220. Einleitung in eine Kritik der Sozialisationstheorie

Gesellschaft ist immer schon ein menschliches Lebenswerk, das in den Formen der Verhältnisse ihrer bisherigen Geschichte sich auch in ihren Beziehungen und Bedingungen fortbildet. Die Sinnbildeung der Menschen ist daher auch selbst immer schon eine gesellschaftliche Bildung, die Bildungsgeschichte ihrer Sinne durch deren Lebensäußerungen, durch ihre Vergegenständlichung, durch ihre Arbeit als gesellschaftliche Sinnbildung ihrer Kultur, der menschlichen Subjektivität ihrer Eigenschaften und Fähigkeiten, die darin zugleich verwirklicht, objektive Lebensform ihrer Natur als Naturmacht ist. Diese ist die geschichtliche Äußerung ihres Lebens als Dasein ihrer Lebenszusammenhänge, menschliche Lebensäußerung als gegenständlicher Sinn ihrer Lebensverhältnisse, der zugleich sich im Zweck ihres gesellschaftlichen Nutzens darstellt. Die Menschen stellen immer schon nützliche Dinge her und bilden sinnvolle Zusammenhänge, denn sie können nur nutzen, was sinnvoll für sie ist und nur erzeugen, wofür sie einen Sinn gebildet haben - organisch geht immer das Eine aus dem Anderen hervor. Der gesellschaftliche Lebenszusammenhang ist schon vor aller Erfahrung das Lebensverhältnis menschlicher Beziehungen. Aber jede Beziehung kann nur sein, wo Eins zum Anderen zieht und dieses sich hierzu auch wirklich verhält, eine wirklich objektive Form für ihre subjektiven Inhalte ist.

Unter den Bedingungn der Lebensverhältnisse in den Lebensburgen zwischenmenschlicher Bezogenheiten, in denen die Selbstvergegenwärtigung der Menschen durch die Zwischenmenschlichkeit der Lebensbergung der Geschlechter in den Haushalten des Überlebens zur absoluten Lebensbedingung geworden ist, war ihnen ihre Beziehung zu einer Lebenspflichtigkeit zeronnen, durch die sie sich notwendig ihr wirkliches Leben schuldig bleiben. Es ist selbst zu einer Instsitution der Lebenspflicht geworden, in der die Lebensfürsorge den höchsten Rang bekommen hat, in der also die einzelnen Personen das im privaten Lebensraum erbringen müssen, was ihren gesellschaftlichen Beziehungen an menschlichen Leben abgeht. Und hier können sie sich daher persönlich auch nur als Lebensträger aufeinander beziehen, sodass ihre objektiv bestimmte Rolle auch nur durch ihre Subjektivität vermittelbar ist. Sie begegnen sich als liebende Menschen in der objektiven Pflicht, ihr gegenwärtiges und künftiges Leben durch ihre Selbstvergegenwärtigung zuzusichern und als Menschen sich selbst zur Lebensform dieser Bestimmtheit zu machen.

Das unmittelbar soziale Verhältnis der Menschen als Menschen hat in den verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Beziehungen der Geschlechter und Generationen entwickelt, die sich besonders in der Gestaltung ihres Stammes- und Familienwesens darstellen. Sie richten sich von ihrer Natur her an den gesellschaftlichen Möglichkeiten der Lebensproduktion aus, wie sie im Entwicklungsstand ihrer Naturaneignung bestimmt sind. Beschreibungen von Eingeborenen naturwüchsiger Gesellschaften zeigen sehr eigenständige Kulturen in Sitten und Geräuchen des Geschlechtsverhaltens und der Sorge um die Nachkommen, in den Extremen von patriachaischen oder matriarchaischen Hegemonien oder Mischkulturen, in denen Verwandschaft nach den Möglichkeiten der Fürsorge bestimmt werden.

Die Diskussion um die wesentliche Lebensform des Geschlechtsverhältnisses, also um die Familie, ist so alt wie die Diskussionen über deren Kultur. Die Untersuchen der Ethnologen und Anthropologen konzentrieren sich zuerst auf sie als Grundlage der menschlichen Fortpflanzung, als auch auf die dem entsprechenden Bestattungritualen. So beschreibt z.B. Wilhelm Reich die Verhältnisse bei den Trobriandern, den Eingeborenen der Trobriand-Inseln in Neu-Guinea, die Männer, Frauen und Jugendlichen vollständig eigene Lebenswelten zubilligten, die über Großfamilien verbunden waren und für ihn zum Vorbild für eine freie sexuelle Entwicklung wurden. Anders als in westlichen Gesellschaften werden die Kinder dort weggegeben, um bei nahen Verwandten aufzuwachsen, in der matrilinealen Kultur hauptsächlich in der mütterlichen Verwandtschaftslinie. Und Friedrich Engels zitiert einen Indianerstamm im Staat New York, der Eltern zwar als "Paarungsfamilie" ansieht, die verwandschaftliche Fürsorge aber hiervon gänzlich unterschieden abtrennt:

"Der Irokese nennt nicht nur seine eignen Kinder, sondern auch die seiner Brüder seine Söhne und Töchter; und sie nennen ihn Vater. Die Kinder seiner Schwestern dagegen nennt er seine Neffen und Nichten, und sie ihn Onkel. Umgekehrt nennt die Irokesin, neben ihren eignen Kindern, diejenigen ihrer Schwestern ihre Söhne und Töchter, und diese nennen sie Mutter. Die Kinder ihrer Brüder dagegen nennt sie ihre Neffen und Nichten, und sie heißt ihre Tante. Ebenso nennen die Kinder von Brüdern sich untereinander Brüder und Schwestern, desgleichen die Kinder von Schwestern. Die Kinder einer Frau und die ihres Bruders dagegen nennen sich gegenseitig Vettern und Kusinen. Und dies sind nicht bloß leere Namen, sondern Ausdrücke tatsächlich geltender Anschauungen von Nähe und Entferntheit, Gleichheit und Ungleichheit der Blutsverwandtschaft; und diese Anschauungen dienen zur Grundlage eines vollständig ausgearbeiteten Verwandschaftssystems, das mehrere hundert verschiedne Verwandtschaftsbeziehungen eines einzelnen Individuums auszudrücken imstande ist. Noch mehr. Dies System ist nicht nur in voller Geltung bei allen amerikanischen Indianern (bis jetzt ist keine Ausnahme gefunden), sondern es gilt auch fast unverändert bei den Ureinwohnern Indiens, bei den drawidischen Stämmen in Dekan und den Gaurastämmen in Hindustan. Die Verwandtschaftsausdrücke der südindischen Tamiler und der Seneka-Irokesen im Staate New York stimmen noch heute überein für mehr als zweihundert verschiedne Verwandtschaftsbeziehungen." (Friedrich Engels - "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" MEW 21, S. 36f)

Eine Lebensburg soll Leben vor den Einwirkungen fremder Kräfte schützen. Sie kann dies aber nur, wenn hierduch Lebenspflichtigkeiten entstehen, die sich aus der Trennung von der Welt feindlicher Verhältnisse, den Verhältnissen der zwischenmenschlichen Konkurrenzen in ihrem Geltungsstreben ergeben. Was dort noch als gemeinschaftlicher Verlust an Lebensqualität erfahrbar ist, wird hier zwischen einem selbständigen Gemeinsinn als Lebensnotwendigkeit und dem Selbsterhalt seiner Naturbedingungen aufgeteilt. Was dort noch im Verhältnis der Selbstverwertung narzisstischer Persönlichkeiten veredelt werden kann, indem sie das zwischenmenschliche Erleben konsumieren, wird hier zur Verpflichtung, den eigenen Lebensraum der selbst gewähltenn Gemeinschaft zu ernähren und zu erhalten. Hierbei stehen fundamentale Pflichtigkeiten dieses objektiv notwendigen, zugleich aber nun privat bestimmten Lebensraumes an, die sich vor allem aus dem Verhältnis der Generationen und ihrer Eingemeindung, ihrer Sozialisation in die Formbestimmtheit dieses Raumes und zugleich zur Qualifizierung der Selbstbehauptung gegen fremde Verhältnisse ergeben. Jede Abweichung, jeder "Seitensprung" und jeder Zweifel an dem Sinn dieser Gemeinschaft, werden hier zur Tragödie. Ganz allgemein bestimmen Schuldgefühle die Lebenszusammenhänge der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Lebensburg.

Die zwischenmenschlichen Verhältnisse haben sich in den Lebensburgen der der bürgerlichen Gesellschaft zu Liebesformen entwickelt, die unumstößlich wie eine Vertragsform sind, so dass sie die dem Privateigentum adäquate Kleinfamilie in ihrem Wohnraum zu sichern vermag. Daher erscheint es hier natürlich und sinnfällig, dass sie zu einem aus ihrem Wohnen, aus ihrer Gewöhnung bestimmten Verhältnis dazu beitragen müssen, dass sich die Persönlichkeiten ihrer Verhältnisse ohne Schaden darin auch fortbilden können. Es ist eine Selbstverständlichkeit ihrer Liebesbezieungen, dass sie sich füreinander einsetzen und einander auch hegen und pflegen, wo es privatim nötig erscheint, bevor dies gesellschaftliche Beachtung findet. Als Rollen der Liebespflicht sind sie lebenspflichtig geworden, meist definiert durch persönliche Eigenschaften wie z.B. Mutter, Vater oder Kind zu sein. Doch diese Rollen sind kulturbedingte Erfindungen, sind Eigenschaften, die nur in einer bestimmten politischen Kultur solche Eigenständigkeit haben. Es sind politische Formationen, die als Träger der Sozialisation auftreten, als menschlich notwendige Beziehung kultureller Werte erscheinen.

