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320. Einleitung in die Befriedung einer Kultur selbstloser Menschen

Es ist ganz gleich, ob jemand an Gott oder an den Finanzmarkt glaubt: Das selbstlose, das religiöse Selbstgefühl hat und findet seinen Grund immer wieder in der Überwindung des irdischen Jammertals, dem Siechtum der herrschenden Verhältnisse. Im Glauben an den Moment verspricht dessen Erfolg das Gefühl eines Glücks in elendigen Lebensverhältnissen. Gerade in ihrem Niedergang betreibt es den Opportunismus eines übermenschlichen Zufalls wie das objektive Sollen einer höheren Macht und wird für den ohnmächtigen Menschen zum Erinnerungsbild geglückter Erlebnisse und somit zu deren abstrakter Bestätigung und Bewährung. Durch das Erleben irgendeiner Sinnhaftigkeit in der Vergegenwärtigung einzelner Begegnungen durch die Gewohnheiten der Sitten und Gebräuche in der an sich heilen Welt einer beziehungsreichen Selbstlosigkeit belebt solche Form von Erinnerung das, was immer wieder mal irgendein Unheil überwunden hat, um für sich heil zu bleiben. Und das gelingt auch immer wieder mal durch das Zusammentreffen von Erwartungen mit dem entsprechenden Ereignissen, die sie zu erfüllen scheinen. Doch in Wahrheit ist es nur das blinde Verallgemeinern, das diesen Schein verfestigt und zu einer gläubigen Lebenshaltung leitet, die allerdings nur daraus besteht, sich an die Chronik einer beliebigen Vernunft anzupassen, die sich nun so subjektiv wie auch gottgewollt, wie ein Schicksal des Lebens schlechthin anfühlt. Und das ist nicht neu. Es ist lediglich zum Betrieb einer besonderen Kulturform wesentlich geworden: Der Kultur des Erlebens, dem Reiz einer prominenten Selbstbeziehung in einem allgemeinen, weil verallgemeinerten Selbsterleben.

Die objektive Vernunft dieser Subjektivität hatte zunächst durch die absolute Selbstlosigkeit ihres Persönlichkeitskults zu einer pervertierten Lebenswelt zwischenmenschlicher Verhältnisse entwickelt, welche alle subjektiven Verhältnisse aufsaugt und durch die Verallgemeinerung ihrer toten Wahrnehmung entsinnlicht. Sie macht jetzt ihren subjektiven Zweck unerreichbar und kann über ihre wirklichen Kulturereignisse hinweg Bilder einer idealisierten Kultur vermitteln, die sich nicht wirklich, sondern nur durch das Verhalten von Person in den Ereignissen ihrer zwischenmenschlichen Verhältnisse verwirklichen. Denn in Wahrheit verfolgen die Menschen in diesen Verhältnissen vor allem das Bild von sich und ihrem Leben, das Selbstbild ihrer Lebenswerte. Nun soll es darum gehen, wie und wozu solche Bilder sich verwirklichen können, wie die Scheinwelt einer Hochkultur des Bildungsbürgertums gestalten lässt.

Die Selbstwahrnehmung hat sich durch ihren Persönlichkeitskult (siehe 313.3.3 Der Kult oder die Liturgie der Selbstwahrnehmung als Persönlichkeitskult) nun soweit gegen ihre Empfindungen abgeschottet, dass sie nur durch Gefühle von ihnen befreit werden kann, die sich in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen nun auch tatsächlich - wenn auch nur abstrakt - darstellen können. Immerhin haben Gefühle im Kult dieser Beziehungen eine ungeheuere Macht, wenn und weil sie als Macht einer scheinbar absoluten Subjektivität der Selbstwahrnehmung gegen die Ohnmacht einer toten Wahrnehmung auftreten und in der Menge diese zu einem inneren Verhältnis ihrer Masse zu einer Vertiefung der Dichte ihres ästhetischen Willens wenden können. Dies bestärkt allerdings zugleich die Heftigkeit ihrer Ressentiments.

