AUS: "Psychologie Heute” Nr. 6, Juni 1979, S. 67ff

Auszug aus Klaus Holzkamp: "Wie kommt die Psychologie zur Praxis?"

 

"Umdenken in der Psychologie durch Leontjew

Warum führte die Bekanntschaft mit Leontjews Werk - besonders mit seinem Buch "Probleme der Entwicklung des Psychischen" - bei einem Teil der durch die Studentenbewegung geprägten "kritischen" Psychologen zu einem prinzipiellen Umdenken, durch welches die vorher für verschlossen gehaltene Möglichkeit einer fortschrittlichen Arbeit auf dem Gebiet der psychologischen Forschung selbst (nicht nur ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen und Auswirkungen) sich auftat und der Perspektive ihrer praktischen Umsetzung sichtbar wurde?

Leontjew brach zunächst mit der "psychologischen" Selbstverständlichkeit, daß man die Individuen hinreichend wissenschaftlich verstehen könne, wenn man nur die Individuen in ihrer unmittelbaren Umwelt und ihren direkten zwischenmenschlichen Beziehungen betrachtet. Er ging von der materialisiischen Grundeinsicht aus, daß das Leben primär in einem übergreifenden und "überindividuellen" historischen Prozeß sich entwikkelt: Dem naturgeschichtlichen Prozeß der Phylogenese, der den Evolutionsgesetzen unterworfen ist, und dem gesellschaftlich-historischen Prozeß, der sich gegenüber der Phylogenese verselbständigt hat, nach eigenen Gesetzen sich vollzieht und in welchem der Mensch sich nicht mehr, wie das Tier, über Mutation und Selektion der Umwelt anpaßt, sondern durch vergegenständlichende gesellschaftliche Arbeit die Natur gemäß seinen Lebensnotwendigkeiten umgestaltet und dabei bestimmte, sich selbst historisch entwickelnde, Verhältnisse, die "Produktionsverhältnisse", eingeht.

Aus diesem Grundansatz des historischen und dialektischen Materialismus ergab sich für Leontjew, daß man folgerichtig auch an das Problem des Psychischen historisch herangehen müsse. Er fixierte sich nicht mehr, wie die bürgerliche Psychologie, nur auf den "Endzustand", das menschliche Bewußtsein (um es dann etwa "introspektiv" zu analysieren oder, wie der methodologische Behaviorismus, als wissenschaftlich unzugänglich auszuklammern und bestenfalls als hypothetischen Umschlagplatz zwischen äußeren "Reizen" und dadurch bedingten "Reaktionen" zuzulassen).

Vielmehr stellte er sich die umfassendere Frage: Warum hat sich im historischen Prozeß so etwas wie das "Psychische" herausgebildet, oder (präziser), welche Funktion kommt dem Psychischen im historisch sich entwickelnden Lebensprozeß zu, aufgrund derer es sich herausbilden konnte und welche spezifischen Wesensbestimmungen des Psychischen lassen sich daraus ableiten? Diese Fragestellung schließt die weitere Frage ein: Welche verschiedenen Entwicklungsstufen machte das Psychische im Laufe der Phylogenese durch und (dies ist entscheidend) welche qualitative Besonderheit kommt dem Psychischen auf der "menschlichen" Stufe gesellschaftlicher Arbeit gegenüber all seinen bloß phylogenetischen Entfaltungsformen zu bzw. wie verändert sich das Psychische mit der Herausbildung verschiedener Produktionsweisen innerhalb des gesellschaftlich-historischen Prozesses (bis hin zum Kapitalismus und Sozialismus)?

Auch an die Beantwortung dieser Fragen ging Leontjew materialistisch heran: Mit dem Prinzip der "Praxis" als Lebensgewinnung durch aktive Umweltauseinandersetzung und der "Widerspiegelung” als über diese aktive Auseinandersetzung vermittelter gesetzmäßiger Rückwirkung objektiver Umwelteigenschaften auf den Organismus/das Individuum. Er kam so durch eingehende empirische Analysen naturgeschichtlicher Prozesse zu einer Auffassung über die Grundform des Psychischen, in welcher subjektive Befindlichkeiten und individuelles "Innenleben" zunächst noch keine Rolle spielen, sondern eiiie besondere Art der objektiven Umweltbezichung von Organismen herauskehoben ist:

