| Einführung | Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6 | Teil 7 |

Wolfram Pfreundschuh (11.09.09)

Von der Volksherrschaft des Kapitals
zur demokratischen Erwirtschaftung des gesellschaftlichen Reichtums

Teil 6 : Ist der Kommunismus noch zu retten?

So ist der Titel unsrer heutigen Sendung. Mit dieser nicht ganz wörtlich gemeinten Fragestellung soll die verrückte Geschichte überdacht werden, die mit dem Begriff Kommunismus verbunden ist, dem Versuch, den Traum von einer klassenlosen Gesellschaft zu verwirklichen. Diese Verwirklichung ist mitnichten gelungen. Was heute noch mit dem Begriff Kommunismus verbunden ist, wird nicht mehr ernst genommen. Und was unter diesem Begriff noch politische Macht ausübt, verschleiert einen Totalitarismus, der sich als Volksherrschaft gibt und daraus Staatsmacht bezieht und legitimiert. Die tragende Gesellschaftsform, die zu einer klassenlosen Gesellschaft führen soll, sei die Diktatur des Proletariats, wird da behauptet. Und damit wird doch nur die Diktatur einer Staatsbürokratie begründet, in welcher sozialistische Emanzipation in ihr Gegenteil verkehrt ist: In die Macht des politischen Willens einer politischen Avantgarde in einer Einheitspartei, die durch derlei Legitimation nicht nur die Produktion kontrolliert, sondern auch sich selbst. Wir kennen das besonders aus der Geschichte der UdSSR und Chinas.

Die Schrecken der daraus abgeleiteten Machtwillkür des Stalinismus lagen auf der gleichen Ebene, wie die des Nationalsozialismus. Auch jenseits hiervon hat die chinesische kommunistische Partei einen Weg in den Kapitalismus gebahnt, der beispiellos durchsetzungsfähig ist, weil er einerseits sozialistischen Pathos in ein politisches Parlament bringt, der sich darin verselbständigt und eigenständig erhält, und anderseits dieselben Wachstumsprozesse eingeleitet hat, welche die Kapitalwirtschaft in gang hält und fortbestimmt. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die Wirtschaftskrise und die Macht der Banken und Konzerne ist längst überall eingetroffen. Der Traum von der klassenlosen Gesellschaft ist von einer barbarischen Realität verdrängt. Der Kapitalismus hat die Welt im Griff, gleich wie seine politische Form benannt wird.

Auch von einem Teil der Gewerkschaften wird inzwischen festgestellt, dass die Konfrontation mit den Kapitalinteressen in der bisherigen Form nicht mehr möglich ist. Die Lähmung der Gewerkschaftsarbeit wird immer mehr begriffen als Resultat einer Veränderung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital. Die Lohnarbeiter haben dem immer weiter gesteigerten Druck auf die Löhne durch Androhung von Entlassungen fast nichts mehr entgegen zu setzen. Zugleich wächst der soziale und psychische Druck auf ihre Existenz und ihre Familie und erzeugt sozialen Unfrieden, Krankheit und Depressionen. Dass ihre Bedrängung  nicht nur quantitativ, also durch reines Lohndumping, sondern nun auch qualitativ in der Frage nach Lebensperspektiven überhaupt prekär geworden ist, wird in ihrem Lebensalltag immer deutlicher, - besonders, wenn sie sich auch um die Zukunft ihrer Kinder Gedanken machen.

Doch wie kann der fatale Prozess umgekehrt werden? Immer wieder kommt die Erinnerung an die Arbeiterbewegungen der Vergangenheit auf und immer wieder erschrickt man vor ihren Resultaten. Der sogenannte Realsozialismus, der durch eine Staatsbürokratie als Marionettenregime überlebensgroßer Zielvorstellungen betrieben worden war, hat endgültig ausgespielt. Diese verrückte Spießergesellschaft will niemand, dieses Denunziantentum, diesen Schnüffelstaat, diese Selbstgenügsamkeit, diese permanente Schwindsucht, diese permanente Selbstverleugnung und Täuschung über alle bedeutenden sozialen Vorgänge. Das Kommunistische Manifest und die leninistische Theorie von Staat und Revolution waren Eckpfeiler dieser Bewegung, die für unsere Probleme nur noch wenig Rückhalt bieten können. Die Fehler, die unter dem Begriff Kommunismus und Sozialismus gemacht wurden, sind äußerst folgenschwer gewesen und belasten die marxistische Linke bis heute. Doch warum hatte es so kommen müssen? Wie kann sich eine sozialistisch bezeichnete Demokratie dermaßen in ihr Gegenteil verkehren? Auf dem Weg in eine demokratische Wirtschaft sollen daher heute diese Fehler reflektiert werden.

 

Emanzipation und Reichtum

Wie kam es dazu, dass eine Theorie, die von der Emanzipation der Menschen ausging, die Staatsbürokratie einer Diktatur des Proletariats legitimieren sollte? Was lief da falsch? Bestand der Fehler der bisherigen revolutionären Bewegungen lediglich aus einem Unglück der Geschichte oder einem Missverständnis der marxistischen Theorie? Nein, nicht ganz. Sicherlich wurde ein Problem des marxistischen Emanzipationsverständnisses im Lauf der Geschichte auch durch Probleme mit ihrer geschichtlichen Umsetzung vereinseitigt; aber schon bei Marx war das Problem der Überwindung des Kapitalismus, das Problem mit dessen sogenannter Transzendenz, nicht eindeutig aufgelöst worden.

