0

210. Einleitung in eine Theorie der symbiotischen Selbstbehauptung (Der ausschließliche Sinn der Lebensbergung)

Im ersten Band dieser Kritik der politischen Kultur wurde der Entstehungsprozess der narzisstischen Persönlichkeit aus der Entzweiuung von Empfindung und Gefühl abgeleitet, wodurch der Selbstwert der Menschen sich im Prozess ihrer Selbstverwirklichung. akkumuliert hatte. Dieser hatte die Wirklichkeiten des Lebens weitgehend in ihrer Selbstwahrnehmung aufgesaugt und Persönlichkeiten hervorgebracht, die in ihren Selbstgefühlen sich hiergegen objektiv verselbständigt haben, in dem sie ihren Selbstwert als ihre Selbstveredelung bewahren. Doch in ihrer Egozentrik, die sich zur narzisstischen Persönlichkeit entwickelt und als flexible Persönlichkeit abgeschlosen hatt, läuft dieser Wert leer. Was deren Flexibilität ausmacht, besteht ja alleine aus dem unentwegten Wechsel von zwischenmenschlichen Beziehungen, durch die sie sich im Wesentlichen gleichbleiben und gegen die wirklichen Menschen gleichgültig werden, während sie die Veränderung für sich nutzen, um außer sich zu sein und auch außer sich zu bleiben, um im Wesentlichen unberührt von ihrem wirklichen Leben einfach nur da zu sein. Denn wenn dieses nicht beständig erneuert wird, wenn das Lebensmittel deiser Beziehungen, die Selbstgefühle ihres Selbstwerts keinen "Stoff" mehr finden, ihre Gefühle sich aus keinen Empfindungen mehr bilden können, da entsteht in den immer wiederkehrenden Ereignissen ihres Lebens eine unbändige Langeweile, die nach einem immer ausgiebigeren "Stoffwechsel" verlangen und sich in ihrer Beliebigkeit verdichten, die eine immer beständiger werdende Anwesenheit von Menschen verlangt, wodurch sich ihre Selbstveredelung in ihrem Edelmut noch wahr machen kann. Ohne diesen können sie sich nicht mehr leiden. Sie leiden also unmittelbar vo allem unter jeder Abwesenheit von Menschen, die sie in der Selbstveständlichkeit ihrer Lebensumstände um sich haben.

So edel wie sie für ihre Selbstwahrnehmung geworden sind, können sie nur durch das Verhältnis zu anderen Menschen als Persönlichkeiten ihres Lebens sein. Und sie bleiben dies, indem sie aus ihrer Persönlichkeit selbst eine Umgangsform für ihre daraus bestimmte Rolle finden. Diese stellt deren Verhältnisse aus ihren Gefühlen begründet in der Notwendigkeit ihrer Selbstvergegenwärtigung dar. Denn jedes Gefühl kann nur wirklich wahr werden, wenn es in diesen Verhältnissen seine Empfindungen finden und sich darin vergegenwärtigen kann.

Die Verhältnisse der Selbstwahrnehmung haben sich von da her zu einem Verhältnis der Zwischenmenschlichkeit in und durch ihre Selbstgefühle entwickelt, worin die beteiligten Menschen als menschliche Persönlichkeit des darin nurmehr durch das wahr gehabte Leben gewahr werden, sich nun als Träger einer Menschlichkeit zwischen den Menschen erscheinen, für sich aber als Personen, als "Masken ihres Lebens" recht leblos sind. In ihrem Dasein als diese "Zwischenmenschen" ist ihr Leben schnell aufgebraucht und leer. Aber es erscheint ihnen ihr Glück immer wieder durch ihr unmittelbares Verhältnis gegeben, indem sie sich selbst zum zwischenmenschlichen Erleben aufbereiten, sich darin qualifizieren und sich hierfür aufbereiten und bereitstellen. Was sie aufbringen müssen um dieses zu erlangen muss jetzt der Macht der Selbstverwertung in einem tieferen Umfang gehorchen; sie müssen sich gegenseitig ihrer Bedingungen versichern, diese immer wieder erzeugen, erneuern und bewahren, um darin ihr Lebensglück zu finden und zu halten.

