Vorabdruck aus der Zeitschrift "kultur+kritik"

Emanuel Kapfinger (03/2009)

Psychologie des Amok

Gespräch mit Wolfram Pfreundschuh

 

Weder in den bürgerlichen Medien noch in der von ihr befragten Expertenwelt kann man gegenwärtig eine analytische Aufarbeitung des Amoklaufs finden. Alle stellen zwar die große Frage des „warum?“. Statt eines theoretischen Eindringens in das Phänomen gibt es aber nur ein gemeinschaftliches Rätselraten und ideologische Positionierungen (Computerspiele, „Ellbogengesellschaft“).

Der Psychologe Wolfram Pfreundschuh hat sich auch schon mit dem Massaker von Erfurt 2002 intensiv befasst. Er sagt, dass die Medien sich gar nicht mit der Geschichte des Amokläufers befassen wollen. Sie hätten nur Interesse an einer einfachen Erklärung, die sie subjektiv beruhigt, und die vor allem die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich durch eine wissenschaftliche Analyse ergeben könnte, unnötig macht.

Die wissenschaftliche Analyse des Amok müsse sich sowohl mit den objektiven Bedingungen, unter denen der Amok entstanden ist, also der sozialen und kulturellen Umgebung, wie auch mit der subjektiven Geschichte, der besonderen Situation des Amokläufers auseinandersetzen. Aufgrund seiner Überlegungen kam Wolfram Pfreundschuh zu dem Schluss, dass der Amok eine besondere Art des Überlebens in der Vernichtung anderer Menschen ist – eine paradox klingende Antwort.

 

Emanuel Kapfinger: Wolfram, viele Psychologen und Kommentatoren, die sich jetzt zum Amoklauf in Winnenden äußern, sehen dessen Grund in einer fehlenden Anerkennung des Amokläufers. Der Amokläufer suche die ultimative Anerkennung in seiner Größe, in der Macht, andere einfach vernichten zu können. So erhält er die Anerkennung, die er in seiner Ausgrenzung nicht erfahren konnte und die er notwendig hatte. Was hältst du von dieser Theorie?

Wolfram Pfreundschuh: Was soll das für eine Anerkennung sein? Was macht er mit solcher „Anerkennung“, wenn er – und das weiß er – bei dem Amoklauf zugrundegeht? Man kann zwar einwenden, dass er einfach zu naiv sei, seinen eigenen Tod, durch den er ja wieder winzig klein wird, für möglich zu halten. Aber wozu dann das Ganze?

Richtig ist, dass er vor dem ganzen Prozess sich als „Looser“ erlebt hat und auch dazu gemacht wurde. Würde er aus dieser Unmittelbarkeit zu einer Waffe greifen, könnte man das noch anders begreifen. Aber es ist ein langer Prozess, in welchem seine Verlorenheit, sein Looser-Dasein, zu seiner einzigen Realität wird. Deshalb sehe ich darin keine Kraft und auch kein Bedürfnis mehr danach, sich durch Mord und Totschlag inszenieren zu wollen. Leider auch keine Kraft mehr zur Rebellion.

 

E.K.: Ist es so, dass der Amoklauf eine Art ästhetisches Selbsterleben darstellt? Das suggeriert ja der Waffenkult der Amokläufer wie auch ihre Inszenierung – lange schwarze Mäntel, Sonnenbrillen, "coole" Posen, wie man es aus „Die Matrix“ kennt.

W.Pf.: Das sind doch alles weit verbreitete Haltungen bzw. Moden, die hier nur „mitlaufen“. Den Kern der Sache berührt das nicht. Auch die Grufties und Gothics haben viel mit Tod im Sinn. Aber als Mode oder Kult ist es nur symbolisch. Natürlich „passt“ eine solche Symbolwelt auch zu einem Selbstmordattentäter – aber eben nur so weit, wie er damit auch kokettieren kann. Auch wenn für die modischen Leute Amok inzwischen fast „kulti“ ist, leben diese Leute damit, dass sie es nicht tun müssen, dass also alles nur Assecoir ist.