Während die Organismen im "vorpsychischen" Stadium bloße "Stoffwechselwesen" sind, das heißt Nährstoffe nur aus den unmittelbar umgebenden Flüssigkeiten aufnehmen, ist die Elementarform des "Psychischen" nach Leontjew dadurch gekennzeichnet, daß die Organismen nicht nur auf Nährstoffe ansprechen, sondern auch auf stoffwechselneutrale Umweltgegebenheiten, sofern sie stoffwechselrelevante Gegebenheiten "signalisieren". Diesem Begriff des "Psychischen" als Vermittlungsprozeß zwischen direkt vital bedeutsamen und neutralen Umwelteigenschaften (die damit indirekt auch vital bedeutsam werden) sind bei Leontjew zwei weitere Grundbegriffe zugeordnet: "Sensibilität" auf neutrale Reize (in Abhebung von der bloßen "Erregbarkeit" gegenüber stoffwechselrelevanten Gegebenheiten) und "Tätigkeit" als über gegenständliche Beschaffenheiten der Umwelt vermittelter und diese aktiv widerspiegelnder Vorgang (in Abhebung von der bloß "zuständlichen" Aktivität des unmittelbaren Stoffaustauschs).

Leontjew verfolgte sodann die Ausfaltung der elementaren "Vermittlungsform" des Psychischen zu immer differenzierteren Vermittlungsstufen: Den Übergang von der Erf aßbarkeit einzelner Eigenschaften von Gegenständen zu der von ganzen Gegenständen und schließlich von Beziehungen zwischen Gegenständen, dabei die Verselbständigung von "Zuständlichkeiten" als individuell variierenden Reaktionsnormen, also die Herausbildung von "Bedürfnissen", die Verselbständigung einer Orientierungsphase gegenübef einer Ausführungsphase der Tätigkeit, den Übergang von der "instinktiven " zur individuell gelernten Vermittlung der Tätigkeit über gegenständliche "Signale" und so weiter. Entscheidend ist dabei, daß all diese Vermittlungsebenen als Stufen immer ausgedehnterer und differenzierterer Umweitbezichungen der Organismen, als immer adäquatere Widerspiegelung der für die aktive Lebensgewinnung relevanten objektiven Umweltbeschaffenheiten aufgefaßt werden.

 

Die menschliche Besonderheit des Psychischen

Auf diesem Wege kommt Leontjew zur Spezifizierung der psychischen Leistungen höchster Tiere, die alle früheren Formen in sich enthalten und überschreiten: Manipulationsfähigkeit, Erkundungsverhalten, Werkzeuggebrauch, Erfaßbarkeit und Herstellbarkeit komplexer Zweck-Mittelbeziehungen etc., und von da aus zu der Kernfrage, wodurch sich die menschliche Psyche selbst von diesen höchsten tierischen Formen, damit auch von allen früheren Formen bloß phylogenetischer Ausfaltung des Psychischen, qualitativ unterscheidet.

Dabei ist klar, daß das Psychische auch auf seiner menschlichen Stufe als Vermittlungsform zwischen direkt vital bedeutsamen und "neutralen" Umweltgegebenheiten durch aktive Widerspiegelung objektiver Umweltbeschaffenheiten charakterisierbar sein muß, da es trotz seiner qualitativen Besonderheiten nicht aus den Gesetzmäßigkeiten der Gesamtentwicklung des Lebens heraustreten und als etwas "ganz Anderes" vom Himmel fallen kann, sondern vielmehr gerade aus diesen Gesetzmäßigkeiten in seiner neuen Qualität ableitbar und verständlich wird.

Leontjew findet den Ansatz zur Heraushebung der "menschlichen" Besonderheit des Psychischen, indem er zunächst wieder auf den übergeordneten Gesamtprozeß, den Übergang von der bloß phylogenetischen Entwicklung zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung durch vergegenständlichende Arbeit zurückgreift und deii Arbeitsprozeß auf seine Implikationen für den individuellen psychischen Prozeß hin analysiert.

