Karl Marx

Finanzieller Mißerfolg der Regierung -
Mietdroschken -
Irland -
Die russische Frage

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3844 vom 12. August 1853]

<227> London, Freitag, 29. Juli 1853

Herr Gladstone brachte vergangene Nacht im Unterhaus den Antrag ein, daß aus dem konsolidierten Fonds Mittel bereitgestellt werden sollten, um die nicht im Rahmen seines Finanzplans umgewandelten Aktien der Südseekompanie einzulösen. Einen derartigen Antrag einzubringen bedeutet das Eingeständnis, daß sein Plan zur Konvertierung der Aktien völlig fehlgeschlagen ist. Außer dieser kleinen Niederlage erlitt die Regierung eine sehr schwere im Zusammenhang mit ihrer Indienbill. Sir John Pakington beantragte, eine Klausel einzufügen, wonach das Salzmonopol aufgehoben und bestimmt werden sollte, daß in Indien die Salzgewinnung und der Handel mit Salz völlig frei seien und nur mit Akzise oder einer anderen Steuer belastet werde. Trotz der verzweifelten Anstrengungen von Sir Charles Wood, Lord John Russell, Sir J. Hogg, Sir H. Maddock und Herrn Lowe (von der "Times") wurde der Antrag mit 117 gegen 107 Stimmen angenommen. Die Oligarchie, welcher es gelungen war, das Gehalt des Präsidenten der Kontrollbehörde auf 5.000 Pfd.St. heraufzusetzen, schlägt jetzt vor, die Gehälter der makellosen Direktoren der Ostindischen Kompanie von 300 Pfd.St. auf 1.000 Pfd.St. und die des Vorsitzenden und seines Stellvertreters auf 1.500 Pfd.St. zu erhöhen. Anscheinend glauben sie, daß Indien im Besitz der gleichen wunderbaren Kraft sei, welche in Hindustan den Blättern eines sagenhaften Baums auf den höchsten Gipfeln des Himalaja zugeschrieben wird, nämlich daß alles, was er berührt, sich in Gold verwandelt - mit dem Unterschied, daß die leichtgläubigen Hindus dies vom Saft der Blätter, die aufgeklärten Engländer hingegen vom Blut der Eingeborenen erwarten.

<228> Der chinesische Sultan aus "Tausendundeiner Nacht" war, als er eines schönen Morgens aufstand und aus seinem Fenster nach Aladins Palast blickte, erstaunt, bloß einen leeren Platz wahrzunehmen. Er rief seinen Großwesir und fragte, ob er den Palast sehe. Auch der Großwesir konnte nichts sehen und war nicht weniger überrascht als der Sultan, welcher in Zorn geriet und seiner Leibwache den Befehl gab, Aladin gefangenzunehmen. Als die Londoner Bevölkerung am Mittwochmorgen aufstand, fand sie sich in einer sehr ähnlichen Lage, wie jener chinesische Sultan. London sah London nicht mehr ähnlich. Da waren und blieben Plätze leer, auf denen wir sonst gewohnt waren, etwas zu erblicken. Und so wie das Auge über die Leere erstaunt war, so war das Ohr von der Grabesstille überrascht. Was war in London vorgefallen? Eine Droschkenrevolution hatte sich ereignet! Wie durch ein Wunder waren die Mietdroschken und ihre Kutscher von den Straßen, den Halteplätzen und den Bahnhöfen verschwunden. Die Besitzer und die Kutscher der Droschken befinden sich in Rebellion gegen das neue Mietdroschkengesetz, jenes großartige und fast "einzigartige" Gesetz des "Ministeriums aller Talente". Sie sind in Streik getreten.

