Kulturkritik-Sendung vom 12. 03. 2008 auf Radio Lora


1. Sendung zum 125. Todestag von Karl Marx:
- "Das Leben mag sterben, doch der Tod darf nicht leben!"

Zeitdauer: 58 Minuten - Datenumfang ca. 50 MB

Der Inhalt der Sendung ist oft eine Kürzung des entsprechenden Artikels (siehe unten).
Dort sind zudem auch die verwendeten Begriffe nachzuschlagen.


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Artikel siehe

http://kulturkritik.net/politik/marx/index.html

I. Sendung am 12.3.:

Zum 125. Todestag von Karl Marx (Teil I)

“Das Leben mag sterben – doch der Tod darf nicht leben!“ (Karl Marx)

Am 14. März 2008 jährt sich zum 125. Mal der Todestag von Karl Marx. Er war einer der bedeutenden Denker der Neuzeit, Philosoph, Ökonom und politischer Mensch. Sein Hauptwerk, „Das Kapital“ hat schon vor weit über 100 Jahren die Logik beschrieben, die den Kapitalismus entfaltet - von der Waren produzierenden Gesellschaft über die Wertverwertung zu Kapital, zu einem unbeschränkten Wertwachstum, bis hin zur Verselbständigung des Finanzkapitals und der politischen Macht der Grundrente, schließlich der globalen Macht der Kapitalkonzentrationen und Aktiengesellschaften und der Auftürmung des fiktiven Kapitals zur uneinholbaren Staatsverschuldung. Er hat „den Trieb des Kapitals“ als logisches Prinzip der Wertproduktion dargestellt und gezeigt, dass dieses Prinzip zwangsläufig eine Klassengesellschaft betreibt und immer wieder efrneuert und erzeugt, worin die Menschen durch ihre Arbeit und als Staatsbürger in ihrer ganzen Lebenskraft ausgesaugt und in ihren gesellschaftlichen Beziehungen vor allem ihre Selbstentfremdung erleiden müssen, während das Kapital ihre gesellschaftliche Entwicklung immer mächtiger fortbestimmt und ihre Verdingung verfestigt. Marx hatte barbarische Verhältnisse prophezeit, wenn es den Menschen nicht gelingt, eine Gesellschaft zu bilden, in welcher sich ihre Bedürfnisse so gesellschaftlich aufeinander beziehen können, wie auch die Arbeitsaufwände hierauf bezogen sein müssen, welche die Mittel ihrer Befriedigung erbringen. Von Marx erging der Imperativ des Humanismus schlechthin, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (Quelle: Karl Marx in MEW 1, S. 385)

Die Bedingung hierfür ist die Aufhebung der Klassengesellschaft, dem existenziellen Gegensatz von Reichtum und Armut, der sich in seiner Tendenz mit der Aufhäufung von Kapital verschärft. Marx hatte ihn schon in seinen frühen Schriften als das politische Wesen einer Gesellschaft herausgearbeitet, die auf Privatbesitz, auf Warenbesitz und Warentausch gründet. Das „Kommunistische Manifest“, das er zusammen mit Friedrich Engels geschrieben hatte, fasste dies als politische Programmatik zusammen und wurde bald auch zur bedeutsamsten politischen Literatur. Dieses Manifest wurde weltweit in einer höheren Auflage gedruckt als die Bibel, das Manifest des Christentums. Darin wird die Gesellschaft der Scheinhaftigkeiten, die Gesellschaft der Täuschungen und des Warentauschs, die durch Geld vermittelte Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft, in ihrer finalen Konsequenz bereits im Jahre 1848 vollständig erfasst. Es heißt dort:

Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. ... Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre - die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. - Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“

(Quelle: Karl Marx/Friedrich Engels in MEW 4, S. 467f)

Wer war dieser Mann, der schon vor 160 Jahren so exakt die Logik einer Tendenz beschreiben konnte, welche die Welt, Mensch und Natur zu Fall bringen, zu einer Welt der Barbarei zwingen kann? Was sind die Grundlagen von Marx, durch die er ein Wissen entwickelt hat, welches das Sein der Menschen von einem Wesen beherrscht erklären konnte, das sich „hinter dem Rücken der handelnden Personen“ bildet und verwirklicht? Um diese Frage - es ist inzwischen die Frage nach dem Grund der herrschenden Barbarei - soll es heute und auch in unserer Sendung am Freitag gehen.

Wer war dieser Mann, der schon vor 160 Jahren so exakt beschreiben konnte, was die Welt, Mensch und Natur zu Fall bringen, zu einer Welt der Barbarei zwingen kann? Darum soll es heute und am Freitag gehen.

Zunächst aber will ich ein Lied bringen, das von „Nathan“, einem jungen münchner Künstler für diese Sendung gemacht wurde. "Nathan" macht Lieder aus der Lyrik altbekannter Dichter wie Brecht, Heine, Nietzsche, Hauptmann, Hölderlin und vielen anderen.