Man könnte daher meinen, dass Erziehung eine bewusst politische Angelegenheit sei, wenn man sie von der Seite bedenkt, dass darin kulturelle Werte vermittelt werden, die einen Menschen sozusagen "gesellschaftfähig" macht. Das ist wohl auch die weit verbreitete Auffassung der Sozialwissenschaften. Doch als rein politisches Verhalten der Erzieher zu ihren Zöglingen würde sie nicht gelingen, wenn sie nicht selbst ein sehr bestimmtes Lebensinteresse verfolgen würde, wenn sie nicht einer bestimmten Notwendigkeit in den zwischenmenschlichen Lebenswelten selbst entspräche. Ein rein politisch bestimmtes Verhalten gibt es überhaupt nirgends außer in den Institutionen der Politik selbst, in den Entscheidungsgorganen des politischen Willens. Das aber ist hier etwas gänzlich anderes. Politische Erziehung gibt es nicht, selbst wenn Erziehung politische Inhalte vermittelt. Sie hängt immer davon ab, wie die Menschen hierbei zu einander stehen, was immer auch ihre Inhalte sein mögen.<

An sich ist Erziehung als Verhältnis der älteren Generation zu der nachwachsenden zu verstehen, die von ihr lernen soll, was nötig ist, um unter den gegebenen Existenzbedingungen leben zu können. Sie will bestimmte Eigenschaften bilden, die einen Menschen befähigen sollen, seine gesellschaftlichen Gegebenheiten und Gebotenheiten zu bewältigen. Sie unterscheidet sich daher von den praktischen Lebenbedingungen und wirklichen Notwendigkeiten dadurch, dass sie ihnen vorauseilt, einen Vorgriff auf eine noch fiktive Not darstellt. Von da her kann sie in den burgherrlichen Kleinfamilien, den Lebenswelten des bürgerlichen Mittelstands auch nur durch eine erzieherische Beziehung, also durch die zwischenmenschliche Persönlichkeit der Erzieher vermittelt werden.

Solche Erziehung setzt also ein Lebensverhältnis voraus, in der die Menschen sich in einer Lebenspflicht verstehen, einander oder die einen die anderen dahin ziehen, bzw. zu "animieren", dieser "Aufgabe" im doppelten Wortsinn vermittelst der Verhältnisse einer erzieherischen Beziehung zu entsprechen. Doch weil in den Lebenswelten bzw. den Lebensräumen der zwischenmenschlichen Kulturen (siehe hierzu Lebensburg) objektive Wirklichkeit abwesend ist und sich nicht wirklich vermitteln lässt, kann Erziehung sich nur über die Formbestimmung der Lebenswelt der Eltern und ihrer Familien durchsetzen. Jede Kritik hiergegen zerfällt daher schnell in Mythologien zu Liebe, Geborgenheit und Fürsorge in einer an und für sich heilen Welt.

Die Notwendigkeiten der Erziehung als Lernprozess der Nachkommen verbleiben daher durch die persönliche Gegenwart einer eigenständigen Kultur (siehe auch Verselbständigung) eines eigenständigen kleinbürgerlichen Besitzstands (siehe auch Klasse) und teilen sich durch dessen erzieherische Persönlichkeiten (z.B. Eltern, Lehrer und Ämter) mit. Die Spannungen und Konflikte, die darin entstehen sind daher wesentlich von ihrer inhaltlichen Vermittlung und der Form ihrer Existenz bestimmt und verlangen daher nach der Vereinigung einer doppelten "Problemlösung": Die Besorgung einer gesellschaftlichen Notwendigkeit der Bildung und die Befriedigung familiär entstandener Bedürfnisse. Von daher wird Erziehung absolut, zu einer totalen Beziehungswelt für Kinder, die sich in einem doppelten Schuldverhältnis gegen Eltern und Gesellschaft entwickelt. Von daher wird die "erzieherische Animation" gerne als Geschäft einer Unterhaltung betrieben, die auch gerne mit "Bespaßung" bezeichnet wird. Die Kinder wie auch die Eltern müssen irgendwie "bei Laune" gehalten werden, um den erzieherischen Grundwiderspruch in einem chronischen Kompromis gestalten zu können, der sich aus der strukturellen Bestimmung heraus zu einer permanenten Lebensangst entwickelt und sich durch die Unfähigkeit, die eigene Angst wirklich, als zwischenmenschliche Wirklichkeit zu erkennen fortbildet (siehe auch tote Wahrnehmung. Und darin fixieren sich schließlich und ausschließlich die entsprechend systematisierten Strukturen (siehe hierzu auch Strukturalismus) der Familien und Bildungseinrichtungen.

"Die Tradition der toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen. Die soziale Revolution (…) kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat." (Karl Marx, MEW 8, Seite 115

Erziehung will eben vor allem die jüngere Generation gegen ein Versagen in der Gegenwart einer politisch eingeforderte Normalität (siehe auch reaktionäres Bewusstsein) unter Anleitung der älteren in den eigentümlichen Bildungsstand versetzen, der die Bilder formuliert, durch welche die Kultur der Älteren, deren Vorstellungen von Sittlichkeit Ordnung, den Normen der herrschenden Gesellschaft als Gewohnheit des Lebens der Nachwachsenden instaliert und integriert wird, sie also dahin zu ziehen, wo sie erst werden können, was sie sein müssen. Das unterstellt, dass Kinder sich nicht schon vor aller Erfahrung - also subjektiv - gesellschaftlich beziehen könnten, dass sie in die Bräuche, Sitten, Religionen und Regeln der alten Gesellschaft - also ihrer Kultur - gezogen werden müssten und dass diese gesellschaftlich, also politisch bestimmenden Kulturen schon eine allgemein gültige gesellschaftliche Beziehung der Menschen darstellen würden. Und objektiv unterstellt dies, dass die Lebensräume dieser Kultur, in der Kinder und Eltern verkehren - ein wirklich gesellschaftliches Verhältnis aller Menschen darstellen würden, also ihrem Leben angemessen seien und von daher auch als ihr Maß und Ziel gelten müssten.

