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233. Die Psychosen
(Der Wahn der bezwungenen Selbstbehauptung)

Symbiotische Selbstbehauptungen verlangen in zwischenmenschlichen Verhältnissen nach einer Selbstbezogenheit, die über ihren Selbstwert weit hinaus greifen und einander in der Ausschliesslichkeit ihrer symbiotischen Selbstbehauptungen in ihrer Lebensburg einstimmen und sich darin mehr oder weniger selbst entäußern. Psychose ist eine Lebenswelt von Stimmungen, die solcher Übereinstimmung sich entziehen und sich in Stürmen von Gefühlen ereignen, die ihren Empfindungen enthoben und gegen diese gerichtet sind (siehe auch Verselbständigung). Darin verwirklicht sich das Selbstgefühl von ohnmächtigen Menschen, die durch entäußerte Empfindungen bestimmt sind und sich darin zu bestärken suchen. In der Psyche stellt sich die vergemeinschaftete Ohnmacht einer fremdbestimmten Gemeinsinnigkeit im Gedankensturm eines überwältigten Menschen dar, der durch die Gewohnheiten einer Hörigkeit in zwischenmenschliche Beziehungen sich selbst aufgehoben hat und seine Wahrnehmungen durch eine entfremdete Wahrnehmungsidentität beherrschen und von Erinnerungsbildern eines überwältigten Gedächtnisses aus der Lebenswelt einer erzieherischen Beziehung und den Persönlichkeiten einer symbiotischen Selbstbehauptung (z.B. Lebenspartner, Eltern, Erzieher, Lehrer, Priester oder sonstiger Kultfiguren) lebensförmiger Machtstrukturen vermittelt worden waren und – getrennt von ihrem Entstehungsgrund – wahnhaft zutage treten (siehe auch Wahnsinn).

Sigmund Freud hat mal irgendwo geschrieben, dass eine heftige Verliebtheit wie eine Psychose ist. Und tatsächlich tritt diese auch oft erstmals auf, wenn ein Mensch mit diesem Zustand nicht zurecht kommt. Psychose bedeutet ja auch wortgemäß ein sich Ergießen der Psyche, die von ihren Wahrnehmungsorganen getrennt, also als eine verselbständigte fremde Kraft (siehe Abstraktionskraft) in der Wahrnehmung erscheint und die Selbstwahrnehmung bestimmt. Es ist dann, als ob ein Sturm der Gefühle die Empfindungen überschwemmt und sich hierbei als eine innere "Wahrheit", als der eigenständig gewordene Sinn einer ausgeschlossenen Selbstwahrnehmung, als in sich verschmolzenes Selbstgefühl der Psyche durchsetzt, sich vollkommen von seinen Empfindungen ablöst und abtrennt und sich in der Wucht ihrer Erinnerung totalisiert, als Teil der Wahrnehmung zu einer im Ganzen übermächtige Wahrnehmung wird (siehe hierzu auch tote Wahrnehmung).

Die Psyche hat darin eine eigenständige Wahrnehmungsidentität gefunden, die sie in die Lage versetzt, unerträgliche Wahrnehmungen nicht für sich wahr zu haben, um ein dauerhaftes oder momentanes Trauma in der Weise so für wahr zu halten, dass sie es so erkennen kann, wie es ihren Selbstgefühlen gerade noch möglich ist. Hierbei trennt sich die Psyche allerdings unmittelbar in zwei Teile auf: einer Wahrnehmungswelt, die ihre Gefühle mit einer ausschließlichen Erinnerung versieht, und einer Gedankenwelt, mit der sie diese für sich so interpretiert, dass sie damit überleben kann, auch wenn deshalb ihre Wahrnehmungen von einer permanenten Wahrheitsfrage verfolgt und gequält werden. Man könnte auch sagen, dass sie durch einen Ansturm ihrer Gefühle gegen ihre Empfindungen gezwungen ist, eine Wahrheit außer sich für sich zu schaffen, in der sie sich mit sich identifizieren kann, auch wenn sie davon verfolgt wird (siehe hierzu Verfolgungsangst).