Es ist öfter beobachtet worden, daß das britische Publikum von periodisch wiederkehrenden Anfällen von Moralität gepackt wird und daß alle sechs bis sieben Jahre seine Tugend hemmungslos wird und dann der Verderbtheit mit Entschlossenheit gegenübertreten muß. Augenblicklich bildet der arme Cabby <Droschkenkutscher> das Objekt dieses moralischen und patriotischen Anfalls. Seinen unverschämten Geldforderungen bei schutzlosen Damen und fetten Citvkaufleuten sollte ein Ende gemacht und sein Fahrpreis pro Meile von einem Schilling auf sechs Pence herabgesetzt werden. Die Sechs-Penny-Moralität wurde zu einer Epidemie. Durch den Mund des Herrn Fitzroy brachte das Ministerium das drakonische Gesetz gegen den Cabby ein, welches ihm seine Verpflichtungen gegenüber der Öffentlichkeit vorschrieb und gleichzeitig seine Fahrpreise, seine "Hansoms " <zweirädrige Kutsche, wo der Kutscher hinten aufsitzt>, seine Pferde und seine Moral der parlamentarischen Gesetzgebung unterwarf. Der Cabby soll, so scheint es, zwangsweise in den Prototyp britischer Respektablität verwandelt werden. Die heutige Generation kann nicht leben, ohne wenigstens eine tugendhafte und selbstlose Klasse von Staatsbürgern zu improvisieren, und dafür wurde der Cabby auserwählt. Das "Ministerium aller Talente" war so begierig darauf, sein Meisterstück der Gesetzgebung auszuführen, daß das Mietdroschkengesetz, kaum vom Unterhaus angenommen, in Kraft gesetzt wurde, ehe überhaupt irgendwelche zu seiner Durchführung erforderlichen Maßnahmen vor- <229> bereitet worden waren. Anstatt die Londoner Kadis schon im voraus mit den authentischen Exemplaren der neuen Verordnung, der neuen Fahrpreistarife und der Fahrpläne zu versehen, hatten die Polizeirichter ganz allgemeine Anweisung erhalten, jeglichen entstandenen Streit zwischen Cabby und Publikum zu entscheiden. So hatten wir im Verlauf von zwei Wochen das abwechslungsreiche und erhebende Schauspiel eines ständigen Kampfes zwischen einer wahren Armee von Sechs-Penny-Hampdens und jenen "schrecklichen" Droschkenkutschern vor den Richtern, wobei die einen der Tugend und die anderen des Geldes wegen kämpften. Tag für Tag wurden Cabby Moralpauken gehalten, wurde er verurteilt und eingesperrt. Schließlich war es ihm klar, daß er bei dem neuen Tarif nicht mehr die alte Pacht an den Eigentümer zahlen konnte, und Eigentümer wie Kutscher zogen sich auf ihren Mons Sacer, nämlich National Hall, in Holborn <Stadtteil von London> zurück, wo sie zu dem schrecklichen Entschluß kamen, der in London drei Tage lang den droschkenlosen Zustand hervorgerufen hat. Sie haben bereits zwei Dinge erreicht: als erstes hat das Ministerium, durch den Mund des Herrn Fitzroy, soviel an seinem Gesetz verändert, daß es fast ausgelöscht wurde; und zweitens alle Probleme, wie die orientalische Frage, der dänische Coup d'état <Staatsstreich>, die schlechte Ernte und die um sich greifende Cholera, sind verschwunden angesichts des großen Kampfes zwischen der öffentlichen Tugend, die darauf besteht, nur sechs Pence für die Meile zu zahlen, und dem Privatinteresse, das darauf besteht, dafür 12 Pence zu fordern.

"Streik" ist die Losung des Tages. Während dieser Woche streikten 5.000 Bergarbeiter im nördlichen Kohlengebiet, 400 bis 500 Gesellen der Korkschneider in London, dazu etwa 2.000 bei den verschiedenen Werftbesitzern an der Themse beschäftigte Arbeiter, die Polizeitruppe von Hull, ähnliche Versuche unternahm die Londoner Polizei, und schließlich streiken die an der St. Stephanskapelle arbeitenden Maurer, direkt unter den Augen des Parlaments.

"Die Erde wird zu einem wahren Paradies für die Arbeiter", ruft die "Times" aus, "Menschen werden wertvoll." Als 1849, 1850, 1851 und 1852 der Handel ständig wuchs, sich die Industrie in unerhörtem Maße ausdehnte und der Profit dauernd größer wurde, blieben die Löhne unverändert und sogar in den meisten Fällen auf dem niedrigen Stand, welchen die Krise von 1847 herbeigeführt hatte. Nachdem Auswanderung die Bevölkerung zahlenmäßig vermindert und die steigenden Preise für die wichtigsten Lebensmittel ihren Hunger vergrößert hatten, brachen Streiks aus, und als Folge dieser <230> Streiks stiegen die Löhne, und siehe da! Die Erde wird zu einem Paradies für Arbeiter - in den Augen der "Times". Um jenes Paradies auf irdische Ausmaße zu reduzieren, haben die Spinnereibesitzer von Lancashire eine Assoziation gegründet, um sich gemeinsam gegen die Forderungen des Volkes zu schützen und zu unterstützen. Doch nicht zufrieden damit, Koalition durch Koalition zu bekämpfen, droht die Bourgeoisie, ein Eingreifen durch das Gesetz zu fordern - ein Gesetz, welches sie selbst diktiert. Wie das geschehen soll, mag man aus folgendem Gegeifer der "Morning Post" entnehmen, dem Organ des liberalen und liebenswürdigen Palmerston.

