichte.

 

4. Erziehung ist die Gewalt über das Lernen

Es gibt viele Entwicklungen, die ein Mensch im Laufe seiner Geschichte durchgeht. Ganz allgemein wird fast jeder essen lernen, sprechen lernen, "sauber" werden, mit anderen Menschen umgehen, schreiben, rechnen etc. Und auch ohne Erziehung gibt's dabei unter bestehenden Lebensbedingungen viele Schwierigkeiten. Aber Geschichte kann nur inhaltlich und so schwierig sein, wie sie ist.

Für die Erziehung werden diese Geschichten zu einem ganz eigenständigen Thema: Wie erreiche ich, daß ein Kind "sauber" wird, daß es sprechen lernt, aufräumt, "rechtzeitig" schlafen geht usw. Das Verhalten steht dem Erzieher ständig als Frage an, als Gefahr für das gute Werden und Wachsen, als Möglichkeit der "Fehlleitung" oder das Überkommen schlechter Gewohnheiten oder gar der Überwältigung des Zöglings durch die Gier oder Sucht, die der Erzieher in sich doch gerade so erfolgreich niederhält. Er sieht das Kind innerhalb einer Vorstellung allgemeiner Entwicklung als Besonderung, als besondere Form allgemeiner Lebenswege. Und da kann er auch keinen wirklichen und bestimmten Grund im Kind, seinem Zögling sehen, der dessen Verhalten ausschließlich und mit bestimmtem, in Situation und Bedingungen liegenden Sinn bewältigen (beweltigen) läßt.

Wie ein Psychologe des Wachstums vergleicht er und überträgt er Verhalten und Bedürfnisse und muß sich deshalb permanent in die Erlebnisse der Kinder einmischen, mal positiv, mal negativ. Daß es sein Wissen um Gier oder Sucht, also letztlich nur Wissen seiner eigenen Triebe und Bewegungen ist, die er mit dem Kind vergleicht, geht im pädagogischen Verhalten unter – und so hat das Kind schon Erwachsenenprobleme, ohne je erwachsen gewesen zu sein. Ist es mal gierig, wird es mit der Gefahr des Selbstverlustes konfrontiert, die Erwachsene als ihr Problem rumschleppen; ist es mal besonders brav, weil es sich etwas ganz bestimmtes dabei erhofft und in einem erzieherischen Verhältnis mit solchem Verhalten die einzige Gewinnchance hat, dann fürchtet der Erzieher, sein Zögling könnte sich ein Ergebenheits-Verhalten zulegen und fortan ergeben sein, wie es eben so viele ergebene Erwachsene gibt.

Das wirkliche Werden, die Entwicklung von Menschen an und durch ihre unmittelbare Wirklichkeit, braucht keine Vorgabe, kein Ziel und keine Vorstellung. Es entsteht immer und jederzeit in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen und der Aneignung von Sachen, die nur in diesem aktiven Entdecken zur Selbstentdeckung werden. Alles Werden-wollen, kann nur im einzelnen Menschen selbst sein. Jede Entwicklung zeigt bei genauerem Hinsehen, daß sie hauptsächlich davon bedroht ist, daß und wenn sich hier andere Menschen maßgeblich (Maß-setzend) einmischen.

Daß ein Kind von selbst sprechen lernt ist zwar hinlänglich bekannt, daß es mit Begeisterung Laufen und Klettern ohne irgendeine Verhaltenlinie gelernt hat, hat man auch schon erlebt. Aber wie ist das z.B. mit dem Aufräumen? Ist da nicht ein Trick fällig? Ist das Nicht-Aufräumen ein erzieherisches Problem oder drückt es lediglich aus, daß das Kind sich hierbei zu bestimmten Sachen und Geboten so verhält, wie es im Verhältnis zum Erwachsenen und seinen Sachen längst angelegt ist, daß es beispielsweise für die verräumten Sachen keine Ordnung benötigt, weil es diese als Erziehungsmittel nicht mehr akzeptiert, weil ihm also die Ordnung nicht als Teil seines Spielens begreifbar ist oder weil ihm die Forderung der Erwachsenen als Gewalt eines ihn beherrschenden Wohnverhältnisses erkennbar sind?

Durch Erziehung wird da nichts gelernt sondern etwas gänzlich anderes produziert: Ein Verhalten wird durch Mittel und Vermittlung bewirkt, ohne daß der zugehörige Stoff gegenwärtig sein muß. Das Falsche wird in der Selbstwahrnehmung geächtet und das Erwünschte gefördert. Erziehung bezieht sich vor allem auf Verhalten und Gesinnung. Sie will nicht Wirklichkeit unter den Kindern, – sie will, daß deren Wirklichkeit, ihr aufeinander einwirken und ihre sachliche Wirklichkeit, Gegenstand von Verarbeitungsweisen, Mittel ihrer seelischen Beziehung wird. Sie will dem Kind ein reines seelisches Wesen zusprechen, welches der Welt dadurch mächtig wird, daß es ihrer nicht mehr bedarf. Insofern erzeugt Erziehung in der Tat eine enorme Lebensfähigkeit, eine ungeheuerliche Lebensfähigkeit! Denn schließlich kann es für ein Individuum unter den herrschenden Gewalten nichts besseres geben, als ein Selbstbewußtsein, das sich wie ein allgegenwärtiges Selbstgefühl über alles Seiende stellt, was man nicht mehr wissen muß – Nichtbewußtsein.

Die sogenannte Erziehungsdiskussion ist deshalb vor allem die Diskussion um innere Berührtheit, um die Pflege der Selbstwahrnehmung, um die Aufbereitung von "Erlebnis-Fähigkeit", die von ihrer erzieherischen Seite her gerade das produziert, was sie zu vermeiden vorgibt: Wo Leben und Erleben als Fähigkeit gelten, da kann es sich nicht bilden. Leben ist unmittelbar, also unvermittelbar. Was das anerzogene Leben ausmacht, ist vergangenes Leben, Produkt und Ursprung vergangener Wirklichkeiten, Fehler und Unzulänglichkeiten, Mangelhaftigkeit der Geschichte der erziehenden Generation.