Natürlich wollen Kinder von den Älteren wissen, wie man unter den gegebenen Umständen leben kann. Tatsächlich gibt es Erfahrungen und Gefahren, die Ältere den Kindern auf ihrem Lebensweg zeigen und vor denen sie alleine schon wegen der Macht der herrschenden Verhältnisse und ihrer Natur geschützt werden müssen. Und zweifellos wollen Kinder von ihren Eltern erfahren, wie man damit leben kann. Das macht schon die Natur der Generationen in ihren Lebensverhältnissen und der Art und Weise ihres Zusammenwirkens aus (siehe auch Familie). Doch was hat dies mit Erziehung zu tun?

Erziehung will im Wesentlichen nicht schützen sondern Kinder zur Moral der herrschenden Bestimmungen ziehen und in ihrem Lebenraum bergen, das "unbeholfene Kind" in der Geborgenheit vor Fremdem wiegen, um das eigene Leben in seiner Lebensburg, in seiner privaten Lebensform des Wohnens und Fühlens zu festigen (siehe auch objektives Gefühl) und ihr Verhältnis darin zu bestimmen und sie in ein zwischenmenschliches Verhältnis einzuüben, das Übung verlangt, weil es sich nicht durch die Menschen selbst bestimmen lässt. Das ist ein Verhältnis, das erzieherische Beziehungen nötig hat, weil darin zur Gewohnheit werden kann, was nicht wirklich frei für sich zu entwickeln ist, worin also jede Entwicklung und Geschichte durch Verweise und Gebote bestimmt sein muss, die keiner unmittelbaren Erfahrung entsprechen können, weil sie einer fremden Vermittlung entsprechen müssen, aus ihrer eigenen Ungewissheit heraus Ziele und Einbildungen verfolgen, um die junge Generation in ihren Eigenschaften und Fähigkeiten für das "zukunftsfähig" zu machen, was nicht wirklich Zukunft für sie sein kann.

Erziehung ist eine illusorische Beziehung, eine Idealbildung (siehe auch Idee, Ideologie), die Illusion der Selbstlosigkeit, die Vorstellung, dass Menschen dahin zu "ziehen" wären, etwas zu sein, was sie nicht durch sich selbst, durch ihr eigenes Verhältnis zu anderen Menschen und zu ihrer Gesellschaft von vornherein schon sein könnten, ganz gleich, ob sie nun klein oder groß sind. In dieser Beziehung betätigt sich die Idee, dass eine bestimmte Bewältigung des Lebensnotwendigen durch Erziehung "eingeimpft", anerzogen werden könne. Doch dies schon impliziert die Injektion einer Ideologie der herrschenden Verhältnisse, dass sie von den Menschen quasi eintrainiert werden müssten, um fortbestehen zu können. Es ist die Ideologie der herrschenden Institutionen, dass Menschen auf einen Weg gezogen und mit einem Charakter bestückt werden müssten, der sie erst lebensfähig machen würde. Das sei nötig, um den Gefahren des Lebens begegnen zu können. Aber Wege kann man zeigen, vor Gefahren kann man warnen und Charaktere bilden sich in den wirklich sinnlichen Beziehungen des Lebens selbst. Es liegt in den Menschen selbst, sich das anzueigenen, was ihr Leben bereichert; es ist ihre Neugier, durch die sie sich bilden. Ein Antipädagoge hat mal gesagt: "Was soll ich die Kinder erziehen? Sie machen mir doch sowieso alles nach."

Erziehung ist das Gegenteil von Aneignung, behindert sie geradezu dadurch, dass sie durch erzieherische Beziehungen Gewohnheiten notwendig erscheinen lässt, die nur ihren Verhältnissen in Ermangelung wirklicher Bezogenheiten geschuldet sind. Erziehung ist die Einverleibung solcher Gewohnheiten durch die Symbiose ihrer Selbstbehauptung (siehe symbiotische Selbstbehauptung).

Erziehung unterscheidet sich von den Lern- und Entwicklungsgeschichten der Menschen darin, dass sie die Lernprozesse in den gegeben Verhältnissen und Notwendigkeiten durch eine dem Menschen äußerliche Notwendigkeit begründet. Lernprozesse sollen von daher nicht sich selbst, also ihren Bedürfnissen und ihrer Neugier überlassen sein, ihre Schwierigkeiten und Fehler durch die Übermittlung von Wissen erkennen und überwinden zu können, sondern durch die Gebotenheiten eines Lebens bestimmt sein, das sich ihnen entzogen hat. Erziehung bezieht sich ihrem Inhalt nach auf nicht vorhandene Verhältnisse und Wirklichkeiten, ist ein Vorgriff auf vorgestellte Verhältnisse, die einem Vorurteil entspringen, das nicht zu überprüfen und zu beweisen und also auch nicht zu begreifen ist. Das macht sie zum Medium eines Zwangsverhältnisses und führt damit der dem entsprechenden Logik auch zu einem Zwangsverhalten. Von daher teilt Erziehung die gegebenen Notwendigkeiten des Lebens als allgemeine Gebotenheit mit und kann sich von daher auch nur durch Gebote vermitteln.