"Wenn es ein Stück Niedertracht gibt, welches besonders verdient mit eiserner Hand bestraft zu werden, ist es das System der Streiks ... Gebraucht wird eine strenge und summarische Methode, um die Streikleiter und Rädelsführer dieser Koalitionen zu bestrafen. Es würde keineswegs eine Einmischung in die Freiheit des Arbeitsmarktes bedeuten, wenn man diesen Burschen eine Tracht Prügel verabfolgte ... Es ist müßig zu behaupten, daß dies eine Einmischung in den Arbeitsmarkt bedeuten würde. Solange diejenigen, welche den Arbeitsmarkt beliefern, davon Abstand nehmen, die Interessen des Landes aufs Spiel zu setzen, mag es ihnen überlassen bleiben, mit den Arbeitgebern zu einer Einigung zu kommen."

Innerhalb gewisser konventioneller Grenzen soll es den Arbeitern gestattet sein, sich einzubilden, selbständige Partner der Produktion zu sein und ihre Kontrakte mit ihrem Arbeitgeber im gegenseitigen Übereinkommen abzuschließen. Werden jedoch diese Grenzen überschritten, dann wird ihnen das Arbeitsverhältnis offen unter Bedingungen aufgezwungen, die vom Parlament, jenem ständigen Ausschuß der Koalition der herrschenden Klasse gegen das Volk, vorgeschrieben worden sind. Die tiefgründigen und philosophischen Gedanken des Palmerstonschen Organs wurden auf kuriose Weise durch seine gestrige Entdeckung offenbart, daß "von allen Klassen Englands den Armen der höheren Stände am ärgsten mitgespielt wurde". Der arme Aristokrat, der in Ermangelung eines eigenen "Brougham" <geschlossenen Einspänners (nach Lord Brougham)> gezwungen ist, eine Mietdroschke zu benutzen!

Man versichert uns, daß die ganze Welt, besonders aber Irland, infolge Hungersnot und Massenauswanderung zu einem Paradies der Arbeiter wird. Wenn aber die Löhne in Irland wirklich so hoch sind, wie kommt es dann, daß die irischen Arbeiter in solchen Massen nach England herüberströmen, um sich für immer auf dieser Seite des "Teichs" niederzulassen, während sie früher nach Beendigung der Erntearbeiten zurückzukehren pflegten?

<231> Wenn die sozialen Verbesserungen für das irische Volk solche Fortschritte machen, wie kommt es dann, daß andererseits die Fälle von Wahnsinn in diesem Lande seit 1847 und besonders seit 1851 so schrecklich zugenommen haben? Werfen wir einen Blick auf die folgenden Zahlen aus dem "Sechsten Bericht über Bezirksirrenanstalten für Verbrecher und private Irrenanstalten in Irland":

Gesamtzahl der Aufnahmen in Irrenanstalten

davon

Männer

Frauen

1851

2.584

1.301

1.283

1852

2.722

1.376

1.346

März 1853

2.870

1.447

1.423

<Das Berichtsjahr endet im März>

Und dies ist das gleiche Land, in dem der berühmte Swift, der Begründer der ersten Irrenanstalt in Irland, bezweifelte, ob dort jemals 90 Wahnsinnige gefunden werden könnten.

Die von Ernest Jones wiedereröffnete Agitation der Chartisten macht lebhafte Fortschritte; am 30. d.M. soll ein großes Meeting der Londoner Chartisten unter freiem Himmel auf dem Kennington Common stattfinden, wo die große Versammlung am 10. April 1848 stattfand.

Herr Cobbett hat seinen Fabrikgesetzantrag zurückgezogen und gab zu verstehen, er habe die Absicht, ihn zu Beginn der nächsten Parlamentssession wieder vorzulegen.