Im Begriff des Proletariats, das von ihm als Subjekt der Aufhebung des Kapitals verstanden wurde, sind zwei gegenläufige Gedanken vermengt, die sich bis in unsere Tage noch in den verschiedenen Ansätzen darstellen. Einmal gilt das Proletariat als enteignetes Objekt, als menschliches Opfer an das Kapital, das der kapitalistischen Maschinerie des Arbeitsprozesses unterworfen ist und doch wesentlich das Subjekt der Arbeit und des gesellschaftlichen Fortschritts der bürgerlichen Gesellschaft ist. Zugleich gilt es aber selbst schon als der Keim des neuen Menschen, als die einzige menschliche Wahrheit, die über die bestehenden Verhältnisse hinausreicht, weil das Proletariat selbst Teil der alles sprengenden Produktivkraft sei, Subjekt objektiv anachronistischer Verhältnisse. Von daher sei es eben auch der Vollstrecker der historischen Wahrheit, dass die entfremdete Arbeit sich notwendig aufheben muss. Für Marx ist daher der Arbeiter zugleich die Wirklichkeit des philosophisch erkannten menschlichen Wesens, das die im Kapitalismus enthaltene Negation der bürgerlichen Gesellschaft zu verwirklichen in der Lage wäre, wenn es lediglich sich seiner Fesseln entledigen würde. So steht es im Kommunistischen Manifest.

Die Brücke, wodurch diese gegensätzliche Bestimmungen vereinbar erscheinen sollen, ist eine Geschichtsauffassung, die aus der Negation eines geschichtlichen Objekts unmittelbar ein Subjekt der Geschichte macht, die also behauptet, dass dadurch, dass aus dem Subjekt der Armut im Kapitalismus unmittelbar auch ein Subjekt seines Reichtums werden könne, weil es eben der wahre Produzent des gesellschaftlichen Reichtums sei.

Doch was macht diesen Reichtum aus? Ist er nur das Produkt proletarischer Arbeit, also nur der Arbeit der Besitzlosen? Die bürgerliche Gesellschaft ist ein System voneinander isolierter Existenzen, die viele Existenzweisen und Arbeiten vermittelt. Die Menschen stehen nicht nur als Arbeiter, sondern auch als Arbeitslose, Verwalter und Obwalter, Künstler, Ärzte, Ingenieure, Straßenfeger und Eisverkäufer usw. in einer Beziehung, die ihnen ihre Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen allgemein vermittelt, sie von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ihres Tuns abspaltet und isoliert. Soll es nur das Industrieproletariat sein, das zur Überwindung der alten Gesellschaft berufen ist, weil es selbst unmittelbare Produktivkraft ist? Die Not der Vielen lässt sich natürlich nicht auf eine produktive Arbeit konzentrieren und dort zu einer revolutionären Stellvertretung verwandeln. Die Not der Vielen ist die Entfremdung von ihrem gesellschaftlichen Verhältnis als Ganzes, von ihrer Kultur. Es kann doch nicht nur die proletarisierte Arbeit sein, welche die bestehenden Verhältnisse überwinden kann, nur weil diese Arbeit einen Nutzen hat, der für das Kapital Mehrwert und Macht erbringt. Jede Arbeit hat ihren Bezug auf das Ganze und selbst wer nicht arbeitet ermöglicht die Produktion und die Realisierung von Mehrwert, indem er ihre Produkte konsumiert.

 

Geschichtsdeterminismus als Befreiungsakt - oder: Wer ist das Subjekt der Geschichte?

Wie kann die Produktivkraft der Arbeit zum einen Resultat der bisherigen Geschichte sein, welche den Kapitalismus an seine Grenze treibt, weil er sie auf Dauer nicht realisieren kann, und wie können zugleich die produktiv arbeitenden Menschen in dieser Gesellschaft die alleinigen Träger ihrer Überwindung sein? Wie kann einerseits behauptet werden, dass das Ganze einer Gesellschaft durch die Entwicklung der Produktivkräfte sich selbst in Frage stellt, und die hiervon unmittelbar bedrängte Klasse der Menschen daher schon eine neue Qualität des Menschseins verkörpert? Man kann doch nicht die Logik einer Epoche als Klassenkampf beschreiben, die nach Aufhebung drängt, und zugleich behaupten, dass eine der gegeneinander kämpfenden Klassen selbst schon das Ganze dieser Gesellschaft überwunden hätte, also Kraft seiner immanenten Fähigkeit, Produktivkraft zu verkörpern, zugleich auch schon als Subjekt einer neuen Gesellschaft agieren könne. Soll diese neue Gesellschaft lediglich das weitertreiben, was die alte längst hervorgebracht hatte?

Die Vereinseitigung des Proletarischen Standpunkts auf eine Klasse von Menschen ist ein folgenschwerer Fehler der Marxschen Theorie. Sie ist aber nicht ein Produkt des späten Marx. Sie hat ihren Kern schon in der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie und dem Praxisverständnis überhaupt. Marx stellte sich fundamental gegen den Entfremdungsbegriff Hegels durch einen Praxisbegriff des entfremdeten Seins, welches die Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft darstelle und deshalb nur eine produktive Klasse, das Proletariat, hiervon ergriffen sei und dies auch begreifen könne. Die Emanzipation des Proletariats sei daher zugleich die Emanzipation einer ganzen Gesellschaft aus den Zwängen des Kapitalismus.