Doch ein solches Verhältnis lebt von einer Wirklichkeit, die hier nicht wahrnehmbar ist, denn ein derartiges Glück unterstellt die Ganzheit eines Lebensprozesses in einer abgeschiedenene Privatheit, die auf ihrer gesellschaftlichen Ausgeschlossenheit gründet. Das macht zugleich ihr Unglück aus. Es verlangt die Permanenz ihrer Selbstaufgabe in der Verwirklichung ihrer zwischenmenschlichen Gemeinschaft - und dies in einem Verhältnis, worin der Selbstwert sich bestätigen und verstärken muss. Das ist zwangsläufig widersprüchlich, denn es zehrt ausschließlich von dem, was es im Ausschluss von sich verbraucht. Es geht ja nicht um die bloße Anwesenheit in einem gemeinschaftlichen Lebensraum, sondern vor allem um einen Sinn, den die Zwischenmenschen hierfür äußern müssen, sich in diesem also auch veräußern, um sinnlich zu sein. In dieser wechselseitigen Veräußerung ist ihre permanente Selbsterneuerung grundlegend, denn sie besteht letztlich aus einer allgemeinen Entleibung der Wahrnehmungsverhältnisse, in denen die Menschen sich ihrer geistigen und körperlichen Eigenschaftlichkeit nur durch wechselseitige Einverleibung versichern und diese bewähren können und sich ihrer Wahrnehmung beugen, um ihr Selbst nun als seelische Substanz ihrer Beziehungen zu verwirklichen, um als abstrakt menschlicher Sinn wirklich zu sein.

Um sich unter dieser Bestimmung als Mensch zu fühlen, müssen sie ihre zwischenmenschliche Verhältnisse so betreiben, dass ihnen ihre Selbstwahrnehmung als Lebensraum ihrer Gegenwärtigkeit auch gewahr ist und Gewähr für ein Leben bieten und bleiben kann, in welchem ihre Selbstwahrnehmung bestärkt und zugleich aufgehoben ist. Was sie in ihrer Selbstwahrnehmung noch als besondere Wahrnehmung ihrer selbst, ihrer Gefühle als solche, was sie zwischen den Menschen als zwischenmenschliche Erlebnisse bewirken und austauschen konnten, wird nun objektiv, ohne ihnen als Objekt wahrnehmbar zu sein, weil sie darin nicht durch sich selbst verwirklicht sind und sich nur ungegenwärtig erfahren. Das Verhältnis ungegenwärtiger Persönlichkeiten verlangt ihre Selbstvergegenwärtigung im Verhältnis allgemeiner Selbstbezogenheiten und wird hierdurch zu einem ausschließlichen Verhältnis, weil es sich in Wahrheit nurmehr in der Abwesenheit eigener Wirklichkeit, also zwischen den Personen als Notwendigkeit der Selbstvergegenwärtigung zuträgt, sich zu ihren Charaktereigenschaften verfestigt und ihr Verhalten zu anderen Personen begründet. Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind zu einem leibhaftigen Zwischenmenschen geronnen, zu einem Menschen, der ich so verhält, wie er sich in diesen Beziehungen bewahrheiten und bewähren muss, als dieser zu sein hat. Als derart kultivierte Persönlichkeit ist der Zwischenmensch ein einziger Widerspruch, ein Mensch, der nicht durch sich selbst sein kann und sich doch als sich selbst verwirklichend erlebt.

Durch ihre Persönlichkeiten erscheinen sich die Menschen in ihren zwischenmenschlichen Verhältnissen durch sich selbst bestimmt und dennoch immer noch auf der Suche nach einer optimalen Selbstverwirklichung. Ihre Person ernährt sich vom Glück ihrer Selbstwahrnehmung, die doch wesentlich nur Fremdwahrnehmung ist, Wahrnehmung dessen, was sie für ihre Beziehung auf andere sein müssen. Um dieses Glück zu erhalten, müssen sie sich an diese Lebenswelt binden, denn ungebunden wird das Verhältnis unmittelbar zu einem Verhältnis von Fremden. So vertraut sie sich ob dieser Bindung werden, es ist doch die Gebundenheit eines Lebensglücks, das festgehalten werden muss, in welchem sich die Menschen in ihrem Verhalten zu einander aneinander binden, sich in ihren Verhaltensgewohnheiten binden und von daher sich auch an sich selbst fixieren, sobald diese zum Inhalt ihrer Selbstwahrnehmungen werden und sich zunehmend von den Wahrnehmungen der entfremdeten Selbstverwirklichung ausgrenzen, wie sie der reinen Persönlichkeit zu eigen ist.

Sie bestimmen ihre Beziehungen jetzt zwar weiterhin durch das, was ihren Selbstwert in diesen Verhältnissen ausmacht: Wahrnehmungen, die ihre persönliche Integrität bilden, erhalten und ausdehnen, ohne dass sie sich anders vergegenständlichen, als durch die Beziehungen in dem Lebensraum, worauf sie sich nun reduzieren, auf die Anwesenheit von Personen, die darin zuträglich sind. Aber sie haben zugleich ihre eigenen Verhältnisse in sich wahr, als ein ausschließliches und ausschließendes Verhalten nach Maßgabe der Selbstwahrnemung in diesen Verhältnissen.