Der "Manchester Guardian" vom 27. d.M. bestätigt in bezug auf die finanziellen und allgemeinen Aussichten Englands völlig meine früheren Voraussagen in folgenden Sätzen seines Leitartikels:

"Es hat wohl kaum jemals eine Zeit gegeben, da in unserer kommerziellen Atmosphäre derartig viele Elemente der Ungewißheit in der Luft lagen, dazu angetan, Unruhe hervorzurufen - wir gebrauchen dieses milde Wort absichtlich. Zu einer beliebigen Zeit vor der Aufhebung der Korngesetze, und vor der allgemeinen Einführung der Freihandelspolitik hätten wir den stärkeren Ausdruck ernste Besorgnis benutzt. Diese Elemente sind erstens die zu erwartende Mißernte, zweitens der ständige Abfluß von Gold aus den Gewölben der Bank und drittens die große Wahrscheinlichkeit, daß es zum Kriege kommen wird."

Nun ist das Letzte aus der Verfassung von 1848 durch den Staatsstreich des Königs von Dänemark über den Haufen geworfen worden. Das Land hat eine russische Konstitution bekommen und ist durch die Abschaffung der Lex Regia dazu verdammt worden, eine russische Provinz zu werden. Ich <232> werde in einem meiner nächsten Briefe eine Darlegung der Angelegenheiten Dänemarks geben.

"Unsere Politik besteht darin, darauf zu achten, daß in den nächsten vier Monaten nichts geschieht, und ich hoffe, wir führen sie durch, denn die Menschen ziehen es im allgemeinen vor, abzuwarten; der fünfte Monat aber wird reich an Ereignissen werden."

So schrieb Graf Pozzo di Borgo am 28. November 1828 an den Grafen Nesselrode, und Graf Nesselrode handelt nun nach diesem Grundsatz. Während die militärische Usurpation der Fürstentümer durch die Russen noch durch das Ansichreißen der dortigen Zivilverwaltung vervollständigt wurde, während ein Regiment nach dem anderen in Bessarabien und der Krim einmarschiert, gibt Rußland Österreich einen Wink, daß seine Vermittlung angenommen werden würde, und einen anderen an Bonaparte, daß seine Vorschläge möglicherweise beim Zaren günstige Aufnahme finden könnten. Die Minister in Paris und London werden mit der Aussicht vertröstet, daß Nikolaus sich huldvoll herablassen werde, ihre Entschuldigungen endlich entgegenzunehmen. Favoritinnen gleich harrten alle Höfe Europas angstvoll darauf, wem von ihnen der Herrscher aller Gläubigen das Taschentuch zuwerfen würde. Wochen-, ja monatelang hielt Nikolaus sie so hin, bis er plötzlich erklärte, daß weder England noch Frankreich, noch Österreich, noch Preußen sich in seinen Konflikt mit der Türkei einzumischen hätten und daß nur er mit dieser allein verhandeln könne. Wahrscheinlich berief er seine Gesandtschaft aus Konstantinopel nur darum ab, um eben diese Verhandlungen mit der Türkei zu erleichtern. Während er aber einerseits erklärt, die Mächte hätten sich nicht in russische Angelegenheiten einzumischen, erfahren wir andererseits, daß die Vertreter von Frankreich, England, Österreich und Preußen ihre Zeit mit Zusammenkünften in Wien totschlagen, um Projekte zur Regelung der orientalischen Frage auszuhecken, ohne daß sich jedoch weder der türkische noch der russische Gesandte an diesen Scheinkonferenzen beteiligen. Der Sultan hatte am 8. Juli ein kriegerisches Ministerium eingesetzt, um sich von diesem Zustand der Waffenruhe zu befreien, aber Lord Redcliffe zwang ihn, es noch an demselben Abend zu entlassen. Das hat ihn so aus der Fassung gebracht, daß er einen österreichischen Kurier nach St. Petersburg schicken will, der den Zaren befragen soll, ob er die direkten Verhandlungen wieder aufnehmen wolle. Von der Rückkehr dieses Kuriers und der mitgebrachten Antwort werde es abhängen, ob Reschid Pascha selbst nach St. Petersburg geht. Von St. Petersburg soll er neue Notenentwürfe <233> nach Konstantinopel schicken; diese neuen Notenentwürfe sollen dann wieder nach St. Petersburg zurückgesandt werden, und zu einer Entscheidung wird es erst kommen, wenn die letzte Antwort von St. Petersburg nach Konstantinopel gelangt ist - inzwischen aber wird der fünfte Monat herangerückt sein und in das Schwarze Meer keine Flotte mehr hineinkönnen. Dann wird der Zar während des Winters ruhig in den Fürstentümern bleiben, wo er seine Ausgaben mit denselben Versprechungen begleichen wird, die dort von seinen früheren Okkupationen her seit 1820 schon kursieren.