"Er-ziehen kann man nur auf ein Ziel hin, nämlich auf das, was aus einem Menschen werden soll. Das heißt, daß aus dem, was er ist, das gemacht werden muß, was er sein soll. So findet die Vorwegnahme der Gesellschaft als Gewaltakt des Erziehungsprozesses selbst statt: Was diese mit einem Menschen machen kann, das muß zunächst an ihm selbst gemacht werden. Er muß in der Lage sein, sich um seinen eigenen Nutzen zu kümmern, und er muß sich beschränken können, wo sein Eigennutz schrankenlos gesetzt ist, denn nur wenn beiderlei gewährt ist, kann eine Gesellschaft, die auf der Entfaltung des Eigennutzes gründet, fortbestehen. Die elterliche Erziehung hat das Kunststück zu vollbringen, einen Menschen mit vorweggenommenen Gesellschaftsattributen auszustatten, die sie zugleich auch erfüllen muß: mit allen Variationen des Eigennutzes.

Aber diese Aufgabe der Eltern als Träger der Gesellschaft ist nicht identisch mit ihrem Verhältnis zu ihren Kindern. Identisch ist, daß die Familie selbst als Form des Eigennutzes existiert. In der Familie nutzen die Familienmitglieder von vornherein die Vergemeinschaftung der Generationen zu einem abstrakten Lebenszusammenhang der »Subjektivität«. Und von daher müssen sich Eltern erziehend zu ihren Kindern verhalten. Ohne Erziehung nämlich wäre der Verrat an der eigenen Generation, der hiermit gegeben ist, offenkundig: Ein jeder müßte seine Not als wirklich menschliche Not seiner bestimmten Existenz ansehen." (Pfreundschuh in "Was heißt da: Psychisch krank?, Teil 4 - Bedingungen des Familienlebens")

Es geht bei der Erziehung wesentlich um die Herstellung eines verinnerlichten Gebots, also eines Gewissens, das nur moralisch wirksam sein kann, weil es seine Grundlagen aus einem Machtverhältnis der Erzieherinnen und Erzieher - meist auch der Eltern - erfährt. Es geht nicht um wirkliche Bildung und Wissensvermittlung, sondern schlicht um die Mittel und Möglichkeiten einer Einpassung von abhängigen Menschen in ein Lebensverhältnis, das zunächst meist als Familie, aber auch als Schule und Ausbildungsstätte besteht.

Die Fähigkeiten und Wege der Menschen ergeben sich immer aus ihren wirklichen Möglichkeiten, auch aus dem Beistand von anderen Menschen, Betreuern und Eltern und Geschwister usw. Aber Erziehung behindert Lernen. Wo Neugierde das Lernen antreiben kann, entwickelt es sich in den Menschen selbst und oft auch wie von selbst. Aber wo Lernen sich nicht aus wirklicher Erfahrung ausbilden kann, weil es etwas gibt, was gelernt werden muss. Nur aus Liebe tun die Abhängigen, was ihnen hier geheißen wird, aus Liebe folgen Kinder ihren Eltern und oft auch Schüler ihren Lehrern usw. - obwohl sie zugleich dies müssen, weil ihre Existenz darin gegeben erscheint. Die Einpassung in solche Existenz vollzieht sich daher als Unterordnung des einzelnen Menschen unter die Vernunft einer Gesellschaft, wie sich in diesem Lebensraum bietet. Und diese Vernunft ist von vielerlei Tücken geplagt: Deren hauptsächiche ist die Liebesschuld, unter welcher nur Erziehung funktionieren kann. Solche Vernunft ist also immer doppelbödig, weil dat Nötige zugleich als das Geliebte geboten wird.

Wieweit die Erziehung der wirklichen Lebensgestaltung der Zöglinge wirklich widerspricht hängt davon ab, wie weit sie sich in dem gebotenen Lebensraum selbst verwirklichen können oder nicht. Wesentlich ähnlich sind zumindest die Lebensbedingungen von Eltern und Kiondern, soweit sie sich in demdselben Haushalt befinden. Hier könnte Erziehung daher am ehesten funktionieren, wenngleich sie dabei vor allem ihren doppelten Grund entwickelt. In der Schule ist der Ort der Erziehung schon wesentlich komplizierter, weil hier mehr auf die Zukunft der einzelnen Persönlichkeit verwiesen werden muss, denn auf eine liebevolle Gemeinschaftsexistenz. Aber auch hier besteht noch beides. In der Berufsausbildung stehen demgegenüber die Fähigkeiten und Wissensinhalte im Vordergrund, wodurch die eigentliche Erziehung eher zurücktritt. Wir kümmern uns hier aber nur um diese.

Erziehung betreibt das Hineinziehen von Menschen in eine Lebenswelt, in welcher sie sich nicht frei entfalten, also weder ihre Freiheiten noch ihre Notwendigkeiten sich entsprechend gestalten können. Hierdurch entwickeln sie keinen wirklichen Sinn füreinander, sondern einen Sinn, in welchem sie seelisch gebeugt sind, um ihrer Beziehung Seele zu verleihen. Erziehung entwickelt Gefühle, die als Gemeingefühligkeit nötig ist, um in der Lebenspflicht auch mit voller Seele füreinander da zu sein. Es ist das wirkliche Verhältnis einer Lebensschuld, die als Liebesschuld gegeben und nötig ist. Nur hierdurch kann Liebe als Lebensnotwendigkeit erscheinen, denn Erziehung vermittelt Lebensnotwendigkeiten als Liebesbeweis. Sie setzt damit außer Zweifel, dass es solche Lebensnotwendigkeiten gibt und macht sie hierdurch unhinterfragbar.