Dabei verdeutlicht sich: Während die Tiere bis zu den höchsten Formen hin ihr Leben in lediglich individueller Auseinandersetzung mit ihrer natürlichen Urnwelt erhalten (und auch die tierischen Sozialverbände nur den Effekt der Absicherung dieser individuellen Lebensgewinnung haben) kann der Mensch prinzipiell nur in der Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß sein individuelles Leben erhalten und entwickeln. Um dies auf den Begriff zu bringen, führt Leontjew das zentrale Kategorienpaar der "Vergegenständlichung/Aneignung" ein: Individuelle Lebenstätigkeit in ihrer menschlichen Besonderheit ist Beteiligung an der kollektiven vergegenständlichenden Naturveränderung aufgrund der über die vergegenständlichende Tätigkeit vollzogenen Aneignung der gesellschaftlich kumulierten Produktionserfahrung, womit stets gleichzeitig ein Beitrag zu dieser Erfahrungskumulation geleistet wird.

Die Kategorie "Vergegenständlichung/Aneignung" ist also hier die psychologische Konsequenz der Tatsache, daß derMenschzugleichin kollektiverArbeit seine Lebensbedingungen schafftund individuell unter diesen Bedingungen sein Dasein erhält. Dies bedeutet nun, aber daß das Psvchische in seiner menschlichen Quaiität gesellschaftlich vermittelt ist, eine Vermittlungsform, die gerade zur Erhaltung der individuellen Existenz die bloße individuelle Existenz notwendig überschreitet, der gegenüber also alle bisher aufgewiesenen unspezifisch-organismischen Vermittlungsformen als lediglich individuell auf die Seite der "Unmittelbarkeit" geschlagen werden müssen.

Die so gefaßte gesellschaftliche Vermitteltheit bedeutet - da sie als Resultat der phylogenetischen Entwicklung zu begreifen ist - einmal, daß der Mensch, im Unterschied zu allen anderen Lebewesen, bereits seiner "Natur" nach ein potentiell gesellschaftliches Wesen ist, und - da der gesamtgesellschaftliche Prozeß sich in Form gegenständlicher Produktionsweisen als durch Arbeit geschaffener Lebenswelt des Menschen entwickelt - zum anderen, daß die "gesellschaftliche Natur" des Menschen sich immer in historisch bestimmte, formations-, klassenund standortspezifische gesellschaftliche Verhältnisse hinein realisiert. Die individuelle Entwicklung ist mithin auf die Gesetzmäßigkeiten und die Stufenfolge der Realisation gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen unter jeweils konkret-historischen Bedingungen zu analysieren.

Übergreifende Analyseeinheit ist dabei das Verhältnis zwischen den unspezifischen, also individuell-unmittelbaren, und den gesellschaftlich vermittelten, also auf die Teilhabe an der Bestimmung über die individuell relevanten gesellschaftlichen Lebensbedingungen gerichteten, Aspekten des Psychischen - ein Verhältnis, daß in unterschiedlichen Produktionsweisen und Klassenlagen auf verschiedene Weise sich als Widerspruchsverhältnis ausprägen kann.

Auch die Widerspiegelungsbeziehung gewinnt auf dem Niveau der spezifisch menschlichen Psyche eine neue Qualität. In den Charakteristika der Lebenstätigkeit und ihrer funktionalen Grundlagen spiegeln sich nicht nur - wie auf unspezifisch organismischem Niveau - aufgrund phylogenetischer Anpassungsprozesse die für die Lebensgewinnung relevanten Züge der natürlichen Umwelt "aktiv" wider. Vielmehr ist die Umwelt des Menschen, da durch gesellschaftliche Arbeit produziert und sich im historischen Prozeß verändernd, selbst schon permanentes Resultat der aktiven Widerspiegelung von für die gesellschaftliche Lebensgewinnung auf der jeweiligen Stufe relevanten Natureigenschaften.

Das Individuum spiegelt in seiner Lebenstätigkeit mithin die gesellschaftlich produzierte Umwelt quasi noch einmal wider, indem es sich einerseits in sie hineinentwickelt, aber andererseits auch an ihrer gesellschaftlichen Schöpfungund Veränderung aktiv teilhat - dies ist der individuelle Aspekt des Verhältnisses von Aneignung und Vergegenständlichung, oder (wie man es auch ausdrücken kann) von objektiver Bestimmtheit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren subjektiver Bestimmung.