"Der Gesang der Barbaren" ist nach einem Gedicht von "Karl Friedrich Henckell" und kommt in dieser Form jetzt zu seiner Erstaussstrahlung. "Henckell", war seinerzeit ein Dichter mit großem Engagement für die Arbeiterbewegung in Deutschland, er starb 1929 am Bodensee.

Lied.  „Gesang der Barbaren“

Mehr über dieses Lied und „Nathan“ findet ihr auf der Website www.nathan-und-die-hochzeitsgesellschaft.de, die auch im Audioarchiv der kulturktik.net verlinkt ist.

Wir wollen nun erst mal versuchen, Karl Marx aus seiner Zeit heraus verstehen.

 

1. Marx in seiner Zeit

Es war eine Zeit des Umbruchs, in die Karl Marx hineingeboren wurde. Die rein politische Macht des Feudalsystems war zu Ende gegangen. Wenige Jahrzehnte zuvor hatte die französische Revolution und die Proklamation der amerikanischen Verfassung die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie formuliert. Der gerade mal hundert Jahre alte Kapitalismus zeigte seine ersten eklatanten Krisen. Die Erfindung der Dampfmaschine und der ersten Lokomotiven revolutionierte die Verhältnisse des Merkantilismus - und der Weberaufstand im Jahre 1844 hatte bereits die Wirkung dieser neuen Technologie auf die politische Ökonomie der Arbeit wirkungsvoll vermittelt. Zwar gab es – vor allem in Deutschland – auch noch Märchenprinzen und Hofschranzen und die Elektrizität war noch nicht so richtig in der Anwendung - sie wurde zunächst mal nur in den USA für Hinrichtungen genutzt und war schon von daher mehr gefürchtet als erwünscht. Aber es gab längst alle Art von Kraftmaschinen und auch schon mechanische Rechenmaschinen und die Medizin begann ihre großen Erfolge gegen Infektion und Sepsis. Das Zeitalter der Moderne hatte begonnen, der Weltmarkt war bereits voll in Gang. Aktiengesellschaften konzentrierten große Kapitalanhäufungen und ermöglichten einen bis dahin beispiellosen Welthandel und außerdem auch Kriege, z. B. dem zwischen Napoleon und Österreich, der für jede der Staatskassen ohne Staatsanleihen unerschwinglich geblieben wäre.

Kolonien entstanden zur weltweiten Ausbeutung der Natur- und Arbeitsressourcen. Die Kolonialherren entwickelten ihre Imperien und eröffneten neue Kapitalmärkte, die zunehmend auch mit entsprechenden Absatzmärkten assoziiert wurden. Marx beschrieb schon damals Finanzbeziehungen durch Wechsel und Devisen im Handel z.B. mit China, die auch heute noch genauso lauten könnten. Die Masse der Bergwerk- und Industriearbeiter überwog längst die Zahl der Handwerker, Bauern und Kleinbürger . Und sie war von heftigen Existenz- und Lebenskrisen gebeutelt, die ganz offensichtlich den Kapitalbewegungen geschuldet waren.

Man sprach auch schon von Überbevölkerung und meinte damit die Menschen, die in der Gesellschaft nicht zu Brot und Arbeit kamen. Schon damals wurde klar, dass es sich um eine bis dahin unbekannte Arbeitslosigkeit handelt, die dann entsteht, wenn das Kapital seine Verwertungsrate steigert, indem es seine Ausbeutungsmacht vergrößert. Die gesellschaftlich grundlegenden Ereignisse unserer Zeit hatten sich damals bereits herausgebildet, obwohl  die Technologie und die soziale und wirtschaftliche Basis des Kapitals noch relativ spärlich ausgebildet war, wie wir heute sagen können. Es gab noch Kinderarbeit und keine Sozialversicherung, aber die schaffenden und die disziplinierenden gesellschaftlichen Klassen waren schon deutlich zwischen Arbeit und Bourgeoisie gespalten.

 

2. Die Philosophie der Aufklärung

In der Philosophie und Staatswissenschaft jener Zeit bildeten sich die Energien  der bürgerlichen Gesellschaftsform deutlich ab. Immanuel Kant bestimmte Maßstäbe für die allgemeine Moralität des Handelns, die der des Handels und Austauschs gleichkam. Sie bestimmte sich schlicht aus der Allgemeinheit einer notwendigen Beschränkung, aus einer kategorialen Vernunft, welche die Menschen gleich behandelte und ihr einzelner Wille durch die bloße Allgemeinheit des Wollens begrenzt sein sollte. Dieser kategorische Imperativs sollte die Basis eines friedlichen Miteinanders, eines „ewigen Friedens“ sein, den solche Gesellschaft bereiten könne, die freie Einigkeit einer allgemeinen Selbstbeschränkung. Für ihn war der bürgerliche Staat die Grundform der Mündigkeit von Menschen, die ihre Dinge selbst in die Hand nehmen und dadurch zu deren Subjekt wurden, dass sie diese vernünftig behandelten, also nach Maßgabe ihrer notwendigen Vernunft leben konnten. Es ist die Logik des Besitzes, die schlicht vorraussetzt, dass die Menschen die Dinge in die Hand nehmen, weil sie diese schon zu Händen haben, dass also die Dinge schon vorhanden sind, die als bloße Mittel bürgerlicher Subjektivität dienen. Deshalb sei das Recht – so Kant - der "Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen bei einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann".