Es kommt daher für solche Kultur darauf an, wie man Gefühle durch Ereignisse veranstaltet, um ihre Wirkung auf die einzelnen Menschen durch sein Selbsterleben zu vergesellschaften. Das innigste Mittel solcher Gefühle ist meist die Musik, der Sport, die Mode (siehe auch Körperkult) und das Internet, durch die zwischenmenschlich auch wirklich und existenziell in ihren Absichten verbunden werden kann, was ansonsten in der isolierten Einzelheit der Individuen versiegen würde.

Dem 1. Buch war zu entnehmen wie die Menschen durch die Absichten des ästhetischen Willens die Widerssprüche zwischen ihren Empfindungen und ihren Gefühlen in ihren Selbstgefühlen unter den Bedingungen ihres Geldbesitzes ausgestaltet haben und ihren Selbstwert durch die Selbstbehauptungen ihres Geltungsstrebens in ihren zwischenmenschlichen Verhältnissen und deren Lebensräumen zur Wirkung gebracht hatten. Doch die Persönlichkeiten ihrer Selbstveredelungen konnten sich über ihren Narzissmus nur noch auf sich slbst beziehen und hatten in ihren Lebensburgen sich zu einer selbstlosen Welt gestaltet, in der sie sich im 2. Buch nur noch durch ihre Lebensgewohnheiten geborgen fanden. Damit war ihnen ihre Wahrnehmung durch fremde Bewahrheitung verstellt. Sie hatten sich im Gewohnten und Wohnen von sich selbst entfremdet und sich in einem gewaltigen Verhältnis ihrer Selbstentfremdung zu einer Welt voller Lebensängste verwirklicht. Die Selbstlosigkeit des Brauchtums, der Sittlichkeit und der Religion hatte schließlich die Lebensangst der Selbstvergegenwärtigung, die mit ihrer symbiotischen Selbstwahrnehmung verrückt geworden war, darin aufgehoben, dass alles nun - wenn auch in fremder Gestalt - gegenwärtig werden konnte, Angst überhaupt schon strukturell durch die kulturgläubigen Bürger überwältigt ist.

Eine religiös gewordenen Sitte stiftet ein soziales Verhältnis, das sich im Jammertal des Diesseits an die Menschen wendet und ihrer allgemein gewordenen Selbstlosigkeit nun auch Sinn stiftet, indem sie ihre Reinheit als Maßgabe für ihre Artigkeit sozialisisiert. Im zwischenmenschlichen Verhältnis muss das Herz der Menschen von diesem "hohen Geist" einer "ewigen Wahrheit des menschlichen Daseins" getroffen werden, welche die "Entwurzelung" der Menschen aufzugreifen versteht und sie auf den rechten Weg bringt. Sie verschafft sich im Trubel der Selbstverleugnungen in ihrer Scheinwelt eine Reinheit der Art, indem sie in ihrem hohen Sinn das Gute vom Bösen trennt und für sich frei macht, zu einem guten Meinen bringt, zum Wohlgemeinten einer Meinung, die als Gefühl für sich steht und das Meinige dafürhalten kann, wo es als allgemeine Güte auftritt und zu einem Allgemeingefühl der Heilsamkeit wird.

Bürgerinnen und Bürger, die zu ihrer Selbstveredelung hohe kulturelle Werte verfolgen, begreifen ihre unmittelbaren Lebensverhältnisse als Lebensmaßstab schlechthin. Sie verspüren in sich einen starken Unwillen gegen die Verwerfungen der Welt und neigen dazu, ihre Gefühle ästhetisch zu idealisieren, um damit Störungen im Vorhinein durch Ekel abzuwehren, und das Störende selbst in einer allgemeinen Selbstwahrnehmung vorgreifend auszuschließen suchen. Nicht allein ihr Heim macht ihre hierdurch bereinigte Lebensburg aus, sondern die gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen ihrer Kultur höchstselbst. Durch ihren Willen zu solcher Reinheit entwickelt sich eine heile Welt, die sich selbst genügen soll und von daher durch sich selbst bestimmt erscheinen muss. Ein solches Gebilde stellt die Verhältnisse eines ästhetischen Willens dar, der nach einer körperlichen Verwirklichung seiner Kulturwerte als Allgemeinstruktur ihrer Egozentrik strebt. Es ist die politische Reaktionsbildung auf dekadent gewordene kulturelle Verhältnisse, wie sie sich in den zwischenmenschlichen Verhältnissen in Zeiten ihrer Belastungen und Stagnation, also in kulturellen Krisenzeiten herausstellen.