Diese Mangelhaftigkeit hat den heute Erwachsenen wohl auch zum Erzieher werden lassen: Er will es an anderen besser machen, an anderen seine Ideen vom Leben verwirklichen, ohne sich wirklich mit anderen als andere, als Menschen mit anderer, eigener Geschichte überhaupt befassen zu können. Er will durch andere zu sich selbst, zur Idee seiner eigentlichen Vollkommenheit, gelangen und muß deshalb in seiner Vorstellung von seinem Leben Macht über sie haben. Deshalb muß er seine Argusaugen vor allem auf das richten, was so vielfältig und unentschieden ist, was alle Entwicklung in sich hat, was in der Vielfältigkeit sich überhaupt nur wirklich auseinandersetzen könnte und über dies setzt er seine erzieherische Einfalt, sein Bedürfnis, auszurichten, wo ihm die Vielfalt als Gefahr vieler falscher Wege erscheint, als Chaos, als "Unausgerichtetheit". Sein wichtigster Antrieb ist die Erziehung richtiger Bedürfnisse, die vor allem das schon im vorhinein ausschließt, was er im nachhinein und nur aus der Position des Gewordenen als falsch ansieht.

Hierzu fünf Beispiele:

1. Beispiel: Ernährung

Die erwachsene Welt und ihre Politiker haben in ihrer bisherigen Geschichte ein ungeheures Ernährungsproblem entwickelt: sie sind dabei, ihre natürlichen Lebensstoffe zu vergiften, ihre Seen, Flüsse etc. zu verseuchen Länder, Pflanzen, Tiere und Menschen zu verstrahlen; sie deformieren ihre Nahrungsmittel durch Kunststoffe und Gifte; sie kommen ohne viele Sucht- und Betäubungsmittel (von der Zigarette, dem Wein bis hin zu permanent genommenen Psychopharmaka) fast nicht mehr zurecht Von daher ist es sicher richtig, Kinder über bestimmte Stoffe – weil und sofern sie nicht zu schmecken sind – zu informieren. Und wenn sich Erwachsene über ihre Ernährung Gedanken machen, so ist das sicher auch für die Kinder gut.

Erzieherisch gewendet sieht das alles aber völlig anders aus: Kinder sollen es anders machen, sollen zur gesunden Ernährung erzogen werden, sie sollen das, wonach sie ein Verlangen verspüren, dem Gesundheitsurteil von Erwachsenen unterwerfen und möglichst nur das essen, was genügend Vitamine, Ballaststoffe und weniger von den von Erwachsenen als gefährlich angesehenen Stoffe enthält. Auf dieser Ebene, das heißt in der Form eines Gebots der Erzieher, kann es denn auch keine Geschmacksbildung aus verfügbaren Lebensmittel, sondern nur ein Hin und Her an "Belegen" geben, die entweder die Oma oder die Wissenschaften anbieten, d.h. das "gesund befinden" einer Nahrung steht von Vornherein auf einer Rationalebene von Urteilen, die von der praktischen Ernährung völlig getrennt ist. Von da her ist auch jedes Bedürfnis von vorn herein schon denunziert, wenn es im Widerspruch zur aktuellen Ernährungstheorie steht. Geschmack kann sich nicht aus dem Verlangen bilden, sondern wird "gepflegt". Hätte der Mensch erst wissen müssen, was das ist, was er zu sich nimmt, so hätte es ihn sicher nicht gegeben. Aber ,,hier wird es plötzlich zur Regel, daß menschliches Bedürfnis keinen Sinn für den Stoff haben soll, nach dem es verlangt. Wenn Kinder nach Süßigkeiten verlangen, dann sieht der Erzieher darin weniger ein Verlangen, das Kindern aus vielen Gründen – vielleicht auch aus natürlichen – zu eigen ist, sondern er erkennt darin vor allem die Gefahr von Zucker, von Sucht usw. Groteskerweise fällt er dann auch ständig mitten im Streit der Wissen-Schaffer durch, die Zucker mal als notwendig für Wachstum, mal als schädlich für die Zähne herausstellen; und die selbst gebastelten Zucker-Auswege (z.B. über Honig oder Ahornsirup) erweisen sich früher oder später wiederum als ulkiger Selbstbetrug; Zucker bleibt Zucker.

Die Entwicklung und Bildung des Geschmacks kann sich unter dem Interesse der Erziehung nicht an den Empfindungen und Erfahrungen mit den Stoffen des Lebens und in der Auseinandersetzung mit der Küche, ihren Produkten und ihren Argumenten orientieren, sondern wird zu einer Frage der "richtigen" Ernährung, die der Erwachsenen setzt. Durch das platte Ausschließen der vielfältigen "falschen" Ernährung ist es allerdings wahrscheinlicher, daß ein Kind hiernach süchtig wird, als daß es schon in seinem Geschmacksinn erkennen wird, was gut für es ist.

2. Beispiel: Friedenspädagogik

Die Welt der Erwachsenen besteht aus Krieg, Konkurrenz und Selbstschutz. Zerstörung und Selbstzerstörung macht ihnen Angst weil sie das kennen. Alle naselang scheitern sie an gewalttätiger Abgrenzung oder auch an ihrer eigenen Gewalt. Ihr Mißtrauen gegen sich selbst ist selten unberechtigt. Sie hätten hier viel zu tun; Krieg in den eigenen Verhältnissen begreifen, die eigene Gewalt als Resultat einer bestimmten Geschichte unter Angst, Verlust und Enteignung zu erkennen, die Gesetzmäßigkeiten und politischen Zwecke der Kriege auffassen und Widerstand am so erkannten Ort des Geschehens entwickeln ... – die Kinder könnten es wohl auch irgendwie verstehen, was ihre Eltern da so alles auf dem Buckel haben; von Verlust und Enteignung jedenfalls begreifen sie eine Menge.