Die Wahrnehmung verliert hierdurch ihre Gedankenwelt, ihre Erinnerung, und kann nur noch darstellen, was in dieser Ausschließlichkeit noch als abgetrennte Empfindung wahrgehabt wird, was ihr in ihrem bloßen Körper als Wahrheit verbleibt. Es ist die Unmöglichkeit der Wahrnehmung, das sinnlich abwesende, was darin noch kognitiv wahrgehabt wird, und was sich dem Wahn als das darin nurmehr Gewähnte und Verlangte so überlassen muss, wie es dem inneren Befinden geboten ist und von der Empfindungen ausgeschlossen und abgetrennt wurde. Soma und Psyche haben sich offensichtlich entzweit und stelllen in der Selbstwahrnehmung eine Einheit her, In der sie die getrennten Welten jenseits ihrer wirklichen Wahrnehmungen zusammenführt. Es ist ihr irre gewordener Sinn, der Irrsinn, der sich darin so anfühlt, wie er für den betroffenen Menschen ist, mal schlecht, mal schön und manchmal auch quälend und zwanghaft, manchmal als Stimme, die er hört oder als Wahnbild, das er vor Augen bekommt.

Es ist anfangs aber auch eine Tür zwischen Soma und Psyche noch offen, die mit Geduld und Aufwand noch eine Beziehung zwischen den vorausgesetzten Empfindungen und ihren Gefühlen zulässt. Diese Tür wird aber zugeschlagen, sobald Psychopharmaka die Empfindungen der Wahrnehmung erschlagen, ausschalten oder lähmen. Das geschieht meist aus der Behauptung der Psychiatrie, dass Psychose eine Stoffwechselerkrankung sei, die nur durch bestimmte Stoffe, welche die Transmittersubstanzen der Nervenzellen verändern, eingedämmt werden könne.

Die Selbstempfindungen von Menschen treten in jedem Fall unmittelbar als Verhalten der Psyche, als Selbstgefühl auf, wenn sie sich gegen sich selbst verhalten müssen, weil ihr Lebensraum gegen sie verschlossen und - z.B. durch Missbrauch von erzieherischen Beziehungen - zu einer objekltive Macht gewendet ist. Menschen können sich an und für sich nicht wie eine sachliche Gewalt verhalten. Sie können aber in ähnlicher Weise sachlich werden, wenn ihnen ihre Versachlichung zum Medium einer Gewalt in zwischenmenschlichen Verhältnissen geworden ist. Nicht als Personen üben sie Gewalt aus, sondern innerhalb von Verhältnissen, worin sie ihre wahren Absichten verbergen müssen, weil sie deren eigene Objekte sind, also selbst in einer objektiven Ohnmacht mächtig sind. Dem vorausgesetzt waren schon die erzieherischen Beziehungen, die in den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft Lebensgewohnheiten anerzogen hatten, die sich unter bestimmten Bedingungen ganz in sich verschließen, in einem geschlossenen Lebensraum gefängnisartig werden.

Die vom sonstigen Leben abgetrennten Lebensräume entwickeln durch die Selbstverborgenheit der Menschen darin eine Macht in zwischenmenschlichen Erziehungsverhältnissen, in denen sich kein mächtiges Subjekt, sondern ein mächtiges Lebensverhältnis selbst dem Zögling als gewaltige Persönlichkeit erzieherisch überordnet. Es beruht auf der Ausschaltung eines jeden Selbstgefühls, das damit objektiv nur in seiner Verneinung bestätigt wird als ein Notwendiges, aber dennoch ausgeschlossenes Fühlen seiner Selbst als Objekt einer ihm äußerlichen Macht. Das objektive Gefühl ist nun zu einem Subjekt versteinerter Objektivität geworden, einer Gewalt, die nur psychische Wirkung hat, indem sie die Wahrnehmung vollständig beherrscht, während sie eine Realität bestätigt, die nirgendwo wahr ist, aber überall Wirkung hat.

Dies ist ein Verhältnis, in welchem ein Mensch gezwungen ist, sich außer seine Selbstwahrnehmung zu versetzen, ein Verhältnis, das keine Empfindung und kein Gefühl mehr hat, sondern in seiner Ausschließlichkeit selbst Inhalt aller Gefühle und Träger aller Empfindungen ist, ein objektives Gefühl, das sich aus menschlicher Wahrnehmung selbst herausgesetzt hat und sich als dieses Ausgesetzte in den Menschen fortbestimmt - meist phasenweise oder situationsabhängig, je nachdem, wie die Kraft zur Bewahrung der Wahrnehmung ausreicht. Die Menschen selbst sind dann darin praktisch Ausgesetzte und Aussätzige ihres Lebensverhältnisses, dem sie ja auch in der Tat schon stetig ausgesetzt waren, bevor sie als Mensch auch wirklich ausgeschlossen und durch den Ausschluss bestimmt wurden (z.B. als Objekte des Missbrauchs oder als Zöglinge menschenverachtender Kulturen oder sonstiger Gewalt, die sich als Sanktion aus diesem Verhältnis selbst begründet hatten).