Marx leitet die notwendige Aufhebung des Kapitalverhältnisses zwar völlig zurecht aus seinem Geschichtsverständnis ab, wonach die Entwicklung der Produktivkräfte die historischen Formen des Produktionsverhältnisses, also den Kapitalismus, sprengen werden und sich die Menschen, welche diese Entwicklung vorantreiben, als deren Subjekte erkennen und von daher ihre Entfremdung von ihrem gesellschaftlichen Verhältnis überwinden müssen. Diese Auffassung, die Marx als Historischen Materialismus einführte, machte dann aber den Fehler, dass historische Menschen in eine geschichtsdeterminierende Position für eine neue Gesellschaft eingebracht werden, die sie einerseits – objektiv genommen - nur zu vollstrecken haben, und zugleich doch hierdurch selbst als Subjekte der Geschichte handeln sollen, als Diktat der Arbeit, durch welche erst das wirklich Neue sich entfalten könne. Damit war dem Proletariat die menschliche Subjektivität einer Emanzipation zugewiesen, die es als Objekt des Arbeitsprozesses gar nicht haben und entwickeln kann, weil es ja lediglich dazu determiniert ist. Solche Emanzipation wäre ein Unding. Das Subjekt des Überwundenen wäre das Objekt des Vergangenen, das subjektiv Neue bloß objektivierte Vergangenheit. Marx beschreibt seinen proletarischen Geschichtsdeterminismus schon in frühen Jahren äußerst klar:

„Die Geschichte ist der Richter – ihr Urteilsvollstrecker das Proletariat“ (MEW 12, S. 4)

Wenn die Geschichte der Richter ist, dann ist sie die objektive Bestimmung. Sie fällt das Urteil. Das Proletariat als Urteilsvollstrecker der Geschichte, also als Objekt eines vorbestimmmten Prozesses soll zugleich die eigene Befreiung aus den Fesseln des Kapitals als Aufhebungsprozess menschlicher Entfremdung betreiben. Das objektiv Determinierte soll ein Befreiungsakt der Menschen, eine objektiv nötige Befreiung sein, die zugleich menschliche Emanzipation wäre. Das ist ein Widersinn in sich und hat einen proletarischen Heilsdeterminismus eingeführt, der äußerst verhängnisvoll in der bisherigen Geschichte geworden war (siehe hierzu auch Thomas Meyer 1973: „Der Zwiespalt in der Marx’schen Emanzipationstheorie“, Scriptor Verlag, Seite 5ff). Er hatte schließlich dazu geführt, dass die Sowjetphilosophen die Grundlagen des Historischen Materialismus abschaffen konnten, der Marx‘schen Auffassung, dass die Geschichtsepochen der Menschheit von der Produktivität ihrer Arbeit bestimmt waren. An dessen Stelle – oder als dessen „tieferen Entwicklungsgrund“ - setzten sie den sogenannten Dialektischen Materialismus, wonach die ganze menschliche Geschichte als Folge einer quasi natürlichen Entwicklungslogik zu verstehen ist, die sich aus der Verdichtung von keimenden Substanzen durch einen qualitativen Sprung aus diesem naturgeschichtlichen Sollen heraus als neue historische Epoche auftut. Jedes handelnde Subjekt wird in dieser Geschichtsauffassung also unmittelbar objektiv bestimmt angesehen, das seiner historischen Aufgabe mehr oder weniger bewusst Folge zu leisten hätte und die proletarische Partei daher lediglich die politische Form einer bewussten Explikation der Naturgesetzmäßigkeit der Geschichte darstelle. Es war dies zur „ewigen Wahrheit des Marxismus-Leninismus“ geworden, die auch auf andere Länder des Kommunismus übergriff. Die hatte Stalin schließlich als Legitimation seiner „historischen Aufgabe in der proletarischen Partei“ gegen die „objektiv schädlichen Meinungen“ seiner Gegner hernehmen können, eine überhistorisch bestimmte historische Handlungsanweisung und Heilslehre, welche der des Nationalsozialismus ähnlich war. Massenmorde gegen die Feinde der rechten Gesinnung waren die Folge.

 

Das Problem mit der proletarischen Revolution

Karl Marx hatte das Problem einer proletarischen Revolution sehr wohl gesehen, nicht aber vollständig aufgelöst. Die Theorie von der „Diktatur des Proletariats“ kam ursprünglich nicht von Marx, wurde aber auch von ihm übernommen und war im Grunde ein Selbstmissverständnis, das vielleicht in den politischen Auseinandersetzungen zu Marxens Zeit noch nicht auflösbar war. Die Ableitung des Proletarischen Subjekts als Subjekt der gesellschaftlichen Emanzipation aus dem Kapitalismus ergeht aus dem Tragen der Produktivkraft, welche selbst die Produktionsverhältnisse sprengen wird. In diesem Sprengungsakt wird eine unterdrückte Klasse selbst mit der Geschichtsmacht einer höheren Produktivität ausgestattet, als dies das Kapital vermöchte.

„Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten.“ Marx in „Das Elend der Philosophie“ (1846-1847) MEW 4 S. 181f.

Hier wird der ganze Gedanke deutlich: Das Proletariat wird als Subjekt der Revolution gegen die bürgerliche Gesellschaft eingeführt, weil dies geschichtlich notwendig sei, weil es von allen Produktionsinstrumenten selbst die größte Produktivkraft, und von daher die revolutionäre Klasse selbst sei. Wie kann einerseits vorausgesetzt werden, dass alle Produktivkraft im Kapitalismus schon objektiv entwickelt werde und es zugleich notwendig sei, ein Subjekt dieser Entwicklung zum Träger einer gesellschaftlichen Emanzipation werde? Was objektiv entwickelt ist, kann nicht subjektiv sein. Zugleich bedeutet das umgekehrt, dass sich das Proletariat als fortdauerndes Produktionsinstrument weiterhin in zu verstehen hätte und in seiner geschichtlichen Rolle gefangen bleibt. Was kann dann seine Befreiung sein? Tatsächlich zeigte sich das als eine Absurdität in den Ländern des sogenannten Realsozialismus. Der beständige Appell an die Leistungskraft der sozialistischen Produktion war nicht zu übersehen. Die reale Produktivkraft war gesellschaftlich noch nicht vorhanden und der Arbeiter sollte sich dennoch objektiv als Subjekt der Arbeit begreifen. Marx ersetzt diesen Widerspruch durch eine Spekulation und fährt fort mit der Frage: 

„Heißt dies, daß es nach dem Sturz der alten Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft geben wird, die in einer neuen politischen Gewalt gipfelt? Nein.