Was so Sache der Eltern und ihre Geschichte wäre, wird per Erziehung zum Frieden zur Gewalt gegen Kinder: Sie sollen entwaffnet sein – und zwar gerade dort am meisten, wo die Eltern und Erzieher Ihre Gewalt gegen sie am wenigsten begreifen ("Die Pistole werde ich meinem Kind schon austreiben"). Um das erzieherische Unternehmen, Kinder zur Waffenlosigkeit zu bringen, auch optisch gut abzusichern, werden absonderliche Beziehungen zur Begründung hergestellt: Knallspielzeuge in der Form von Wildwest-Colts werden gleichgesetzt mit Kriegsspielzeug, welches die großen Kriege imitiert, das Situationen-bestimmen-wollen von Kindern wird gleichgesetzt mit einer wirklichen Tötungsabsicht und die Lust am Knallen und Erschrecken wird verglichen mit der Lust am Zerstören und Töten.

"Positiv gewendet" heißt dann die friedenspädagogische Frage: wie bringe ich die Kinder zu einem unbewaffneten konfliktlösenden Verhalten? Selbststeuerungsprinzip "konfliktlösendes Verhalten" erwünscht! Es klingt jedenfalls gut – aber kann man die Lösbarkeit bzw. Unlösbarkeit von Konflikten zu einem "Verhaltensmerkmal" machen oder geht es da nicht schon immer um den Inhalt des Streits selbst? Ist ein guter Arbeitnehmer erwünscht, der die Reibereien und Klassengegensätze in seinem Betrieb "persönlich ausgleichen" kann? Oder der brave kleine Mann in Nicaragua? Klar gibt es Macht und Gewalt auch bei Kindern – dies aber gründet eher auf den erzieherischen Bemühungen selbst als daß sie hierdurch zu ändern wären. Oohne den Inhalt hiervon zu erkennen und darauf einzugehen, wird sich jedenfalls nichts anderes ergeben – es sei denn: offene und verdeckte Unterdrückung, d.h. Ausschaltung von Widerstand und Beherrschung der Sache.

3. Beispiel: Erziehung zur Konfliktfähigkeit, Solidarität, sozialem Verhalten

Es ist grausam, in einem pädagogisch einwandfreien Kindergarten zuzuschauen, wie dort Erwachsene mit Streitereien und anderen Auseinandersetzungen der Kinder umgehen: sofortige Zuweisungen von (Erwachsenen-)Recht und Unrecht, Besitzzuteilungen, und ethisch-moralische Urteile hindern die Kinder systematisch, ihre ureigensten Konflikte überhaupt als die ihren zu erkennen, überhaupt einen anderen Menschen als wirklich anderen, also mit anderen Interessen, anderem Vermögen usw. zu erkennen und im Gegensatz die Gleichheit, das gemeinsame Eigene, Eigenschaftliche, Eigentümliche und Eigentum zu erfassen (Solidarität). Die Bürgerwerte der gewöhnlichen Pädagogik NICHT mitzumachen ist die Bedingung jedweder Beziehung zu Kindern.

Es gibt es keine "Erziehung zur Konfliktfähigkeit" oder zur Solidarität, ohne daß Kinder ihre eigenen Konflikte (wenn auch zunächst ungeschickt) austragen und zunehmend in der Erkenntnis gleicher Berechtigung lösen lernen! Erziehung zur Konfliktfähigkeit hieße, daß Erwachsene Kinder davon überzeugen könnten, daß solche Tugenden per se als Fähigkeiten sich herausstellen ließen! Erwachsene in der permanenten Bemühung des Einsichtigmachens, Verständnisproduzierens, Gegensätze-Erläuterns usw. erzeugen keine Konfliktfähigkeit, sie produzieren den Glauben an das höhere Recht der erzwungenen Einsichtigkeit des erwachsenen Verstands, dem ein Kind sich beugen muß.

Konflikte können nicht von anderen Menschen ohne ein Urteil über das Verhältnis beantwortet werden – z B. in der Einschätzung eines Ego-Verhaltens, der Bewertung von Besitz oder der Beschränkung der Einsicht in die Inhalte des Konflikts. Deshalb sollten die Erwachsenen auch einfach als eben diese anderen Menschen sagen, wie sie etwas sehen, beurteilen oder einschätzen – aber deutlich im Bewußtsein, ein wirklich dritter Mensch zu sein. Erziehung verstellt hier dem Kind auch die Beurteilung der Sicht des Erwachsenen und dessen wirkliche Beschränktheit im Urteilsvermögen auf das rechtlich Allgemeine. Es macht aus dem Erwachsenen jemanden, der weiß, wie der Streit zu fassen ist, weil er weiß, wie man Konflikte – sozial versteht sich – löst.

Konflikte müssen immer gelöst werden und das muß dabei belassen sein; – ein "ungut" beantworteter Streit schafft Trauer oder Unbehagen und hat von daher alle Notwendigkeiten in sich. Ebenso ist Solidarität ureigenstes Erkennen eines Verhältnisses und seiner Bedingungen, und sie entsteht nur dort wo Menschen an den Kern ihres Verhältnisses kommen. Alleine in den Lebensstrukturen – insbesondere der Familie – liegt es, wenn dies nicht entstehen kann, weil darin Verhältnisse gesetzt sind, die gar nicht mehr frei auseinander gesetzt werden können. Erziehung läuft immer drauf raus, dieses Problem mit subjektiver Gewalt aufzulösen.

4. Beispiel: Gemeinschaftliche Weltverarbeitung

Die Erwachsenen haben zwar für sich eine andere Welt als die Kinder, gemeinsam aber stehen sie vor der gleichen Welt. Auf den Kindern lastet der Existenzdruck der Eltern – zwar nicht in der selben Art, aber in derselben Substanz. Sie wollen von ihren Eltern wissen, was sie tun können, was zu tun ist, was zu erwidern ist – was sie sind. Eltern, die sich nicht mit ihren Kindern zu dieser Welt verhalten, die ihr Tun, ihre Angst und auch ihre Kraft hiergegen nicht zeigen und sich darin nicht mit ihnen verhalten, haben meist die Scheu des Pädagogen vor dem allgegenwärtigen seelischen Schaden, den Wirklichkeit zufügt.