Es ging, zumindest bei Tim Kretzschmer aus Winnenden, auch nicht um einen Waffenfetischismus. Dieser war nur eine Sache des Vaters. Der Sohn war lediglich im selben Schützenverein und dort ein ganz braver Junge. Das ist übrigens sehr wichtig, dass er in seiner wirklichen Selbstäußerung immer sehr brav war. Es kennzeichnet die Kluft, die in ihm ist: Das Bedürfnis nach Integration in eine Welt scheinbar unbeschränkter Möglichkeiten einerseits und der Erfahrung einer totalen Ausgrenzungsmacht, die ihn zutiefst ängstigt.

 

E.K.: Was ist dann der „Kern der Sache“? Wie entsteht der Amok?

W.Pf.: Es gibt immer ein Verhältnis im Geschehen selbst: Einmal die besondere Situation eines Menschen und einmal die soziale und kulturelle Umgebung, in der sich dieser Mensch befindet. Bei Robert Steinhäuser in Erfurt war das sehr eindeutig: Er hatte sich in eine ausweglose Lage gebracht, weil er seinen Eltern nicht sagen konnte, dass er auf einen wichtigen Test nicht vorbereitet war, dass er ein ärztliches Attest gefälscht hatte und dass die Direktorin ihn mit einer äußerst aggressiven und radikalen Formalie um seine Zukunftschancen gebracht hatte.

Eltern und Lehrer waren so weit weg von seiner Situation, dass sie das nicht verstanden hätten. Und so versteckte er sich fast ein halbes Jahr lang morgens in der Cafeteria der Schule, um seinen Eltern zu sagen, er sei in der Schule, und nachmittags entwickelte er eine Verlaufsform seines Hasses durch Computersimulation, sprich: Computerspiele.

Objektiv ist, dass die Zukunftsperspektiven und Chancen für seine Lage sehr schlecht standen. So ergeht es aber immer mehr Jugendlichen. Einerseits sind sie voller Erlebenssehnsucht nach unbeschränkter Bedürfnissentfaltung, andererseits steht ihre zukünftige Existenzmöglichkeit unter extremer Unsicherheit. Ihnen steht ein sehr enges Leben bevor, eine Gratwanderung in der Realisierung irgendeiner Existenzmöglichkeit. Diese Kluft zwischen beidem, dem reichen inneren Verlangen und der Gratwanderung ihrer materiellen Existenz, erzeugt eine permanente Spannung, die auch ihre sozialen Beziehungen bestimmmt. Die sind existenziell genauso notwendig, wie die Aussicht auf eine günstige materielle Lage. Bricht beides zusammen und erscheint das ausweglos, so kann jemand durchdrehen. Der Amoklauf soll dann diese Spannung auflösen – allerdings alles damit verbundene Leben auch.

 

E.K.: Das heißt, im Prinzip leben sehr viele Jugendliche in einem Widerspruch, durch den Amok entstehen kann?

W.Pf.: Für das „Einzelschicksal“ wichtig ist, dass der Widerspruch in keiner Weise formuliert oder artikuliert wird, – höchstens modisch. Tatsächlich leiden die meisten Jugendlichen und auch Älteren daran, dass ihre reale Lebenssituation, die oft voller Angst ist und auch von dem Gefühl einer absoluten Bedrohung oder Ausweglosigkeit beherrscht wird, permanent von den Erlebensmöglichkeiten einer Reizkultur überdeckt wird, durch die alles wieder erträglich sein kann. Diese Möglichkeit war den Amokläufern nicht mehr gegeben.

 

E.K.: War sein vieles Computerspielen auch ursächlich für den Amok? Gerade die Rechten sagen ja, dass für den Amokläufer die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen und er sein Spiel in der Wirklichkeit lebt.

W.Pf.: Falsch ist, dass erst das Computerspiel die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lässt. Ein Computerspiel kann das gar nicht, wenn die Grenzen nicht schon verschwommen sind, bevor es benutzt wird. Man müsste sonst denken, dass jedes Kriegsspiel, wie es Kinder schon lange vor dem Computerspiel kannten, erst Kriege begründen würde. Die Phase der Selbstabschottung betreibt ja selbst schon eine irre Grenzverwischung, in der sich dann jemand „hochjubelt“ auf eine beispiellose Hasstirade, die nichts mehr stehen lassen kann.  Im Computerspiel wird das „Abknallen und Vernichten anderer“ nur geübt und deren Realisierung vorbereitet. Von daher ist das Computerspiel so real wie ein Pilotentraining und ist gerade keine Grenzverwischung.