Die Bedingung der Befreiung der arbeitenden Klasse ist die Abschaffung jeder Klasse, wie die Bedingung der Befreiung des dritten Standes, der bürgerlichen Ordnung, die Abschaffung aller Stände war.

Die arbeitende Klasse wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.“ Marx in „Das Elend der Philosophie“ (1846-1847) MEW 4 S. 181f.

 

Der proletarische Staat

Immerhin hatte Marx sich früh schon eindrucksvoll gegen eine prinzipielle politische Gewalt der Arbeiterklasse gestellt. Dennoch kann nicht plausibel werden, warum und wodurch das Proletariat zum neuen Menschen in einer veränderten Gesellschaft werden sollte. Marx sieht diese Entwicklung in einer Übergangsgesellschaft eines proletarischen Staates, der erst das Terrain zur Bildung eines neuen gesellschaftlichen Menschen bieten würde. Er schaltet also, so geschichtsobjektiv er die Arbeiterklasse selbst schon versteht, noch eine komplette Geschichtsphase, den Sozialismus, dazwischen, in welcher sich erst die Auseinandersetzungen zutragen könnten, die zum Ende aller Klassen, zum Kommunismus einer klassenlosen Gesellschaft führen.

„Dieser Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlicher Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen hervorgehen.“ Karl Marx in Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850 (Marx-Engels-Werke Bd.7, S. 89)

 Doch wie und warum soll aus einer Klassendiktatur eine gesellschaftliche Umwälzung ergehen? Es war doch schließlich Karl Marx selbst, der davon ausging, dass die Menschen immer nur das tun, woran sie auch wirklich interessiert sind. Wie sollen die proletarischen Diktatoren je an ihrer Aufhebung interessiert sein können? Man kann nicht behaupten, dass Marx diese Frage je schlüssig behandelt hat, auch wenn er sie schließlich einem wissenschaftlichen Sozialismus überweist. Bis zu seiner Kritik der Sozialdemokratie bleibt er allerdings dabei, dass ein proletarischer Staat die Übergangsgesellschaft zu betreiben habe, und grenzt sich zugleich von den völkischen Staatstheorien ab, welche die politischen Bewegungen seiner Zeit aufbrachten. Das Proletariat sollte schließlich auch verhindern, dass Gesellschaft als Volk aufgefasst wird. Er wollte in der Übernahme des bürgerlichen Staates lediglich eine pragmatische Möglichkeit sehen, die Träger der Produktivkraft zum gesellschaftlichen Subjekt der Produktion zu entwickeln. Und daher schreibt er: 

„Es fragt sich dann: Durch welche Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesellschaft untergehn? In andern Worten, welche gesellschaftliche Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind? Diese Frage ist nur wissenschaftlich zu beantworten, und man kommt dem Problem durch tausendfache Zusammensetzung des Worts Volk mit dem Wort Staat auch nicht um einen Flohsprung näher.

Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ Marx in „Kritik des Gothaer Programms“ (1875) MEW 19 S. 28

Im Kommunistischen Manifest wird der Prozess des Übergangs in eine proletarische Gesellschaft dann auch sehr plastisch beschrieben, indem die Verselbständigung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in eine proletarische gefolgert wird. Dort heißt es:

„Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die wachsende Konkurrenz der Bourgeois unter sich und die daraus hervorgehenden Handelskrisen machen den Lohn der Arbeiter immer schwankender; die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer; immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren. ...“ (MEW 4, S. 470f)

Die Arbeiterbewegung wollte sich auch so ähnlich entwickeln. In den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen wurde die Auseinandersetzung von Lohnarbeit und Kapital bis an die Grenze der Systemimmanenz getrieben und hieraus schließlich der politische Gegensatz zum gesamten kapitalistischen System entwickelt. Doch wie soll das gehen. Im letzten Absatz steckt dann das Problem, das immer noch leicht überlesen wird. Da heißt es, dass die Arbeiterklasse zu einer politischen Partei werden müsse, welche den Staat als „Terrain der Selbstveränderung des Proletariats“ nutzen sollte. Es sollte also der bürgerliche Staat selbst erobert werden, um die Bedingung herzustellen, wonach die Proleten erst zu wirklichen Kommunisten werden können, wonach sie also ihren Klassenstatus in dem Maß abstreifen, wie der Staat überflüssig wird. Das Manifest ist hierzu eindeutig:

„Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.

Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind. Diese Maßregeln werden natürlich je nach den verschiedenen Ländern verschieden sein.“ (MEW 4, S. 481)

Eine despotische Phase zur Umwälzung der Verhältnisse sei als Diktatur des Proletariats nötig, weil eine von den ökonomischen Prozessen unabhängige politische Beeinflussung und Durchsetzung von Rechtsveränderungen nötig sei. Ist das etwas anderes, als was der bürgerliche Staat  selbst schon betreibt? Der Begriff des Staats bleibt hier unbenommen und wird durch die Legitimation aus höherer Geschichtsnotwendigkeit fatal. Die sogenannte Übergangsgesellschaft muss verbergen, was aus der Revolutionstheorie von Marx sich als Widerspruch ergeben hatte: Revolution findet nicht selbst in der Auseinandersetzung um Politik und Rechtsverhältnisse statt, weil sie ja lediglich den Proleten vorbehalten sei, die das Monopol auf die revolutionäre Gewalt hätten, weil sie die Träger der Produktivkraft seien. So müsse also der Auseiandersetzung um neue Eigentumsformen die politische Macht und Gewalt des Proletariats vorgeschaltet werden, da sie weiterhin auch nur ein rein proletarisches Binnenverhältnis verwirklichen soll. Der bürgerliche Staat muss dann natürlich als politisches Werkzeug erobert werden, um das Proletariat erst als Klasse für sich zu entwickeln, die dann sich dann aus ungeklärten Gründen einfach und frei einer klassenlose Gesellschaft überlassen soll. So wenigstens sieht es das Kommunistische Manifest.