 

Die Kritische Psychologie als Alternative

Was folgt nun aus dem soweit skizzierten Leontjewschen Grundansatz für die Beantwortung unserer Ausgangsfrage nach einer psychologischen Alternative zur bürgerlichen Psychologie?

Aus dem Umstand, daß Leontjew mit wissenschaftlichen Mitteln zu allgeineinen Bestimmungen der spezifisch menschlichen, das heißt gesellschaftlichen Existenz der Individuen kommen konnte, ergibt sich, daß die erwähnte Vorstellung der gängigen "linken" Psychologiekritik, "die" Psychologie müsse, da sie individuelle Subjektivität zum Gegenstand hat, notwendig gesellschaftliche Widersprüche und Beschränkungen zur "psychischen" Privatsache der Individuen verkehren, selbst noch in der bürgerlichen Ideologie eines Ausschließungsverhältnisses zwischen "Individuum" und "Gesellschaft" befangen ist, also die genuine Gesellschaftlichkeit der Individuen verfehlt.

Somit wird klar, daß die Verallgemeinerung von Zügen der bürgerlichen Privatexistenz zu Charakteristika des Menschen überhaupt, damit die Verdrehung seiner historisch bestimmten gesellschaftlichen Lebenswelt kapitalistischer Klassenverhältnisse zur "natürlichen" Umwelt, keineswegs typisch "psychologisch", sondern einfach unwissenschaftlich ist.

Eine wissenschaftlich begründete psychologische Konzeption muß hier vielmehr umgekehrt die bürgerliche Privatexistenz als scheinbar "ungesellschaftlichen" Spezialfall der Gesellschaftlichkeit von Individuen, soweit sie den bürgerlichen "Privatformen" unterworfen sind, begreifen und erforschen. Nur so sind die Individuen nicht nur in ihrer Ausgeliefertheit an die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch in den Möglichkeiten und Perspektiven einer Überwindung der Ohnmacht ihrer Privatexistenz in unmittelbar gesellschaftlicher Praxis, damit gemeinsamen subjektiven Bestimmung ihrer Lebensverhältnisse, erfaßbar und so die Schranken der bürgerlichen Psychologie in psychologischem Denken und Handeln zu überschreiten.

Ausgehend von dieser Programmatik kann man nun - wie etwa in der Kritischen Psychologie versucht - in Spezifizierung der Rahmenkategorien "Vergegenständlichung/Aneignung" mit der erwähnten historischen Herangehensweise an den verschiedenen vordergründigen Funktionsaspekten der Lebenstätigkeit - Wahrnehmung, Denken, Emotionalität, Motivation etc. - ansetzen. Auf dem damit eingeschlagenen Wege sind derartige "Funktionen" psychischer "Privatexistenz" auf die darin liegenden allgemeinen Bestimmungen gesellschaftlicher Vermitteltheit hin zu durchdringen und in ihrem Zusammenhang zu erfassen, womit gleichzeitig die darin aufgehobenen "unspezifischen", organismischen Bestimmungen sich verdeutlichen und mit den "spezifisch"-geselischaftlichen Bestimmungen ins Verhältnis zu setzen sind.

Auf dieser Grundlage ist dann die historisch bestimmte Erscheinungsform der verschiedenen Funktionsaspekte in ihrer oberflächlichen Absonderung und Isolation als Resultat ihrer Verkürzung und Verkehrung in den scheinhaft ungesellschaftlichen Formen der Privatexistenz zu erkennen. Dies bedeutet gleichzeitig die Erkenntnis der konkreten Möglichkeiten zur "subjektiv" bestimmten Überwindung der "Privatexistenz", also der Isolation und "Verinnerlichung" des Psychischen, in einheitlicher Handlungsfähigkeit der Gesarntperson im Zusarnmenhang "allgemeiner" gesellschaftlicher Praxis, also kollektiven Verfügung über die relevanten Lebensbedingungen.

Damit gewinnt auch die Kritik an der bürgerlichen Psychologie über die erwähnte bloße "Funktionsanalyse" hinaus ein neues Niveau: Hier ist mit der Kritik einmal aufzeigbar, in welcher Hinsicht die bürgerliche Psychologie jeweils die Individuen nur in den Aspekten wissenschaftlich abbildet, in denen sie als "Private" an ihre Umwelt ausgeliefert sind; andererseits aber (und dies ist entscheidend) erlangt man hier gleichzeitig Gesichtspunkte, um jeweils konkret die Aspekte aufzuweisen, in welchen die Individuen tatsächlich in ihrer individuellen Lebenstätigkeit ihre privaten Beschränkungen überschreiten, das heißt: ihre Ausgeschlossenheit von der Verfügung über die für sie relevanten gesellschaftlichen Lebensverhältnisse überwinden und zu kollektiver Selbstbestimmung kommen können.