Entsprechend sah er in der Vernunft das Agens der Geschichte, weil sie die Freiheit der vereinten Willkür darstelle. Es war das Bewusstsein der Aufklärung, das hierdurch auf seinen Kern gebracht wurde. In seiner Schrift „Was ist Aufklärung“ schrieb er im Jahre 1784: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen."

Gegen die objektive Lebensbedingungen der Natur gibt es demnach nur den Willen, der - in Vernunft geeint - den Menschen zu ihrer Befreiung verhilft. Ein Mensch bleibt also aus eigener Schuld unmündig, dem Notwendigen unterworfen, wenn er seinen Verstand nicht gebraucht und seinen Willen nicht durchzusetzen versteht, ihn nicht zum allgemeinen Prinzip werden lassen kann.

Sein Zeitgenosse Georg Wilhelm Friedrich Hegel bestritt zwar Kants jenseitigen Objektivismus, in welchem die Dinghaftigkeit als notwendig fremde Objektivität vorausgesetzt war und demnach nur in der Vernunft der Urteilskraft Subjektivität möglich sein könne. Aber auch er unterstellte den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen die Verwirklichung eines weltgeistigen Entwicklungsprozess im Zweck eines großen Ganzen, das er als Grundlage des bürgerlichen Rechts ansah und als Staatsrecht, als politischen Willen des Staats fixierte.

Kurzum: Die Philosophie jener Zeit entwickelte sich als Philosophie der Aufklärung zu einem Legitimationssystem der bürgerlichen Gesellschaft, die durch ihre Seinsnotwendigkeiten, ihre Ontologien, zur menschlichen Gesellschaft schlechthin verklärt wurde. Der bürgerliche Staat sollte dessen irdische Institution und die Arbeit der Menschen ihre allgemeine und finale Notwendigkeit, die Selbstentfremdung der Arbeit, notwendiges Moment der Menschwerdung der Vernunft eines objektiven Geistes sein. Der Mensch als praktisches Subjekt seiner Geschichte war damit geleugnet. Er war lediglich das Konstrukt eines Rechts auf Selbstverwirklichung, welche durch die Vernunft einer objektiven Logik gebahnt bleiben müsse.

3. Die Zwitter der bürgerlichen Gesellschaft: Staat und Demokratie
Von höherer Warte aus klang das ja auch ganz gut. Die bürgerliche Gesellschaft galt als Gesellschaft des Menschen schlechthin, als Form der Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, die unter den Menschen herrschen könne. Ihre Verfassungsgrundlage  war als allgemeines Menschenrecht proklamiert und damit war das politischen Statut der Aufklärung selbst zur Staatsform geworden. Die Französische Revolution hatte mit der Aufhebung des politischen Ständestaats die allgemeinen Bürgerrechte als Versprechen konstituiert. Die Menschenrechte waren als humanistische Grundlage dieser Demokratie überhaupt beansprucht, die bürgerliche Gesellschaftsform damit zur menschlichen Gesellschaft an sich erhoben.

Sie war also zum einen ideell als humanitäre Staatsform, als Realisierung einer Philosophie der Humanitas begründet, zugleich materiell als notwendige Form einer Gesellschaft unterstellt, worin sich der Reichtum der menschlichen Geschichte aus der Vernunft der Sachgewalten , aus der Sachlogik, ergeben solle, aus der Bewältigung der allgemeinen Existenznotwendigkeiten einzelner Menschen. Gesellschaft begriff man damit als Sachwalter angesammelter Naturnotwendigkeiten einzelner Lebensinteressen, als allgemeine Aufsammlung von Privateigentum, als Warensammlung, durch welche die Menschen ihr Auskommen finden. Sie waren hierin als Abhängige ihres allgemeinen Zusammenwirkens unterstellt, nicht als wirklich gesellschaftliche Menschen und Gesellschaft nicht als ihre wirkliche Naturmacht.