Staat und Arbeit

Was war nun aber von früheren Aussagen von Marx verblieben, denen zufolge sich Proletarier prinzipiell "im direkten Gegensatz zu der Form (befinden), in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat.“ Hatte er nicht behauptet, die Proletarier müssten „den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen" (MEW Bd.3, S.77)? Was war mit seiner Kritik des Staatswesens als zwangsläufig bürgerliches Interesse, sein Hass auf die "zentralisierte Staatsmaschinerie, die mit ihren allgegenwärtigen und verwickelten militärischen, bürokratischen, geistlichen und gerichtlichen Organen die lebenskräftige bürgerliche Gesellschaft wie eine Boa constrictor umklammert".( MEW Bd.17, S.538) Was war mit seinem Arbeitsbegriff, der gerade nicht als Begriff gesellschaftlicher Gewalt, sondern als Potenzial gesellschaftlicher Freiheit zu verstehen sei? Marx befand sich mit Engels offenbar in einem eklatanten Widerspruch, den er auf die absurde Konstruktion einer geschichtlichen Abfolge von Sozialismus und Kommunismus abschob.

In der Auseinandersetzung mit dem Gründungsprogramm der SPD, dem Gothaer Programm, wurde der heikle Punkt schließlich auch deutlich: Die Verherrlichung des Subjekts der Arbeit, die darin mündete, dass in diesem Programm von Lasalle die Arbeit selbst als Quelle allen Reichtums verstanden wurde. Hiergegen wendete sich Marx in heftiger Kritik, allerdings wenig substanziell. Ihm war klar, dass diese Arbeitsherrlichkeit im Widerspruch zum Emanzipationsgedanken des Kommunismus stand, ja, dass diese geradezu reaktionär ist.

Das war für Marx ein komplizierter Springpunkt, weil er einerseits die Subjektivität der Arbeit in Form einer Arbeiterklasse betonte, anderseits aber nicht zulassen konnte, dass dies einer reaktionären Gesellschaftstheorie entsprechen sollte. Es war schließlich auch wirklich sein Problem. Er habe dabei um seine Seele gekämpft, schreibt er in einem Brief.

Marx hat in seiner Kritik die Rede von Arbeit als der wahren Quelle des Reichtums als bürgerliche Phrase bezeichnet, die letztlich Arbeit in den Dienst eines gesellschaftlichen Machtarrangement stellt. Er schrieb in seiner Kritik, die Engels allerdings nicht weiterleitete, weil er einen Eklat in der sozialistischen Diskussion befürchtete:

"Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. ... Die Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben." (Marx in der Kritik des Gothaer Programms 1875)

 

Das Ende des proletarischen Objektivismus?

 

Der Traum von der Klassenlosen Gesellschaft hat die Welt bewegt. Aber gemessen an den Resultaten der Geschichte kann man sagen, dass der theoretische Aufwand sich nirgendwo wirklich umgesetzt hat, aus dem Industrieproletariat die Negation des Kapitals abzuleiten, deren wesentliches Interesse die Aufhebung des Klassengegensatzes sei. Die Theorie von der Diktatur des Proletariats blieb eine bloße Kopfgeburt und hatte als solche fatale Folge für die Entwicklung einer klassenlosen Gesellschaft, hat sie geradezu desavouiert. Kein Land, das sich kommunistisch bestimmt hatte, ist aus dem Proletariat heraus entstanden in Folge einer hohen Industriealisierung, die dem Kapital seine Totengräber als politisches Proletariat beschert hätte. Im Gegenteil: Meist wurde unter dem Begriff Kommunismus erst Industrialisierung und funktionierende Staatseinrichtungen, vor allem aber eine Parteienbürokratie geschaffen, die sich lediglich zur Legitimation eines Parteiendiktats proletarisch etikettierte. Weder Arbeiter noch Bauern haben sie errichtet, sondern politische Leute aus dem Bürgertum, welche sich gegen die Verrottung ihrer Länder unter der Knute feudaler oder imperialer Mächte aufgestellt hatten und die Parteiendiktatur erstmal dazu nutzten, ihre Produktion hiergegen zu funktionalisieren.

Das Problem hatten auch Marx und Engels in den 70ger Jahren des 19. Jahrunderts schon gesehen. Die Geschichte der Pariser Kommune hatte deutlich gemacht, dass es keine Klasse als Avantgarde im revolutionären Klassenkampf gibt, keine Klasse, die sich erst politisch bestärken müsste, um sich hernach dann selbst aufzulösen. Es war das politische Parlament der Gemeinde selbst, die Commune, das durchaus in der Lage war, klassenlose Verhältnisse zu vertreten und zu bewirken, wenn es nicht mehr den Verwertungszwängen höherer Gewalten unterworfen ist.