 

E.K.: Wogegen richtet sich denn diese Hasstirade, die den betroffenen Schüler treibt?

W.Pf.: Andere „sollen es büßen“, die in dieser Schule weitermachen können.
Andererseits gibt es auch einen depressiven Hass, eine Art Selbstbezichtigung, Selbstzerstörung, wenn jemand überhaupt keinen äußeren Grund für seine Lage erkennen kann.

 

E.K.: Welche Rolle spielt die soziale Ausgrenzung des Amokläufers z.B. durch seine Mitschüler? Du sagtest, dass er sich auch selbst abschotten würde.

W.Pf.: Natürlich sind es erst mal die sozialen Beziehungen, in denen – wie gesagt – ein Mensch ausgegrenzt und so unterworfen wird, dass er sich vernichtet erlebt – z.B. durch Mobbing oder Rauswurf aus der Schule. Das Fatale ist, dass er dann, wenn er eine unmittelbare soziale Ohnmacht erfährt, zugleich seine absolute gesellschaftliche Perspektivlosigkeit realisiert, dass er also auch existenziell sich vernichtet erlebt. Er zieht sich nicht „selbst“ zurück, sondern er erlebt sich von allem ausgegrenzt und vollzieht seine Reaktion in seiner Isolation.

 

E.K.: Was spielt sich beim Amoklauf in dem Menschen ab?

W.Pf.: Der Amoklauf geht so, wie er vorbereitet wurde. Er wird sprichwörtlich inszeniert, wie bereits geübt. Aber nicht das Computerspiel löst das aus und bereitet das vor, sondern die ganze Phase einer Abschottung, die von keiner Seite mehr überwunden wird und damit sozusagen im Leerlauf eines in dieser Isolation entstandenen Vernichtungswahns die Möglichkeit nach einer besonderen Art des Überlebens sucht: Der Selbsttötung in Einheit mit der Tötung vieler Menschen, die kein „Recht auf Leben“ mehr haben sollen.

 

E.K.: Das "Überleben durch Vernichtung" klingt doch erstmal völlig paradox.  Wie geht das, dass er aus der Tötung anderer über sein Nichts hinwegkommt?

W.Pf.: Da muss man die Lage eines Menschen hinzunehmen, der sich selbst als getötet erlebt. Er ist kein philosophisches Nichts, sondern er ist für sich tot. Er ist tot, ohne tot zu sein. Sein Leben ist für ihn total unmöglich geworden und in dieser Totalität kann es nur noch daraus bestehen, dass er sich durch Töten verwirklicht, dass er töten lernt. Das ist furchtbar. Aber es ist der Mechanismus einer Art des Überlebens.
Das ist ein in der Psychologie schon seit den 20ger Jahren des 20. Jahrhunderts diskutiertes Phänomen, das Sigmund Freud zu der irrigen Annahme gebracht hatte, dass es einen Todestrieb geben müsse. Da hatte ihm Wilhelm Reich widersprochen und nannte es die „emotionale Pest“, die eine Vernichtungssehnsucht aus einer absolut gewordenen Lebensverachtung heraus betreibt.

 

E.K.: Kannst du diesen Mechanismus genauer erläutern? Warum braucht er das Töten anderer für sein eigenes totes Leben?

W.Pf.: Weil er in Wirklichkeit eben doch noch lebt, weil er sich seinem Leben gegenüber selbst entfremdet hat, sich in einer totalen Selbstentfremdung befindet. Töten ist dann die Umkehr dieser Selbstentfremdung; er gewinnt daraus wieder eine Identität, eine fürchterliche Identität und dies treibt ihn dazu, seine bisher erlebte Welt sich durch Vernichtung anzupassen. Das Vernichtungsstreben ist die Verwirklichung seiner Nichtung, wie er sie erfahren hat. Es ist für das phänomenologische Denken schwer zu verstehen, warum und wie ein zunächst unwirkliches Streben überhaupt entstehen  kann und schließlich zu einer Verwirklichung drängt. Aber das macht viele psychische Probleme aus. Eine Depression, die als vollständig isoliertes Gefühl erfahren wird, ist die Erfahrung einer unwirklichen Vernichtungsmacht, die alles Fühlen auf sich selbst zurückwirft und tötet. Es ist als wäre man in einen Brunnen gefallen: man kann sich durch Schwimmen über Wasser halten, aber man kann sich nirgends festhalten. Man kommt nicht heraus.