In zwischenmenschlichen Verhältnissen, worin Menschen wirklich gezwungen sind, durch Selbstverneinung sich zu erhalten, besteht auch das sie beherrschende Gefühl aus einer negierten Selbstverwirklichung, also aus einer praktischen Verleugnung und Verneinung eigener Regungen. Der ausgeschlossene Sinn besteht daraus, dass eigene Regungen nur gegen sich selbst verwirklicht werden können, um Identität zu bekommen. Das objektive Selbstgefühl, das in den Menschen erzeugt wird, schließt die Wahrnehmung der Gewalt von selbst aus und separiert ihre Erfahrung in getrennte Einzelheiten, die für sich wahr und zugleich ohnmächtig sind, aber gerade dierduch eine abstrakte Identität ermöglichen. Das objektive Gefühl solch zwischenmenschlicher Bezogenheit hat damit der Zusammenhang der Sinne selbst ausgeschlossen, und sich auf das verdichtet, was in seiner Reduktion auch für sich zu fühlen ist. Dies sich nun auf das, was unbedingt für sich Sinn machen muss: Eine Beziehung auf das vereinzelte Empfinden und Fühlen, also auf ein Wesen der Wahrnehmung, das sich allein psychisch in ihrem Wahn vereint und wie eine Psyche in der Wahrnehmung selbst wirksam wird.

Darin sind die Zusammenhänge der Wahrnehmung selbst außer sich geraten und erweisen sich als ihr eigenständiger Sinn in den Absichten, die sich darin formulieren, in den Wähnungen, die sie in Gang setzen. Sie werden aus negierten Selbstgefühlen gespeist und halten die Wahrnehmung als Ganzes "in Schach", verhalten sich also wie eine objektive Identität in der Entgegensetzung zur Wahrnehmung. Subjektiv wird die Wahrnehmung daher bis zur völligen Ausschließlichkeit durch deren objektiv wirkende Bestimmtheit zeitweise in Phasen der Selbstverlorenheit oder Phasen, worin ihre psychischen Bildungen zu ihrer eigentümlichen Wirklichkeit wird, teilweise oder vollständig oder dauerhaft beherrscht.

Die ursprünglichste Eigenheit ist eine erregte Nichtigkeit des eigenen sinnlichen Seins, welches dadurch wirksam wird, dass die Psyche selbst als Übermacht gegen die sinnliche Wahrnehmung tätig ist, dass Selbstverwirklichung nur als Selbstbezwingung wahr werden kann.

Es waren hierbei die geborgenen Lebensverhältnisse selbst verbergendes Leben, das die Menschen nur im vergorgenen leben lassen kann: Liebesherrschaft, die Liebesopfer erzwungen hatte. Es muss nicht unbedingt nur sexueller Kindesmissbrauch sein, wenngleich dies auch die signifikanteste Wirklichkeit von notwendiger Selbstveleugnung ist; es ist aber meist die sublim verlangte Selbstaufopferung von Kindern, welche die Liebe der Eltern oder die Lebenspotenziale einer Erziehungsanstalt erheischen müssen, die ihnen eine Grundstimmung ihrer Selbstgefühle vermittelt, die ihr Nichtsein ausmacht.

Die bezwungene Identität muss nicht beständig wirksam sein; oft tritt sie in Phasen auf, die aus der Kraft der Wahrnehmung selbst bestimmt sind: Nach einer hiervon bestimmten Zeitdauer lässt der Widerstand der Sinne nach und überlässt sich der psychischen Mächte solange, bis deren Kraft durch ihre Unverwirklichbarkeit aufgebraucht ist.

Wo Selbstverwirklichung vor allem nur Selbstverneinung bedeutet, besteht vor allem kein eigenes Wahrheitsvermögen; es wird die eigene Wahrheit von fremder Wirkung nicht unterscheidbar. Das Eigene wird dann sich selbst fremd, wenn eigene Erkenntnis erforderlich ist. Es kehrt die Wahrnehmung nach innen, in das, was sie aus den Inhalten ihrer Lebensangst nurmenr wähnen kann.