Es ist bekannt, daß der serbische Minister Garaschanin auf Betreiben Rußlands seines Postens enthoben wurde. Rußland, durch diesen ersten Triumph ermutigt, besteht nun darauf, daß alle russenfeindlichen Offiziere entlassen werden. Auch auf den regierenden Fürsten Alexander beabsichtigte man diese Maßnahme auszudehnen und ihn durch den Fürsten Michael Obrenovic, ein willfähriges Werkzeug Rußlands und russischer Interessen, zu ersetzen. Um dieser Kalamität zu entgehen und auch unter Österreichs Einfluß hat sich Fürst Alexander gegen den Sultan gewandt und erklärt, die strengste Neutralität wahren zu wollen. Die russischen Intrigen in Serbien werden in der Pariser "Presse" folgendermaßen geschildert:

"Es ist allgemein bekannt, daß das russische Konsulat in Orsowa - einem armseligen Dorfe, das keinen einzigen russischen Untertanen beherbergt, sondern inmitten einer serbischen Bevölkerung liegt - ein ganz erbärmliches Dasein führt, aber jetzt zur Brutstätte für die moskowitische Propaganda geworden ist. Von Rechts wegen wurde anhängig gemacht und festgestellt, daß Rußland seine Hand im Spiele gehabt hat in der Affäre von Braila 1840, in der des Johann Lutzo 1850 und kürzlich wieder bei der Festnahme der vierzehn russischen Offiziere, die dann die Ursache des Rücktritts des Ministeriums Garaschanin wurde. Ebenso ist es bekannt, daß Fürst Menschikow während seines Aufenthaltes in Konstantinopel durch seine Agenten in Brussa und Smyrna ähnliche Intrigen wie in Saloniki, Albanien und Griechenland anstiften ließ."

Es gibt keinen auffallenderen Zug in der russischen Politik als diese traditionelle Übereinstimmung nicht nur in ihren Zielen, sondern auch in den Mitteln, mit denen sie sie zu erreichen strebt. Es existiert in der jetzigen orientalischen Frage keine Komplikation, keine Verhandlung, keine offizielle Note, die man nicht schon auf irgendeiner Seite der Weltgeschichte nachlesen kann.

Rußland kann jetzt dem Sultan gegenüber auf nichts anderes hinweisen als auf den Vertrag von Kainardschi, obgleich dieser Vertrag dem Zaren nicht etwa ein Protektorat über seine Glaubensgenossen verlieh, sondern ihm nur das Recht gab, in Stambul eine Kapelle zu bauen, und des Sultans <234> Milde für seine christlichen Untertanen zu erflehen, wie dies auch Reschid Pascha in seiner Note an den Zaren vom 14. d.M. ganz richtig geltend machte. Aber als Rußland 1774 diesen Vertrag unterzeichnete, beabsichtigte es schon, ihn eines schönes Tages im Sinne von 1853 auszulegen. Der damalige österreichische Internuntius an der ottomanischen Pforte, Baron Thugut, schrieb 1774 an seinen Hof:

"Rußland wird von nun an stets, wenn es die Gelegenheit für günstig hält, und ohne viele Vorbereitungen in der Lage sein, von seinen Häfen am Schwarzen Meer aus Truppen nach Konstantinopel zu senden. In diesem Falle würde zweifellos eine im vorhinein geschürte Verschwörung mit den Häuptern der griechisch-orthodoxenKirche ausbrechen, und dem Sultan würde nichts übrigbleiben, als bei der ersten Nachricht von diesem russischen Vorgehen seinen Palast zu verlassen, nach dem Innern Asiens zu fliehen und den Thron der europäischen Türkei einem Herrscher mit mehr Erfahrung zu überlassen. Sobald die Hauptstadt erobert sein wird, werden Terror und die getreue Hilfe der griechisch-orthodoxen Christen den Archipel, die Küste von Kleinasien und ganz Griechenland bis ans Ufer der Adria ohne Zweifel mit Leichtigkeit unter russisches Zepter bringen. Der Besitz dieser von der Natur so reich bedachten Länder, mit denen sich kein anderer Teil der Welt an Fruchtbarkeit und Reichtum des Bodens vergleichen kann, wird Rußland zu einer Übermacht verhelfen, die alle Fabelwunder in den Schatten stellt, die die Geschichte von der Großartigkeit der Monarchien des Altertums zu berichten weiß."