Durch die Belagerung von Paris am Ende des Deutsch-Französischen Krieges konnte von den Aufständigen erstmals eine Gemeindeverwaltung eingerichtet werden, die aus Räten bestand, die unmittelbar von der Bevölkerung jederzeit berufen und abgerufen werden konnten. Dies markierte sozialgeschichtlich den Beginn einer neuen Epoche. Nach Sebastian Haffner ging es dabei „zum ersten Mal um Dinge, um die heute in aller Welt gerungen wird: Demokratie oder Diktatur, Rätesystem oder Parlamentarismus, Sozialismus oder Wohlfahrtskapitalismus, Säkularisierung, Volksbewaffnung, sogar Frauenemanzipation – alles das stand in diesen Tagen plötzlich auf der Tagesordnung.“

Marx und Engels hatten nach den Erfahrungen der Pariser Kommune die Übernahme des Staates durch das Proletariat relativiert und sich auf die Widersprüchlichkeit eines Staatssozialismus besonnen. Engels schrieb (1894) in einem Brief an Lafargue:

„Staatssozialismus ... ist eine der Kinderkrankheiten des proletarischen Sozialismus.“ Marx-Engels-Werke Bd.39, S. 215)

Angesichts der Verwirrungen nach dem Untergang der Pariser Commune durch das verbliebene Militär des französischen Staates war für Marx evident, daß eine wirkliche Revolution des Volkes großen Wert auf einen schnellen Abbau des Staatsapparates legen mußte. Auch deshalb pries er die Pariser Kommune. Die zentrale Devise formulierte er unmißverständlich:

"Beseitigung der Staatshierarchie überhaupt und Ersetzung der hochfahrenden Beherrscher des Volkes durch jederzeit absetzbare Diener, der Scheinverantwortlichkeit durch wirkliche Verantwortlichkeit, da sie dauernd unter öffentlicher Kontrolle arbeiten." (MEW Bd.17, S.544)

Es hatte schließlich schon genügend Revolutionen gegeben, worin die Übernahme der Staatsgewalt zum Verhängnis der Bevölkerung wurden. Marx schreibt in seinem Artikel zum Bürgerkrieg in Frankreich (1871):

„Alle Revolutionen vervollkommneten [...] nur die Staatsmaschinerie, statt diesen ertötenden Alp abzuwerfen. Die Fraktionen und Parteien der herrschenden Klassen, die abwechselnd um die Herrschaft kämpften, sahen die Besitzergreifung (Kontrolle) (Bemächtigung) und die Leitung dieser ungeheuren Regierungsmaschinerie als die hauptsächliche Siegesbeute an. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stand die Schaffung ungeheurer stehender Armeen, einer Masse von Staatsparasiten und kolossaler Staatsschulden.“ (Karl Marx MEW 17, S. 539 bis 540)

Und in die Einleitung zur 4. Auflage des Kommunistischen Manifestes etwa 40 Jahre nach der ersten schrieb Engels daher schließlich:

„Gegenüber der immensen Fortentwicklung der großen Industrie seit 1848 und der sie begleitenden verbesserten und gewachsenen Organisation der Arbeiterklasse, gegenüber den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum ersten Mal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann. - Siehe Karl Marx, „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, London 1871, wo dies weiter entwickelt ist.“ Friedrich Engels in der Vorrede zum Manifest der Kommunistischen Partei (1888) (MEW 21, S. 358)

Dennoch übernahm Lenin in seinem Buch „Staat und Revolution“ die Auffassung von der Diktatur des Proletariats durch einen Einparteienstaat. Es war eben zur Legitimation eines harten Durchgreifens in Russland opportun, um eine Staatsordnung der Wirtschaft überhaupt einzurichten. Doch das Problem blieb dasselbe: Warum und wie sollte eine proletarische Partei in einem parteipolitischen Staatsgebilde dieses überhaupt aufheben wollen? Es war im Grund doch nur die Verlängerung des bürgerlichen Prinzips, wonach eine von den wirklichen Lebensverhältnissen herausgesetzte Bürokratie die politischen Entscheidungen zu fällen hat. Auch die Entwicklung in China hat überdeutlich gezeigt, dass sich im bürgerlichen Staatsgebilde, also in der Trennung von Politik und Wirtschaft, das Parlament zwangsläufig nur bürgerliche Entscheidungsprozesse entwickeln konnte. Eine demokratische Wirtschaft hat sich auf diesem Weg noch nirgendwo ergeben und wird sich so auch nicht ergeben können.

 

Das Spießertum des Kommunismus oder die "Macht der Gesellschaft"

 

Was sich ergeben hatte war ein politisch agierendes Spießertum, das große Werk der gemeinen Bedürftigkeit, das gemeine Bedürfnis als an die Gemeinschaft veräußerte Freiheit des Dürfens und Werdens, welches schließlich von einer großen Industrie belohnt wird, die alles zur Verfügung stellt, was man braucht, wenn man ihr nur dienstbar ist. Engels hat dies in seiner Schrift „Grundsätze des Kommunismus“ deutlich postuliert, indem er die Aufhebung des Privateigentums mit einer Vergesellschaftlichung des individuellen Bedarfs gleichsetzt. Er schreibt:

„Was werden die Folgen der schließlichen Beseitigung des Privateigentums sein? ... Die große Industrie, befreit von dem Druck des Privateigentums, wird sich in einer Ausdehnung entwickeln, gegen die ihre jetzige Ausbildung ebenso kleinlich erscheint wie die Manufaktur gegen die große Industrie unserer Tage. Diese Entwicklung der Industrie wird der Gesellschaft eine hinreichende Masse von Produkten zur Verfügung stellen, um damit die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Ebenso wird der Ackerbau, der auch durch den Druck des Privateigentums und der Parzellierung daran verhindert wird, sich die schon gemachten Verbesserungen und wissenschaftlichen Entwicklungen anzueignen, einen ganz neuen Aufschwung nehmen und der Gesellschaft eine vollständig hinreichende Menge von Produkten zur Verfügung stellen. Auf diese Weise wird die Gesellschaft Produkte genug hervorbringen, um die Verteilung so einrichten zu können, daß die Bedürfnisse aller Mitglieder befriedigt werden.“ (Engels in „Grundsätze des Kommunismus“ MEW 4, S. 375)

Was muss das für ein Staat sein, der eine Industrie betreibt, die ihre Güter einfach zu verteilen hat, die lediglich dazu bestimmt ist, eine hinreichende Menge von Produkten zur Verfügung zu stellen? Haben wir das nicht schon im Übermaß? Nach Engels gibt es ein Bedürfnis der Allgemeinheit, wie es eine allgemeine Industrie der Arbeit gibt. Und das Gemeine bietet sich dem Einzelnen an und bestimmt es hierdurch, weil es im Gemeinen unterstellt ist, bevor es wirklich sein kann.