Ein Wahn ist - dem Traum ganz ähnlichn - ein inneres Ereignis, das sich gegen die Wahrnehmung richtet, um ihr einen Sinn zu vermitteln gegen das, was sie nicht fassen kann. Er besteht aus den Empfindungen absolut gewordener Selbstgefühle, die eine Schutzmacht vor der wirklichen Wahrnehmung errichten, um die Panik, die sie verursachen würde, durch einen Eigensinn der Wahrnehmung, durch eine eigene Sensorik abzuwehren. Wer visuelle oder akustische Halluzinationen hat oder seinem Geruchsinn oder Tastsinn nicht mehr trauen kann, versetzt sich ob der Verwirrung, die ihn hierbei überkommen muss, in eine Eigenwelt, die seine innere Wahrmehmung, also das, was hinter allem Selbstgefühl für ihn wahr ist und verschafft sich aus ihrem Standort für seine Wahrnehmung innere Ereignisse, die sich gegen die äußeren richten. Es sind Inhalte die einen Eigensinn aufklären sollen, der in der Wahrnehmung nurmehr als Unsinn wahrgehabt werden kann. Zum Beispiel spricht in den Stimmen, die auf diese Weise gehört werden, die Macht einer Identität, die sich gegen eine hörigen Wahrnehmung wendet (siehe Hörigkeit), sich ein Gehör erzeugt für das, was sie nicht hören kann, was aber ihre Beziehung bestimmt. Ähnlich kann es dem Geruchsinn ergehen, wenn ein Mensch in einer bestimmten Situation sich und andere nicht riechen, nicht leiden kann. Und wer dem Augenschein erlegen ist, muss dessen Wahrheit als Halluzination erfahren. Der Wahn ist nichts anderes als die Wahrnehmung einer innerlichen Wahrheit, die von der äußerlichen abgespalten ist, sich gegen ihre Entäußerung wendet.

Der Wahn entsteht aus der Kraft einer entwirklichten Wahrnehmung, die suggestiv geworden war und in sie eindringt. Suggestion erzeugt die Macht einer entwirklichten Wahrnehmung, einen Sog, der aus einer abwesenden Wahrheit entsteht, aus der die Gegenwärtigkeit ihrer ästhetischen Verdichtung die Wahrnehmung abstrakt bestimmt und ihre Reduktion im Nichtungsprozess, also aus einer vernichteten Wahrnehmung heraus das Gewähnte produziert. Es ist die Tätigkeit eines Eindrucks im Wahrnehmungsprozess, die entweder mit einer manipulativen Absicht an sie gerichet wird oder ihrer Bereitschaft hierfür aus vernichteter Wahrheit in ihrer Negation selbst entspricht und in der Wahrnehmung deren seelische Bedingung veräußert, indem sie diese ihrem Gegenstand unterstellt. Das Wahrgehabte wird nicht als Inhalt der Wahrnehmung wahr, sondern aus ihrer Form, aus dem Körper ihrer Organe.

Von da her ist die Selbstverwirklichung im Verfolgungswahn die erste Wirkung einer Selbstbezwingung. Im Wahnsinn gewinnt ein bezwungenes Selbst in der Abtrennung der Sinne von der Psyche eine eigene Wirklichkeit. Und im Irrsinn wird eine Welt erzwungen, die für andere Menschen nicht wirklich sein kann, die aber der Wahrnehmungswelt der Psyche entsprechen muss.




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233.1 Verfolgungswahn (Die Psyche als Subjekt der Selbstentfremdung)

Der Verfolgungswahn ist die unvermittelbare Aufhebung und Umkehrung des Selbstverlustes, dem noch durch Zwangsverhalten begegnet wurde. Darin tritt jetzt die ganze Psyche als Subjekt des Verfolgers auf, der als als Gegner in ihr selbst empfunden wird. Es tritt darin die Wahrheit einer entäußerten symbiotischen Identität einer zwischenmenschlichen Beziehung als Selbstvergegenwärtigung einer symbiotischen Selbstbehauptung mit absoluter Macht hervor..Der betroffene Mensch verfolgt sich selbst um seinen Selbstverlust gegen sich einzuholen, um sich als Gegner zu gewinnen, um als Verfolger zugleich der Verfolgte zu sein, der sich in seiner Bedrohungslage nicht mehr unterscheiden kann, dem seine Selbstbeziehung also nur noch psychotisch gegen sich selbst gelingt. Dafür werden vor allem die Sinnesorgane selbst unter Druck und in den Dienst einer fremden Identität der Psyche gestellt.

