Wolfram Pfreundschuh (2002)

"... eigentlich war ich nichts anderes gewohnt."

Rezension zu Matthias Kessler: "Ich muß doch meinen Vater lieben, oder?"

(Eichborn-Verlag 2002, 253 Seiten gebunden)

 

Matthias Kessler hat den Mut zu einem neuen Journalismus. Hoffentlich bleibt dies nicht folgenlos. In einem Marathon-Interview über 48 Stunden konfrontiert er sich zusammen mit seiner Interviewpartnerin der Seele einer wahnsinnigen Geschichte. Monika Göth ist die Tochter von Amon Göth, dem berüchtigten Lagerkommandanten des Konzentrationslagers Plaszow in Polen, das in dem Buch und Film "Schindlers Liste" in seiner Grausamkeit bekannt geworden war. Das Interview ist der Lebensbericht von einem Kind des Faschismus. Daraus wurde ein Buch.

 

Mit den Begriffen Faschismus und KZ waren bisher immer zugleich die Bedeutungen von Verbrechen, Schuld und Wiedergutmachung präsent. Darum geht es in diesem Buch nicht. Es ist immer leichter, Schuldige zu finden, als eine Geschichte zu begreifen. Schuldige sind die Monster. Und die anderen sind die Guten. Was aber, wenn man mit so einem Monster leben muss und nicht kann? Wenn es der Vater ist, die eigene Herkunft, und wenn die Guten keine Lust haben, sich damit zu befassen, weil sie wissen: Solange die Faschisten Monster bleiben, solange bleiben sie auch gut?

Natürlich ist jeder Mensch etwas anderes als ein Monster. Aber was macht einen Faschisten zu dem, was er ist? Gleich nach 1945 sprach man vom Wahnsinn der Nazizeit, von Hitler, dem Verrückten und von der Verführung eines Volkes. Damit war alles gesagt, nur nicht die Wahrheit. Hitler war demokratisch gewählt und schnell von der überwiegenden Mehrheit des Volkes verehrt und als Machthaber mit gigantischen Visionen geliebt. Er war ein ganz reales Produkt der Weimarer Demokratie in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Und Deutschland war nicht das einzige faschistische Land.

Inzwischen ist wieder von Krise die Rede und von den Guten und den Bösen. Man will deshalb auch wieder mehr davon wissen, was schon einmal in diesem Zusammenhang stand. Aber richtig verstehen kann man es immer noch nicht. Es scheint unvorstellbar, wie Menschen dahin kommen, eine Lust an der Unterwerfung, Erniedrigung und Ausrottung anderer Menschen zu leben, zu vollstrecken und zu propagieren.

Die Tochter eines der Nazi-Schlächter, die Tochter von Amon Göth, wollte darüber reden. Ihr Vater wurde in dem Film "Schindlers Liste" als Seelenmuster des Faschismus vorgeführt: Dem Mann, dem Töten eine Unterhaltung und ein Kalkül ist, der ahnungslose KZ-Gefangene von seiner Kommandantur neben dem KZ Plaszow mit seinem Gewehr anpeilt und abdrückt, als sei er auf dem Jahrmarkt, ist die Tötung hilfloser Menschen nicht nur ein Hobby, auch nicht nur eine Abreaktion, sondern ein wichtiger Teil seines faschistischen Lebensprinzips: Die Schmach des Lebens ist seine Unvollkommenheit, seine Krisenhaftigkeit, seine Endlichkeit. Überleben heißt: Herrschaft des Übermenschen. Untermenschen entstehen, in dem man Todesangst erzeugt. Herrsche durch Terror! Wo Menschen sich sicher glauben, müssen sie dem Tod ins Auge sehen. So sind sie dienstbar für die Sache der Faschisten. Wer ihnen schwach vorkommt, wird umgebracht, damit alle, die am Leben bleiben, auch zum Volkskörper des Überlebensprinzips werden. Leben ist der Luxus der Macht, die Ästhetik des Großen, die Allmacht der rechten Gesinnung - und man muss etwas dafür bringen, um dabei zu sein.