Arbeit und Bedürfnis werden daher selbst gesellschaftlich bestimmt und können nicht Resultat einer wirklichen gesellschaftlichen Beziehung sein. Sie haben hierin ihre wirkliche Subjektivität verloren, ihre Gestaltungstätigkeit und kulturelle Bildung und Ausbildung und wurden somit völlig sinnentleert begriffen als Arbeit, welche endlich als bloße Nutzbringung zu verwirklichen sei in einer Gesellschaft um der Arbeit willen und somit den Menschen geboten ist, zu arbeiten, um der Gesellschaft zu nützen. So hatte es auch Lasalle im Gothaer Programm gefordert und Marx unterscheidet sich hier deutlich von Engels, weil er dies deutlich kritisierte:

"Schöner Schluß! Wenn die nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Arbeitsertrag der Gesellschaft - und kommt dem einzelnen Arbeiter davon nur soviel zu, als nicht nötig ist, um die "Bedingung" der Arbeit, die Gesellschaft, zu erhalten." (Marx in der Kritik des Gothaer Programms)

Nutzbringende Arbeit, welche der Gesellschaft nützlich wäre, ist durch einen gesellschaftlichen Nutzen vorbestimmt und kann daher nur den Lebenserhalt sichern, das durchschnittliche Bedürfnis bei durchschnittlichem Arbeitsaufwand. Das gemeine Bedürfnis bestimmt dann das Einzelne und nivelliert alles Einzelne in seiner Allgemeinheit. Der Sozialismus als Gemeinschaftsproduktion ist die Vorstellung von einem Verteilungssozialismus, der über das „Bedürfnis der ganzen Gesellschaft“ (Engels MEW 4, S.370) verfügt. Dies ist so absurd wie eine Gesellschaft aus lauter Einzelnen absurd ist, die über das gesellschaftliche Ganze zu verfügen hätten. Die bloße Umkehrung der isolierten Individualität ins Gemeine ist wesentlich identisch mit dem, was bürgerliche Gesellschaft ausmacht. Denn indem im Gemeinen die einzelnen Bedürfnisses in Wirklichkeit ausgeschlossen sind, münden die Verhältnisse der von ihrer Allgemeinheit ausgeschlossenen Bedürfnisse immer auch in ein gemeines Bedürfnis nach einem allgemeinen Mittel der Befriedigung. Es sind wesentlich weiterhin nur Abstraktionen, abstrakte Bedürfnisse. Bedürfnisse entstehen aber in Wirklichkeit durch wechselseitige Beziehung der Menschen, letztlich als Verlangen des Menschen nach dem Menschen, seinem Sein und seinen Produkten, seiner Kultur.

Aus diesem Zusammenwirken der Menschen nur kann Gesellschaft bestehen. Das Bedürfnis kann also nur gesellschaftlich sein, wenn es individuell sein kann. Von daher ist Gesellschaft auch nur als Kultur wirklich zu begreifen. Ihre wirtschaftlichen Resultate können Reichtum oder Armut sein. Doch was ist das eigentlich? Dass Geld nicht unbedingt reich macht, ist vom Standpunkt der Kultur unmittelbar einleuchtend. Auch kann eine Vielfalt von Konsumgegenständen eher kulturelle Armut darstellen, als dass sie Reichtum bedeuten muss. Der Reichtum an Verfügungsmacht ist also durchaus kompatibel zur Armut der Verfügung, zur Einfalt ihres wirklichen Vermögens. Wer sein ganzes Geld ausgibt, nur um es in seiner gesellschaftlichen Kultur auszuhalten, der ist nicht reich, weil er viel Geld ausgeben kann, sondern arm, weil er es ausgeben muss. Er mag über alle Produkte verfügen können. In Wahrheit jedoch verfügen die über ihn, wenn er darin kein Bedürfnis nach den Menschen erkennen kann, die sie erzeugt haben. Eine klassenlose Gesellschaft kann nur bestehen, wo Menschen ihre Bedürfnisse auf ihre Produkte frei beziehen können, unabhängig von einer gesellschaftlichen Verfügungsmacht, wenn sie wechselseitig wirkliches Verlangen nach dem haben, was sie sind und was sie erzeugen.

 

Vive la Commune!

 