Den fügt sie allerdings immer zu – auch dort, wo er es nicht für möglich hält: in dem guten, allseits umsichtigen Aufgehobensein, Geborgensein unter seinem selbstlosen Schutzmantel. Für ihn kann im Grunde die Welt sein wie sie will, wenn man nur dem pädagogischen Prozeß des Verarbeitens und Umgehen-könnens vertraut. Wo Erwachsene ihre Welt nur noch als Verarbeitungsgegenstand, als Aufgabe zur Verarbeitung vorstellen, da sind sie nicht nur gegen die Kinder, sondern gegen das Leben überhaupt nurmehr zynisch.

Mir ist ein solcher Zynismus am heftigsten nach der Tschernobyl-Katastrophe begegnet. Da ging es im Kinderhaus darum, angesichts einer Strahlenbelastung von 400 000 Bequerel pro qm Luft, die von einem Kind allein in ca. eineinhalb Stunden geatmet wird, die Kinder aus München herauszubringen und dorthin zu verfrachten, wo es nach der damaligen Möglichkeit der Einschätzung der Lage (die sich im Nachhinein auch bestätigt hatte) weitaus besser mit der Belastung war. Zur Atomkatastrophe kam für mich die Katastrophe der Kernspaltung in Form psycho-pädagogischer Argumente hinzu: Das Wegbringen der Kinder sei eine Flucht vor der Wirklichkeit und es sei wichtiger, mit ihnen gemeinsam "hier in München dieses Unglück zu verarbeiten".

Ich war zu dieser Zeit glücklich, mit anderen Eltern unter schwierigsten Bedingungen diese Flucht zu schaffen und es war die stärkste Leistung des Kinderhauses, durch die Mithilfe einiger Betreuer und Praktikanten es zu schaffen, daß die Kinder für sechs Wochen dem schlimmsten Strahlenterror entgehen konnten. Inzwischen ist es schon grotesk: Bei der Milch, die zu maximal zwei Liter pro Tag getrunken wird, kann es heftigen Streit mit den Erziehern geben, wenn die mit zwölf statt mit acht Bequerel belastet ist. – Inzwischen weiß man eben, wie man damit umzugehen hat!

5. Beispiel: Zwang, Verbot und Entzug

Es gibt in unserer Welt viele Momente, wo wir durch das "Zusammenleben" mit Kindern Zwänge oder Verbote durchsetzen müssen (z.B. morgendliches Anziehen unter Zeitdruck, Verbot bestimmter Fernsehsendungen) oder bestimmten Bedürfnissen in einem bestimmten Ausmaß nicht folgen wollen (z.B. nach Süßigkeiten). Das hat eigentlich nichts mit Erziehung zu tun, sondern ist eher die Frage, wie ein gegebener Druck auf Erwachsene an Kinder weitergegeben wird oder wann wir die Kinder von bestimmten Wirkungen des Erwachsenengemüts fernhalten wollen oder warum wir eine Gier nicht befriedigen wollen. Als erzieherische Frage wird das Verhältnis umgekehrt: Es soll eine bestimmte Weise geschaffen werden, durch welche das "Problemverhalten kindgerecht bewältigt wird", durch welche also Kinder dazu gebracht werden, das zu tun, was Erwachsene – egal, ob sie müssen oder wollen – von ihnen verlangen. Pädagogisches Arsenal: Verniedlichung des Drucks, unter dem Eltern stehen, durch Rollenspiel: spielerisches also unbewußtes Erreichen des gewünschten Verhaltens durch "Sekundärmotivation" (z.B. Bonbons oder Fleißzettel) oder Ablenkung von einer solchen Situation durch schmackhafte Verhaltensalternativen, durch welche dasselbe Ziel erreicht wird, ohne daß dabei das Verbot (z.B. Fernsehsendung anschauen) ausgedrückt wird. Die erzieherischen Sinnentstellungen vermitteln Sinnlosigkeit und Selbstverlust und verhindern die Auseinandersetzung mit der Erwachsenenwelt dadurch, daß der Erwachsene seinen Druck, seine Verweigerung oder sein Verbot nicht erklären oder verdeutlichen muß – er bleibt der zweifelhafte Freund des Kindes, die Lüge der Generationenfreundschaft im Sinn.

Durch Erziehung wird im wesentlichen der Streit der Generationen gewalttätig und zugunsten der Erwachsenen ausgesöhnt. In einer Gesellschaft des Privateigentums sind Eltern immer im Besitz der Lebensbedingungen ihrer Kinder und hierin – je nach eigener Klassenlage – selbst auch mächtig oder ohnmächtig. Was sie aufgrund ihrer Existenz geworden sind und sind, ist unter dieser Voraussetzung immer im Gegensatz zu den Kindern. Auch wenn viele Eltern diesen Gegensatz begreifen, können sie ihn dadurch nicht lösen. Kinder werden sich immer unter den gegebenen Bedingungen an den Vorgaben ihrer Eltern abarbeiten müssen. Ihr Leben kann überhaupt nur auf dem gründen, woher sie kommen und sie müssen deshalb auch – für sich und für andere – die Fragen beantworten, die ihre Eltern nicht auflösen wollen: Wer ihre Eltern sind, und was die leben bzw. gelebt haben.

Erziehung stellt dieses Verhältnis auf den Kopf: Wo die Erwachsenen mit den Kindern ihre ungelöste Geschichte, ihre Zweifel und Fragen zu erkennen und zu leben hätten, werden die Kinder zu einer Antwort auf das Leben der Erwachsenen gezwungen. Erzieher wollen, daß die Kinder das werden, was sie selber sein wollen, was sie also nicht sind. Erziehung scheut die Wirklichkeit als Ort der Auseinandersetzung, weil sie die Lebensvorstellungen des Erziehers zur Farce werden läßt. Die Erziehung behauptet ein Leben, das nur als eine Idee vom Leben besteht; und diese wird von einer Generation einer anderen zur Verwirklichung vorgeschrieben, die sich selbst Rechenschaft über die Unwirklichkeit und Unverwirklichbarkeit ihrer Ideen zu geben hätte. Erziehung bezieht sich auf den Zögling als Liebe zur Idee des Lebens und hat deshalb in ihm ihr einzig lebendes Fleisch und Blut. Das Kind gilt hierin als Erwachsen-sein-sollender Mensch, also als noch nicht vollkommener Erwachsener und wird nicht nur in seinem Kindsein betrogen, sondern mit der Erziehungsidee selbst belogen: im Leben der Erwachsenen könnte sie keiner Überprüfung standhalten – sie ließe sich dort nämlich leicht als idealisiertes Zerrbild eines puren Existenzzwanges, als verklärte Selbstentfremdung erwachsener Menschen erkennen.