Die reine Auffassungsgabe der Wahrnehmung, die bloße Kognition, hat in ihren Empfindungen ihre "Haut", ihre "Außengrenze". Und wo diese "überschwemmt" und damit als Form der Wahrnehmung entzogen ist, weil die Empfindung keinen Sinn mehr für sich finden kann, da bedrängt sie die Psyche als Zusammenhang und Gedächtnis der Gefühle, als Ganzes der Selbstgefühle. Sie wirkt nicht mehr als ihre verlorene Beziehungen auf andere, sondern wird selbst als Subjekt wahrgehabt, das sie verfolgt, als äußere Welt, welche ihre Liebe von sich ausschließt und bedroht.

Der Verfolgungswahn drückt eine allgemeine Bedrohung der Wahrnehmungsidentität aus, die als Vernichtungsmacht erlebt wird. Das setzt voraus, dass eine solche Identität selbst schon als eine fremde Identität tätig war. Ihr Grund ist jedoch nicht eine wirklich schon stattgefundenen Verfolgung, sondern eine Verschmelzung, in der die Selbstwahrnehmung zunichte gegangen, depressiv geworden ist und sich als Lebensangst verräumlicht hat. In einer paranoiden Warnehmung erscheint diese Angst daher selbst unheimlich, weil ihr Lebensraum alles betrifft und damit unendlich ist. Sie ist zu einer Angst vor einem mächtigen Nichts geworden, zu einer Angst vor einer drohenden Vernichtung, deren Grund nicht mehr erkennbar ist, weil er in seiner Wirklichkeit längst vergangen ist. Verblieben ist nurmehr die räumliche Wirkung der dadurch erwirkten Gefühle und ihres Gedächtnisses.

In Lebensverhältnissen, die durch totale Selbstgefühle bestimmt sind, ist ja das Selbstgefühl auch schon als ein objektives Gefühl aufgetreten. Jetzt ist es dieses schlechthin, objektives Selbstgefühl für sich. Dies allerdings ist allseitig und hat Identitäten gestiftet, in denen die Menschen sich dadurch gewinnen konnten, dass sie ihre Gefühle entäußert, zu einem Gemeingefühl vergemeinschaftet haben, Das ist für die Selbstwahrnehmung ein Unding, wird dadurch doch das Selbstgefühl zu einem Gemeingefühl, in welchem jeder zugleich außer sich ist und doch bei sich bleibt. Weil er also sich im Gemeinen verloren hat, kann er nur dort bei sich bleiben. Das macht ihn gemeinhin hörig und seine Wahrnehmung zum Objekt eines objektiven Allgemeingefühls.

Die Selbstgefühle, welche die Hörigkeit nötig hatten, kehren nun in ihrer Negation wieder, als Gefühl einer ausgeschlossenen Identität, deren Wahrheit außer sich geraten ist und den Menschen selbst bedroht, der Angst hat, seine Wahrnehmung zu verlieren und verrückt zu sein.

Der Entstehung der Hörigkeit, die oft als solche nicht erkannt worden war, geht eine Beziehung voraus, in welcher die Verhältnisse von einer Liebesmacht bestimmt waren, die in einer abstrakten oder religiösen Allgemeinheit begründet war, in welchen sich die Menschen selbst nur als Objekte einer darin verschmolzenen Gemeinschaft einer Abstraktion erleben konnten. Diese Gemeinschaft ist selbst schon ein Missbrauch der Menschen darin, ob sich hierbei auch tätlicher Missbrauch ereignet oder nicht.

Wo die Wahrnehmung sich selbst zum Objekt dessen gemacht hat, was sie wahrhat, wo sie sich also selbst allgemein in ihren Gefühlen wahrhat, wähnt sie sich auch als fremde Kraft, die außer sich Macht gegen sich hat. Von dieser kann sie sich nicht unterscheiden. Die Not der Selbstunterscheidung wird psychisch als Bedrohung des eigenen Lebens aufgefasst.