An der Gewissheit seiner Wahrheit kann niemand vorbei. Um sich ihre eigene Wahrheit zu bewahren, muss die Wahrnehmung resistent gegen die Reize und Eindrücke durch Gefühle werden, die sie nicht mehr mit wirklichen Empfindungen verbinden kann. Wo sie nicht mehr wirklich wahr sein kann, weil die zu fremd, zu ungewohnt, zu weit weg entstanden sind, wird sich die Wahrnehmung selbst ungewiss. Sie muss sich ihrer selbst durch Erlebnisse vergewissern, die ihr Empfindungen vermitteln, sie zu Gefühlen anreizen, die sie nicht nur für sich selbst erzugt, sondern auch für und mit anderen zum allgemeinen Lebensverhältnis einer Scheinwelt entwickelt (siehe Eventkultur), in der zum allgemeinen Nutzen persönlicher Wahrnehmungen unentwegt Gefühle und Empfindungen in beliebiger Folge durch Events erzeugt und oft auch als Kult geboten werden.

Die Wahrnehmung ist allerdings mit der anwachsender Dichte solcher Eindrücke irgendwann prinzipiell überfordert, verliert daher ihre Neugierde und stellt sich wie ein Spießbürger vor dem Stadttor vor das Einfallstor ihrer Wahrheit, um deren Eindringen zu verhindern, ohne zu bemerken, dass die hierdurch zunehmens verkümmert und langeweilig wird. Sie wird auf diese Weise zwar diese Eindrücke ausschalten, nicht aber sich so verändern, dass sie verarbeitet werden können. Aber immerhin kann sie sich selbst ablenken und damit erreichen, dass sie wieder auf einfacherem - wenn auch einfältigerem - Niveau funktioniert.

Ereignisproduktion zielt auf die Produktion von Selbstgefühlen, die durch bestimmte Erlebnisse erzeugt werden. Von daher werden die damit bewirkten Empfindungen zum Mittel der Selbstbeziehung über Gefühle, die ohne dies keinen Sinn mehr für sich findet und ihre Langeweile als Ausdruck einer toten Wahrnehmung forttreiben müsste. Eine Ereignisproduktion stellt Zusammenhänge von Erlebnissen her, deren Leben durch die Ereignishaftigkeit einer entgegenwärtigten Kultur abgebrochen (siehe Isolation), in sich tot und zerteilt (siehe Tote Wahrnehmung) und von sich getrennt (siehe Trennung), sich im Ganzen wesentlich fremd geblieben ist (siehe Entfremdung).

Ereignisproduktion betreibt die Herstellung von Ereignissen und bezieht ihren schlichten Grund meist aus der Langeweile dieser Kultur, aus der Abwesenheit ihrer sinnlichen Beziehungen. Sie versucht, dem Nichts ihrer gesellschaftlichen Substanz (siehe abstrakt menschlicher Sinn) eine Lebensform zu verschaffen, wie er räumlich und körperlich möglich ist und die tatsächliche Verbindungen von Individuen möglich macht. Von daher ist schon jede Party eine Ereignisproduktion - ebenso wie auch ein Konzert, eine Vorstellung, ein Event oder eine Zeremonie als Gedächtnis, bzw. Gedächtnisstütze, die als Event aufgeführt wird. Weil sich daran viele verschiedene Menschen beteiligen, muss das Ereignis für sie in einer angemessenen Komplexität organisiert sein und hat daher einen Veranstalter nötig, dem die Kulturkonsumenten oder sonstige Beteilgte zusprechen und sich ihm soweit unterordnen, wie die Veranstaltung ihne Bedüfnisse bedient. Das schafft ein Verhältnis, das einen gemeinsamen Anlass beinhaltet, der meist einen Mangel der alltäglichen Gewohnheiten aufheben und überwinden soll, oft auch in der Form von Ritualen und Liturgien, die die Botschaft und den Glauben eines Gemeinsinns darstellen sollen (sieh hierzu auch Religion).