Allgemein sollte deutlich werden: Eine psychologische Konzeption, die auf Leontjewschen Erkenntnissen aufbaut, setzt das Psychische nicht all die Stelle der realen gesellschaftlichen Lebensverhältnisse, sondern begreift es als deren Widerspiegelung, sowohl im Hinblick auf die objektive Bestimmtheit wie die subjektive Bestimmung.

Psychisches wird hier also nicht mit dem "privaten" Innenleben gleichgesetzt, das scheinbar bloß individuelle Erleben wird vielmehr umgekehrt als blinde "privatistische" Reaktion auf klassen- und standortspezifische Beschränkungen und Widersprüche in der bürgerlichen Gesellschaft begreifbar und durchdringbar gemacht.

Damit ist klar, daß auch in einer aus derartigen psychologischen Konzeptionen abgeleiteten Praxis nicht von den gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen der Entwicklungsbeschränkungen und psychischen Leiden abgelenkt und bei den Individuen nicht die Illusion bestärkt wird, sie könnten mit Hilfe der Psychologie ihre eigene Lebenslage nachhaltig verbessern, ohne die objektiven gesellschaftlichen Existenzbedingungen unter denen sie leben müssen, zu verändern.

Vielmehr wird davon ausgegangen, daß Persönlichkeitsentwicklung und Überwindung psychischer Schwierigkeiten gleichbedeutend ist mit der Erweiterung der Kontrolle des Individuums über seine relevanten gesellschaftlichen Lebensbedingungen, wobei dies nicht durch den Einzelnen, sondern nur durch Tedhabe an bewußter gemeinsamer Bestimmung und Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse möglich ist.

Die psychologische Arbeit bietet hier also keine individuellen "Tröstungen" an, predigt nicht "Bescheidenheit' und "Verzicht", sondern verweist auf die Notwendigkeit des Risikos kollektiver Umweitauseinandersetzung im Kampf um die gemeinsamen Interessen als Voraussetzung für ein sinnvolles und befriedigendes individuelles Dasein.

 

Forderung nach einer parteilichen Berufspraxis

Mit diesen Darlegungen sollte gemäß unserer Ausgangsfrage nur aufgewiesen werden, daß auf der Basis Leontjewscher Erkenntnisse die Entwicklung einer die Beschränkungen und Verkehrungen "bürgerlicher" Psychologie überwindenden psychologischen Theorie und Praxis möglich ist und in welche Richtung dabei die wissenschaftliche Entwicklungsarbeit geht.

Über den konkreten Inhalt der unter dieser Zielsetzung bereits erarbeiteten theoretischen, methodischen und praktischen Konzeption wurde damit natürlich noch nichts Genaueres gesagt und braucht in diesem Artikel auch nichts gesagt zu werden.

Einer anderen Frage können wir hier jedoch nicht ausweichen: Der Frage, ob und wie sich eine an den genannten allgemeinen Grundkonzeptionen und Zielsetzungen orientierte psychologische Wissenschaft und Praxis unter den eingangs dargestellten institutionellen Beschränkungen und "Funktionszuweisungen" der Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt real durchsetzen läßt.

Man gewinnt den Ansatz zur Klärung dieser Frage, wenn man sich verdeutlicht, daß das generelle Rahmenziel materialistischer Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft: Durchdringung der bürgerliehen Privatexistenz in Richtung auf kollektive, unmittelbar gesellschaftliche Praxis, natürlich auch auf die Psychologen selbst und ihre gesellschaftliche Funktion zu beziehen ist. Es folgt aus der in den Grundzügen dargestellten psychologischen Theorie, daß der Psychologe bei ihrer Vertretung und Umsetzung nicht selbst in der "Privatexistenz" der üblichen, im weiteren Sinne kleinbürgerlichen "Berufsrolle" der traditionellen psychologischen Praxis verharren kann.