Karl Marx befand diese Epoche als einen Zustand der Geschichte, woraus sich eine wirklich menschliche Gesellschaft erst noch als eine neue Form gesellschaftlicher Beziehungen bilden müsse. Es war zwar der Ständestaat abgelöst, Marx nannte ihn den politische Staat, aber es war noch keine materielle Verwirklichung einer menschlichen Gesellschaft erreicht, weil alle materiellen Verhältnisse nur als Besitzverhältnisse, also als Verhältnisse des privaten materiellen  Nutzens politisch verfestigt waren und also nicht wirklich gesellschaftlich sein konnten. Marx befand, dass die Demokratie, wie sie die Menschenrechte beanspruchten, selbst nur abstrakt vorhanden und lediglich  ideologischer Ausdruck einer Klassenherrschaft der besitzenden über die besitzlosen Menschen sei.

Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staatswesen ist hiernach noch eine Mischform, eine noch unwirkliche Gesellschaft, die Form einer politischen Ökonomie, welche die Menschen politisch beherrscht, welche die Träger ihrer ökonomischen Grundlagen sind. Die konstitutionelle Form der bürgerlichen Gesellschaft sah Marx daher in der Zwitterposition eines Verfassungsstaats, dessen Rechtsinhalte außerhalb der Staatsform, also rein ökonomisch begründet sind, wohl aber im Staat als deren politische Form verfasst werden. Die bürgerliche Gesellschaft sei weder wirklich ökonomisch, weil sie die menschliche Arbeit nicht stringend nach dem minimalen Aufwand für optimalen Nutzen gestalte, noch habe sie eine politische Wirklichkeit, weil sie sich nur aus den anarchisch arrangierten Einzelinteressen des Privatbesitzes bildet, die erst im Nachhinein ihrer Entstehung, im Austausch von Waren, ihre gesellschaftliche Bewahrheitung finden können. Politik und Ökonomie sei in der bürgerlichen Gesellschaft durchtrieben und als politische Ökonomie ineinander vertauscht, so dass auch ihre Staatsform eine Täuschung über ihren wahren gesellschaftlichen Zusammenhang sei, die bloße Mischform eines Gemeinwesens, eine Missgeburt, darstelle, die sich lediglich demokratisch zu gebärden sucht, aber schon von ihren Grundlagen her keine wirklich menschliche Demokratie sein könne.

Er schreibt in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“:
„In den alten Staaten bildet der politische Staat den Staatsinhalt mit Ausschließung der andern Sphären; der moderne Staat ist eine Akkommodation zwischen dem politischen und dem unpolitischen Staat.
... Die politische Republik ist die Demokratie innerhalb der abstrakten Staatsform. Die abstrakte Staatsform der Demokratie ist daher die Republik; sie hört hier aber auf, die nur politische Verfassung zu sein.
Das Eigentum etc., kurz der ganze Inhalt des Rechts und des Staats, ist mit wenigen Modifikationen in Nordamerika dasselbe wie in Preußen. Dort ist also die Republik eine bloße Staatsform wie hier die Monarchie. Der Inhalt des Staats liegt außerhalb dieser Verfassungen. Hegel hat daher recht, wenn er sagt: Der politische Staat ist die Verfassung, d.h., der materielle Staat ist nicht politisch. Es findet hier nur eine äußere Identität, eine Wechselbestimmung statt. ... Es versteht sich, daß da erst die politische Verfassung als solche ausgebildet ist, wo die Privatsphären eine selbständige Existenz erlangt haben. ... Die Abstraktion des Staats als solchen gehört erst der modernen Zeit, weil die Abstraktion des Privatlebens erst der modernen Zeit gehört. Die Abstraktion des politischen Staats ist ein modernes Produkt.“
(Quelle: Karl Marx in MEW 1, S. 232f)

 

4. Besitz, Wille und Bedürfnis
Hieran setzte Marxens Kritik am bürgerlichen Staat an. Dieser will ideell und materiell die wahre Form des Gattungslebens der Menschen überhaupt sein, sowohl politisch als auch ökonomisch in einer bürgerlichen Demokratie. Beides trifft sich im Inhalt des Rechts auf Eigentum in der bürgerlichen Form des Waren- und Geldbesitzes, worin der Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft existiert. Aber ein Reichtum, der aus Privateigentum besteht, kann nicht das Vermögen eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses menschlicher Produktivkraft sein, wovon die einzelnen Menschen in gleicher Weise Eigentümer sind, wie ihre Gesellschaft als ihr Gemeinwesen.

Indem die Bürger im politischen Staat ihren einzelnen Willen als allgemeine Rechtsform vertreten sehen, also als Allgemeinheit, worin alle bestimmten Einzelinteressen zu einer allgemeinen  Notwendigkeit der Besitzbildung aufgehoben sind, vollziehen sie materiell die Macht des Privatbesitzes. Dies selbst schon unterscheidet die Menschen in solche, die dieser Notwendigkeit folgen können und materiellen Besitz haben oder bilden, und jene, die allein vom Besitz ihrer Arbeitskraft leben müssen, weil ihnen materieller Besitz unerreichbar ist. Während also die materiell besitzlosen Menschen ihren Lebensbedürfnissen unmittelbar folgen müssen und deshalb ihre Reproduktion damit ermöglichen, dass sie für andere arbeiten, können die Besitzenden vermittelst ihres zur Staatsform gegossenen Willens über die gesellschaftliche Entwicklung politisch verfügen und das Mehrprodukt bestimmen, das über alle Reproduktion hinweg die gesellschaftliche Entwicklung und ihre Formvollendung ausmacht.