Erziehung ist eine Beziehung, in welche Menschen durch Lebensverhältnisse versetzt sind, zu denen die nachfolgende Generation von der ihnen vorangegangen gezogen werden muss. Eine Gesellschaft, in der sich Leben nur abstrakt vermittelt, kann keinen Sinn für den Unterschied der Generationen haben außer dem, welcher sich in der Existenzform ihrer Zwischenmenschlichkeit verhält. Diese ist vor allem die Familie, die sich als Lebensburg dieser Verhältnisse errichtet, worein das in Liebe verschworene Leben durch deren Verträglichkeit geborgen erscheint (siehe auch Lebensbergung).

Hierdurch wird der Unterschied der Generationen zu Positionen des "richtigen Lebens" als Unterschied von Subjekt und Objekt eines Familiensinns, der wie ein Lebensrecht wirkt. Zur Lebensvermittlung einer solchen Gesellschaft wird der so gegründete Lebensraum zu einem Zweck, der keine anderen Mittel hat, als die darin bestimmten Menschen. So werden Eltern und Kinder zueinander als Mittel für ihr Leben in diesem Raum bestimmt. In der Erziehung wirkt der gesellschaftliche Zweck in der Familie als menschliche Beziehung, in der sich Menschen mit ihrem ganzen Leben selbst zu vermitteln haben.

Daher ist Erziehung der Begriff für ein Verhältnis, in dem Menschen von einer Seite, meist die ältere Generation - und das ist die Seite existenzieller, kultureller und seelischer Notwendigkeiten der Ausbildung - andere Menschen dahin zieht, zu werden, was sie sein müssen. Damit wird von dieser Seite eine Notwendigkeit gegebener Existenzform absolut, die der anderen relativ hierzu. Erziehung ist der Relativierungsprozess des Lebens, nicht notwendiger Bestandteil eines Verhältnisses von Generationen; ebenso wenig wie Kinder notwendiges Mittel ihrer Eltern sein müssen. Sie ist durch das Kulturverhältnis der Generationen gegeben, durch die Getrenntheit der Lebensräume (siehe Lebensburg, Familie).

Im Verhältnis zur Jugend ist die Erziehung die Überordnung der bisherigen Lebensweise über sie und dadurch übersinnlich, dass das gesellschaftliche Verhältnis, welche Lebensburgen nötig hat, nicht gegenwärtig ist. So herrscht der Raum des geborgenen und verborgenen Lebens im Heim der unmittelbaren Lebensproduktion, ein Übersinn über die werdende, - der darin geronnene Sinnlichkeit über die zukünftige, heimlich odert unheimlich. Um dies zu vollziehen ist Erziehung immer mit Erziehungsmacht verbunden, die mit der existentiellen Lebensmacht der Älteren über die Jüngeren (z.B. durch Haushalt, Seele und Rechtsform) identisch ist. Alle Verhältnisse darin sind in dieser Macht bestimmt, ob sie sich nun liebevoll ereignen oder durch pure Gewalt. So auch der Streit darin, die Verweigerung und Symbiose, die Übererregtheiten und Depressionen,

Andererseits ist im Erziehungsverhältnis auch eine Art Wegbegleitung, in welcher die Älteren ihrer Verantwortung für Jüngere entsprechen. Zwar enthält der Begriff als solcher vorwiegend reaktionäre Anteile, die von Ziehen und Zucht künden, ist aber umgangssprachlich nicht von der Fürsorge der Älteren zu trennen. Schließlich vermittelt Erziehung auch die Seinsweise einer Gesellschaft, die sich nicht unmittelbar erschließen lässt, weil sie abstrakt vermittelt und doch menschliche Gegenwärtigkeit ist. Um sie zu erkennen und in ihr die Wege zur Bildung eines angemessenen Gedächtnisses zu finden, entspricht Erziehung auch dieser Abstraktion.

Es zeigt sich darin das doppelte Verhältnis, was Erziehung ausmacht: Ziehen als Moment einer Fremdbestimmung, und mitziehen als Moment der Wegbegleitung. Es sind beides die Momente der bürgerlichen Kultur, in welcher sich die Wahrnehmung des Lebens ausdrückt als Sorge um die Existenz und Fortbestimmung zwischenmenschlicher Beziehung.

Subjektiv ist das erzieherische Verhältnis in unserer Kultur aus der Notwendigkeit bestimmt, sich in seiner Selbstwahrnehmung zu kontrollieren, um in zwischenmenschlichen Beziehungen die darin Gepflogenheiten auf sich selbst zu nehmen, sich daran zu gewöhnen und damit dem Inhalt nach diese Kultur in sich zusammen zu fassen. Erziehung bestimmt sich daher selbst aus einem Verhältnis, worin geborgenes Leben die ihm nötige Pflichten nicht nur kennenlernt, sondern sich ihren Inhalten beugt.

Die zwischenmenschlichen Verhältnisse der Selbstverwirklichung hatten ergeben, dass sich die Menschen in ihren Selbstwahrnehmungen aneinander bestimmt und hierfür Lebensräume geschaffen haben, in welchen sie sich in ihrer Selbstbestimmung geborgen fühlen. In dieser Geborgenheit haben sie einen Sinn errichtet, der sich aus der Ergebenheit in das Verhältnis der Selbstliebe unmittelbar nur vermittelst des Ausschlusses fremder Sinne entwickeln kann.