Von daher wird das objektive Gemeingefühl zu einem Subjekt gegen die eigene Wahrnehmung, zu einem Sinn, den sie nur außer sich wähnen kann. Dieser Sinn bedrängt das Wahrnehmen selbst und wird dort auch als Bedrängung der eigenen Identität gefühlt. Es muss für die Wahrnehmung jetzt also etwas geben, das die Macht hat, die Wahrnehmungsidentität zu vernichten. Dieses raunt als wirklicher Mythos in ihr, als wirklich fremder Sinn, der von allen Inhalten der zwischenmenschlichen Wahrnehmung nun gänzlich absieht, aber darin eine unheimliche Absicht zu volllstrecken scheint. Als Subjekt der Wahrnehmung lauert er in allem Wahrnehmbaren auf, lässt Figuren entstehen, die bedrohlich sind, ohne dass die Bedrohung eine wirkliche Gestalt hat. Es ist der nun zu einem Fremdgefühl gewordene Eigensinn, der wirklich gefühlte abstrakte Sinn. Immer wieder tritt diese als bedrohliches Gefühl ohne Grund und Ursprung auf, als Wahn eines Verfolgungsgefühls, als Verfolgungswahn.




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233.2 Wahnsinn (Die Psyche als verrücktes Subjekt)

Die bezwungene Selbstverwirklichung lässt die Psyche wähnen, was ihre Sinne vermitteln. Die psychische Gewissheit, dass dies für sie nicht stimmen kann, übertrifft das sinnliche Wahrnehmungsvermögen zumindest zeitweise. Es werden Wahrnehmungen hiergegen erzeugt, die z.B. als innere Stimme oder als Halluzination sich wie eine übermächtige Selbstwahrnehmung einbringen, welche dem betroffenen Menschen eine völlig sinnlose Wahrheitsfrage aufbürden: Was kann überhaupt nur wahr sein?

Es gibt aber keine Wahrheit an sich; es geht hier um eine doppelte Wahrheit weil es um ein gedoppeltes Leben geht. Im Wahnsinn erscheint die andere Wahrheit der Psyche, die den Sinnen entfremdet ist und die als notwendiges Selbstgefühl nur in ihrer verkehrten Form als Wahn durchbricht. Im Wahnsinn erscheint wirklich, was sonst nur Traum sein könnte. Die Kraft des Gefühls, dem jeder Sinn genommen ist, erscheint als psychischer Sinn, der wahrer ist als jede wirkliche Wahrnehmung noch sein kann.

Wahnsinn kann in Momenten oder auch dauerhaft auftreten, je nachdem, wie total sich darin Selbstentfremdung vollzieht, wie total also eine notwendig gewordene Selbstaufhebung sich verwirklichen muss. Die Wahrnehmung einer Vernichtung kann für die Selbstwahrnehmung selbst vernichtend sein, wenn sie deren Sinn zerstört, wenn sie so total in ihrer traumatischen Wirkung ist, dass ihr Schmerz unendlich ist, dass er also keinen sinnlichen Boden mehr findet und nichts von sich wirklich empfinden kann. Im Gefühl kehrt sich dann die Empfindung eines in sich total gewordenen Selbstgefühls gegen sich selbst und vollzieht die Nichtung der Selbstwahrnehmung in der Hervorkehrung ihrer Verkehrung bis hin zu einem Wahngebilde, das sie in sich, also in ihrer Ausschließlichkeit als Interpretation ihrer Selbstwahrnehmung zusammenschließt. Ihre Empfindungen werden dadurch wieder gegenständlich, dass sie sich ihre Gegenstände in ihrer Selbstwahrnehmung aus den Inhalten ihrer psychischen Erinnerung erfühlen.

Der Wahnsinn ist ein in seinem Wahn zusammengeschlossener, ein in sich totalisierter Sinn der Sinne, die nicht wahr sein dürfen, eine Empfindung, die wähnt, was seelisch wahrgehabt wird, was aber nicht Empfindung sein kann und als Gefühl zugleich ausgeschlossen, als Wahrnehmung vernichtet ist. Ihre Wahrheit wirkt durch dessen Negation aus seiner Ausschließlichkeit heraus in die Wahrnehmung hinein. Das erzeugt Empfindungen, die Gefühle repräsentieren, die wähnen, was sie wahrhaben und sich als psychisch begründet erweisen, ohne sinnlich gewiss sein zu können, die als total ungewisse Wahrnehmung sich mit psychischen Inhalten füllen, die als Verkörperung ihrer Sinne aus der Versammlung ihrer Selbstgefühle aus dem Gedächtnis der Psyche sich in der Wahrnehmung vergegenwärtigen. Der Wahnsinn ist die Vergegenwärtigung eines Körpers, der sich im Wahn seiner Selbstwahrnehmung verwirklicht, um sein unwirkliches Dasein, die Nichtung seiner Selbstwahrnehmung zu ertragen.