Ereignisproduktion ist daher die Erzeugung von Ereignissen, die objektiv bestimmt sind, um die Subjekte zu objektivieren, wodurch die Wahrnehmung in Einheit mit der Selbstwahrnehmung belebt und auf einen bestimmten Sinn und Zweck ausgerichtet wird. Nicht aus einem bestimmten Bedürfnis müssen hierbei bestimmte Ereignisse erfolgen. Es ist eben vor allem die organisierte Aufhebung einer Langeweile, die einen Zusammenhang reflektiert, der im Verbund der Menschen immer wieder in Abwesenheit zu geraten droht, wenn sich die Beziehungen der Menschen entleert haben, und neuen Sinn suchen, neue Empfindungen ersehnen, sich neue Gefühle einverleiben wollen.

Doch die Produktion der dem entspechenden Elebnisse löst deren Widersprüche im wirklichen Leben nicht wirklich auf. Die im bloßen Dazwischensein der in ihren Lebensverhältnissen isolierten Selbstbeziehungen werden hierbei zu zirkulären Selbstwahrnehmungen, denen immer wieder mal Erlebnisse zugeführt werden müssen, durch die sie angeregt oder zumindest von den Schmerzen ihrer Isolation abgelenkt werden. Die Menschen haben schon aus ihrer unmittelbaren Isolation heraus das Ziel, sich durch kulturelle Beziehungen zu vergemeinschaften, um darin ihre zwischenmenschlichen Beziehungen zu verweltlichen, eine Kultur zu schaffen, die zunächst oft nur ein Kult ist, der zur Mode werden kann, und worin sich dieser schließlich ästhetisch fortsetzt, indem er die entsprechenden Signale der Zugehörigkeit in einer beziehungslosen Welt zu senden vermag.

Die bestimmte Auswahl der Ereignisse ergeht aus der Form einer mächtig gewordenen, aus einer prominenten Gestalt oder ebensolchen Kultur, wodurch isolierte Regungen angereizt werden, deren Erregung durch die so erzeugten Erlebnisse aufgelöst werden. Im Grunde sind die hierdurch bewirkten Ereignisse das äußerstee Mittel, um sich aus sich selbst herauszunehmen, indem Empfindungen entstehen, die ein angefordertes Selbstgefühl so erbauen, wie es ersucht ist. Die Erbauung hebt jede Empörung auf und wird schließlich zur Empore einer Kultur der Selbstlosigkeit, die jederzeit politisch zu nutzen ist.

Von daher ist Ereignisproduktion das Verhältnis einer Sucht zu sich als ihr lebendes Objekt, die Produktion von Ereignissen durch Veranstaltungen für zwischenmenschliche Erlebnisse, worin Selbstwahrnehmungen zur Prothese einer gesellschaftlichen Beziehung werden und über einen entsprechenden Kulturkonsum Erregungen befriedet werden. Zwischenmenschliche Beziehungen werden mit objektiven Gefühlen versehen und dort verbündet, wo sie gleichgültig geworden sind. Darin wird eine Kultur befriedet, in der jeder bei sich bleibt, wenn er außer sich ist. und in der die Sinnentleerungen des Alltags (siehe auch abstrakt menschlicher Sinn) überwunden zu sein scheinen (siehe auch Scheinwelt) und durch entsprechende Ereignisse oder Drogen ertragen werden (siehe auch Tittytainment).

Ereignisproduktion entsteht in einer Dienst leistenden Arbeit, ist also eine Dienstleistung, die sich von der stoflichen Produktion darin unterscheidet, dass sie der Notwendigkeit des Stoffwechsel enthoben, dass sie Ereignisse und geeignete Gegenstände für Erlebnisse erzeugt und von daher Kulturarbeit ist, weil sie Kulturgüter für die Selbstwahrnehmung erzeugt. Jenseits ihrer gesellschaftlichen Warenform formatiert sie sich durch ihre Dienstleistungen zu einer Eventkultur, worin die bürgerliche Kultur zu einer eigenständige Form der Freizeit im Kontrast zur gesellschaftlichen Arbeitsform überhaupt wird. Von daher ist sie auch die wesentliche Tätigkeit der Institutionen eines Kulturstaats.