Ob der Zögling hierdurch und hiergegen trotzdem zu seinem Leben finden kann, das kann nur davon abhängen, ob er trotz dieser Erziehung zur Auseinandersetzung seiner Generation mit dieser Welt und ihrer Gewalten findet. In diesem Fall haben ihm seine Eltern gar nichts, wirklich gar nichts anderes mitgeteilt, als was sie sich von seinem Leben vorstellen; – und das ist eben im Grunde nichts anderes, als das, was sie sich von ihrem Kind vorstellen: daß es für sie leben soll.

Deshalb ist die Erziehung eben am wenigsten das, was sie als Sorge um das Wohl des Kindes zu sein vorgibt. Sie ist wesentlich mehr: sublime Lust der Erwachsenen im Verhältnis zu sich selbst, das leer und unausgefüllt ohne das Kind, dem Zentrum und Mittel all ihrer Selbstbezogenheit ist. Wenn die nötigen Existenzmittel, Besitz und Position, gegeben sind, ist dieses Verhältnis materiell stabil und für die Erwachsenen richtig. Und weil es für die Eltern schön ist, kann es auch für Kinder schön sein: der Schein des gemeinsamen Bemühens um das schöne Leben, um das eigene Haus, um den guten Menschen und dergleichen. Allerdings: die so geteilte Schönheit hat ihren platten Boden allein in materiellem Wohlstand, also in dem, was Eltern materiell an Grundlagen für ein Leben, wie es sein soll, vorstrecken können. Sie wird sehr abrupt zerbrechen, wenn ein solcher Haushalt verlassen wird oder werden muß. Aber immerhin ist das in jedem Fall eine Grundlage für die seelische Selbstverwirklichung in dem Gemäuer versklavter Herzen, für die die Welt nichts anderes sein kann, als Mittel ihrer Beziehung auf sich selbst. Der Zweifel über dieses Selbst, der hier genauso gedeiht wie die Beziehung auf andere, muß allemal gerade dann, wo er heftig wird, niedergemacht werden – er wäre sonst unmittelbare Lebensangst. Der Selbstzweifel ist somit gerade dort angelegt, wo er nicht auftreten darf; er kann in dem Heim, dem er entspringt, nur vernichtend, unheimlich sein. Die heimliche Wirklichkeit hierin ist die Unheimlichkeit, gegen die vor allem die Eltern nichts zu setzen haben, denn das eigentliche Leben der Eltern hat in diesem Verhältnis längst aufgehört.

Deshalb geht es ihnen auch vorwiegend um Werte, um Moral, Ästhetik, Benehmen usw., denn darin ist das geronnen, was sie vom Leben erwarten und nicht leben können, – ihre Kultur, die sie als Maßstab nehmen. Sie haben vielleicht auch nichts, wovon die Kinder lernen können; – aber als Erzieher kennen sie auch nicht die Bescheidenheit des Besitzlosen. Im Gegenteil: was man nicht ist oder hat, das kann man ja als Wert wenigstens vermitteln!

 

5. Das Kinderhaus

Durch die Einrichtung eines Kinderhauses sollte möglich gemacht werden, daß Kinder und Eltern zumindest für einen Teil ihres Alltags ihre verschiedenen Wirklichkeiten und Welten haben sollen, in denen sie ihren eigenen Geschichten nachgehen und diese möglichst frei aufeinander beziehen können. Nur aus der selbst entwickelten Welt heraus können Menschen ihre Kraft zur Auseinandersetzung mit Eigenem und Fremden bekommen und überhaupt diesen Unterschied zwischen sich und anderem erkennen. Wo familiäre oder persönliche Beziehungen sich in den Kindern oder Erwachsenen vermengen, sollen sie hierdurch auch entwirrbar und von der Gewalt des Erfahrenen befreit werden.

Voraussetzung hierfür ist, daß die Kinder und Erwachsene im Kinderhaus Geschichten miteinander haben, eigene Welt bilden können und daß Erwachsene sich mit Kindern auseinandersetzen, die hierbei ihre eigene Geschichte, ihr Erwachsensein und Elternsein verarbeiten.

Die Welt der Kinder soll weitgehend frei von Erwachsenen – oder Institutionsstrukturen sein. Kinder sollen nicht durch für sie selbst unsinnige Formalisierungen und Trennungen (wie etwa die nach Alter oder Geschlecht) bestimmt sein und ihre Erfahrungen aus ihren eigenen Verhältnissen und Sachen machen.

Deshalb gibt es im Kinderhaus keine streng getrennten Gruppen, die aus organisatorischen oder verwalterischen Gründen unterschieden sind. Nach dem gruppenübergreifenden Konzept soll jedem Kind das Leben mit allen Kindern ermöglicht sein. Nur aus dem, was den Kindern als Unterschied in ihrem Tagesablauf selbst eigentümlich ist, bestimmen sich die verschiedenen Gruppen (z.B. Krippe, Kleinkinder, Kindergarten, Hort), die aber insgesamt durchlässig für jeden Kontakt sind.

Die Sachen der Kinder sollen ihrer Erfahrungswelt entsprechen und aus keinem pädagogisch/didaktischem Interesse heraus zur Verfügung gestellt werden (etwa Vorschulmaterialien usw.). Die Kinder sollen über ihre Sachen auch selbst bestimmen und z.B. bei ihrer Beschaffung mitwirken.

Es sollen keine Spiele oder Gruppenereignisse von Erwachsenen gesetzt werden. Die Spiele oder Veranstaltungen sollen mit den Kindern so entwickelt werden, daß sie ihre Gestaltung selbst bestimmen können. Angebote, mit denen Erwachsene Kinder um sich scharen und dabei selbst Zentrum des Geschehens bleiben, können nicht unser Ziel sein. Die Erwachsenen sollen sich hierbei über ihre unterschiedliche Erfahrungswelt bewußt sein und ihren Wissensvorsprung nicht als Mittel zur Bestimmung der Situation oder zur Ablenkung einsetzen, sondern eben allein als ihren Beitrag oder Vorschlag verstehen.