Wie heute, so versuchte Rußland auch 1774 den Ehrgeiz Österreichs mit der Aussicht auf die Einverleibung Bosniens, Serbiens und Albaniens anzustacheln. Derselbe Baron Thugut schreibt darüber wie folgt:

"Eine solche Vergrößerung des österreichischen Gebietes würde Rußlands Eifersucht nicht hervorrufen. Der Grund dafür liegt darin, daß, wenn Österreich sich Bosnien, Serbien usw. einverleibt, dieses zwar von höchster Wichtigkeit unter anderen Verhältnissen wäre, aber für Rußland in dem Augenblick nicht den geringsten Belang hätte, wenn der Rest des Ottomanischen Reichs in seine Hände fiele. Denn die Bewohner dieser Provinzen sind fast ausschließlich Mohammedaner und griechisch-orthodoxe Christen: die ersteren würden als ständige Bewohner nicht geduldet werden, die letzteren würden in Anbetracht der nahen Nachbarschaft des orientalischen russischen Reichs nicht zögern, dorthin zu übersiedeln oder, wenn sie blieben, würde ihre Treulosigkeit gegen Österreich dauernde Konflikte verursachen. Und eine Gebietserweiterung ohne wesentliche innere Kräfte würde daher nur dazu dienen, die Macht des Kaisers von Österreich zu schwächen, statt sie zu stärken."

Politiker pflegen sich gewöhnlich auf das Testament Peters I. zu berufen, wenn sie die traditionelle Politik Rußlands im allgemeinen und seine Absichten auf Konstantinopel im besonderen demonstrieren wollen. Sie <235> könnten eigentlich noch viel weiter zurückgreifen. Vor mehr als achthundert Jahren erklärte Swiatoslaw, der damals noch heidnische Großfürst von Rußland, in einer Versammlung seiner Bojaren, daß "nicht nur Bulgarien, sondern auch das griechische Reich in Europa zusammen mit Böhmen und Ungarn unter die Herrschaft Rußlands gehörten". Swiatoslaw eroberte Silistria und bedrohte Konstantinopel Anno Domini 968, genau wie Nikolaus es 1828 tat. Die Dynastie Rurik verlegte bald nach der Gründung des Russischen Reichs ihre Hauptstadt von Nowgorod nach Kiew, nur um Byzanz näher zu sein. Im elften Jahrhundert ahmte Kiew in allem Konstantinopel nach, und man nannte es das zweite Konstantinopel; in diesem Namen drückte sich das unablässige Streben Rußlands aus. Rußlands Religion und Zivilisation sind byzantinischen Ursprungs, und sein Bestreben, das Byzantinische Reich zu unterjochen, das damals in demselben Stadium des Verfalls war wie heute das Ottomanische Reich, war ein viel natürlicheres als das der deutschen Kaiser nach der Unterjochung Roms und Italiens. Die Übereinstimmung in den Zielen der russischen Politik ist daher durch seine historische Vergangenheit, seine geographischen Verhältnisse und durch die Notwendigkeit gegeben, offene Seehäfen im Archipel wie in der Ostsee zu gewinnen, wenn es seine Vorherrschaft in Europa aufrechterhalten will. Die traditionelle Art jedoch, wie Rußland diese Ziele verfolgt, verdient bei weitem nicht den Tribut der Bewunderung, den ihr die europäischen Politiker zollen. Der Erfolg dieser ererbten Politik ist zwar ein Beweis für die Schwäche der Westmächte, gleichzeitig aber dokumentiert sich in der stereotypen Gleichförmigkeit dieser Politik die innere Barbarei Rußlands. Wem erschiene es nicht lächerlich, wollte Frankreich seine Politik nach dem Testament Richelieus oder nach den Kapitularien Karls des Großen einrichten? Sieht man die bedeutendsten Dokumente der russischen Diplomatie durch, so findet man, daß sie die schwachen Seiten der europäischen Könige, Minister und Höfe auf höchst listige, spitzfindige, schlaue und verschlagene Weise herauszufinden wissen, daß aber ihre Weisheit regelmäßig Schiffbruch erleidet, wenn es gilt, die historischen Bewegungen der westeuropäischen Völker selbst zu begreifen. Fürst Lieven beurteilte den Charakter des guten Aberdeen ganz richtig, als er auf dessen Nachsicht gegenüber dem Zaren rechnete, aber das englische Volk verkannte er gründlich, als er die Fortdauer der Tory-Herrschaft am Vorabend der Reformbewegung von 1831 voraussagte. Graf Pozzo di Borgo beurteilte Karl X. ganz richtig, aber das französische Volk schätzte er ganz falsch ein, als er seinen "erhabenen Herrn" dazu bewog, mit diesem König wegen der Teilung Europas zu verhandeln, den das Volk am nächsten Morgen aus Frankreich verjagte. Die russische Politik mag durch ihre traditionellen Ränke, Listen <236> und Ausflüchte den europäischen Höfen imponieren, die selbst bloß in der Tradition begründet sind, den revolutionierten Völkern gegenüber wird sie völlig versagen.