Dieser ausschließliche und hierdurch eingeschlossene Sinn kann aber nicht für sich sein, weil Sinn immer nur für und durch einen Gegenstand ist. Doch der Sinn zwischenmenschlicher Lebensräume kennt nur sich in diesen Bedingungen und erkennt von daher auch keine Wiklichkeit außer sich. Diese ist ihm notwendig fremd, da er sich aus den Gewohnheiten der Geborgenheit und des Verbergens ihr entfremdet hat. Er ist sozusagen in eine Symbiose mit seinesgleichen geraten, worin alles Äußere schon unmittelbar fremd ist.

Um hierbei sich überhaupt auf anderes zu beziehen, muss er eigens gesellschaftlich zugerichtet werden. Er muss dazu erzogen werden, sich auf eine ihm fremde Wirklichkeit zu beziehen. Dass eine Gesellschaft unter Geldverhältnissen nicht wirklich ist, zeigt sich hier unmittelbar an den Menschen selbst: Dort, worin sie sich geborgen haben, können sie nicht wirklich ohne Erziehung gesellschaftlich werden - es sei denn, sie umgehen solche Selbstbergungen (vergleiche hierzu meine Schrift "Wider die Erziehung" (1986), ein Bericht über das "Kinderhaus an der Spervogelstraße" in München).

In der geisteswissenschaftlichen Literatur wird Erziehung gerne mit Lernen gleichgesetzt und aus den Begriffen der Lerntheorie die Begriffe der sogenannten Erziehungswissenschaften abgeleitet. Mit Lernen hat Erziehung aber überhaupt nichts zu tun; Lernen ist ein Prozess der Neugierde und daher jedem Menschen zu eigen, besonders dem Kind. Die einfachsten Erfahrungen, z.B. auch Urlaubserlebnisse oder Jobveränderungen haben mit Lernen zu tun, ohne dass es eines einzigen Erziehungsaktes bedarf. Lernen ist das Gegenteil von Erziehen, denn es gelingt wesentlich nur aus sich heraus und bedarf höchstens der Information über Umstände, Umwelt oder Bedingungen des Lernens. Solche Anleitungen sind nicht mal als Teile des Lernprozesses, somdern selbst lediglich als Anforderung der Umstände in bestimmten Lebensräumen zu verstehen. Wo z.B. Eltern ihren Kindern vormachen, wie etwas zu bewältigen ist, beweisen sie sich selbst weltlich, weil diese Bewältigung in der Welt gelingen muss. Und auch in der Auseinandersetzung in den Konflikten des Zusammenlebens der Generationen können sie offen ihre Lebensweise im Unterschied zu der ihrer Kinder oder Eltern darstellen und austragen (z.B. auch über Ordnung, Fernsehen, Gewaltprobleme, Sexualität usw.). Sobald hier Erziehung ins Feld geführt wird, wird dieser Verhalt energisch entstellt.

Auch wird Erziehung nicht nur mit Pädagogik, sondern gerne auch mit Sozialisation umschrieben. Sozialisation meint so etwas wie das "Wachsen in eine Gesellschaft hinein" und meint zugleich die Vergesellschaftung von Menschen. Dies ist eigentlich zweierlei, denn wachsen kann nicht, wer vergesellschaftet wird. In der Vergesellschaftung wird einem Menschen sein gesellschaftliches Sein bereits abgesprochen. Von daher zeigt der Begriff selbst schon, dass er eine Ideologie von Privatraum ist, aus welchen die Menschen zu ihrer Gesellschaft gezogen werden müssen. Das hat wirkliche Gründe.

Jede Lebensburg ist die Verwirklichung der Abgrenzung, der Selbstunterscheidung und der Selbstbehauptung, die zum einen Geborgenheit im Verborgenen gegen die Öffentlichkeit gab, zugleich aber auch eine allgemeine Pflicht setzt, sich darin selbst zu erfüllen, eigene Welt nicht nur zu erleben, sondern sie auch zu erzeugen und zu erhalten. Die Notwendigkeiten der bürgerlichen Selbsterhaltung erscheinen daher nun als natürliche Lebensnotwendigkeiten. Ihre Herkunft aus ihrem sinnlichen Abstraktionen hat sich in der Lebensburg vollständig in Liebe aufgehoben und verkehrt sich daher nun in eine Liebesmacht, zu einer Macht der Selbstlosigkeit, die als Naturprinzip sich angesichts der Lebensnotwendigkeiten wie eine Pflicht durchsetzt. Das Leben selbst erscheint nun abhängig von einer Natur, die aus sich heraus sich in solchen Verhältnissen nicht zu verwirklichen vermag. Die Menschen erscheinen sich nun von Natur aus ohnmächtig und so machen sie sich nun von Natur aus selbstlos. Sie müssen füreinander von Natur aus Sorge tragen, um in den Verhältnissen ihrer so geborgenen Liebe zu überstehen und verpflichten sich zur Erfüllung ihrer Lebenspflichten aus Liebespflicht.