Der ästhetische Wille hat die Sitten selbstlos gemacht und zu einer Hochkultur entwickelt, in der alle Empfindung objektiv aufbewhart und subjektiv wirkungslos geworden war. Verwüstete Sitten verbreiteten sich in der Versachlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen sie auch nur sachlich und wie Sachen als reine Objekte einer empfindungslosen Kultur verkehren konnten, die sie pervertierten und die in ihrer objektivemn Verkehrung keine menschlichen Beziehungen mehr vermitteln konnten. Die Menschen mussten in dieser Gesellschaft erst einen Lebenszusammenhang finden, der über jeden Zweifel erhaben sein soll, auch wenn er dadurch keinerlei Gewissheit haben und finden konnte. Er musste erfunden werden. Darin konnte sich dann schließlich auch der ästhetische Wille als Beweis seiner selbst durch seine ästhetischen Urteile befinden und wahr machen, weil er in dieser Abstraktion seiner Selbstlosigkeit eine Wahrheit für Alles und Nichts, eine gleichgültige eine Wahrheit für Alles geworden war.

Der Gottesglaube einer empfindungslosen Kultur konnte deshalb schließlich die Sittlichkeit der Kultur zu einer übermenschlichen Dimension entwickeln, gegen welche alle Widersprüche und Kämpfe des wirklichen Lebens nurmehr als Unheil erscheinen, weil sie eben auch wirklich unheilig sind. Mit dem Glauben an einen höheren Sinn sollten die Heiligen das Unheil beherrschen, indem er sich als Wille Gottes in seiner ästhetischen Form als Fleisch gewordener ästhetischer Wille und dessen Liturgie an die Menschen richtet, sie durch ihr Selbsterleben nun auch wirklich einverleibt und an die Reinheit Gottes die Selbstachtung der Menschen bindet und ihre Bereinigung vermittelt. Doch die vom Himmel zur Erde gebrachte Reinheit ist nichts anderes als eine sich selbst unterwerfende Selbstlosigkeit, durch die aus jedem Bürger ein Schutzpatron, aus jedem Warenbesitzer ein Spießbürger wird, etwa so, wie dereinst Martin Luther aus der Dogmatik des Glaubens der Kirchenpäpste den Pfaffen im Menschen selbst begründen wollte:

"Luther hat ... die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt." (MEW 1, S. 385)

Die Menschen waren nicht erst durch einen sittlichen Glauben zu sich selbst in ein mythologisches Verhältnis geraten. Es war schon mit der Selbstverwertung angelegt, welche die Psyche dazu getrieben hatte, ihre Verwirklichung in einer Selbstveredelung ui finden und zu empfinden. Ihr Edelmut wurde zum Mehrwert der Selbstwahrnehmung, der ihr Selbstgefühl mit übermächtigen Fähigkeiten ausgestattet hatte. Er aber hatte in der bürgerlichen Persönlichkeit für sich noch keine Wirklichkeit gefunden und kommt nun erst im Verhältnis und Verhalten selbstlos gewordener Menschen zur Anwendung, wird darin zur Botschaft von einer höheren Sinnlichkeit, die nun auch ihre sozialen Beziehungen neu bestimmt, sie für ein höheres Dasein verpflichtet, das alle ihre Unschönheiten, ihre Störungen und Reibereien, ihre Begierden, Verfehlungen und Verrücktheiten zusammenfasst und ins Jenseits befördert. Was zwischen den Menschen (siehe Zwischenmenschlichkeit) und in der Welt geschieht, wird nurmehr unter einer Bestimmung wahrgenommen, die von Unheil kündet und Heil verspricht. Alle Verhältnisse, so klar auch ihre verstandesmäßige Beziehungen sein mögen, sind - schon bevor sie überhaupt Gegenstand der Erkenntnis werden können - für die Menschen von einem Prinzip erfasst, das nur daraus besteht, ein seelisches Unheil zu meiden, das mit dem Unheil der Welt in dem Maße sich decken lässt, wie auch die weltlichen Konflikte mystisch werden, sich nicht mehr durchdringen lassen, immer wirrer für die einzelne Wahrnehmung werden. Es hatte sich schon in der Bildung des Religiösen im Menschen eine Ordnung zugetragen, welche durch eine höhere Sinnstiftung des Werdens und Vergehens der Natur begründet wurde. Nun geht es um die Sinnstiftung einer heilen Welt, die sich auch wirklich gegen alles Unheil stellen soll.