Wenn in der psychologischen Arbeit zusammen mit den Betroffenen die "privatistischen" Einkapselungen und Isolierungen, Fixierungen auf das eigene Jnnenleben" und das individuelle Schicksal als scheinbarem Ort der Entstehung und Bewältigung psychischen Leidens dadurch überwunden werden sollen, daß man die konkrete gesellschaftliche Lebenslage, die alldem zugrundeliegt, durch die Praxis erkennt und gemeinsam verändern kann, so bedeutet dies, daß die Psychologen selbst notwendig in diesen permanenten Prozeß der Initiierung kollektiver Selbstbestimmung eingeschlossen sind.

Organisation und Selbstorganisation von Betroffenen und Psychologen in verschiedenen Größenordnungen und auf allen Ebenen, Bündnisse mit relevanten gesellschaftlichen Kräften, jeweils zentriert auf den Lebensbereich, ih welchem die scheinbare Icheingeschlossenheit der bürgerlich formierten Psyche in gemeinsarner Verfügung über relevante Lebensumstände überschritten werden muß, ist also ein integraler Bestandteil materialistisch fundierter psychologischer Arbeit (als Beispiel zur Veranschaulichung sei nur auf das Westberliner Legasthenie-Zentrum mit seiner Elternorganisation verwiesen).

Die Durchsetzbarkeit der geschilderten psychologischen Grundkonzeption ist allerdings selbst angesichts solcher Vorstellgngen bei Berücksichtigung des bestehenden Kräfteverhältnisses immer noch illusionär, wenn man nicht noch einen Schritt weitergeht: Die dargestellte materialistisch-psychologische Konzeption wechselt, wie deutlich wurde, ihre Parteilichkeit; sie dient nicht mehr mindestens latent dem Interesse des Kapitals, sondern steht auf grund ihres wissenschaftlichen Standorts objektiv im Interessenzusammenhang der Arbeiterbewegung.

Es ist hier mithin eine Konsequenz der Theorie, die objektive Parteilichkeit auch in subjektive Parteilichkeit, das heißt bewußte Assoziation der Psychologie und der Psychologen zu den Organisationen der Arbeiterbewegung, in unserer gegenwärtigen Situation besonders den Gewerkschaften, zu überführen.

Die Praxis materialistischer Psychologie ist also genuin politisch, wobei die politische Arbeit aber hier nicht mehr neben der und im Widerspruch zur psychologischen Theorie steht, sondern sich in ihrem Inhalt und ihrer Zielrichtung jeweils aus der praxisgeleiteten wissenschaftlichen Arbeit und deren theoretischen Grundlagen selbst ergibt. (Der Umstand, daß der 2. Kongreß Kritische Psychoiogie über Arbeit und Arbeitslosigkeit vom DGB mitveranstaltet und zusammen mit Gewerkschaftern durchgeführt wird, ist ein konsequenter Entwicklungsschritt in diese Richtung.)

Und wie sind dabei die Erfolgsaussichten? Es wird Schwierigkeiten geben! Schwierigkeiten z. B. zunächst im langwierigen Prozeß der Verständigung zwischen Gewerkschaft und Wissenschaft, in welchem die Gewerkschafter ihr aus vielfältigen historischen Erfahrungen ent standenes Mißtrauen gegen die herkömmliche Wissenschaft und die Wissenschaftler die realen Gründe für dieses Mißtrauen abbauen müssen. Darüber hinaus aber all jene Schwierigkeiten, die die Arbeiterbewegung selbst auf ihrem geschichtlichen Weg hat.

Von der Tatsache, daß auf diesem Weg jeder Fortschritt durch Rückschläge und Niederlagen hindurch erkärnpft werden muß, sieht sich auch der der Arbeiterbewegung assoziierte Wissenschaftler mitbetroffen. Er wird seine kleinbürgerliche Wehleidigkeit, Verzagtheit, Ungeduld und Kurzatmigkeit überwinden und den "langen Atem" und historisch begründeten Optimismus der organisierten Arbeiterklasse in seiner eigenen Befindlichkeit realisieren müssen, wenn er den Konsequenzen seiner Theorie in der eigenen Lebenspraxis gerecht werden will."

(aus "Psychologie Heute” Nr. 6, Juni 1979, S. 67ff)