 

Irgendwie hat es funktioniert. Amon Göth war noch bis Anfang der 80ger Jahre der Held für seine Familie. Für seine Tochter, die ihn nie lebend gesehen hatte, wurde er als pflichtschuldiger Soldat des Dritten Reiches geschildert, eine Nebenfigur wie alle Nebenfiguren, gefallen und nicht vom Obersten Polnischen Gerichtshof wegen 500fachen Mordes an Juden und Polen gehängt. Ihre Mutter hatte nach seinem Tod (nach einem eidesstattliches Prozedere mit Göths Vater) seinen Namen angenommen und galt als seine Witwe. Monika verspürt ihre Herkunft nur an Reaktionen und Stimmungen, vor allem am Schweigen und Verschweigen und drum herum Reden. Sie wollte es immer wissen und wurde immer nur abgespeist. Darüber berichtet sie und wird in dem Buch zu einer ausgezeichneten Erzählerin. Wir können mit vollziehen, wie sie zusammen mit Matthias Kessler sich ihre eigene Wahrheit erarbeitet und damit vieles wieder aufweckt, was auch wir kannten. "We are faschist babies" hatten wir in den 60ger/70ger Jahren auf die Klotür unserer Wohnkommunen gekritzelt und damit zu erklären versucht, warum wir unser Leben nicht annehmen können, warum wir gehemmt und voll unstillbaren Sehnsüchten waren, warum unsere Liebe voller Angst, menschliche Nähe manchmal schieres Erschrecken war. Auch unsere Eltern hatten "darüber nicht gesprochen".

Man spürt den Widerspruch von Monika Göth, wie sie mit einer Ungewissheit ihrer Herkunft leben muss und trotzdem weiß, was sie zu sein hat. Man liest sich in diese Geschichte von Lebensangst und Lebensschuld, als sei es die eigene. So einfach, wie alles vor sich geht, so total ist es. Menschen werden vernichtet, Kinder geboren. Das Leben verpflichtet. Warum auch sollte sie ihrer Mutter Vorwürfe machen, warum ihren Vater hassen? Was sie als Kind gelebt hatte, waren Ereignisse, nicht "ihr Problem". Das wäre es geworden, wenn sie dem nachgegangen wäre, wenn sie davon ausgegangen wäre, was ihr angetan worden ist. Aber das war zu viel. Sie hat für ihre Mutter ein Leben als Sklavin, als Untermensch führen müssen. Und sie hat nicht danach gefragt, was ihr Leben sein könnte, weil sie ihre Mutter liebte. So musste sie sich diesem Leben gegenüber auch schuldig fühlen. Wie wäre die Mutter sonst auch zu begreifen? Wie soll ein Kind verstehen können, warum die Mutter sie in größter Gefahr alleine lässt, sich und ihren Pudel vor einer tollwütigen Kuh in Sicherheit bringt ohne für sie irgendeine Hilfe zu holen? Wie soll es begreifen, warum es alles zu bringen hat, was der Mutter genehm ist, warum es täglich wie eine Sklavin ihr schwarzes Bad zu putzen, deren Freund in ihrem Zimmer aufzunehmen hat und in die Psychiatrie abgeschoben wird, als sie sich dagegen zur Wehr setzt? In der Logik ihrer Lebenswelt ist das einfach: Monika Göth hatte kein Recht auf ein eigenes Leben. Sie ist dafür Schuld, dass sie da ist. Sie ist es dem Leben schuldig, weil es nur gehen kann, wenn sie für ihre Mutter lebt. Bis in diese Tage sah sie sich für das, was nicht gut ging, als Ursache. "Wenn ich anders gewesen wäre, dann hätten die Dinge auch anders laufen können".

 

Wer durch andere Menschen lebt, muss sich am meisten vor sich selber fürchten. Die Mutter muss es begriffen haben - lange nachdem ihr Held gehängt und die Tochter aus dem Hause war. Sie hatte sich 1983 in einem Interview mit dem Britischen Fernsehen zu ihrem Leben mit dem Nazi-Schlächter Göth bekannt und sich am selben Abend noch mit Schlaftabletten umgebracht. Es ist eine grausame Logik, die in dieser Geschichte steckt, eine Logik des Übermenschen Göth, die lange über den real existierenden Faschismus hinaus bis tief in die Seele der Nachkommen greift. Es ist die Logik der nicht existenten Realität eines Mannes, der längst tot und doch überall da ist. Amon Göth steckt in allem, was Monika Göths Familie und das Leben mit ihrer Mutter bestimmt hatte.