Oft geschieht dies durch Stimmen, die gehört werden, ohne dass ihr Sprecher erkennbar wäre oder auch durch Halluzinationen, die ein Befinden der Psyche artikulieren, das ohne wirklichen Befund und ohne Gewissheit der Wahrnehmung ist. Er kann auch daraus bestehen, dass Menschen verschiedene Lebensidentitäten annehmen, die ihnen ermöglichen, sich in verschiedenen Welten auch verschieden zu verhalten und einzuordnen. Der Wahnsinn leidet an einer Wahrheit, die nicht sein kann, an fremder Wahrheit, die wahrgehabt und zugleich durch die Wahrnehmung selbst aufgehoben wird. Er kann als ein Selbstrettungsversuch der Psyche angesehen werden, die ihre Wahrnehmung abgestoßen hat und hierdurch selbst außer sich geraten ist und ihre Angst oder Hoffnung oder Glück oder anderes als Negation des Wahrnehmbaren überhaupt lebt.

Die Selbstwahrnehmung verläuft zwischen den Phase bloßer Wirklichkeitswahrnehmung und bloß seelischer Wahrnehmung, weil beides voeinander getrennt ist. Die Psyche gewinnt ihre Subjektivität nurmehr dadurch, dass sie einen Wahn produziert und erleidet ihre Objektivität, indem sie sich jeder Wirklichkeit beugt. Sie ist dem objektiven Gefühl unterworfen und nutzt zugleich die Möchlichkeit, sich ihm zu entziehen, indem die Wahrnehmung sich in "Wahrheitsphasen" aufteilt. Deshalb wurde solche Wahrnehmung "Schizophrenie" (Schädelspaltung) genannt.

Die individuelle Genese des Wahnsinns setzt ein Lebensverhältnis voraus, worin die Unterwerfung der Selbstwahrnehmung selbst Bestandteil eines objektiven Gefühls ist, eben durch Menschen, welche vollständig über die Selbstwahrnehmung eines Menschen verfügen können. Durch Menschen, die dem Wahn interpretativ begegnen können, lässt er sich zurückdrängen oder vielleicht auch gänzlich unnötig machen (siehe hierzu auch "Arbeit am Wahnsinn").




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233.3 Irrsinn (Die Psyche als selbstverwirklichtes Subjekt)

Im Irrsinn ist die Wahrnehmung als Ganzes der Psyche so unterstellt, wie diese wahrgehabt wird. Was seelisch sich regt, steht dann gegen die Sinne der Wahrnehmung überhaupt und wird innerhalb dieser Regungungen selbst zu einer eigenen Wahrnehmungswelt, also zur Begründung eigener Wahrheit, die sich den Sinnen selbst entgegensetzen muss. Der Wahn wird dadurch unsinnig und das Wähnen unmöglich. Die Wahrnehmung irrt im Gefolge seelischer Eruptionen und wird überhaupt zu einer fremden Identität, welche die seelische Wahrheit ausschließt und von daher von der Psyche selbst ausgeschlossen werden muss. Sie treibt jede Wahrheit zum Irrtum, indem sie die Wahrnehmung als ausschließliche Selbstwahrnehmung und also als ausschließliche Wahrheit erkennt.

Der hiervon betroffene Mensch wird auch oft als Autist bezeichnet, was aber - wie man vielfältig schon publiziert hat - nicht richtig ist, weil er sich garnicht auf sich selbst ausschließlich bezieht. Er interpretiert seine Wahrheit lediglich aus seiner Selbstwahrnehmung und bezieht sich hierüber auf andere. Es ist die Sinnesform verkehrt, also umgekehrt als die der anderen Menschen. Der Grund hierfür kann auch physisch bedingt sein (z.B. durch Traumata der Wahrnehmung oder des Gehirns). Soweit er kulturell ist, muss er in frühen Phasen der Wahrnehmungsbildung in der Überwältigung subjektiver Wahrheit liegen. Von daher herrscht hier ein objektives Gefühl als psychisches Subjekt.




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