Diese Vernichtungsmacht entsteht, wo vernichtende Kräfte wirken, ohne erkannt zu werden, dass sie also nur objektiv wahr gehabt werden, der Wahrnehmung entzogen sind, aber auf sie Wirkung haben, sie beengen, einengen, in ein Tunnel verbannen. Das ist sehr komplex. Aber man kann sich vielleicht mit der Vorstellung behelfen, dass ein Ertrinkender, wenn er denn im Brunnen einen Lebenden antrifft, ohne Weiteres dessen Tod betreibt, wenn er ihn zu seinem Überleben nutzen kann. Wo es lebensgefährlich ist, in die „Schande als Looser“ geraten zu sein, könnte es demnach zumindest rein geistig ein Überleben geben, wenn der hierdurch Vernichtete bei einem Selbstmord als der große Rächer dasteht

 

E.K.: Kannst du für den Laien nochmal erläutern, was es mit Freuds Todestrieb auf sich hat?

W.Pf.: Ich zitiere dazu einfach mal aus der Wikipedia: „Der Todestrieb strebt nach Zurückführung des Lebens in den anorganischen Zustand des Unbelebten, der Starre und des Todes. Der Wunsch nach Vernichtung des Lebendigen kann sowohl auf das Subjekt selbst als auch auf andere Personen gerichtet sein. ... Richtet sich der Todestrieb auf andere Menschen, äußert er sich in einem Destruktionstrieb, dem Wunsch zur Zerstörung und Verletzung Anderer.“

Freud denkt das, was er beschreibt, als Naturkonstante im Menschen und entzieht es so dem sozialen Verhältnis dem es entspringt. Indem er einen Todestrieb als Katgorie einführte, ist er dem Problem eines sozialen Nichtungsverhältnisses ausgewichen. Sein wesentliches Anliegen dabei war, das sogenannte Lustprinzip zu verteidigen, mit dem ihm bis dahin die Psyche erklärbar schien. Deshalb nannte er die Schrift, mit der er seinen Todestrieb einführte, "Jenseits des Lustprinzips". Mit dem Lustprinzip lässt sich auch bei Hinzunahme aller Perversionstheorien und Verdrängungsmechanismen ein Tötungswahn nicht erklären. Und den gab es in den 20er Jahren in aller Öffentlichkeit. Letztlich hat der deutsche Faschismus solche Tendenzen angezogen und bestärkt.

 

E.K.: Steckt dieser Tötungswahn auch im Faschismus selbst? Gerade der Holocaust war ja Menschenvernichtung pur.

W.Pf.: Ja, mit dem Vernichtungsprinzip aus der Erfahrung einer sozialen Nichtung heraus hat das sicher zu tun. Das ist aber ein sehr komplexes Thema, bei dem erst mal zu diskutieren wäre, wie der Staat zu einem Kulturstaat werden kann, also zu einem Staat, der die „heile Welt“ des Bürgers zu einem Gesinnungssstaat bringt, der in der Lage ist, jeden einzelnen Menschen daran zu bemessen, wie er einem „gesunden Volkskörper“ und einer völkischen Gemeinschaftsseele dienstbar ist, wie er also staatlich zu Diensten steht und möglichst wenig für sich selbst sein will. Dazu müsste man viel weiter ausholen.

 

E.K.: Du hast gesagt, der Amoklauf sei eine „Selbsttötung, in Einheit mit der Tötung vieler Menschen“. Wieso gehört zu dieser „Überlebensstrategie“ des Tötens anderer notwendig die Selbsttötung? Tim Kretzschmer (Winnenden) hat sich zum Beispiel nicht nach dem Amok getötet.