Während die einen ihren Bedürfnissen nur nachgehen können, weil sie es aus ihrer Lebensnotwendigkeit heraus müssen, können die anderen über ihren Willen allgemein frei  und also auch als Teil des Allgemeinen verfügen. Wille und Bedürfnis sind in der bürgerlichen Gesellschaft gegeneinander gestellt, weil darin Eigentum nur als Privateigentum besessen werden kann, das von den bedürftigen Menschen unter dem Diktat eines allgemeinen Besitzstands gesellschaftlich produziert werden muss. Eine wirkliche Demokratie kann aber nicht darauf gründen, dass die Menschen durch ihre einzelnen Lebensnotwendigkeiten allgemein zur Arbeit gezwungen werden, dass sie gesellschaftlich mit der Not ihrer Individualität erpresst werden. Sie kann nur darauf beruhen, dass aus den Bedürfnissen der Menschen ihr Wille zur Arbeit ergeht, im Bewusstsein ihres Verlangens auch ein entsprechender Aufwand begründet wird und zu beschließen und zu vollziehen ist. Nur hierdurch können sich menschliche Bedürfnisse zum Willen fortbilden, bestimmte Produkte zu erzeugen und darin Befriedigung und Bereicherung zu finden. Darin wäre dann Bedürfnis und Wille gleichmaßen aufgehoben.

 

5. Politik und Ökonomie

In der bürgerlichen Gesellschaft kann dies nicht verwirklicht werden. Der Wille besteht hier als Rechtsform des Besitzes und das Bedürfnis als Ohnmacht des Lebens. Dieses verwirklicht sich nur als Not, als notwendiges Verlangen, das jene zwingt, die keinen Besitz haben, alles dafür zu tun, um ihn durch ihre Arbeit zu erwerben. Es ist eben die sachlich vermittelte Naturnotwendigkeit, welche der bürgerlichen Gesellschaft jenseits ihrer Willensverhältnisse zugrunde liegt. Während dem Bürger der Staat und dessen Regierung mehr oder weniger als Träger seines Willens erscheint, folgt dieser ausschließlich der sachlichen Bedingtheit der ökonomischen Verhältnisse, den allgemeinen Bedingungen der Warenproduktion. So kann zwar alle bürgerliche Politik auch immer als Produkt einer Willensfreiheit, als Resultat eines politischen Diskurses in den Parlamenten, erscheinen, während das Besitzverhältnis, das dem vorausgeht, die sachliche Entwicklung der Lebensproduktion bestimmt. Dies geht vor allem stillschweigend, denn alle Notwendigkeit erscheint bei solcher Willensfreiheit dann als „Nebensache“, nämlich lediglich als Mangel an Produktions- und Lebensmitteln, der durch die „Mächte der einzelnen Lebensnotwendigkeiten“ überwunden werden müsse. Der Wille steht für ein politisches Subjekt, das aus den wirklichen und notwendigen Lebensverhältnissen herausgesetzt ist und auf diese mit hoheitlichem Gestus herabschaut. Freiheit ist nötig, aber nicht unbedingt notwendig, und Notwendigkeit besteht für den, der nicht frei sein kann.

Diese permanente Verwechslung von Freiheit und Notwendigkeit macht die moderne Gesellschaft und ihren Staat politisch so widerstandsfähig gegen die Erkenntnis ihrer materiellen Bedingtheit. Zugleich lässt sich dies aber im Gang ihrer Geschichte auch leicht als Täuschung nachweisen. Aber es gehört nun mal zum praktischen Selbstverständnis eines guten Bürgers, dass er davon ausgeht, dass Politik auf der Grundlage seines Willens und einer gesellschaftlichen Willensbildung gemacht wird.

Marx schreibt hierzu:

„In der Tat, man muss jeder historischen Kenntnis ermangeln, um nicht zu wissen, dass es die Regierungen sind, die zu allen Zeiten sich den wirtschaftlichen Verhältnissen fügen mussten, aber niemals die Regierungen es gewesen sind, welche den wirtschaftlichen Verhältnissen das Gesetz diktiert haben. Sowohl die politische wie die zivile Gesetzgebung proklamieren, protokollieren nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse.“ (Karl Marx in MEW 4, S. 109)

 