Die Vergöttlichung der Kultur hatte die Naturalisierung des Sittlichen zur Voraussetzung. Sie hatte die Selbstwahrnehmung zum reinen Geist eines übermenschlichen Wesens herausgesetzt, dem die Menschen niemals gerecht werden können. Die einzelnen Absichten der Menschen werden auf diese Weise dem allgemeinen Übermenschen gebeugt und zu einer Ausdrucksform ihrer Sinne isoliert. Damit sind diese als eigenständige Momente des unterordneten Menschseins naturalisiert und können als allgemeine Naturnotwendigkeit nackter Individualität erscheinen, die sich an der sittlichen Allgemeinheit der Kultur relativiert. Das Sinnliche war also auf Eigenschaften der Individuen reduziert, die als Eigenschaften für sich in der Natur ihre Wesenseigenschaft gefunden haben müssen, um ihren Fortbestand als Natur von Bedürfnissen und Begierden zu bewahren, deren gesellschaftliche Natur im Grunde gleichgültig ist, weil Gesellschaft nurmehr rein geistig aufgefasst und erlebt wird. Die Natur wird damit zum Antagonisten des Geistes und der Geist zu einem notwendigen Machtfaktor der Kultur, zum Inhalt der Selbstbestimmung des Menschen, der jetzt nur noch eins erstreben kann: Die Veredelung seiner Selbst.

Weil die sinnlichen Beziehungen nun ausschließlich naturgegeben erscheinen, werden die geistigen zu einem ausschließlichen Kulturphänomen der allgemeinen Selbstveredelung. Weil sie in ihrer "Natürlichkeit" nur unkultiviert gelten können, wird auch keine natürliche Kultur mehr in ihnen erkannt. Tatsächlich haben sie sich der Allgemeinheit einer kultivierten Natur vollständig enthoben und vergehen als Natureigenschaften schnell mit ihrer geistigen Befriedigung ins Übermenschliche. Ihre Kultur wird damit zu einer selbständigen Allgemeinheit, zu einem Sein jenseits aller Natur, das sich über deren profanes Dasein in der Kultur enthebt. Damit hatte die Kultur selbst nun die Bestimmung erworben, die zunächst nur religiös war. Im Gottesglauben und im Vollzug des reinen Gotteskultes liesen sich zwar sittliche Regeln vollziehen und vermenschlichen, aber der Mensch kann als göttliches Wesen nur Kultur haben, wenn er sich selbst zum Heiligen wird und von daher auch seine soziale Welt, und das schließt seine natürliche Erscheinung mit ein, auch wirklich zu kultivieren versteht. Seine materielle und soziale Wirklichkeit steht hiergegen aber bislang ab. Sie hat noch ihre rein "sündige Gestalt", die sich im Bildungsbürgertum zu erlösen sucht.

Das ganze kulturelle Verhältnis erscheint daher zunächst noch als Kränkung, als ein Verhältnis, worin sich kein Mensch erkennen kann, weil er sich darin nicht so will, wie er wirklich ist. Was als solche Kultur objektiv geworden war, war übermenschlich und kann subjektiv nicht gewollt sein. Das allgemeine Subjekt wird daher aus der Abkehr von einer objektiven Boshaftigkeit begründet: Die Heile Welt bekommt Subjektform gegen das Unheil der Welt, indem sich die Menschen an einem Heil bilden, das zunächst nur darin besteht, Unheil abzuwenden und auszuschließen.

Es geht darin nicht mehr nur um eine Bergung des vor dieser boshaften Welt bewahrten oder zu bewahrenden Lebens, sondern um einen subjektiven Geist, der sich als Macht gegen die Bosheit zu entwicklen sucht, - als ein Wille, der sich zunächst als Naturrecht gegen das Böse herauskehrt, ein Naturrecht der Moral, das ein Überleben nicht nur verspricht, sondern selbst dessen Lebensform annimmt. Und das geschieht daher nicht einfach nur in der Vorstellung, sondern zwischen den Menschen selbst. Die übermenschliche Bestimmung ihrer Kultur wird nun zum Hinterhalt ihrer Sittlichkeit.