W.Pf.: Ich halte die Selbsttötung für eine ausgemachte Angelegenheit. Es macht keinen Sinn, nach einem solchen Amoklauf noch zu überleben. Und weil alles geplant ist, muss auch die Selbsttötung geplant sein. Es ist ein Selbstmordattentat, bei dem die Selbsttötung die sich selbst verstehende Bedingung ist. Wann sie stattfindet ist eine Frage der Ereignissen, mit denen der Amoklauf abgeschlossen wird. Ob der Amokläufer sich selbst töten muss oder ob es die Polizei tut, ist ihm egal. Selbsttötung ist hier emphatisch gemeint: Es wird etwas betrieben, was nur mit dem eigenen Tod enden kann.

 

E.K.: Einerseits sagst du, es stecke in dem Amokläufer ein tiefer Hass gegen alles, was seine Misere unüberwindbar macht, und dieser Hass lebe sich im Amoklauf aus. Andererseits soll der Amoklauf eine Art Überleben darstellen. Wie passt das zusammen?

W.Pf.: Der Hass und das Überlebenwollen sind ein und dasselbe. Der erste Schritt in die Isolation ist ein bodenloser Hass auf die totale soziale Ächtung die er erfahren hat, an dem er „verbrennt“. Die Personen, auf die er dann den Hass richtet, sind Figurationen des Ausgeschlossenseins, denen er als Menschen kein Weiterleben gönnen kann, weil sie vom Standpunkt seines Selbstgefühls her „von seiner Asche“ leben.

 

E.K.:  Du hast vorhin den Faschismus erwähnt. Auch heute kann man wohl zunehmende Vernichtungserfahrungen feststellen – Amokläufe gibt es so richtig regelmäßig erst seit 1996. Gibt es eine Parallele von heute zu den 20er und 30er Jahren, in denen ja auch Freud seinen Todestrieb formuliert hat?

W.Pf.: Ja das ist richtig, dass da etwas parallel läuft. Ich denke, dass die wirtschaftliche Lage ähnlich ist. Auch in den 20er Jahren waren die Finanzmärkte aufgebläht, völlig entleert von realen Werten. Und so herrschte analog hierzu auch damals in der sogenannten Ufa-Zeit, in der Ober- und Mittelschicht eine verselbständigte Kulturelite als „Highlife“ einer bodenlosen Finanz- und Genusswelt im strikten Gegensatz zu den Alltagsrealitäten der Arbeitswelt und Randgruppen. Dieser Phase folgt eine Realität, in welcher die aufgeblasenen Werte zerplatzen. Und die reale Wertvernichtung stellt sich vor allem als Zerstörung von Arbeitswelten und sozialen Kulturen dar, die besonders auch der Jugend Angst um ihre Lebensperspektive bereitet. In solchen Zeiten entsteht eine ausgeprägtere Sortierung der sozialen Gegensätze und Klassenlagen. Und so stellt sich auch an den Gymnasien und Universitäten für jeden die Frage, wie man es schaffen kann, entweder zur Elite zu gelangen und seinem zukünftigen Leben entgegenzuleuchten, oder aber in Perspektivlosigkeit zu verfallen, den Absturz ins Bodenlose befürchten zu müssen. Bemerkenswert ist, dass dies alles sich in der Mittelschicht abspielt und abgespielt hat, weil darin vor allem diese „Gretchenfrage“ – schaffe ich es oder nicht? – virulent ist.

 

Wolfram Pfreundschuh studierte Psychologie und Philosophie und war langjährig in der antipsychiatrischen Bewegung aktiv. In den 70er und 80er Jahren war er als Verleger für Publikationen zur Diskussion kritischer Kulturtheorien (Hegel, Marx, Freud und Adorno) tätig.

Er arbeitet heute als Redakteur für Kulturkritik bei „Radio Lora München“ und bezeichnet sich als „Anstifter“ der Gruppe „Kulturkritik München“. Der Schwerpunkt seiner theoretischen Arbeiten ist eine Kulturkritik als Kritik der politischen Ästhetik, eine kritischen Theorie bürgerlicher Subjektivität, wozu er zahlreiche Texte veröffentlicht hat. Gegenwärtig arbeitet er an einer systematischen Kritik der politischen Kultur, die Ende des Jahres in Buchform erscheinen soll.