6. Negation und Abstraktion, Entfremdung und Arbeit
Der Willenskonstruktion der Aufklärung lag eine Geschichtsauffassung allgemeinmenschlicher Selbstbildung zugrunde, die Auffassung, die Menschen würden im geschichtlichen Prozess ihrer Selbstverwirklichung eine geistige Kraft verwirklichen, die sich aus der Überwindung ihrer Naturbeschränktheit heraus ergibt. Demnach vollziehen sie in ihrer Geschichte nicht ihr geistiges Vermögen z.B. durch die Entwicklung ihrer Produktivkraft, sondern bilden vor allem ein Geisteswesen ihres Willens, ihrer Freiheit, welche also nichts anderes als die Freiheit des Geistes sein kann. Der Ausgang dieser Vorstellung ist eine Fremdheit des geistigen Vermögens der Menschen gegenüber ihren Gegenständen, ihren sachlichen und natürlichen Lebensbedingungen, die sich erst durch einen geschichtlichen Prozess der geistigen Naturaneignung aufheben würde. In der Selbstentfremdung keime die Selbstfindung, in der Negation der Geisteskräfte keime eben auch die Negation der Negation, die vollkommene Freiheit, der vollkommene Frieden mit sich und der Welt. Die Hegelsche Dialektik wollte Geschichte als einen Fortgang des Geistes durch die Aufhebung seiner Selbstentfremdung, als Prozess der Selbsterzeugung durch die Aufhebung der Entäußerung von Mensch und Natur begriffen wissen.

Dieser Entfremdungsbegriff war die Basis der Marx’schen Kritik der Hegelschen Philosophie wie der Philosophie der Aufklärung überhaupt. Zugleich aber wurde deren dialektische Methode von Marx geschätzt und auch der Gedanke von der Geschichte als Menschwerdung eines gesellschaftlichen Naturwesens, eines Gattungswesens übernommen. Er schrieb hierzu:

"Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist ... einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die Betätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d.h. als menschliches Wesen, ist nur möglich dadurch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte - was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte - herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist." (Quelle: Karl Marx 1844 in MEW EB 1, S. 574)

Der Marxsche Entfremdungsbegriff kulminierte im Begriff der Arbeit, in welcher sich Freiheit und Notwendigkeit konkret und praktisch als Bildungsakt menschlichen Reichtums vermittelt, als menschliche Naturmacht in natürlicher Not und Wirklichkeit, die nicht durch sich selbst fremd bestimmt ist, da sie schon wirklich gesellschaftlich und auch gesellschaftlich verwirklicht ist. Von Marx wird Entfremdung als Seinsnotwendigkeit heftig bestritten. Der Gedanke hieran sei nur möglich, weil diese Entfremdung auch Wirklichkeit, ein Verhältnis gesellschaftlicher Selbstbeschränkung der Menschen sei. Sie ist keine übergeschichtliche Metaphorik, sondern konkrete Lebensbedingung der Menschen, materielle wie geistige Bedingtheit, Fremdbestimmtheit ihres Lebens; sie stellt sich nicht dar als notwendiger Inhalt der Geschichte, als ein Herrschaftsanspruch des Weltgeistes gegen seine Natur, sondern als immanenter Widerspruch der Gegenwart, als menschliches Verhältnis der Besitzstände vermittelst einer Macht, die sich als Gesellschaftsform des Privateigentum den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Tätigkeiten der Menschen entgegenstellt.

Die zum Himmel der Geschichte verklärten Geister müssten daher auf die Beine gestellt, als Mystifizierung konkreter Wirklichkeit begriffen werden. Die konkrete Form, worin sich ihr Inhalt selbst widerspricht und von daher zur gesellschaftlichen Formbestimmung wird, die politische Ökonomie, müsse Gegenstand dialektischen Denkens sein, nicht ein Überbau aus Gedanken, welcher sich darüber auftürmt wie eine Arena unendlicher Dimensionen und Reflexionen von den Möglichkeiten der Vorstellung und der Interpretation.

„Jede Selbstentfremdung des Menschen von sich und der Natur erscheint in dem Verhältnis, welches er sich und der Natur zu andern, von ihm unterschiednen Menschen gibt. ... In der praktischen wirklichen Welt kann die Selbstentfremdung nur durch das praktische, wirkliche Verhältnis zu andern Menschen erscheinen. Das Mittel, wodurch die Entfremdung vorgeht, ist selbst ein praktisches. Durch die entfremdete Arbeit erzeugt der Mensch also nicht nur sein Verhältnis zu dem Gegenstand und dem Akt der Produktion als fremden und ihm feindlichen Mächten; er erzeugt auch das Verhältnis, in welchem andre Menschen zu seiner Produktion und seinem Produkt stehn, und das Verhältnis, in welchem er zu diesen andern Menschen steht. Wie er seine eigne Produktion zu seiner Entwirklichung, zu seiner Strafe, wie er sein eignes Produkt zu dem Verlust, zu einem ihm nicht gehörigen Produkt, so erzeugt er die Herrschaft dessen, der nicht produziert, auf die Produktion und auf das Produkt. Wie er seine eigne Tätigkeit sich entfremdet, so eignet er dem Fremden die ihm nicht eigne Tätigkeit an.“ (Karl Marx 1844, MEW EB 1 S. 518ff)