Wer im Kinderhaus lebt oder arbeitet soll wesentlich autonom über sich und sein Tun bestimmen, sich in allem, was mit anderen zu tun hat, besprechen und nur über das verfügen, was er selbst oder mit anderen erzeugt. Dies soll die wirkliche Basis aller Beziehungen und Auseinandersetzungen sein.

Autonomie hat ihren Grund allerdings auch nur in der Gemeinschaft eines Sinnes, der den Zusammenhang ausmacht. Hierin stehen alle Leute im Kinderhaus vor der Welt und den Bedingungen, zu denen sie sich gemeinsam verhalten. So ist ihre Auseinandersetzung untereinander immer eine Sinnfrage, die sich dort stellt, wo sie nötig ist und deshalb auch auf alle wieder zurückkommt; – auch und gerade wenn sie gegensätzlicher Auffassung sind.

Es sollen keine Verhältnisse nach allgemeinen Strukturen bestimmt sein, die im Kinderhaus kein Leben haben und sich nicht aus der Existenz des Kinderhauses begründen. Obwohl z.B. die Betreuer hier Geld verdienen, gibt es kein Arbeitgeber-/Arbeitnehmer- Verhältnis, also kein Bestimmungsverhältnis, das einer Welt entspringt, in welcher Geld nicht als notwendige Sache des Austauschs von Gütern und Arbeiten, sondern als Gewalt des Geldbesitzers existiert. Es sollen sich für Eltern und für das Team keine Bestimmungen über ihr Verhältnis hieraus ergeben; das Team steht hier einfach in einer anderen Situation wie die Eltern (die ihr Geld wo anders her kriegen) und hat in diesem Unterschied auch seine Selbstbestimmung, sein Anderssein und seine eigene Auseinandersetzung.

Die Autonomie der hier Arbeitenden kann auch nicht von den Wünschen einzelner Eltern durchbrochen werden, die ihre Vorstellungen über ihr Kind per Verlangen oder Gebot durchsetzen wollen. Die Auseinandersetzung über verschiedene Vorstellungen sollen öffentlich und in den verschiedenen hierfür vorgesehenen Gruppen (Elternabende, Mitgliederversammlungen, Ausschüsse) geführt werden, weil sich nur so der Einzelnen wirklich auf das Gemeinsame beziehen kann und auch nur so durch seine Vorstellung zur Entwicklung des Kinderhauses beiträgt.

Die Bedürfnisse privater Lebensräume sollen im Konflikt mit der Autonomie des Kinderhauses ausgetragen werden, ohne Herrschaft über dieses zu bekommen. Die Verfügungsgewalt der Eltern über das Wohl ihrer Kinder soll in eine gemeinsame Diskussion der Eltern über ihre Existenz und ihre Rolle münden können und die Erwachsenen zum Gegenstand ihrer eigenen Gewalt werden lassen. Kinder müssen vor dieser Gewalt nicht mehr geschützt werden, wenn die Erwachsenen über sich erfahren können, was sie von anderen fordern; wenn sie also damit anfangen, durch sich selbst erwachsen zu werden ("Erziehung ist die Erziehung der Erzieher!" – K. Marx).

Die Leute im Kinderhaus müssen ihre eigenen Vorstellungen oder Erkenntnisse nicht nur ständig mitteilen und sich mit anderen Vorstellungen auseinandersetzen; – sie müssen sich auch davor schützen, daß sich ohne Öffentlichkeit oder anderswie erkennbaren Ausdruck Verhaltensweisen oder Verhältnisse breitmachen, die das Kinderhaus insgesamt verunmöglichen. Aus diesem Grund gibt es auch Forderungen des Kinderhauses als eine gemeinsame Grundlage mit eigener Existenz an jeden, der damit leben will. Das Kinderhaus existiert als dieses Ganze von Auseinandersetzungen und Lebensmöglichkeiten nur solange, wie alle dabei sind und mitmachen und wie ihre Anwesenheit, ihre Kenntnis und ihr Geschick in dieses kleine Gemeinwesen eingehen. Es ist deshalb für das Kinderhaus existentiell notwendig, eine Nutznießung durch Privatinteressen (reine Nutzung von Raum und Arbeit anderer), wie man es gegenüber Institutionen gewohnt ist, auszuschließen und einige Forderungen an den Einzelnen zu formulieren.

Die Anwesenheit der Kinder muß weitgehend gewährt sein, der notwendige Tagesablauf muß ermöglicht werden und das Haus muß in Ordnung gehalten werden. Die ständige Auseinandersetzung über das Kinderhaus und über das, was dort geschieht muß möglich sein und Streit hierüber muß ausgetragen werden können.

Deshalb muß jeder, der im Kinderhaus ist, sich an den hierbei anfallenden Arbeiten und Auseinandersetzungen in seinem Anteil beteiligen. Und falls dies nicht geschieht, soll das Kinderhaus auch Rechenschaft von ihm verlangen können.

Gerade weil es keine Kinderaufbewahrungsstelle ist, muß sich jeder, der hier mitmacht auch in seinem Verhalten oder seinen Entscheidungen solange auf die anderen beziehen, wie er dabei ist Weil hier mit Menschen nicht umgegangen werden soll wie mit Sachen, die mal da, mal dort hingestellt werden, müssen alle wesentlichen Entscheidungen, die Erwachsene oder Kinder betreffen, besprochen sein; – insofern gibt es im Kinderhaus keine Privatentscheidungen.

Im Kinderhaus soll es keine Rollen und keine Experten geben. Das Kinderhaus wird von den Eltern und dem Team getragen. Der Alltag des Kinderhauses soll nur von den wirklich Beteiligten gestaltet werden, denn nur unter ihnen kann die Auseinandersetzung über den Sinn und Inhalt dieser Arbeit geschehen.