Die Mutter selbst war unwirklich geworden. Das Luxusleben in der Nazizeit in der Villa gleich neben dem KZ und den mörderischen Aktivitäten ihres Mannes, die unmenschliche Niedertracht der Übermenschen, das Quälen und Töten von Schwachen, hatte sie groß werden lassen. Dort zählten die wirklichen Menschen nichts. Die Nichtigkeiten danach wurden ihr zur Qual. Ihre Lebensspaltung wurde zum Maßstab für Monikas Leben, zu ihrer Wertbestimmung. Es war eine glatte Umkehrung vom Leben ihrer Mutter. Sie musste sein, was jene nicht sein konnte, musste bringen, was jene nicht schaffte und musste sich fühlen, wie ihre Mutter sie wahrnahm. Und die Mutter hatte ihre Tochter nicht mal wirklich wahrgenommen. Sie war in einer völlig anderen Wirklichkeit verblieben: In der Welt der Narzissten und Ästheten, der Mode und Fahrlässigkeit und dem Verhältnis von Schwäche und Stärke, in dem die Autoerotik des liquidierten Faschisten weiterlebte. Er war wohl stark, weil er willkürlich sein konnte und konsequent, weil er in jenen überlebensgroßen Dimensionen dachte, die sein "System" zu erfüllen trachtete. Und er war hart, weil er seinen "Dampf" überall ablassen konnte und musste. Er war ihr Mann und er war es geblieben. Erst mit ihrem Selbstmord konnte diese Liebe zu Ende gehen.

 

Monika Göth erzählt weit mehr als nur ihre Geschichte. Es ist das erste wirklich direkte und offene Dokument über eine Liebe zu einem Faschisten. Das ist nicht nur zur "Bewältigung der Vergangenheit" von Bedeutung, sondern gerade auch für die zukünftigen Lebensgeschichten ein Stoff zum Bedenken von Macht und Sinn. Faschismus ist Terror auf allen Ebenen. Oft fängt er in der Liebe, der Familie, der Erziehung oder der Kultur an, bevor er zum Überlebensprinzip eines Staates wird, der das Leben seiner Bevölkerung beherrschen will, um Politik und Kapital zu sichern. Es geht hier um sein psychologisches Werkzeug. Mit faschistoiden Prinzipien wird permanent und zielgerichtet operiert, meist noch im Kleinen und Stillen, - sowohl in den armen wie auch den reichen Ländern. Das wichtigste ist das Prinzip der Liebes- und Lebensschuld, das den latenten Übermenschen allseitig zum Einsatz bringt. Es durchzieht als Liebes- und Lebensideologie alle Festschreibungen vom rechten Leben (namentlich die Religionen und die Psychologie) und bestimmt das (Fernseh-)Bild unserer Kultur. Die "Achse des Bösen" ist nichts anderes als das Feindbild des guten (Über-)Menschen, der seine wahren Interessen nicht mehr preisgeben will. Wo das Böse herrscht, da darf ruhig auch Öl sein, aber es soll keine Wirklichkeit der Länder mehr interessieren, in denen Selbstmordattentäter auf ihre Lebensbedingungen und –vernichtungen aufmerksam machen und einen Krieg führen, den sie längst schon verloren haben. Deshalb soll es dort keine Friedensverhandlungen und –regelungen geben. Nein: Es soll kein Elend mehr sich zeigen können, es soll vernichtet werden, was sowieso keine Chance hat, damit sich die Lebensform (und der Markt) herstellen lässt, die weniger Risiko und vor allem Gewinn für uns bedeutet. Sobald über den Gräbern der Kriege die neuen Straßen gebaut sind und rechts und links davon sich die Läden mit den Life-Style-Produkten dieser Welt mit einem gut sortierten Angebot ausbreiten, da wird sich die rechte Lebensform schon einstellen. Es ist die Konsequenz der Aufklärung, die im Faschismus ihre einfache Technologie genauso hatte, wie sie auch heute noch geläufig ist: "Der Mensch" braucht keine Geschichte, keine Entwicklung; keine Auseinandersetzung; er braucht eine Lösung.

Der Schwache wird isoliert und abgeschlachtet wie eh und je, weil er "dem Leben nicht mehr gerecht" werden kann. Von daher steht "Lebenswert" immer noch latent als Kulturpropaganda hinter den globalen Kriegsplänen im Kampf um Rohstoff und Absatzmärkte. Es muss endlich auch wieder ausgesprochen werden, dass jeder Mensch faschistoide Interessen verfolgt, der keine Auseinandersetzung mit den Ländern der Dritten Welt zur Weltlage sucht, weil er seine Stärke und Macht als seine Sicherheit weiß. Wo sie nicht als Mitglied der Weltgesellschaft geachtet und behandelt werden, wo Verhandlung, Diplomatie, Wirtschaftsbeziehung und Beistand auf Grund von kulturellen, ästhetischen oder politischen Werten abgebrochen oder schon gar nicht aufgenommen werden, da wird ein Machtprinzip mit einem ungeheuerlichen Hintersinn abgewickelt. Von daher ist eine Begriffsklärung des Terrors auf jeder Ebene wichtig – besonders die Selbsthinterfragung der gewohnten Liebes- und Lebensansprüche. Auch hierzu ist das Buch von Matthias Kessler ein lebhafter Beitrag.

 

Wolfram Pfreundschuh