 

7. Kritik der Philosophie des bürgerlichen Denkens überhaupt

Marx wandte sich nicht nur gegen die verselbständigte Geistestendenzen des philosophischen Denkens, sondern grundsätzlich gegen eine Philosophie des Geistes und stellte den wirklichen Menschen, den Menschen wie er leibt und wirkt, als Subjekt der Geschichte in den Brennpunkt seines Denkens. Er verstand unter menschlicher Geschichte nicht die Konfrontation eines Verstandeswesens mit seiner Natur, eine Art Herrschaftsbildung des Geistes über die Natur, sondern die Menschwerdung der Natur selbst, menschliche Lebenspraxis als Naturmacht menschlicher Gesellschaft, als die natürliche Verwirklichung menschlicher Natur.

Von daher machte Marx seine Kritik an der Philosophie daran fest, dass nach ihrem Entfremdungsbegriff die Entwicklung der Menschen nur theoretisch begründet sei, keinen wirklichen Begriff für die Entfremdungsmacht erbracht habe. Ihr Gedanke verharre in einer Theorie der Jenseitigkeit des Denkens, einem übermenschliches Prinzip, welches zugleich Herrschaft aus der Naturgewalt des Notwendigen ableitet und jeder menschlichen Emanzipation daher prinzipiell entgegensteht. In der Vernunft des objektiven Geistes erscheine eine Entfremdungsmacht quasi immer naturnotwendig, als Herrschaft fremder Mächte und Sachgewalten, welche die Menschheit zu ihrer Entwicklung auch immer antreiben müsse. Philosophie – der gedankliche Fokus aller Geisteswissenschaften - bleibt daher weitgehend eine bloße Interpretation herrschender Macht und trägt diese als ontologisches Prinzip, als Seinsnotwendigkeit, als Anthropologie menschlicher Not fort. Sie will lediglich  das wirklich entfremdete Leben durch ihre Heilsgedanken verdoppeln, sich auf seinem Siechtum als Macht des Helfers und Arztes begründen, der das gebrochene Leben nicht zu sich bringen, nicht revolutionieren kann, weil er ihm seine Krankheit nur nehmen will.

„Was ist jede Krankheit (anderes) als in seiner Freiheit gehemmtes Leben? Ein perpetuierlicher Arzt wäre eine Krankheit, an der man nicht einmal die Aussicht hätte, zu sterben, sondern zu leben. Mag das Leben sterben: der Tod darf nicht leben.“ (MEW 1, S. 59)

Philosophie bietet sich an als eine Weisheit, die über allem konkreten Leben steht, als Wissen über menschliche Zweifel und Leiden. Aber sie ist lediglich dessen philosophische Verklärung, die Gedankenform des abstrakten Menschen, die Vorstellung von einem an sich „richtigen Leben“, das im gegenwärtigen  nicht verwirklicht sei, die Vernunft der Totalität eines Lebens, das nur relativ und falsch sein könne, solange es noch nicht vollkommen ist. Von daher bleibt Philosophie im Grunde eine Theologie der Erkenntnis, welche allem Seienden einen höheren Zweck, eine Tendenz zur Vollkommenheit, zur Totalität, unterstellt. Sie leugnet zwar meist die Gestalt ihres Gottes, jene überhobene Vernunft und Wahrheit, die aus dem Jenseits kommt, indem sie diese zu einer höheren Vernunft erklärt.

Marx fasst diese Kritik der Philosophie überhaupt in den sogenannten Thesen zu Feuerbach zusammen. Ich zitiere davon nur drei:
„Thesen über Feuerbach
1. Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus - den Feuerbachschen mit eingerechnet - ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv.
6. Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse...
11. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“ (Quelle: Karl Marx in MEW 3, S. 533)

Musik

 