Deshalb machen Eltern auch die verschiedenen Dienste (Fahr- Koch- und Elterndienst und machen auch die Reparaturen im Haus weitgehend selbst). Außerdem ist nur hierdurch die wirkliche Teilnahme am Kinderhaus möglich. Profis machen ihre Arbeit ohne Beteiligung und hängen ganz von ihrer fachkundlichen Ausbildung ab. Dort können sie aber nichts ändern oder anders sehen. Sie können gar kein Interesse an der Geschichte im Kinderhaus haben, weil sie sonst am Untergang ihrer Fachkundlichkeit interessiert wären; – und dann sind sie schon keine Experten mehr.

Für uns ist wichtig, daß keine Fachkunde sondern das Leben der Beteiligten den Tag bestimmt. Beruf und Ausbildung hat deshalb für das Kinderhaus keine Bedeutung; – das kann nur ein Zugeständnis an die formale Legitimierung gegenüber öffentlichen Stellen nötig sein. Aber im Grunde verlangt das Kinderhaus die Überwindung des Experten durch sich selbst und seine Erfahrungen, die er hier machen kann. Wo sich Expertentum hinterfragen läßt, wird sich auch offen legen lassen, daß hinter der Fachkunde meist gerade die Verweigerung des wirklichen Bezugs steckt, – das gilt für's Kochen genauso wie für's "Erziehen". Erziehung ist eben nicht nur ein Fach, sondern vor allem ein dem Erwachsenen naheliegendes Verhalten, wodurch er meist bewußtlos seine eigenen Vorstellungen, Zwänge und Ängste ausdrückt.

In gleicher Weise ist beim Kochen nicht nur das Produkt entscheidend, sondern auch die Anwesenheit, das Dabeisein und das Mitmachen an der Auseinandersetzung mit der Nahrung für die Kinder. Das Fachwissen würde sich notwendig vom Bedürfnis trennen und sich hinter purer Kalkulation mit Gesundheit und Kalorien verstecken (da würde noch mehr als nur die vielen braunen Nudeln in den Müll wandern).

Das Kinderhaus muß sich in seinem Gegensatz zum Elternhaus bewußt sein und dieses Bewußtsein fortwährend in seiner Geschichte und seinen Auseinandersetzungen auch mit der erziehenden Welt überhaupt erneuern und beweisen. Elternhaus und Kinderhaus können zu einem fatalen Komplott in Sachen Erziehung werden, wenn sich das Kinderhaus als Ergänzung des Elternhauses versteht: in dem Maße, wie das Kinderhaus die Lücken und Nöte aus dem Elternhaus schließt und wendet, die Klagen der Eltern einlöst und die Bedürfnisse der Kinder befriedet, in dem Maße, wie sich das Kinderhaus mit den Eltern über die "Aufgabe der Kindererziehung" verständigt, werden die Kinder eingesponnen in das Netz der Vorstellungen und Bilder der Erwachsenen von kindlichem Leben, und es werden die Kinder dann noch besser und sublimer beobachtet und "verstanden", es wird ihre Flucht nicht nur praktisch, sondern – weit nachhaltiger – seelisch verunmöglicht.

So etwas findet meist in der Form des Verstehens und Verständigseins statt. Sicher können Erwachsene einzelne Äußerungen von Kindern begreifen, wo sich aber die Erwachsenen im Verstehen ihrer Kinder teilen oder ein Verständnis ihrer Kinder gemeinsam entwickeln wollen, da wollen sie ihre Kinder als gemeine Objekte für ihre Lebensauffassung und -beobachtungen bewahren, als Reagenzien ihres Verstandes. Kinder kann man eben immer verstehen – da haben die Erwachsenen sicherlich viel Anschauung. Als die wahren Kinderfreunde sammeln sie auch viel Erfahrung und wissen bald, wie man hier und dort interveniert und wie man mit dem und jenem fertig wird. Die Kindergruppe ist dann wie eine permanent psychologisch angeleitete Selbsterfahrungsgruppe, in welcher die Kriterien der Erwachsenen sich an den Verhältnissen der Kinder selbst orientieren, in der die Erwachsenen "für ihre Kinder" agieren und Streit, wenn er zu viel wird, mit vorgehaltener Verständnishaltigkeit geglättet wird. Hier kann kein Erwachsener überhaupt begreifen, was wirklich vorgeht; in solchem gruppenpädgogischen Bezug begreift man von den Kindern das, was dem eigenen Begriff vom Kind eben schon entspricht.

Ein Verhältnis kann nur lebendig sein, wenn sich Erwachsene als Erwachsene zu Kindern verhalten; – und das setzt eben voraus, daß sie auch erstmal für sich da sind. Niemand kann einem Menschen seine Natur erläutern oder erbringen, niemand weiß, was für ihn das beste ist, außer er selbst. Das Kinderhaus kann sich nur mit der Natur der Kinder und ihrer welt auseinandersetzen; es kann keine alternative zur welt sein. Es gibt keine gute Erziehung, auch keine alternative Erziehung, weil es keine zu ziehende Natur des Menschen gibt. Das waren die Intensionen der Menschheitsvernichter, die da behauptet haben: "Wenn wir den Menschen zu seiner Natur zurückführen, dann wird das gesamte Leben wieder natürlich werden!" (A. Hitler)

Jede Vorstellung der Eltern, die über das Leben der Kinder Macht gewinnen will, erzeugt Erziehung, auch wenn diese nicht mehr unmittelbar als Handhabungsweise kindlicher Erlebnisse existiert, sondern nur noch als Lebensstruktur, als existentiell strukturierte Lebensvorstellung stattfindet. Diese ist deshalb die versteckteste aller Erziehungen, weil sie nicht mehr als Erziehung besteht und weil auch die Familie sich unfamiliär gibt, ohne anderes zu sein.

Die Auseinandersetzung der Eltern mit sich selbst ist notwendig auch eine Auseinandersetzung über ihre allgemein gegebene Rolle, ihre Aufgabe, den gesellschaftlichen Nachwuchs, das Nachwachsen der Gesellschaft in ihrem privaten Sein zu besorgen. Weil sie selbst Kinder waren, können sie diesen Widerspruch – sofern sie ihr eigenes Kindsein verarbeiten – eben auch als Widerspruch der Erziehung und ihrer Bedingung begreifen.