Sie erfahren sich in der Wirklichkeit ihrer Überlebenskämpfe nämlich vor allem als Gegner und verschleißen ihre Beziehungen in unendlichen Konflikten zwischen Pflicht und Vergnügen. Und die sozialen Konflikte, die sich hierbei verdeutlichen, bilden den Stoff dieses natürlich scheinenden Rechts, das nun als Naturrecht auftritt, sich gegen Untergang und Vernichtung, sich gegen Unheil zu verhalten: Ein Recht im Sinne des Heils der Menschen. Die Wirklichkeit dieser Konflikte spielt dabei keine Rolle mehr; sie werden schlicht durch das Recht auf eine heile Welt ausgeschlossen, negiert und als Heilsprinzip gegen ihren Grund gerichtet. Gegen die soziale Wirklichkeit wird eine Esoterik des Guten gerichtet und diese zum Träger einer allgemeinen Sebstbezogenheit des guten Menschen, zu einer Kulturmacht der Güte.

Wiewohl sich diese aus der bloßen Subjektivität des Leidens an der Welt begründet, wird sie dadurch objektiv, dass sie die Verhältnisse der Menschen bestimmt. In ihnen selbst herrscht Isolation. Diese war schon die Grundlage der Religion, um im vereinzelten Menschen Gefühlszusammenhänge zu idealisieren. Nun geht es um die Ästhetik dieser Idealisierung: die Ikonisierung des Ideals. Sie bildet sich im Medium der Idealisierung selbst durch eine Verdopplung der Gefühle jenseits ihrer Empfindungen. Indem idealisierte Wesenheiten zur einfachen Betimmtheit zwischenmenschlichen Beziehungen werden, wird die Wahrnehmung selbst wesentlich durch äußerliche Eindrücke beherrscht - nicht mehr nur gereizt, sondern zur Befriedung innerer Regsamkeiten bezwungen. Die ästhetische Maske wird das beherrschende Bild der Persönlichkeiten, die sich prominent machen, indem sie dem Alltäglichen den Sinn einer höhreren Individualität, eines Massenindividuums verleihen. Jedes wirkliche Gefühl gerät hierbei in die absurde Beziehung einer übermenschlichen Güte, die es nun auch wirklich bestimmt

Diese Bestimmung ist zunächst eine esoterische Selbstigkeit, eine bloß ästhetische Konfiguration einer allgemeinmenschlichen Güte, die in der sozialen Welt dazwischentritt, wo sich Böses auftut. Es ist im Grunde ganz einfach: Das Böse erscheint selbst unbestimmt, z.B. als Verwahrlosung, Seuche, Sucht und dergleichen und wird durch eine einzige allgemeine Bestimmung bekämpft: durch ein Gesetz, das sein Auftreten verbietet, Diese Gesetz selbst erscheint wie jedes Gesetz allgemein nötig, richtet sich aber nicht gegen das wirklich Einzelne, das sich an einer allgemeinen Wirklichkeit "vergeht", nicht gegen ein "Verbrechen", das mit dem allgemein nötigen Verkehr bricht. Es richtet sich gegen die Möglichkeit, ein solches Verbrechen überhaupt möglich sein zu lassen - es richtet sich gegen den Kern des Bösen, das aus Prinzip verfolgt werden soll und deshalb auch als Prinzip vernichtet werden muss.