8. Die Welt der Erscheinung und die Täuschungen des Bewusstseins

Es ist Marxens wesentliche Kritik an der Philosophie und der Geisteswissenschaft nicht, dass sie sich nur theoretisch verhalten würde, sondern dass sie sich praktisch nur theoretisch verhält, dass sie praktisch lediglich  interpretiert, was sie theoretisch zu erfassen vorgibt, wozu sie Begriffe bildet, die für sich lediglich verallgemeinerte Phänomene darstellen, durch welche alle Erscheinungen selbst wesentlich gemacht werden. Sie ist nicht einfach nur unwirkliches, sich selbst fremdes Denken, sondern vor allem die geistige Vollstreckerin der Entwirklichung von Menschen, der Gedanke einer Welt, die ohne wirkliche Menschen gedacht ist und diesen daher auch nur ihre Gedankenlosigkeit mitteilt. Sie macht sich die Wirklichkeit der Menschen zum Objekt ihrer Anschauung, zu einem Objekt, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt, weil es selbst nur abstrakt ist. Dessen Wirklichkeit kann sich daher auch nicht durch sie aufklären, nicht auf die Menschen zurückkommen. Sie kann sich nur als Gedankenzauber über die wirkliche Welt wie eine Decke legen, die ihre Entdeckung als Welt der Menschen verhindern soll. Ihr wirklicher Gegenstand bleibt in seiner Entfremdung vom Menschen unbenommen, weil er ihr in der bloßen Anschauung als konkrete Objektivität voller unvermittelter Gegensätze und Beziehungen vorkommt, z.B. als Lohnarbeit und Kapital oder als Staat und Besitz oder als Trieb und Zivilisation oder als Psyche und Welt. Stattdessen vollzieht solche Wissenschaft ihre Subjektivität als unendliche Objektivität eines Denkens, das lediglich auf die wirkliche Welt herabschaut, indem sie diese als eine wirklich fremde Welt fasst und fixiert, um sie sich gedanklich anzueignen als notwendige Welt, als monströse Mythologie der Entfremdung, als Geld, als Sachzwang, als Fetisch einer Welt, die nicht wirklich menschlich ist, wiewohl sie die ganze Wirklichkeit der Menschen ausmacht.

 

9. Wissenschaft als Wissenschaft der Entfremdung

Eine reelle Wissenschaft kann daher nicht ein Appell an die Macht der Vernunft, an die Aufgeklärtheit des Geistes sein. Sie ist die Kritik solcher Mystik, nicht Aufklärung des Menschen über die Potenziale seines Verstandes, sondern dessen Vollzug: Die Aufklärung einer Entfremdung, und das ist die Versachlichung abstrakter Verhältnisse, die den Menschen das entwindet, was sie darin veräußert haben. Sie ist die Kritik einer Abstraktionsmacht, in der Leben untergeht, weil das Leben der Menschen durch das Tote bestimmt wird, das Resultat des Lebens als Abstraktion in einer bloßen Geldform des Kapitals sich gegen dieses richtet. Sie ist die Kritik dieses Wesens, das „ein Wesen der Abstraktion, ein Unwesen“ (Marx) ist. Und sie ist damit Kritik einer Gewalt, die sich durch die Enteigung menschlicher Lebenskraft als fremde Macht gegen die Menschen richtet, sich selbst sichert und bestätigt, als tote Arbeit gegen die lebendige, als Kapital, das nur für sich selbst tätig ist, indem es Menschen für sich nutzbar macht. Die Kritik dieser mystifizierten Verhältnisse kann nichts anderes sein als die Erkenntnis ihrer negativen und abstrakten Substanz: Eben der Begriff dieser Entfremdung, Begriff des Wertverhältnisses, des Verhaltens eines Wertes, der sich in der Form des Warenbesitzes „hinter dem Rücken der Menschen“ auf sich selbst zurückvermittelt und sich schließlich als Geld im Kapital selbst verwertet. Marx hat im Wesentlichen eine Objektivität erfasst, begriffen und beschrieben, welche die Subjektivität der Menschen entfremdet und sie zu Objekten eines ihnen fremden Subjekts bestimmt. Das macht den Kern seiner Kritik aus.

Diese Kritik ist die Bedingung, um ein Bewusstsein der Entfremdung als Bewusstsein der Wirklichkeit zu bilden. Sie kann daher keine Utopie des Geistes sein. Sie ist die Erkenntnis der Macht, welche in der Wirklichkeit sich verkehrt hat, Erkenntnis der Widersprüchlichkeit der Gegenwart, in welcher Zukunft und Vergangenheit verschmolzen und vertauscht sind, in welcher also ein Anachronismus herrscht, der entweder seine Barbarei schrankenlos ausdehnt oder worin endlich die Potenzen eben der Geschichte freigelegt werden, die inhaltlich schon in der gegebenen Gesellschaft vorliegen.

Marx nannte dies den Traum von einer Sache, den Nachtgedanken, der den Tag sucht. Um das muss es gehen: um eine neue Form des Bewusstseins, das seinen Traum erinnert, bevor es einen neuen Tag beginnt. Ich zitiere Marx zum Mal:

„Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt ihr eigenes Bewußtsein innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihre eigenen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn .... als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden. Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustande bringt. ...

Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären, was sie sind.“

(Quelle: Karl Marx in MEW 1, S. 346)

 

So, das wars dann für heute. Wie immer, könnt Ihr den Text dieser Sendung auf der Website „kulturkritik.net“ nachlesen oder auch nochmals hören. Übermorgen, also am Freitag um 19 Uhr kommt hier auf Radio Lora der 2. Teil dieser Sendung von der Kulturkritik München. Sie trägt den Titel: „Was mich betrifft, so bin ich kein Marxist - Karl Marx“. Es geht da um die Kapitalistische Gesellschaft und die Geschichte des Marxismus. Bis dann also! Tschüss.

 



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