Das Kinderhaus hat eine lange Diskussion im Laufe seiner Geschichte durchgemacht, deren Grundlage die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sein als Mensch in einer bestimmten Welt von Forderungen, Geboten, Zwängen und Enteignungen war. Diese läßt sich nicht einfach übermitteln, sie bestand und besteht eben vorwiegend in dem praktischen Leben, das den Alltag im Kinderhaus ausmacht. Ohne diese Diskussion hätte das Kinderhaus keine Geschichte gehabt und alles, was kommt, sollte sich hierauf beziehen, Altes übernehmen oder kritisieren oder ändern und Neues entwickeln.

Vor allem über die grundlegenden Auffassungen zur Erziehung sollte es Einigkeit oder zumindest offenen Streit geben.

Was die Älteren über dieses Leben auseinandersetzen oder -gesetzt haben, was sie für ein Verhältnis zu anderen Menschen, zu Sachen, zur Geschichte, zur Arbeit und ihren bestehenden Formen gefunden haben, das können sie ihren Kindern mitteilen und ihnen ebenso auseinandersetzen. Was diese daraus machen, wird eben so auch davon abhängen, was die Eltern bereits gemacht und bewahrheitet haben, was sie sich schon erarbeitet haben. – Was sie noch nicht kennen oder wissen oder begriffen haben, das überlassen sie sowieso den Kindern – und das gerade dort am meisten, wo die Eltern durch die Erziehung die gewalttätige psychologisch gewendete "Lebenserfahrung" der Eltern als Dogma gegen kindliches Leben ist. Dieses ist das Gegenteil von wirklicher Auseinandersetzung mit dem Leben, denn Leben teilt sich immer selbst und ohne Mittel, unmittelbar mit – da braucht's nichts anderes.

Es gibt keine Erziehung! Keine Erziehung zum sozialen Verhalten, denn Verhalten ist immer sozial (auch wenn's egomäßig erscheint); keine Erziehung zur Kritikfähigkeit, denn Kritik ist keine Fähigkeit sondern Notwendigkeit in bestimmten Lebensverhältnissen; keine Erziehung zur Selbstverwirklichung, denn ein Mensch ist immer wirklich. (auch wenn er in Widersprüchen und Spannungen lebt); keine Erziehung zum künstlerischen gestalten, denn die Kunst entsteht aus eigener Notwendigkeit zur Gestaltung; keine Erziehung zur Friedfertigkeit, denn der Friede ist erst fertig, wenn der Krieg vorbei ist.

Die Arbeit im Kinderhaus verlangt auch, daß die Erwachsenen aus dem beschränkten Ort des Kinderhauses heraustreten und sich auch öffentlich für das einsetzen, wofür sie kämpfen: daß den Kindern nicht ihre Welt und Sozietät genommen wird, daß ihre Kritik nicht unterdrückt wird, daß ihr Menschsein nicht zur Individualität isoliert wird, daß ihre Gestaltungsversuche geschützt werden und daß ihr Streit nicht beherrscht wird. Das verlangt, daß sich die Eltern selbst gegen die Erziehungsgewalten stellen, daß sie die Institutionen der Erziehung und des Staats, die Aufenthaltsbestimmungsrechte und ähnliche Verfügungsrechte bestreiten und es Kindern hierdurch ermöglicht wird, sich mit allem, was das bestehende Leben in seiner herrschenden Form ausmacht, so zu befassen, daß darin Kinder ihren Platz und ihren Widerstand finden können, ohne von Vorstellungen ihrer Eltern bestimmt zu sein.

 

6. Öffentlichkeit und antipädagogische Politik

Aus dem bisher geschriebenen sind für mich für das Kinderhaus zu folgern:

Das Kinderhaus soll gegenüber dem Elternhaus eine möglichst autonome Einrichtung sein, in welcher die Zusammenhänge jene bestimmen, die dort leben und arbeiten. Alle weitergehenden Bestimmungsverhältnisse entstehen aus dem Zweck des Kinderhauses als antipädagogische Einrichtung und den materiellen Grundlagen (Zuschüsse bzw. Beiträge der Eltern). Wichtig ist, daß alle Erwachsenen, die mit dem Kinderhaus zu tun haben (also hauptsächlich Eltern und Bezugspersonen) sich in einer antipädagogischen Einstellung einig sind. Das Kinderhaus selbst kann nur ein Versuch sein, und nur das kann erklären, warum es so isoliert ist. Es muß viele Kinderhäuser geben, denn es muß überall gegen die Interessen des Staates und der Erzieher gearbeitet werden. Das Kinderhaus soll deshalb auch für sein antipädagogisches Konzept auftreten und werben und zu ähnlichen Gründungen anstiften. Es sollte in erster Linie mit den Menschen zu tun haben, die praktisch keine Familie gründen können (z.B. Alleinerziehende oder getrennt lebende Eltern). Materielle und Klassenunterschiede können demgegenüber zurücktreten. Die Gruppenarbeit soll als Teil der Gesamtarbeit verstanden werden (d.h., daß sich die einzelnen Gruppen von vornherein als Teil einer gesamten Gruppe verstehen sollen und nicht umgekehrt) und auch die Elternarbeit soll sich nicht auf rein materielle Funktionen beschränken, sondern an der Auseinandersetzung um Erzieher- und Elternrollen teilnehmen. Auch im weiteren Sinne sollte das Kinderhaus – sofern hierzu Kraft übrigbleibt – antipädagogische Politik machen. Wo stadtteilgebundene Arbeit möglich ist, sollte es sich im Stadtteil engagieren und andere Fragestellungen aufgreifen (z.B. Ausländerkinder, Kulturprobleme). Es sollte sich für alle Fragen auf der Ebene des Kinderrechts und für Formen des Widerstands von Kindern gegenüber ihrem Elternhaus interessierten und einsetzen und die von dort ausgehenden Initiativen unterstützen (z.B. Weglaufhäuser für Kinder, Indianerkommune Nürnberg). Erst in diesem gesamten Bezug wäre das Kinderhaus wirklich Kinderhaus.

Wolfram Pfreundschuh