Die prinzipielle Bekämpfung von sozialer Verwahrlosung jenseits ihrer Ursachen findet sich z.B. in der Theorie der "Broken Windows", die in den USA besonders von dem einstigen New-Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani und seinem Polizeichef William Bratton vertreten wurde und die derzeitig in Deutschland auch von Innenminister Schäuble propagiert wird. Auf der Grundlage dieser These wurde das New Yorker Polizeimodell „Zero Tolerance“ entwickelt. Es sieht unter anderem vor, aus Gründen der Kriminalprävention frühzeitig und rigoros auch gegen Bagatellkriminalität und kleinste Ordnungsverstöße vorzugehen. Es handelt sich hierbei um eine Machtdemonstration gegen die "Kräfte der Verwahrlosung", die erst mal einfach plausibel daherkommt. Es ist im Grunde eine Erstickungstheorie, wonach das Übel dort schon "im Keim erstickt" werden soll, wo es erscheint, seine Erscheinung also frühzeitig beseitigt werden muss, damit Übles nicht durchbrechen, sich nicht ausbreiten kann. Dies wird mit einer rein ästhetischen Begründung unterlegt: Wo ein oder zwei Fenster zu Bruch gehen, sollen sie unmittelbar und binnen Stunden ausgewechselt werden, damt die wahrnehmbare Zerstörung nicht zu weiterer Zerstörung anstiftet. Denn sind erst mal einige Fenster zu Bruch gegangen - so die Theorie - dann breitet sich Nachlässigkeit gegen die Zerstörung von Fensterscheiben aus; Verwahrlosung greift um sich. Gemeint ist damit natürlich nur das Prinzip von Erstickung der Ausbreitung durch Gegenmaßnahmen. Und dies soll vor allem die Bekämpfung sozialen Konflikten totalisieren. Durch krasse Bestrafung kleinerer Vergehen soll eine allgemeine Angst vor Betrafung überhaupt die Kriminalität überhaupt bekämpft werden. So werden z.B. Schwarzfahrer in der New-Yorker U-Bahn in Handschellen abgeführt und eingesperrt, weil dies eine drastische Wahrnehmung von Staatsgewalt vermittelt und allgemein beeindrucken soll. Es ist das billigste Mittel, um Angst vor Delikten und Abweichungen zu erzeugen. In Deutschland zeigt sich eine ähnliche Tendenz in der neueren Gesetzgebung, z.B. im bayerischen Versammlungsrecht und auch in den Durchführungsbestimmungen der Belauschung privater Daten.

Die Naturalisierung des Sittlichen hat die Selbstwahrnehmung verkörperlicht und ihre Absichten ihres Sinns enthoben. Dies hat eine Selbständigkeit des Seelischen zur Folge, welches allerdings zunächst nur Sehnsucht ist. Je massiver und massiger die Sitte wird, desto seelenloser wird sie: Unschön. Die Not der Sittlichkeit ist ihre seelische Unwirklichkeit in der Masse, die dies als Unmöglichkeit einer beseelten Ethik erlebt. Sie ist damit unästhetisch, ohne irgendeine Form der Menschlichkeit, ohne Liebe. Die Güte menschlicher Gefühle steht mit der Sinnlosigkeit menschlicher Gemeinschaft in dieser Kultur wirklich in Frage - und damit ihre Basis. Was sitlich ist, muss auch gewollt werden. Der ästhetische Wille bildet sich wie von selbst aus den Widersprüchen der Selbstwahrnehmungen, die sich nur in Selbstverleugnung sittlich gestalten können. Eine rein aufklärerische Sittlichkeit gibt es nicht wirklich und schon gar nicht in der Masse.

So bildet sich der ästhetische Wille auch nicht in der Körpermasse, sondern in deren Durchbrechung, in der Ohnmacht der Psyche, welche nach Seelengemeinschaft verlangt. Darin wird der Glaube, welche dem Selbstgefühl schon in der einfachen Wahrnehmung zugrunde liegt, zur gemeinen Notwendigkeit. Es ist der allgemeine Glaube an die Güte der selbständigen Gefühlswelt - nicht als theoretisches Verhalten, sondern praktisch als Sehnsucht nach einer Ganzheit des Lebens voller Sinn und Liebe. Diese Sehnsucht kann sich nur als eigenständige Ästhetik des Willens durchsetzen, und dies wiederum nur durch ästhetische Versinnlichung des Gemeingefühls.

Darin erscheint die sittliche Masse sich selbst äußerst persönlich und verlangt nach einer persönlichen Gestaltung ihrer Sehnsucht und also nach einer Persönlichkeit, in welcher sie sich erkennen kann. Die Masse der Selbstgefühle werden darin zu einer Massenpsyche des allgemeinen sittlichen Selbstgefühls, werden selbst zu einer Persönlichkeit der Gesinnung.

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Weiter mit Buch III: 321. Der Wille der Kultur