Die Verhältnisse bewegen sich daher in einem Widerspruch, der bisher nur als Gegensatz in der Selbstverwirklichung bestanden hatte: Die Selbstwahrnehmung ist durch die persönlich beschränkte Wirklichkeit zwar erhaben über jede andere Wahrnehmung, aber sie bestimmt und beschränkt auch ihre Entfaltung, indem sie von anderen Persönlichkeiten abhängig wird, Familien gründen. Menschen nutzen ihre zwischenmenschlichen Beziehungen nicht mehr einfach nur als Mittel ihrer Selbstverwertung, sondern auch als Lebensraum ihrer Selbstbergung, als Heim ihrer heimlichen Selbstverwertung. So erfahren nun die Menschen in ihren persönlichen Beziehungen auch die geistige Ohnmacht ihrer Zwischenmenschlichkeit. Es entsteht auf diese Weise die Notwendigkeit einer Bergung der eigenen Person in Verhältnissen, worin sie zu sich kommen soll, eine Welt der Lebensbergung, worin die Lebensbedürfnisse zu Haushaltungen des Eigensinns vereinseitigt werden.

In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Familie ihrem kulturellen Wesen entsprechend eine Akkumulation der Selbstverwertung des Geschlechtsverhältnisses, der Institutionalisierung gesellschaftlicher Geschlechtsrollen in einer persönlichen Form, in der Form, worin sich Menschen als das gelten sollen, worin sie sich als besondere Geschlechtspartner und Eltern erscheinen. Sie häufen darin ihre Selbstwahrnehmungen so auf, dass sich deren Selbstwert als Lebenszusammenhang darstellen lässt, ganz gleich wie das Leben sonst überhaupt ist. Immerhin kompensiert der auf diese Weise institutionalisierte Selbstwert nicht nur den Verlaust der Selbstachtung jenseits der familiären Verhältnisse, sondern auch den, der sich in ihr ins Verhältnis versetzt hat, ins Verhalten von unzähligen Selbstverwerfungen (siehe auch Selbstlosigkeit). Von daher ist dieser Lebensraum sowohl die Fixierung wechselseitiger Selbstbehauptungen (siehe symbiotische Selbstbehauptung), als immer auch schon eine Abschottung gegen die Mängel des gesellschaftlichen Geschlechtsverhältnisses und also eine Lebensburg.

Für die modernen zwischenmenschlichen Verhältnisse ist Familie daher der Form nach eine Schutzgemeinschaft gegen die kulturellen und ökonomischen Verwerfungen, welche den gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus zur Folge in seinen Krisen und Zwängen aufkommen. Von daher haben sie als Lebensburgen der Zwischenmenschlichkeit eine restaurative Funktion der bürgerlichen Kultur. Im Unterschied zu feudalen Gesellschaftsformen, die auf der Hausmacht der Geschlechter und Generationen gründen, versteht sich Familie in der bürgerlichen Gesellschaft vor allem als kulturelle Lebensgemeinschaft der nächsten Abkömmlige, dem Lebensverhältnis von Älteren (Eltern) und Jüngeren in der Generationsfolge, dem Verhältnis von Großeltern, Eltern und Kindern und zugleich als ein Erziehungs- und Beziehungszusammenhang der damit verwandten Menschen, der "Blutsverwandten" und der per Ehevertrag eingeschwägerten Verwandten.

Das auf diese Weise geborgene Leben stiftet eine eigentümliche Sinnlichkeit, in welcher die Beschränkheiten dergesellschaftlichen Wahrnehmung nun zu eigenem Lebensraum wird, zu vier Wänden, worin sein kann, was sein will. Indem sich das Leben zwischen den Menschen als persönliches Verhältnis einbürgert und zu dessen Existenzform wird, muss es sich auch für dieses Verhältnis verbürgen. Und so entsteht ein allgemeines Sollen in dieser Welt, das sich als seelische Verpflichtung verallgemeinert. Aus dem zwichenmenschlichen Beziehungen, aus ihrer Liebe wird zugleich eine Liebesschuld.

In diesen Verhältnissen zwischenmenschlicher Existenz wird zum einen Selbstwahrnehmung vergemeinschaftet, zum anderen Fremdwahrnehmung erzeugt, ja, es besteht überhaupt und im Grunde aus dem Verhältnis von Selbstwahrnehmungen, in welchem alles ihnen Ungewisse als Fremdwahrnehmung erscheint. Was sie "unter sich" Lebensglück gewinnen, wird zuglich zu einem Verlust ihrer Selbstwahrnehmung, entnimmt ihr den Sinn, den sie durch sich als Beziehung auf sich hatte. Die Selbstwahrnehmung ist in der Beziehung zwischenmenschlicher Existenz permanent bedroht von einem Leben, das sich der Übereignung von Sinnlichkeit entzieht. Dieses wird innerhalb der seelischen Existenzen als vermisstes Leben wahrgehabt und muss von daher durch die Potenziale des Glücks überboten werden, welches durch das geborgene Leben gewonnen wird. Das vermisste Leben wird hinter den Selbstgefühlen zum Träger des geborgenen Lebens, zu einer Pflicht, sich diesem zu unterordnen, zu einer Lebensschuld. Waren die Erlebnisse dereinst noch Lebensausdruck, so werden sie jetzt selbst zu einer Notwendigkeit, sich dem Lebensausschluss zu widersetzen, mehr aus dem geborgenen, dem eingeschlossenen Leben zu machen.