Und das ist für die Erkenntnis sehr verhängnisvoll. Es erscheint nun lebensnotwendig, die Selbstbergung zu sichern. Die Welt der persönlichen Liebe hat sie für ihr Heil nötig und bildet sich nur in solch heiler Welt fort und muss sich darin auch zusammenhalten und zusammenfassen.

Die Selbstbehauptung des privaten Glücks kann allerdings nicht mehr selbst liebend sein. Sie erfährt dies als Notwendigkeit ihrer Liebe als Lebenspflicht der Liebenden, die so selbstlos sind, wie sie darin ihre Liebe erneuern und gewinnen können. Darin erscheint die Selbstlosigkeit als Liebesgewinn und die Pflichterfüllung wird so zum sublimen Selbstgewinn durch andere, durch die letztendliche Erfüllung der Lebensbergung in der Lebensschuldigkeit. Dieses Prinzip verlangt nicht nur Liebe, sondern ist zugleich deren Selbstaufopferung. Es ist ein höchst kompliziertes Verhältnis, welches in der Abtrennung vom öffentlichen Leben entstanden ist: Liebe ist nötig, um ihre Selbstaufopferung in der Erfüllung der Lebenspflichten zu gewährleisten. Innerhalb der Gemäuer der Lebensburg wird Liebe selbst zu einem Moment der Pflichterfüllung des Lebens nötig: Notwendige Liebe, die sich opfert, um zu sein. Das stellt alles auf den Kopf, was bisher Liebe als Ausdruck eines in bestimmter Weise bezogenen Selbstgefühls und Gefühls gewesen war.

Gerade dort, wo sie besonders innig wird, wird sie zu einer sehr formellen Lebensbestimmung, die zudem sehr naturwüchsig erscheint. Was zum Leben nötig ist, ist nicht mehr nur existenznotwendig, sondern vor allem zur Erhaltung der Liebenden und Geliebten vonnöten. Es geht also nicht um die Sachen der Existenz, sondern um die Bewahrung und Entwicklung des Seelenlebens, um die Fortbestimmung dessen, was geliebt wird. Da ist viel zu tun, wird doch gerade das beständig von der öffentlichen Welt angegriffen, herabgewürdigt oder abgewertet. Die heile Welt wird zum Hort einer allgemeinen Lebensverpflichtung, die sich durch die Lebensburg ergeben hatte.

So erzwingt darin die Lebenspflicht die Tätigkeit einer Liebe, die nicht wirklich sein kann, aber als Trägerin des Lebensraums liebend wirkt. Ihr wesentlicher Grund ist die Lebensbedrohung, in welcher sich der eingeschlossene Sinn fühlt und seine Bemühung in eine Lebensfürsorge wendet. Das verlangt allerdings Hingabe im weitesten Sinn des Wortes: Selbstlosigkeit für das Gemeine, welches als Liebesgemeinschaft erlebt wird. Selbstlosigkeit bewirkt keine Entfaltung, sondern Reduktion, Konzentration des abstrakten Sinnlichkicht durch Selbstkontrolle, Selbstbehauptung und Sebstverleugnung.

Die wesentliche Pflicht in solchem Verhältnis ist die wechselseitige Erziehung der Partner und der gemeinsamen Kinder, Nachfolger und Anvertrauten: Sie müssen in diese Pflicht hineingezogen werden, um darin aufzugehen. Darin scheint der isolierte Sinn aufgehoben und wird zu einem Gemeinsinn, zu einem Familiensinn.

Die Selbstwahrnehmung wird hierdurch von diesem Sinn wie von einer seelsichen Macht bestimmt: Sie muss sich nach den Gegebenheiten eines Lebensraumen richten, den die Menschen durch ihre Liebesbeziehungen gegründet hatten. Indem die selische Bestimmung hierdurch eine objektive Bestimmung wird, müssen die Menschen sich unter deren Allgemeinheit auch entsprechend zurichten; es werden z.B. Eheverträge geschlossen, eine eigene Lebenskultur des Privaten Lebensraums geschaffen und Kinder hiernach erzogen und anderes mehr.

Dies allerdings bindet die Sinne an ein objektives Liebesverständnis und trennt eigene Sinnlichkeit hiervon ab. Als ausgeschlossener Sinn wird der Eigensinn von der Wahrnehmung überhaupt abgetrennt. Dies schafft die Grundlagen für die Entfremdung der eigenen Sinnlichkeit, die sich nurmehr in der Pervertierung und Entrückung fortbilden kann. Das erste Resultat solcher Verhältnisse, wie sie in der Sozialisation zwangsläufig betrieben werden, ist die mehr oder weniger ausgeprägte Perversion des Sinnzusammenhangs einer erzieherischen Beziehung. Der erzogene Sinn kann sich wesentlich nur in seiner Perversion lebendig finden. Doch viele Menschen verzichten allerdings vorzeitig darauf, dieses Leben zu erlangen und betreiben es eher in abgeschwächter Form, in den Pervertierungen des sogenannten Alltagslebens, im Neid und der Zwietracht der Abhängigkeiten, der üblen Nachrede, der Verleumdungen, dem Rassismus usw. Das Übel wird zum tragenden Mittel einer unendlich bestimmten Selbstveredelung, die alleine in der Negation der Wirklichkeit ihres Wahrnehmungsgegenstand gelingen kann.

Weiter mit Buch II: 221. Die Lebenspflicht