In Beirut haben die Amerikaner noch einen Ungarn den Klauen des österreichischen Adlers entrissen. Daß die amerikanische Einmischung in Europa gerade bei der orientalischen Frage beginnt, ist eigentlich recht erheiternd. Außer der kommerziellen und militärischen Bedeutung, die Konstantinopel dank seiner geographischen Lage hat, sind es noch andere historische Erwägungen, die seinen Besitz zu einem so vielbegehrten und heiß umstrittenen Streitobjekt zwischen dem Osten und dem Westen machen - und Amerika ist der jüngste, aber kräftigste Repräsentant des Westens.

Konstantinopel ist die ewige Stadt, das Rom des Ostens. Unter den alten griechischen Kaisern verschmolz dort die westliche Zivilisation so sehr mit östlicher Barbarei und unter den Türken die östliche Barbarei so sehr mit westlicher Zivilisation, daß dieses Zentrum eines theokratischen Reichs zu einer wirklichen Schranke gegen den europäischen Fortschritt wurde. Als die griechischen Kaiser durch die Sultane von Ikonium vertrieben wurden, überlebte der Geist des alten Byzantinischen Reichs diesen Wechsel der Dynastie, und wenn der Sultan durch den Zaren ersetzt werden sollte, so würde das Bas empire <Oströmische Reich>, neu ins Leben gerufen, demoralisierendere Einflüsse ausüben als unter den alten Kaisern und angriffslustiger und kräftiger sein als unter dem Sultan. Der Zar würde für die byzantinische Zivilisation sein, was russische Abenteurer jahrhundertelang für die Kaiser des niedergehenden Reichs waren - das corps de garde <Wachtposten> unter ihren Soldaten. Der Kampf zwischen Westeuropa und Rußland um den Besitz von Konstantinopel führt zu der Frage, ob der Byzantinismus der westlichen Zivilisation weichen wird oder ob der Antagonismus zwischen beiden in noch schrecklicheren und gewalttätigeren Formen als je zuvor wiederaufleben soll. Konstantinopel ist die goldene Brücke zwischen Ost und West, und die westliche Zivilisation kann nicht der Sonne gleich die Welt umkreisen, ohne diese Brücke zu passieren; und sie kann die Brücke nicht passieren ohne Kampf mit Rußland. Der Sultan hält Konstantinopel nur noch für die Revolution in Verwahrung, und die jetzigen nominellen Würdenträger Westeuropas, die ihrerseits das letzte Bollwerk ihrer "Ordnung" an den Ufern der Newa sehen, können nichts anderes tun, als die Frage so lange in der Schwebe zu lassen, bis Rußland sich Aug' in Aug' seinem wahren Gegner gegenübersieht, der Revolution. Die Revolution, die das Rom <237> des Westens niederwerfen wird, wird auch den dämonischen Einfluß des Roms des Ostens überwinden.

Diejenigen Ihrer Leser, die meine Artikel über die Revolution und Konterrevolution in Deutschland gelesen haben, welche ich vor etwa zwei Jahren für die "Tribune" schrieb und die von ihr ein anschauliches Bild gewinnen möchten, werden gut daran tun, sich das Gemälde des Herrn Hasenclever anzusehen, das jetzt im New-Yorker Kristallpalast ausgestellt ist. Er stellt die Überreichung einer Arbeiter-Petition an den Magistrat von Düsseldorf im Jahre 1848 dar. Der hervorragende Maler hat das in seiner ganzen dramatischen Vitalität wiedergegeben, was der Schriftsteller nur analysieren konnte.

Karl Marx