Die Seele der Geborgenheiten, der Geist, der sich für eine seelische Existenz bergen lässt, ist allerdings sehr abstrakt, er besteht lediglich daraus, wie sich die Menschen in solchen Verhältnissen als Momente ihrer Eigenliebe anfühlen lassen. Es wird darin das Verhältnis der Eigenliebe zu einer Menschenliebe zu einem existenziellen Widerspruch, der nur dahin aufgelöst werden kann, dass die Eigenliebe selbst zur Menschenliebe wird, die eigene Persönlichkeit also zu einer Welt des persönlichen Lebens schlechthin wird.

Solche Persönlichkeiten allerdings vollziehen dennoch den Widerspruch ihrer Selbstwahrnehmung, jetzt allerdings als Widerspruch ihres Selbstwertes in solcher Beziehung, als beständige Selbstunterwerfung und Selbstüberhöhung gegen ihre eigene Liebesbeziehung, durch welche sich die Personen verbinden und abstoßen zugleich. Alle Gattungsmerkmale des Menschseins geraten hierbei zu einem Merkmal der Selbstwahrnehmung und werden von daher auch eine Lebensform nötig haben, die dieser entspricht: Die bürgerliche Familie. Darin lebt die Selbstisolation, welche die Selbstwahrnehmung hervorbringt und notwendig hat, dadurch auf, dass sie als vergemeinschaftete Natur menschlicher Beziehung überhaupt, als personifiziertes Gattungswesen erscheinen kann, welche nicht nur das Leben der Menschen bestimmt, die in persönlichen Lebensräumen existieren, sondern auch das derjenigen, die das nicht tun, die damit also gattungslos und unbegattet bleiben, weil und sofern es kein gesellschaftliches Gattungsleben gibt. Darin wird Leben im Allgemeinen, das Leben eben, wie es ist und welche Verbindungen sich darin entwickeln, für sich zu einer Form gebracht, in der es verbindlich und als ein formbestimmtes Leben zur Pflicht wird. Die Wahrnehmung der Welt wird durch diese Pflicht bestimmt und stellt sich von daher in einen Gegensatz zur Selbstwahrnehmung, die sich zwar frei hiervon dünken kann, doch nur weil sie diese Bestimmtheit objektiv erfährt und sich hiergegen garnicht verhalten kann. Diese Formbestimmtheit ist die Tücke der bürgerlichen Kultur: Gerade indem sich die Menschen darin frei fühlen und zu äußern meinen, vollziehen sie das objektive Selbstgefühl ihrer bornierten Existenz, wie sie schon vor ihnen bestimmt und außer ihnen wirksam ist.

In dieser Bestimmtheit werden die unterschiedlich existierenden Personenkreise hiernach in ihrem ganzen Leben verpflichtet, die ihre Selbstisolation durch solche Lebenspflichten zu überwinden suchen und dabei nur vollziehen, was dem entsprechen nötig ist. Was nötig ist, das fügt sich eben. Und je freiwilliger es erscheint, desto inniger betreibt es die Selbstentfremdung der Menschen, die Entfremdung der Menschen von ihrem wirklichen Gattungsleben (siehe Gattungsbegriff). Die Lebensverpflichtungen bilden eine kulturelle Bedingung, worin sich die objektive Selbstwahrnehmung vergesellschaftet, ohne sich selbst dem Inhalt nach zu entsprechen. Selbstwahrnehmung wird hierduch alleine durch ihre Form bestimmt. Zugleich wird hierdurch aber auch ein Personenkreis erzeugt, der alleine die ausgeschlossene Wahrheit seiner gesellschaftlichen Selbstisolation zu leben hat: Die Verrückten, die Wahnsinnigen und die Irrsinnigen.

Selbstwahrnehmung wird zu einer gesellschaftlichen Form durch die Geborgenheiten ihrer Kultur, in welcher sich das zwischenmenschliche Lebensverhältnis objektiviert.

Weiter mit Buch II: 211 Die gewöhnliche Kulturpersönlichkeit zwischen den Menschen