Auch wenn der Kapitalismus eine Klassengesellschaft ist, also sich aufteilt in Menschen, die nur ihre Arbeitskraft besitzen, um durch den Verkauf derselben zu leben, und Menschen, die Arbeitsmittel besitzen, an denen sie die Besitzlosen arbeiten lassen, so besteht das gesellschaftliche Produkt dennoch aus Substanzen, die nicht einfach nur aus der Produktivkraft der Arbeit der Besitzlosen kommen. Technologie, Medizin, Kommunikation, Verkehrsmittel usw. werden auch als Teil der Produktivkraft fortentwickelt und erhöhen gleichermaßen die Produktivität des Kapitals. Auch gibt es im Kapitalismus schon klassenlose Strukturen, schließlich muss er ja viele Menschen erhalten, damit die wenigen gut und billig arbeiten können. Nicht nur wer in Brot und Arbeit ist, stellt das Potenzial einer Gesellschaftsveränderung dar. Die Gesellschaft, das sind alle, denn keine Produktion kann ohne die anderen produktiv sein. Aber nur die in Arbeit sind, erfahren ihre Ausbeutung unmittelbar. Und auch nur die können sich verweigern – zumindest so lange, bis sie durch andere ersetzt werden. Aber dieser Ersatz ist unendlich, weil jeder Arbeiter jederzeit durch den Arbeitslosen ausgetauscht werden kann, wenn dies das Kapital erfordert. Von daher lässt sich die Gesellschaft nicht aufteilen in Menschen, die als historische Wesen produktiv sind und solchen, die unproduktiv wären, und die man beiseite tun könnte. Es ist gerade umgekehrt: Nur weil alles austauschbar, also ersetzbar ist, kann sich der Kapitalismus erhalten. Die Zirkulation der Kräfte und Güter und die Produktivität der Arbeit lassen sich nicht voneinander trennen.

Gegen diese Produktionsform kann man sich nur im Ganzen verhalten, indem die Menschen ihre Unersetzbarkeit an die Macht bringen, indem die kulturelle Verbundenheit der Menschen gegen die einzelnen Momente des Tauschs und der Täuschung gestellt wird. Produktive Arbeit erzeugt zwar Mehrwert, aber dieser ist lediglich formelle Gewalt über das Mehrprodukt. Produktive Arbeit gibt es also nicht für sich, sondern nur durch den gesamten Arbeitsprozess und seine Selbsterneuerung. Es geht den Arbeitern zwar immer um einen möglichst hohen Anteil an Lebensstandard, aber um diesen werden sie über die Verwertungsverhältnisse des Geldes getäuscht, weil dieses nicht bezahlt, was sie erzeugen, sondern nur das, was sie zu ihrer Reproduktion nötig haben. Der Prolet ist daher konkret vor allem ein Mensch in einer Gesellschaft, in der er um seinen Lebensanteil beraubt wird, weil er nur bleiben kann, was er sein muss. Und das Proletariat ist daher auch nur eine Klasse von Menschen in einer Gesellschaft, in der sie um ihren Lebensanteil beraubt werden. Der Beraubte aber kann niemals Subjekt einer Gesellschaft sein, schon deshalb nicht, weil und solange er mit dem Räuber koexistiert, gleich ob dieser als Kapital oder als Sozialistischer Staat sich seine Lebenskraft aneignet.

Er kann nur Subjekt werden, indem er sich als Teil eines Lebenszusammenhangs, als Teil einer ganzen Kultur beraubt versteht. Es geht daher nicht um ein proletarische Selbstbewusstsein der produktiven Arbeit für sich, die sich ja nur als Leistungspotenzial irgendeines Fortschritts verstehen kann, sondern um eine Politik, die auf einem gesellschaftlichen Bewusstsein in der Beziehung von Arbeit und Bedürfnis gründet, auf einem Wissen um das gesellschaftliche Sein der Menschen, ein Bewusstsein um ihre Kultur. Und hierfür braucht es keine wie auch immer geartete Entwicklungsphase einer Sozialistischen Gesellschaft, sondern die Rückführung der Menschen auf ihren wirklichen Lebenszusammenhang, also um die Negation des Kapitals wie auch des Proletariats in einem. Die Menschen sind durch die kapitalistische Kultur in zweierlei Existenzformen negiert, von sich als gesellschaftliche Wesen entfremdet, indem Lohnarbeit und Kapital gegeneinander bestimmt sind. Von daher muss die Negation der Negation erstrebt werden, die Aufhebung der Lohnarbeit und des Kapitals durch die gesellschaftliche Aneignung des Mehrprodukts, durch die Bereicherung der menschlichen Kultur, indem die Aneignungsform des Geldbesitzes, also die Aufhäufung von Geld als Machtformation gegen die Menschen, aufgehoben wird.

Die Kritik der politischen Kultur ist daher die treibende Kraft, die dieses Bewusstsein zum Springpunkt entwickelt, zu der Frage, ob die Menschen ihre Geschichte endlich selbst in ihre Hand nehmen wollen, oder sich in die Wüste einer Zukunft schicken zu lassen, die sie jeder wirklichen Beziehung auf sich und andere beraubt und ihre Umwelt erstickt.

In den Kommunen sind die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen noch offensichtlich. Hier können sie auch noch verteidigt werden. Hier wird letztlich auch die menschliche Subsistenz gewährleistet und hier ist der sorgsame Umgang mit Mensch und Natur existenznotwendig - für das Einzelne wie für das Ganze. Das Große entwickelt sich immer aus dem Kleinen und nicht das Ganze darf daher das Einzelne bestimmen, sondern umgekehrt. Gerade wo der gesellschaftliche Zusammenbruch droht, können keine großen Ideen das verhindern, sondern nur die vielen kleinen Schritte der Veränderung. Das sollten wir aus den Erfahrungen mit dem 1000jährigen Reich gelernt haben. Die große Weltpolitik hat die Menschheit schlimm zugerichtet. Es kommt jetzt darauf an, die kleinen Schritte zu einer Weltgemeinschaft zu gehen. Und die beginnt vor Ort, an der eigenen Wohnstatt und durch eigene Stimme. Nur daraus kann Selbstbestimmung werden und demokratische Wirtschaft, denn diese ist nichts anderes, als deren politische Form.

Es verlangt, dass Wirtschaft sich nicht auf den Geldwerten des Kapitals gründet, sondern auf notwendigem Aufwand für die Menschen, und dass die Menschen sich nicht durch Geldbesitz bestimmen lassen, sondern durch ein wirklich soziales Verhältnis, in welchem sie ihre Stimme so erheben können, wie sie auch durch einander bestimmt sind.